Psychogene nichtepileptische Anfälle

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M E D I Z I N
Markus Reuber1
Jürgen Bauer2
Zusammenfassung
Psychogene nichtepileptische Anfälle (PNEA)
ähneln in ihrer Symptomatik epileptischen Anfällen. Sie werden nicht zuletzt deshalb oft
sehr verzögert nach ihrer Manifestation diagnostiziert und therapiert. Häufige Fehldiagnosen bringen es mit sich, dass die Patienten
lange mit Antiepileptika behandelt werden. In
Kenntnis um die Symptome von PNEA sollte es
möglich sein, die korrekte Diagnose rasch zu
stellen. Areaktives Verharren, Dauer von mehr
als zehn Minuten, irreguläre Extremitätenbewegungen, geschlossene Augen und Neigung
zur Statusmanifestation sind wichtige klinische
Hinweise. Eine detaillierte iktuale Anfallsdokumentation begründet den Verdacht auf PNEA.
In Zweifelsfällen sollte eine Anfallsaufzeichnung mit Video (und EEG) erwogen werden.
PNEA werden den dissoziativen oder somatoformen Störungen zugerechnet. In den meisten
Fällen werden sie als unbewusste Manifestation psychischer Störungen angesehen. Patienten mit PNEA leiden häufig an Depression,
einer posttraumatischen Belastungsstörung,
D
as theoretische Wissen um und
zu psychogenen nichtepileptischen Anfällen (PNEA) ist umfangreich und wurde bereits seit der
Frühphase der Psychoanalyse ätiologischen Analysen unterzogen. Merkwürdig diskrepant hierzu ist allerdings
die auch heutzutage fehlende sichere
und zeitnahe Diagnose dieser Störung,
mit der sich die Patienten nicht allein
bei einem Neurologen oder Psychiater
vorstellen.
Zu einer häufigen und schwer zu
korrigierenden Fehldiagnose kann es
kommen, wenn Anfälle als epileptische Erkrankung fehlgedeutet werden, obwohl man sich der Somatisierungstendenz vieler Patienten bewusst
ist. PNEA repräsentieren aber eine
mit erheblichen gesundheitlichen sowie sozialen Konsequenzen und gesellschaftlichen Kosten verbundene
Erkrankung, die der angemessenen
Diagnose und konsequenten Therapie
bedarf. Möglicherweise ist die schwie-
Psychogene
nichtepileptische
Anfälle
Angst- oder Persönlichkeitsstörungen. Auch
zusätzliche organische Hirnfunktionsstörungen werden in einigen Fällen diagnostiziert.
Bei chronischen Verläufen ist die Behandlungsund Sozialprognose ungünstig. Eine frühe Diagnose und der Beginn einer stringenten psychologischen Behandlung könnten die Prognose verbessern.
Schlüsselwörter: Epilepsie, somatoforme Störung, dissoziative Störung, Psychosomatik,
psychogener nichtepileptischer Anfall
Summary
Psychogenic Nonepileptic Seizures
Psychogenic nonepileptic seizures (PNES) superficially resemble epileptic seizures. This is
one of the reasons why correct diagnosis and
appropriate treatment are often delayed. Misdiagnosed as having epilepsy, many patients
receive anticonvulsant drugs which are ineffective for their seizures. A basic knowledge of the
typical appearance and clinical context of PNES
rige Behandelbarkeit auch ein Kofaktor dafür, im Zweifel der Epilepsiediagnose zuzusprechen und die scheinbar
einfache Verordnung eines Antiepileptikums als Therapie zu wählen. Die
Autoren können keine einfache Lösung der Behandlung dieser Erkrankung präsentieren, doch entlässt dies
den Arzt nicht aus der Verantwortung
um eine korrekte Diagnose.
Kennt man die Kernsymptome der
PNEA und hat man gar solche Anfälle
einmal in einer Videoaufzeichnung gesehen (Gelegenheit hierzu bieten vielfältige Fortbildungsveranstaltungen),
dann sollte in den meisten Fällen die
Diagnose, zumindest aber die Verdachtsdiagnose, gestellt werden können. Dennoch dauert es in Deutsch1 Academic Unit of Neurology, (Head: Prof. Pamela Shaw),
Division of Genomic Medicine, University of Sheffield,
Royal Hallamshire Hospital, Sheffield, Großbritannien
2 Klinik für Epileptologie (Direktor: Prof. Dr. med. Christian E. Elger, FRCP), Universität Bonn
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should allow physicians to make a correct diagnosis in the early stages of the disorder. Prolonged atonia and reduced reactivity, a seizure
duration of more than 10 minutes, irregular limb
movements, closed eyes and a tendency to
present as a medical emergency with seizure
status are important clinical pointers. A detailed
documentation of ictal behaviour and appearance is the first step to securing the diagnosis.
If the nature of a seizure disorder is in doubt,
seizure observation with video (and EEG) should
be considered. PNES are thought to be a manifestation of dissociative or somatoform disorder.
In most cases they are produced unconsciously.
Patients with PNES commonly suffer from
depression, posttraumatic stress, anxiety or
personality disorders. They may also have additional physical brain disorders. In chronic cases,
seizure and social outcome is poor. Early
recognition and initiation of psychological treatment may improve prognosis.
Key words: epilepsy, somatoform disorder, dissociative disorder, psychosomatic medicine,
psychogenic nonepileptic seizure
land gegenwärtig von der Erstmanifestation bis zur korrekten Diagnose
von PNEA im Mittel mehr als sieben
Jahre (41), und drei Viertel aller Patienten mit PNEA werden zunächst mit
Antikonvulsiva behandelt (46).
Diagnose
Werden Anfälle geschildert oder
führen sie zur Untersuchung, sollte die
Diagnose von PNEA stets erwogen
werden. Dies bedarf der Abgrenzung
insbesondere zu epileptischen Anfällen und Synkopen (26, 31). PNEA sind
anfallsartige Ereignisse, bei denen Bewegungen, Empfindungen oder Zustände auftreten, die epileptischen
Anfällen ähneln, jedoch durch psychische Prozesse und nicht durch epileptische neuronale Störungen verursacht werden (32).
Mit dem Etablieren der synchronen
Dokumentation von Patientenverhal-
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ten und Elektroenzephalogramm (Video-EEG) in den 1970er-Jahren wurde die Analyse der Bewegungsmuster
gerade im Vergleich zu epileptischen
Anfälle deutlich erweitert (16, 20, 23,
48).
Bei mehr als 90 Prozent von PNEA
ist das Bewusstsein der Patienten eingeschränkt (41). Im Gegensatz zum
Bewusstseinsverlust bei komplex partiellen oder generalisierten epileptischen Anfällen sind Patienten iktuale
Erlebnisse aber unter Hypnose oft erinnerlich (27). Die Semiologie von
psychogenen nichtepileptischen Anfällen ist ebenso vielfältig wie diejenige epileptischer Anfälle. Am häufigsten manifestieren sich PNEA als Anfälle mit Sturz, Versteifen oder Überstrecken des Rumpfes, Kopfschütteln
und ausschlagenden Bewegungen der
Extremitäten.
Nicht selten werden auch Anfälle
mit Tonisierung von Rumpf und Gliedmaßen mit oder ohne Zittern verzeichnet. Des Weiteren werden atonische
Zustände mit und ohne Sturz beobachtet (19). Seltener kommt es zu rein subjektiv empfundenen und geschilderten
PNEA, die semiologisch epileptischen
einfach partiellen Anfällen ähneln
(41).
Leider ist kein Symptom für die
Diagnose von PNEA pathognomonisch, doch bilden Symptomkonstellationen einen Wahrscheinlichkeitsraum, der die (Verdachts-)Diagnose
nahe legt. Maßgeblich ist die exakte
Anamnese und Fremdanamnese sowie
die genaue Beobachtung des Anfalls,
soweit möglich (Tabellen 1 und 2).
Areaktives Verharren, Dauer von
mehr als 10 Minuten Länge, irreguläre
Extremitätenbewegungen, geschlossene Augen und Neigung zur Statusmanifestation sind besonders wichtige
klinische Hinweise auf PNEA.
Bei der Interpretation von Eigenund Fremdanamnese ist zu bedenken,
dass wichtige semiologische Einzelheiten oft falsch erinnert werden (49).
Die Anfallsdauer wird von Beobachtern oder Patienten häufig als zu lange
eingeschätzt. Darüber hinaus ist durch
Studien belegt, dass durch die Angabe
von scheinbar klar für eine epileptische Genese sprechenden Fakten wie
iktualem Harn- oder Stuhlabgang,
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Verletzungen, Zungenbiss oder die
Angabe nächtlicher Anfälle nicht sicher diskriminativ zwischen PNEA
und epileptischen Anfällen unterschieden werden kann (8, 38).
Die differenzialdiagnostische Entscheidung ist einfacher, wenn der Patient direkt während eines Anfalls beobachtet und untersucht werden kann
(Tabelle 1). Bei der Beobachtung ist
besonders auf die Länge konvulsiver
Phasen (diese dauern selbst im Status
epilepticus nicht länger als zwei Minuten), das Vorliegen von Zyanose und
die Augen zu achten (bei PNEA zumeist geschlossen, bei epileptischen
Anfällen meistens offen). Bei der Untersuchung hilft die Auslösung des Pupillenlichtreflexes (bei PNEA erhal´
Tabelle 1
ten, bei epileptischen Anfällen oft
nicht), die Prüfung der Reaktion auf
noxische Stimulation (zum Beispiel
Kitzeln der Nase oder Wimpern) oder
das Fallenlassen der Hand des Patienten über seinem Kopf (manche Patienten ziehen die Hand weg um ein Aufschlagen der Hand auf dem Kopf zu
vermeiden).
Der durch Anamnese oder klinische
Beobachtung begründete Verdacht,
dass PNEA und nicht epileptische Anfälle vorliegen, ist bei erfahrenen Untersuchern von großer Relevanz. Dennoch, für eine sichere Diagnose entscheidend ist die apparative Dokumentation typischer Anfälle. Gelegentlich kann die Aufzeichnung eines
Anfalls mit einer Heimvideo- oder Fo-
´
Iktuale Beobachtungen, die zur Differenzierung von psychogenen nichtepileptischen
und epileptischen Anfällen beitragen können (39)
Beobachtung
Psychogene nichtepileptische
Anfälle
Epileptische Anfälle
Situationsabhängiger Beginn
Nicht selten
Selten
Allmählicher Beginn
Nicht selten
Selten
Durch Stimuli auslösbar
Gelegentlich
Selten
Undulierende motorische Aktivität
Häufig
Sehr selten
Asynchrone Arm- und
Beinbewegungen
Häufig
Ungewöhnlich
Zielgerichtete Bewegungen
Gelegentlich
Sehr selten
Rhythmische Beckenbewegungen
Gelegentlich
Selten
Opisthotonus, „arc de cercle“
Gelegentlich
Sehr selten
Kopfschütteln
Häufig
Selten
Biss auf die Zungenspitze
Gelegentlich
Sehr selten
Iktuale prolongierte Atonie
Gelegentlich
Sehr selten
Iktuales Weinen
Gelegentlich
Sehr selten
Geschlossener Mund bei scheinbar
tonischem Anfall
Gelegentlich
Sehr selten
Vokalisation bei tonisch
klonischen Bewegungen
Gelegentlich
Sehr selten
Lidschluss
Sehr häufig
Selten
Anfallsdauer > 2 min
Häufig
Sehr selten
Widerstand bei Augenöffnung
Häufig
Sehr selten
Erhaltener Pupillenreflex
Sehr häufig
Ungewöhnlich
Reaktivität während scheinbarer
Bewusstlosigkeit
Gelegentlich
Sehr selten
Fehlende Zyanose bei prolongiertem
Anfall
Häufig
Selten
Schnelle postiktuale Reorientierung
Häufig
Ungewöhnlich
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tokamera weiterhelfen. Nicht selten
treten PNEA während einer elektroenzephalographischen (EEG) Routineuntersuchung auf, insbesondere
wenn Fotostimulation und Hyperventilation mit Suggestion verbunden werden (35).
Im Allgemeinen ist jedoch aufgrund
der Bedeutung einer eindeutigen Diagnose für die weitere Behandlung die
simultane Aufzeichnung von iktualem
EEG und Patientenverhalten zu empfehlen. Wenn während einer kurzfristigen (Video-) EEG-Untersuchung kein
Anfall auftrat, kann eine längere Video-EEG-Beobachtung oder eine Anfallsprovokation mit Placebo weiterhelfen. Durch Injektion von isotoner
Kochsalzlösung, angekündigt als prokonvulsive Substanz, können bei mehr
als drei Viertel der PNEA-Patienten
typische Anfälle ausgelöst werden
(29).
Zum einen ermöglicht die VideoEEG-Aufzeichnung typischer Anfälle
ihre eindeutige Charakterisierung als
psychogen. Zum anderen können
durch Video-EEG motorisch sehr ausgestaltete und bei erhaltenem Bewusstsein ablaufende Anfälle epileptischen
Ursprungs (frontale hypermotorische
Anfälle) erkannt werden, die fälschlicherweise für psychogen gehalten
werden könnten (22, 53). Im klinischen Alltag ist die fehlerhafte umgekehrte Einschätzung jedoch wesentlich häufiger.
Labortechnisch kann bei der Unterscheidung von epileptischen Anfällen
und PNEA das Bestimmen von Prolaktin und Cortisol im Blutserum, 15
bis 20 Minuten nach dem Anfall venös
entnommen, hilfreich sein (6). Dabei
ist ein Hormonanstieg auf das Dreibis Fünffache des Basalwertes ein verlässlicher Hinweis auf einen stattgehabten epileptischen Anfall, wohingegen das Fehlen eines Anstiegs nicht
unbedingt bedeutet, dass es sich bei
dem Anfallsereignis um einen PNEA
gehandelt hat, da ein Hormonanstieg
bei zwei Drittel der epileptischen Anfälle ausbleibt. (3). Wurde postiktal
eine Prolaktinerhöhung über den normalen Referenzbereich des untersuchenden Labors festgestellt, sollte eine Kontrolluntersuchung frühestens
zwei Stunden nach dem Anfall veran-
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lasst werden um sicherzustellen, dass
keine chronische Prolaktinerhöhung
vorliegt.
Das interiktuale EEG, bildgebende
Verfahren wie die kraniale Kernspintomographie oder eine neuropsychologische Testung können nur einen begrenzten Beitrag zur differenzialdiagnostischen Einordnung von Anfallszuständen leisten. Bei Patienten mit
Epilepsie erbringen diese Untersuchungen häufig einen normalen Befund, wohingegen sich bei Patienten
mit PNEA durchaus Veränderungen
darstellen können, wie sich bei mindestens einem Viertel der Patienten mit
ausschließlichen PNEA zeigen ließ
(42, 43).
Letztlich beruht die Diagnose von
PNEA auf einer Kombination anamnestischer und iktualer Beobachtungen sowie der fehlenden Erklärbarkeit
der Anfallszustände durch epileptische Aktivität oder andere organische
Ursachen. Dabei wird eine eindeutige
Diagnose bei etwa einem Drittel der
Patienten durch das zusätzliche Bestehen einer Epilepsie erschwert (12, 41)
– und der Nachweis eines PNEA mit
Video-EEG bedeutet nie, dass nicht
auch zusätzlich epileptische Anfälle
vorliegen oder zuvor manifest gewesen waren.
Epidemiologie
Die Inzidenz von PNEA in der Bevölkerung beträgt ungefähr 3 pro
100 000/Jahr (58), die Prävalenz wird
mit 2 bis 33 pro 100 000 oder 4 Prozent der Prävalenz epileptischer Anfälle angegeben (7, 55). Allerdings
kommen PNEA in bestimmten klinischen Situationen häufiger vor. So haben etwa 20 Prozent der für eine epilepsiechirurgische Evaluation überwiesenen (32) und bis zu 50 Prozent
der Patienten mit refraktärem Anfallsstatus PNEA und keine Epilepsie
(21). Zu einem PNEA-Status kommt
es bei etwa einem Drittel aller Patienten, und in etwa drei Viertel aller
Fälle tritt ein PNEA-Status wiederholt auf (21).
Mehr als ein Viertel der Patienten
mit PNEA wird mindestens einmal
wegen eines vermeintlichen Status
epilepticus intensivmedizinisch behandelt (46). Das Manifestationsalter
von PNEA liegt zumeist zwischen dem
20. und 30. Lebensjahr, allerdings wurde die Erstmanifestation von PNEA
sowohl bei vierjährigen Kindern als
auch bei über 70-jährigen Menschen
beschrieben. Drei Viertel aller Patienten sind Frauen (32).
Ätiologie
Häufig können PNEA durch Suggestion provoziert (29) und durch iktuale
Zusprache beendet werden (40).
Trotzdem wird davon ausgegangen,
dass PNEA zumeist unwillkürlicher
äußerer Ausdruck einer seelischen
Störung sind (15) und es sich nur in
seltenen Fällen um willkürlich simulierte oder artifizielle Zustände handelt (52).
Manche Autoren zählen PNEA zu
den dissoziativen Erkrankungen (28),
andere sehen PNEA fast ausschließlich als eine somatoforme oder eine
Konversionsstörung an (13). Entsprechend werden PNEA in der ICD-10
unter den dissoziativen und im Diagnostic Statistical Manual IV (DSM
IV) unter den somatoformen Störungen eingereiht (4, 61). Allerdings ist
sowohl bei PNEA wie auch bei anderen psychiatrischen Störungen bekannt, dass bei einem Patienten sowohl Dissoziations- als auch Somatisierungsneigungen vorliegen, und es
bleibt unklar, welche Pathomechanismen dissoziativen und Somatisierungsstörungen zugrunde liegen. Angesichts dieser Unsicherheit kann die
Ätiologie derzeit nur in gröberen Kategorien diskutiert werden, wobei prädisponierende, präzipitierende und
perpetuierende Faktoren interagieren.
> Bei vielen Patienten mit PNEA
liegen psychiatrische Störungen vor,
die im System des DSM IV auf der
Achse I angesiedelt wären. Besonders
häufig werden andere somatoforme,
sonstige dissoziative, affektive, posttraumatische oder Angststörungen beschrieben (10, 47).
> Zusätzlich ergeben sich bei der
Mehrzahl der Patienten Hinweise auf
Störungen der Persönlichkeitsent-
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wicklung, insbesondere für die Borderline-Persönlichkeitsstörung (9).
> Oft bestehen hirnorganischen Störungen, vor allem Epilepsie und Lernbehinderung (30, 42, 43). Gelegentlich
treten PNEA nach epilepsiechirurgischen oder anderen neurochirurgischen Eingriffen auf, vor allem wenn
es nach dem Eingriff zu Komplikationen und prolongiertem Krankenhausaufenthalt kam (17, 45).
> Häufig gibt es Hinweise auf soziale oder intrafamiliäre Konfliktsituationen (18, 24, 37, 60).
> Anamnestisch wird oft von sexuellem und körperlichem Missbrauch
berichtet (2).
PNEA ist also ebenso wenig eine
Diagnose wie Epilepsie. Eine komplette diagnostische Formulierung sollte
alle genannten Punkte berücksichtigen.
Zunächst ist zu klären, ob aktuelle
Konfliktsituationen vorliegen oder ob
Patienten die Kriterien für eine Achse-I-Diagnose (nach DSM IV) erfüllen, insbesondere für Depression,
Angststörungen oder eine posttraumatische Belastungsstörung. Obwohl
solche Störungen bei vielen Patienten
vorkommen, können bei den meisten
Patienten mit chronischen PNEA ein
maladaptives
Persönlichkeitsprofil,
Somatisierungs- oder Dissoziationsneigungen diagnostiziert werden (46).
Manche der mit diesen Erkrankungen
verbundenen Symptome können auf
eine kurzfristige psychotherapeutische oder medikamentöse Behand´
Tabelle 2
rer Verstärkungs- und Eskalationsprozesse abzielen. Zum anderen kann
man sich auf die Identifikation von
Stressoren und einen alternativen
Umgang mit Problemen im sozialen
Umfeld konzentrieren, mit denen vulnerable Aspekte der Persönlichkeit interagieren (33).
Es ist günstig, diese beiden Ansätze
zu kombinieren. Für Patienten bei denen PNEA nur ein Teil einer chronischen Somatisierungsstörung darstellt,
ist ein dem „case management“ entsprechender Ansatz eher angebracht
(56). Dabei werden Patienten an einen
Arzt gebunden, der kein Psychiater sein muss. Dieser Arzt sieht den
´
Anamnestische Fakten, die zur Differenzierung von psychogenen nichtepileptischen
und epileptischen Anfällen beitragen können
Anamnestische Beobachtung
Psychogene nichtepileptische
Anfälle
Epileptische Anfälle
Therapie
Manifestation vor dem
10. Lebensjahr
Ungewöhnlich
Häufig
Zu Beginn der Therapie bedarf es der
möglichst klaren Vermittlung der Diagnose von PNEA an den Patienten
und die mitbehandelnden Ärzte (54).
Dabei kann das Vorführen der Videoaufnahme eines typischen Anfalls
nach Ansicht der Autoren helfen. Bei
Patienten mit Epilepsie gibt es Belege
dafür, dass die Konfrontation mit den
eigenen Anfällen Patienten nicht schadet, bei Patienten mit PNEA wurde
dieser Punkt bislang nicht untersucht
(51). Vermittelt werden sollte auch die
Einschätzung, ob der Patient ausschließlich an PNEA leidet oder ob
zusätzlich epileptische Anfälle auftreten. Das zeitliche Miteinander oder
die zeitlich folgende Manifestation
solcher Anfälle bei einem Patienten ist
keine Seltenheit.
Hinsichtlich der weiteren Behandlung gibt es nur kleine beziehungsweise nicht kontrollierte Studien, die sich
mit PNEA befassen (1, 50). Hinweise
auf praktikable Therapieansätze müssen von verwandten Krankheitsbildern entliehen werden (44). Studien
werden dadurch kompliziert, dass
PNEA kein einheitliches psychopathologisches Syndrom sind. Die Behandlung muss jeweils auf den einzelnen Patienten abgestimmt werden.
Veränderung der Anfallssemiologie
Gelegentlich
Selten
Verschlechterung durch
Antikonvulsiva
Gelegentlich
Selten
Anfälle in Gegenwart von Ärzten
Häufig
Ungewöhnlich
Rezidivierender Anfallsstatus
Nicht selten
Selten
Multiple unerklärte körperliche
Beschwerden
Häufig
Selten
Multiple Operationen und invasive
Untersuchungen
Häufig
Selten
Psychiatrische Behandlung
Häufig
Selten
Sexueller und physischer Missbrauch
Häufig
Selten
lung ansprechen. Andere der erwähnten Störungsbilder lassen sich durch
therapeutische Intervention eher modifizieren als heilen.
Obwohl sicherlich auch andere psychotherapeutische Behandlungsformen zum Erfolg führen können, ist die
Effektivität einer psychotherapeutischen Intervention am besten für einen kognitiv verhaltenstherapeutischer Ansatz belegt (25, 44). Zum einen kann die psychotherapeutische
Intervention auf die Modulation von
extremen Gefühlsschwankungen, das
frühe Erkennen von Vorboten einer
Krise und das Durchbrechen sekundä-
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Patienten regelmäßig und bespricht
somatische und seelische Beschwerden. Mittelfristig soll dieser häufige
Kontakt die Zahl von Untersuchungen, Überweisungen und Notaufnahmen vermindern und die sekundäre
Verstärkung der Somatisierungsprozesse unterbrechen. Längerfristig wird
erhofft, dass Patienten allmählich Verbindungen zwischen somatischem und
seelischem Leiden wahrnehmen.
Zusätzlich kann eine pharmakologische Behandlung erwogen werden.
Jedenfalls wurde in anderen Patientengruppen gezeigt, dass selektive
Hemmer der Serontoninwiederauf-
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nahme die Behandlung emotionaler
Dysregulation, die sich oft bei PNEAPatienten darstellt (46), positiv beeinflussen können (57).
Insgesamt gibt es Hinweise darauf,
dass die Behandlung am ehesten erfolgreich ist, wenn sie in enger Zusammenarbeit mit Epilepsiespezialisten durchgeführt wird, um Irritationen in der
diagnostischen Zuordnung zu vermeiden oder zusätzliche epileptische Anfälle mitzubehandeln (1).
Prognose
Patienten, bei denen psychogene nichtepileptische Anfälle an einem Epilepsiezentrum diagnostiziert werden,
haben im Allgemeinen eine schlechte Behandlungs- und soziale Prognose. In einer Untersuchung in Deutschland wurde dokumentiert, dass im
Mittel mehr als elf Jahre nach der Manifestation von PNEA und mehr als
vier Jahre nach der Diagnose psychogener Anfälle, zwei Drittel der Patienten noch an Anfällen litten und mehr
als die Hälfte auf staatliche Unterstützung angewiesen waren (46). Das
heißt, dass die Prognose dieser Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose
schlechter war, als diejenige von Patienten mit neu diagnostizierter Epilepsie (5).
Dagegen war die Prognose mit derjenigen bei anderen somatoformen
Störungen (11) oder der von PNEAPatienten in anderen Ländern vergleichbar (14, 34, 36). Enttäuschend
war auch, dass 41 Prozent der Patienten ohne Hinweis auf eine zusätzlich
vorliegende Epilepsie im Mittel vier
Jahre nach der Diagnose von ausschließlichen PNEA an einem Epilepsiezentrum wieder oder immer noch
Antikonvulsiva einnahmen (46).
Allerdings gibt es hinsichtlich der
Prognose große Unterschiede zwischen verschiedenen Untergruppen
von Patienten mit PNEA. Mehrere
Studien haben belegt, dass PNEA
einen günstigeren Verlauf zeigen,
wenn sie früher diagnostiziert und behandelt werden (59). Auch ist die
Prognose bei Kindern (62) und jüngeren Erwachsenen besser (46). Das
gleiche gilt für Patienten mit höherem
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Intelligenzquotienten, besserer Schulbildung oder höherer gesellschaftlicher Position (46).
Auch zeigt sich, dass das Ergebnis
bei weniger dramatischen psychogenen nichtepileptischen Anfällen besser ist (keine tonisch-klonisch-artigen
Anfälle, kein iktualer Harnabgang
oder Zungenbiss, kein PNEA-Status
in der Anamnese) (46).
Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen einer ungünstiger
Prognose und einer maladaptiven Persönlichkeit (46). Das zusätzliche Vorliegen einer Epilepsie scheint den Verlauf nicht entschieden zu beeinflussen
(46, 59).
Schlussfolgerungen
Obwohl die Prävalenz von Patienten
mit psychogenen nichtepileptischen
Anfällen nur etwa 4 Prozent der Prävalenz Epilepsiekranker entspricht, suchen PNEA-Patienten häufig Kontakt
mit Ärzten und bemühen den medizinischen Notdienst. Wenn die korrekte
Diagnose in einer solchen Situation
nicht erkannt wird, werden PNEA als
epileptischer Notfall behandelt. Da eine antikonvulsive Medikation keine
therapeutische Wirkung auf PNEA
hat, kann es zum Einsatz hoher Antikonvulsivadosierungen oder sogar einer Behandlung mit Vollnarkose kommen. Eine solche Intervention setzt
Patienten nicht nur einem hohen Risiko für iatrogene Schäden aus, sondern
führt auch zur sekundären Verstärkung häufig ätiologisch relevanter Somatisierungsprozesse.
Trotz der Tatsache, dass es keine einzelne Beobachtung beziehungsweise
kein einzelnes klinisches Zeichen gibt,
welches belegt, dass es sich bei
einem Anfall um einen PNEA und keinen epileptischen Anfall handelt, ist die
Diagnose von PNEA zumeist nicht
schwer, wenn man bei der Behandlung
von Anfallspatienten stets berücksichtigt, dass Epilepsie nicht die einzige
mögliche Erklärung für anfallsartige
Ereignisse ist. Die differenzialdiagnostische Entscheidung ist besonders einfach, wenn der Patient direkt während
eines Anfalls beobachtet und untersucht werden kann (Tabelle 1).
Besteht keine Gelegenheit zur Beobachtung eines Anfalls, ist die weitere Anamnese häufig genauso hilfreich und wichtig wie die Beschreibung der Zustände durch Patienten
und Zeugen (Tabelle 2). Insbesondere die Anamnese von Notaufnahmen
mit rezidivierendem Anfallsstatus,
die Angabe anderer schwer erklärbarer körperlicher Symptome und psychiatrischer Krankheiten oder psychiatrischer Behandlungen wie auch
das fehlende Ansprechen von Anfällen auf eine antikonvulsive Therapie
sind Hinweise auf die Diagnose von
PNEA.
Bei klinischem PNEA-Verdacht
oder klinisch begründeten Zweifeln
an der Diagnose einer Epilepsie sollte
möglichst rasch eine weitere Untersuchung durch einen epileptologisch
versierten Arzt sowie eine Aufzeichnung typischer Anfälle mit Video und
EEG erfolgen. Die schnellere Sicherung der Diagnose wird hoffentlich
dazu beitragen, dass sich die gegenwärtig noch ungünstige Prognose in
der Behandlung von Menschen mit
PNEA zukünftig bessert.
Manuskript eingereicht: 7. 4. 2003, revidierte Fassung angenommen: 28. 4. 2003
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2003; 100: A 2013–2018 [Heft 30]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet
unter www.aerzteblatt.de/lit3003 abrufbar ist.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Markus Reuber, MRCP
Academic Unit of Neurology
Division of Genomic Medicine
University of Sheffield
Royal Hallamshire Hospital
Sheffield, S10 2JF
Großbritannien
E-Mail: [email protected]
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