Wissen, Archiv: 15. Mai 2008, TAGBLATT Das Gehirn - nach der Katastrophe Ein Schlaganfall ist lebensgefährlich. Am Kantonsspital St. Gallen untersucht man, wie sich Patienten erholen Toolbox Drucken Kommentieren Versenden Bei einem Schlaganfall zählt jede Minute. Wer möglichst unbeschadet überleben will, muss rasch ins Spital, benötigt eine präzise Diagnose und die passende Behandlung. Wie sich das Gehirn erholt, untersucht man am Kantonsspital St. Gallen. ROLF APP Wenn es geschieht, muss rasch gehandelt werden. Und richtig. Denn der Hirnschlag oder Schlaganfall ist die dritthäufigste Todesursache in der Schweiz und die häufigste Ursache für vorzeitige Invalidität. «Plötzlich auftretende halbseitige Lähmungen sind ein Zeichen für einen Hirnschlag», sagt Bruno Weder. Weiter erwähnt er plötzliche Kopfschmerzen, Sehstörungen, Koordinationsstörungen oder Gefühllosigkeit. Drei bis sechs Stunden Bruno Weder ist stellvertretender Chefarzt für Neurologie am Kantonsspital St. Gallen und Leiter der dortigen «Stroke Unit», die vor drei Jahren geschaffen worden ist. In diesem Schlaganfall-Zentrum arbeiten Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen eng zusammen. Wird ein Patient eingeliefert, werden sie sofort alarmiert. Wichtig ist, dass der Betroffene möglichst rasch im Spital landet, und zwar, sagt Weder, «sollte er innert drei bis sechs Stunden eintreffen». Denn für unser Zentralorgan, das Gehirn, besteht akute Gefahr. Seine Zellen benötigen den vom Blut transportierten Sauerstoff, sonst sterben sie rasch. Ein Schlaganfall ist eine akute Durchblutungsstörung von Teilen des Gehirns. Ausgelöst werden kann er durch Arteriosklerose (siehe «Stichwort»), das heisst Veränderungen in den Wänden der Blutgefässe, die diese mit der Zeit verengen und sogar verstopfen können. Es kann sich ein Pfropfen (Thrombus) bilden, der ein Blutgefäss abrupt verschliesst, oder ein Blutgerinnsel (Embolus) wird mit dem Blutfluss ins Gehirn geschwemmt. Besonders oft entstehen Blutpfropfen im alternden Herzen. Ab dem 75. Altersjahr nimmt diese Gefahr zu. Schliesslich kann anhaltend hoher Blutdruck zu Veränderungen an den Hirnarterien führen und sie sogar zum Platzen bringen. Blutung oder nicht? Etwa 15 Prozent aller Schlaganfälle werden durch solche Blutungen verursacht. Die äusseren Symptome sind dann die gleichen wie bei der Durchblutungsstörung, doch weil die Ursache eine andere ist, muss auch die Behandlung anders aussehen. So steht am Anfang jeder Therapie die präzise Diagnose. Erste konkrete Hinweise liefern die Art und der Ort der festgestellten Störungen. Lähmungen auf der einen Körperseite deuten auf einen Schlaganfall in der gegenüberliegenden Hirnhälfte hin. Ob das motorische Zentrum oder das Sprachzentrum betroffen ist, lässt sich auch von aussen beurteilen. Dann aber muss modernste Technik bemüht werden. «Mittels Computertomographie stellen wir fest, ob es sich um eine Blutung handelt oder nicht», erklärt Bruno Weder. «Mit Hilfe von Kontrastmitteln können wir ausserdem erkennen, wo ein Gefäss verschlossen ist. Und wir können zwischen definitiv abgestorbenem Gewebe (dem Infarktkern) und überlebendem, aber gefährdetem Gewebe unterscheiden.» In dieser Akutphase müssen die Ärzte versuchen, das verschlossene Gefäss möglichst rasch freizubekommen. «Es gibt Substanzen, die jene Fibrinfäden auflösen, von denen ein Thrombus umgeben ist», sagt Bruno Weder. «Man kann auch einen Katheter von der Leiste her ins Gehirn führen und dieses Verfahren dort lokal anwenden.» Das allerneueste Verfahren zielt darauf, das Gerinnsel durch «eine Art Korkenzieher» mittels Katheter mechanisch zu entfernen. Bei Blutungen bestehen zurzeit meist nur beschränkte Therapiemöglichkeiten. Ein kleiner Teil kann durch neurochirurgische oder kathetertechnische Verfahren gestillt werden. Oft bleiben Schäden und damit Funktionsstörungen zurück. Manchmal sind sie irreversibel, weil zu viele Zellen im Gehirn unwiederbringlich abgestorben sind. Häufig aber zeigt sich in der Phase der Rehabilitation eine Fähigkeit des Gehirns, die Bruno Weder zutiefst fasziniert: Es kann sich bis zu einem gewissen Grad «erholen». Wunderwerkzeug Hand «Wir wissen erst in Ansätzen, was genau in welchen Fällen geschieht», sagt Bruno Weder. «Nun wollen wir es genauer herausfinden, und zwar an der Hand: Sie ermöglicht uns, durch die Rückkoppelung zwischen Tastsinn und Motorik mit Gegenständen zu hantieren. Sie gibt uns die Fähigkeit, durch Betasten unsere Umwelt zu erkunden, und gibt uns so Auskunft über Form und Beschaffenheit von Gegenständen.» Schliesslich lässt die Hand sich trainieren und erreicht etwa beim Pianisten Höhepunkte, in welchen motorische Programme in höchster Perfektion, was Koordination und Geschwindigkeit von Fingerbewegungen betrifft, abrufbar sind. «Nicht nur der Pianist kann ohne seine Hände nicht leben», sagt Bruno Weder, «auch wir sind in unseren Alltagsverrichtungen auf unsere Fingerfertigkeit angewiesen. Der Verlust der Handfunktion ist ein schweres Handicap.» Mechanismen der Erholung Untersuchungen der Hirnfunktion an Patienten in der Rehabilitation haben Mechanismen gezeigt, welche für die Erholung von Bedeutung sein können: Das Handareal belegt «funktionell» eine grössere Hirnregion; Regionen in der Nachbarschaft zum geschädigten Handareal oder in der nichtgeschädigten Hirnhälfte springen «funktionell» ein. Verständlicherweise wollen die Ärzte den Prozess der Funktionserholung wenn möglich mit spezifischen Massnahmen fördern. Was nach einem Schlaganfall genau geschieht, will Weder zusammen mit Kollegen der Neurologischen Klinik und des Neuroradiologischen Instituts am Berner Inselspital herausfinden. Ein einfacher Test «Unser Test ist im Grunde einfach», sagt er und holt mehrere kleine Metallstücke aus dem Schrank. «Während der Schlaganfall-Patient im Kernspintomographen liegt, bekommt er die Metallstücke der Reihe nach in die Hand und muss mit ihnen manipulieren und nach der Exploration Form und Länge einschätzen. Wir führen den Test drei und neun Monate nach dem Schlaganfall durch. Im Kernspintomographen zeigt sich, welche Hirnareale dabei aktiv sind, ob neuronale Netzwerke zerstört und allenfalls kompensatorisch aktive, neue neuronale Netzwerke entstanden sind.» Der Kernspintomograph ist somit das Fenster, welches die am Gehirn stattfindenden Erholungs- und Lernvorgänge über die Zeit beobachten lässt: Der Zeitpunkt nach drei Monaten stellt die Phase der frühen Erholung dar, der Zeitpunkt nach neun Monaten die Phase der späten Erholung mit Verfestigung der wiedergewonnenen Funktion. Offene Fragen Die interessanteste Frage wird sein, in welchen Fällen sich ein Gehirn erholt und welche Mechanismen es dazu wählt. Blosse Kompensationen sehen im Kernspintomographen, der dazu verwendet wird, anders aus als eigentliche Lernvorgänge. Und: Das Resultat hat Konsequenzen für Rehabilitationsprogramme. Das wird dann auch der praktische Nutzen des vom Nationalfonds unterstützten Vorhabens sein. Wer weiss, wie das Gehirn längerfristig auf erlittene Schädigungen reagiert, kann ein massgeschneidertes Rehabilitationsprogramm für den betroffenen Patienten formulieren. Und wer nach einem Schlaganfall seine Hände wieder besser gebrauchen kann, wird sehr froh darum sein. Stichwort Arteriosklerose Die Arteriosklerose ist ein Schlüsselprozess in der Entstehung vieler Krankheiten, insbesondere im Bereich von Herz und Kreislauf. Sie ist eine Art vorzeitiger Gewebsalterung der Gefässe, über deren Ursachen es mehrere Theorien gibt. Als mögliche Auslöser gelten Verletzungen der Gefässwand durch die Scherkräfte des strömenden Bluts, Veränderungen durch das sogenannte schlechte Cholesterin, bestimmte Bakterien und Risikofaktoren wie das Rauchen, hohe Blutfettwerte und Blutdruck. Sie setzen eine Kaskade von Entwicklung in Gang: Nach einer Schädigung bildet sich in der Gefässwand eine Flüssigkeitsansammlung, Blutplättchen heften sich an und verklumpen miteinander. Fette lagern sich an, die darunterliegenden Zellen sterben ab. Häufig lagern sich Kalkpartikel an, weshalb man auch von Arterienverkalkung spricht. Es können sich Blutgerinnsel bilden, welche die Durchblutung behindern oder, wenn sie fortgeschwemmt werden, Arterien verstopfen. (R.A.) « zurück Copyright © St.Galler Tagblatt AG Alle Rechte vorbehalten. Eine Weiterverarbeitung, Wiederveröffentlichung oder dauerhafte Speicherung zu gewerblichen oder anderen Zwecken ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis von www.tagblatt.ch ist nicht gestattet. Anzeige