Staats- und Verwaltungsrecht Repetitorium Prof. Dr. Roland Rixecker Fallbesprechung 13: „Der Kampf um die Kanzlerschaft“ Verfassungsprozessrecht, Verfassungsrecht UNI-N.013 (WS 08/09) Sachverhalt Eine Woche vor der bevorstehenden Bundestagswahl will das ZDF am vorletzten Freitag vor dem Wahltag unter dem Titel „Der Kampf um die Kanzlerschaft“ eine 90-minütige Fernsehdiskussion mit den Spitzenkandidaten der beiden großen Volksparteien veranstalten. Die Bundeskanzlerin und der Kanzlerkandidat sollen die Chance haben, auf Fragen ausgewählter Journalisten hin ihr Konzept für den Fall darzulegen, dass sie nach einem Wahlsieg der sie tragenden Partei zum Regierungschef gewählt werden. Bis zur Wahl finden keine vergleichbaren Diskussionen oder ähnlich publikumswirksame redaktionelle Beiträge des Fernsehens in Deutschland zu Themen des Wahlkampfs mehr statt. Mit dem Beginn des Wahlkampfs hat auch eine der kleineren Parteien (F-Partei, organisiert als nicht eingetragener Verein), die in den Umfragen kurz vor der Fernsehdiskussion bei 7 % der Zweitstimmen liegend, ihren Spitzenkandidaten W zum Kanzlerkandidaten ausgerufen und dafür ein großes Medienecho erhalten. Die F-Partei vertritt die Auffassung, W müsse als Kanzlerkandidat schon aus Gründen der Chancengleichheit ebenfalls zur Fernsehdiskussion eingeladen werden. Auf ein entsprechendes Schreiben hin lehnt der Intendant des ZDF eine Einladung des W ab. Das redaktionelle Konzept der Sendung sei ganz auf die Befragung der beiden einzig aussichtsreichen Kanzlerkandidaten ausgelegt, die persönlich in einer „Duellsituation“ aufeinandertreffen sollten. Eine Einladung des W sei mit diesem Konzept nicht zu vereinbaren. Die redaktionelle Verantwortung für die Gestaltung des Programms trage das ZDF im Rahmen seiner Programmautonomie allein. Im Übrigen sei eine abgestufte Berücksichtigung der Parteien nach ihrem jeweiligen Gewicht mit dem Gleichheitsgedanken verträglich. Schließlich sei vier Wochen vor der Wahl mit W zu einer attraktiven Sendezeit ein „Sommerinterview“ geführt worden, in welchem er sich exklusiv und ausführlich habe präsentieren können, ganz abgesehen davon, dass die F-Partei der sonstigen politischen Berichterstattung vor und während des Wahlkampfs entsprechend ihrem politischen Gewicht angemessen vertreten gewesen sei. Mit dieser Antwort gibt sich die F-Partei nicht zufrieden. Das Sommerinterview sei kürzer gewesen als die potentielle Redezeit während des Kandidatenduells. Zudem gebe das Duell im Gegensatz zu den Sommerinterviews den Kandidaten die Möglichkeit, sich in direkter Auseinandersetzung mit ihren jeweiligen Kontrahenten in Szene zu setzen. Da es sich bei dem Kandidatenduell um den letzten gewichtigen Beitrag der Medien zu Themen des Wahlkampfs vor der Wahl handele, werde F auch nicht mehr die Chance haben, nach dem Kandidatenduell zu reagieren auf Aussagen während des Kandidatenduells. Weil die F-Partei die Einladung des W in jedem Fall erreichen will, klagt sie zunächst in der Hauptsache vor dem zuständigen Verwaltungsgericht. Zugleich beantragt sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung, der das ZDF verpflichten soll, den W zu dem Kandidatenduell einzuladen. Nachdem die F-Partei mit dem Eilantrag drei Wochen vor dem Sendetermin des Kandidatenduells endgültig vor dem VG und dem OVG gescheitert 1 ist, erhebt sie unverzüglich Verfassungsbeschwerde beim BVerfG und beantragt den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Wie wird das BVerfG über beide Anträge entscheiden? Das Bundespresseamt plant, am Samstag nach dem Kandidatenduell unter dem Titel „Informationen der Bundesregierung“ eine vierseitige, reich bebilderte Hochglanzbroschüre mit den „Highlights“ des „Kandidatenduells“ in einer Auflage von mehreren Millionen Exemplaren zu publizieren, die interessierten Organisationen, vor allem den Kampagnezentralen der großen Volksparteien zur Verfügung gestellt werden soll. Die Äußerungen von Kanzlerkandidatin und Kanzlerkandidat sollen in etwa den gleichen Raum einnehmen. Ist dieses Vorhaben verfassungsrechtlich zulässig? 2 Staats- und Verwaltungsrecht Repetitorium Prof. Dr. Roland Rixecker Fallbesprechung 13: „Der Kampf um die Kanzlerschaft“ Gliederungsskizze und Bearbeitungshinweise (UNI-N.013 WS 08/09 – Stand 01/09) Probleme des Falles o Verfassungsbeschwerdefähigkeit politischer Parteien o Erschöpfung des Rechtswegs, Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG, Recht einer politischen Partei auf Chancengleichheit, Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG Leseempfehlung: BVerfG NJW 2002, 2939 mit Anmerkung Volkmann, JZ 2003, 366 1. Aufgabe: Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde. A. Zulässigkeit I. Eröffnung des Verfassungsrechtswegs Sie ergibt sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 13 Nr. 8 a, 90 ff BVerfGG. II. Beschwerdefähigkeit Bearbeiterinnen und Bearbeiter müssen erörtern, dass politische Parteien, die ihrem verfassungsrechtlichen Status gegenüber obersten Verfassungsorganen geltend machen, im Organstreitverfahren – und nur dort – parteifähig sind. Werden indessen Akte anderer Träger hoheitlicher Gewalt – von Rundfunkanstalten beispielsweise – angegriffen, werden die um ihre verfassungsmäßigen Rechte streitenden politischen Parteien als beschwerdefähig im Verfassungsbeschwerdeverfahren angesehen, weil sie als frei gebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen nicht gleichfalls zur grundrechtsgebundenen Staatsgewalt zu rechnen sind. III. Beschwerdegegenstand Die Weigerung des ZDF, W zu dem Kandidatenduell einzuladen, stellt einen Akt mittelbarer Staatsgewalt dar. Zugleich richtet sich die Beschwerde gegen die den vorläufigen Rechtsschutz verweigernden Entscheidungen der Verwaltungsgerichte. IV. Beschwerdebefugnis Die F-Partei muss behaupten, durch den beschwerdegegenständlichen Akt in einem ihrer Grundrechte verletzt zu sein und eine solche Verletzung muss möglich erscheinen. Fraglich ist folglich, ob die F-Partei überhaupt Träger von beschwerdefähigen Grundrechten ist. 3 Einen schweren Fehler würde es darstellen, wenn Bearbeiterinnen und Bearbeiter die Verfassungsbeschwerde allein auf Art. 21 GG stützen würden. die Vorschrift enthält kein Grundrecht. Allerdings lässt das BVerfG politische Parteien die Berufung auf Grundrechte – vor allem ein Grundrecht auf Chancengleichheit, das aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG hergeleitet wird – zu. Durch die angegriffenen Akte öffentlicher Gewalt ist die F-Partei auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. V. Erschöpfung des Rechtswegs Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss ein Beschwerdeführer zunächst alle zur Verfügung stehenden und zumutbaren Möglichkeiten fachgerichtlichen Rechtsschutzes ausschöpfen. Hier hat die F-Partei nicht bis zu der Entscheidung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Hauptsache abgewartet. Allerdings ist das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ein gegenüber dem Verfahren in der Hauptsache eigenständiger Rechtsweg. Jedoch scheidet eine Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes mangels Erschöpfung des in der Hauptsache zur Verfügung stehenden Rechtsweges unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde aus, wenn ausschließlich Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich nicht spezifisch auf das Eilverfahren beziehen. Das gilt allerdings wiederum nicht bei Identität der im vorläufigen und im Hauptsacheverfahren zu entscheidenden Rechtsfragen. Auch die anzunehmende Dauer des Verfahrens in der Hauptsache kann zur Unzumutbarkeit der Ausschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache führen. Da das Grundrecht der F-Partei durch die Entscheidungen im Eilverfahren endgültig vereitelt zu werden droht, weil mit einer Entscheidung in der Hauptsache nicht bis zum Sendetermin zu rechnen ist, und weil auch von einer Identität der wesentlichen Rechtsfragen auszugehen ist, ist von der Erfüllung der Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auszugehen. Bearbeiterinnen und Bearbeiter, die die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG als nicht erfüllt ansehen müssen annehmen, dass jedenfalls ein schwerer und unabwendbarer Nachteil im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 2, 2. Alternative BVerfGG vorliegt. In solchen Fällen steht auch das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache einer Entscheidung nicht entgegen. VI. Beschwerdefrist Von der Einhaltung der Monatsfrist (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) für die Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde ist auszugehen. B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde Die Verfassungsbeschwerde der F-Partei ist begründet, wenn die von ihr angegriffenen Akte sie in einem ihrer Grundrechte verletzen. In Betracht kommt eine Verletzung des Rechts auf Chancengleichheit. 4 I. Rechtsgrundlage des Rechts auf Chancengleichheit Weder Art. 21 GG noch Art. 38 GG noch das Demokratieprinzip gewähren einer politischen Partei Grundrechte. Im Bereich der Grundrechte kommt daher als Ansatzpunkt allein Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht, der im Lichte der Parteienfreiheit und des Grundrechts auf Freiheit und Gleichheit der Wahl zu interpretieren ist. Allerdings wird vereinzelt vertreten, dass eine öffentlich-rechtlich Rundfunkanstalt zur Wahrung des Grundrechts der Chancengleichheit einer politischen Partei nicht verpflichtet ist. Jedoch vermag eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt im Rahmen der Wahrnehmung ihr übertragener öffentlich-rechtlicher Aufgaben auch die Wahlchancen einer politischen Partei nachhaltig zu beeinflussen. Vor solchen nicht zu rechtfertigenden Beeinflussungen durch Grundrechtsverpflichtete muss eine politische Partei geschützt werden. II. Berührung des Schutzbereichs und Eingriff Das Grundrecht auf Chancengleichheit einer politischen Partei geht über die Anforderungen eines bloßen Willkürverbotes hinaus und verlangt grundsätzlich eine formale Gleichbehandlung aller politischen Parteien, soweit nicht andere verfassungsrechtliche Normen Differenzierungen erlauben oder gebieten. Allerdings werden solche Differenzierungen, wie sich aus den Art. 20 Abs. 1, 21 Abs. 1, 38 Abs. 1 GG ergeben soll, angenommen. Die Chancengleichheit der Parteien im Hinblick auf Wahlen verlangt von Trägern öffentlicher Gewalt Neutralität gegenüber Parteien und ihren Anhängern. Die vorgefundene Wettbewerbslage darf nicht beeinflusst werden und die bestehenden Unterschiede dürfen durch sie weder nivelliert noch vergrößert werden. Das gestattet eine nach der jeweiligen Bedeutung der Parteien abgestufte Beteiligung an redaktionell gestalteten wahlrelevanten Sendungen des öffentlichrechtlichen Rundfunks. III. Rechtfertigung Aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, auf den sich auch eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt berufen kann, folgt der Schutz der Programmautonomie vor staatlicher Einflussnahme auf Auswahl, Inhalt und Ausgestaltung der Programme. Die Rundfunkfreiheit gewährleistet demnach prinzipiell auch das Recht einer Rundfunkanstalt, die Teilnehmer an einer wahlbezogenen Diskussion nach Ermessen selbst zu bestimmen. Auch dadurch wird der strenge formale Gleichheitsmaßstab gelockert. Je näher allerdings eine einzelne Sendung am Wahlzeitpunkt liegt und je bedeutender die Sendung im Hinblick auf die Wahl ist, desto mehr muss sich das an sich Differenzierungen rechtfertigende redaktionelle Konzept am Prinzip der Chancengleichheit messen lassen. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten dürfen ein redaktionelles Konzept, das die Erfolgsaussichten von Beteiligten am Wahlwettbewerb nachhaltig mindern kann, nicht ohne Rücksicht auf diesen Umstand durchsetzen. Dem wird insoweit nur Genüge getan, wenn eine bei einer konkreten Sendung nicht berücksichtigte Partei im Gesamtprogramm angemessen berücksichtigt wird. Insoweit müssen Bearbeiterinnen und Bearbeiter bedenken, dass dem Kandidatenduell eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Denn es handelt sich um die letzte redaktionell gestaltete Sendung des ZDF vor der Wahl. Das redaktionelle 5 Konzept beinhaltet dabei eine Personalisierung und Fokussierung auf die Spitzenkandidaten der großen Volksparteien. Eine solche Ungleichbehandlung verstößt nicht als solche gegen ein abgestuftes Konzept der Gleichheit. Vielmehr korrespondiert es der herausgehobenen Stellung, die der von der Mehrheit im Bundestag getragene künftige Bundeskanzler als Inhaber der Richtlinienkompetenz in der politischen Praxis hat. Eine realistische Chance im Hinblick auf die Kanzlerschaft haben nur die Kanzlerkandidatinnen und Kanzlerkandidaten der großen Volksparteien. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Sendung als letzte redaktionell gestaltete Sendung vor der Bundestagswahl aufgrund des Sendetermins und des redaktionellen Zuschnitts von ganz erheblichem publizistischem Gewicht ist und einen dem entsprechenden Einfluss auf das Wählerverhalten haben kann. Das kann erforderlich machen, diese hervorgehobene Präsentation durch die übrige Berichterstattung zugunsten der kleineren Parteien und ihrer Spitzenkandidaten zu kompensieren. Ob die Gestaltung des Sommerinterviews eine solche Kompensation enthält, ist allerdings fraglich. Bearbeiterinnen und Bearbeiter können insoweit unterschiedliche Ergebnisse vertreten. Sie können zur Auffassung gelangen, das Sommerinterview sei keine Kompensation aufgrund seines anders gearteten redaktionellen Konzepts und der kürzeren Dauer der Möglichkeit zur Präsentation. Sie können auch vertreten, dass die herausgehobene Darstellung der Auseinandersetzung der Spitzenkandidaten der großen Parteien eine Differenzierung rechtfertigt, weil auf diese Weise das gegebene Kräfteverhältnis und die besondere Bedeutung der allein chancenreichen Kanzlerkandidatinnen und Kanzlerkandidaten zum Ausdruck gebracht würden. 2. Aufgabe Bearbeiterinnen und Bearbeiter müssen sich mit den Voraussetzungen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung auseinandersetzen. Sie sollten insoweit darlegen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache – der Verfassungsbeschwerde – ankommt, sondern dass es allein um eine Abwägung geht. Die Grundsätze dieser Abwägung sollten sie darstellen und fragen können: Welche Nachteile entstünden der F-Partei, wenn ihr Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung keinen Erfolg hätte, sie aber in der Hauptsache obsiegen würde und welche Nachteile entstünden dem ZDF, wenn die einstweilige Anordnung erlassen, die Verfassungsbeschwerde aber zurückgewiesen würde. Bearbeiterinnen und Bearbeiter sollten allerdings vorausschicken, dass eine solche Abwägung nicht stattfindet, wenn die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. Als Ergebnis der Abwägung sind unterschiedliche Einschätzungen vertretbar, da es in jedem Fall zu einem tatsächlichen „Verlust“ des jeweiligen Grundrechts – des Rechts auf Chancengleichheit oder der Programmfreiheit – kommen wird. Da allerdings viel dafür spricht, dass die F-Partei im Programm des ZDF eine annähernd gleiche Kompensation erhalten hat, kann sich die Waage im Rahmen der einstweiligen Anordnung allerdings zu ihren Lasten neigen. Aufgabe 3: Bearbeiterinnen und Bearbeiter müssen sich die Frage nach der Rechtsgrundlage der geplanten Publikation (Kompetenz zur Öffentlichkeitsarbeit) stellen. Sie sollten sodann erkennen, dass eine Publikation über das „Kandidatenduell“ von vornherein keine Aufgabe der Bundesregierung sein kann, die sich ja nicht zur Wiederwahl stellen darf. Wer das übersieht, muss zumindest erkennen, dass die Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit eindeutig überschritten sind (Wahlkampfnähe, Darstellung lediglich der beiden Personen. reklamehafte Aufmachung). 6