Wir erinnern an Wir erinnern an Reflexe und Signale Vor 75 Jahren starb Iwan Petrowitsch Pawlow Von Manfred P. Bläske * Iwan Petrowitsch Pawlow wurde am 26. September 1849 in Rjasan als Sohn eines Geistlichen geboren. Die Familie lebte in „einer annehmbaren Umgebung, aber unter dürftigen Verhältnissen“. Nach einem wenig geordneten Anfangsunterricht bezog der Elfjährige das geistliche Seminar in Rjasan, an dem der Unterricht in Literatur ausgezeichnet gewesen sein muss, denn Pawlow betonte später immer wieder seine dort geweckte Liebe zur schöngeistigen Literatur, zu Turgenjew, Dostojeweski, Nekrassow und Tolstoi. Unter dem Einfluss des Darwinisten D. I. Pissarew studierte er jedoch ab 1870 an der Universität in St. Petersburg Naturwissenschaften. Ein Jahr später legte Pawlow bei D. I. Mendelejew, dem „Vater des Periodensystems“ in Chemie sein erstes Examen ab. 1875 begann er ein Studium an der Medizinischchirurgischen Akademie und arbeitete dort als Assistent am Physiologischen Institut. Von 1878 bis 1884 leitete Pawlow das klinische Laboratorium an der Kriegsmedizinischen Akademie, zugleich dissertierte er „Über die zentrifugalen Nerven KVS-Mitteilungen Heft 2/2011 Pawlows zweite Schaffensperiode begann: die Erforschung der bedingten Reflexe. Der Terminus verbreitete sich schnell weltweit und wurde selbst in Laienkreisen durch die populäre Darstellung der damit verbundenen Fütterungsversuche an den „Pawlowschen Hunden“ ein Begriff. Archiv M. P. Bläske Vorgänge, wie die der Umwandlung von Nahrung in körpereigene Stoffe oder der Zusammenhang des Physischen und Psychischen beschäftigen wissenschaftliches Denken seit der Antike. Mit wenigen Ausnahmen – zum Beispiel der durch Alkmaion von Kroton (570 – 500 v. Chr.) gewonnenen, jedoch über 2000 Jahre bestrittenen Erkenntnis vom Gehirn als Organ sinnlicher Wahrnehmung und des Denkens – gab es bis weit in das 18. Jahrhundert hinein keine systematischen Untersuchungen zu diesen Lebensprozessen. Erst die Hinwendung zum Experiment unter anderen durch Lazzaro Spallanzani, Regnier de Graaf, Claude Bernard und Carl Ludwig (der 1869 in Leipzig die „Physiologische Anstalt“, das seinerzeit berühmteste physiologische Institut der Welt eröffnete) brachte Licht in die bis dahin ungeahnte Fülle physiologischer Abläufe. Um sich weiterzubilden, kamen Physiologen aus aller Welt nach Leipzig, darunter der junge Privatdozent Pawlow. Iwan Petrowitsch Pawlow (1849 – 1936) des Herzens“, promovierte zum Dr. med. und wurde Privatdozent für Physiologie. Danach weilte Pawlow, der ein sehr gutes Deutsch sprach, zwei Jahre bei Carl Ludwig in Leipzig, wo er sich zunehmend experimentellen Arbeiten zuwandte und dabei fundamentale Einsichten in das Zusammenwirken von Verdauung und nervalen Einflüssen gewinnen konnte. An einem für ihn in St. Petersburg eingerichteten Institut für experimentelle Medizin entstanden um die Jahrhundertwende seine klassischen Arbeiten zur Verdauungsphysiologie, für die er 1904 als Erster den Nobelpreis für Physiologie erhielt. Seit 1895 Professor für Physiologie, wurde Pawlow 1907 Miglied der russischen Akademie der Wissenschaften. Im Bemühen um eine Experimentalmethode, die den normalen Lebensbedingungen weitestgehend entspricht, legte Pawlow Fisteln an, die an seinen Versuchstieren schonende Dauerversuche möglich machten. Dadurch konnte er neuartige Untersuchungen zur Erforschung von Umwelteinflüssen auf die Verdauungsfunktionen durchführen, womit zugleich Diese erworbenen bedingten Reflexe beobachtete Pawlow an Sekretionsvorgängen der Verdauungsdrüsen nach optischen, akustischen und anderen Reizen. Er wies nach, dass diese Reflexe, im Gegensatz zu den angeborenen unbedingten Reflexen niederer Hirnzentren, durch Erregung oder Hemmung der Großhirnrinde reguliert werden. So konnten zahlreiche bis dahin unerklärbare Erscheinungen, die spekulative Theorien ermöglichten, durch die experimentelle Neurophysiologie als Resultat kausaler nervaler Prozesse naturwissenschaftlich erklärt werden. Eine weitere wichtige Innovation war die Konzeption von einem zweiten Signalsystem, das die menschliche Sprache impliziert. Das heißt, neben den primären Signalen der physikalischen oder chemischen Reize vermag die Großhirnrinde des Menschen mittels bewusstseinsgesteuerter Denkprozesse und ihrer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten bedingte Reflexe auszulösen. Pawlow schuf damit die Grundlage für seine Lehre von der höheren Nerventätigkeit. Als Pawlow am 27. Februar 1936 im Alter von 86 Jahren an den Folgen einer grippalen Pneumonie verstarb, hinterließ er – ungeachtet zeitweiliger politischer Vereinnahme und dogmatischer Auslegungen von Teilergebnissen seiner Lehren – nach dem Urteil der internationalen Fachwelt ein bedeutendes Werk, dessen Erkenntniswert vor allem durch neuere Forschungsergebnisse der Neurophysiologie zweifelsfrei bestätigt wurde. Die Resultate seiner Lehre von der höheren Nerventätigkeit gingen sowohl in die modernen hirnstrukturellen, elektrophysiologischen, biokybernetischen und genetischen Forschungen auf dem Gebiet der kortikalen Schalt- und Regelungsvorgänge ein, als auch in die Verhaltensforschung und in die experimentelle Psychologie. 15