Steuerung und Transformation - Integrierte Mikrosysteme der

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Steuerung und Transformation
Überblick über theoretische Konzepte in den Projekten
der sozial-ökologischen Forschung
Diskussionspapier 01
Herausgeber
Querschnittsarbeitsgruppe Steuerung und Transformation
im Förderschwerpunkt Sozial-ökologische Forschung
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)
Berlin, im März 2004
Kontakt:
Jan-Peter Voß, email: [email protected]
Dierk Bauknecht, email: [email protected]
2
Sozial-ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Inhalt
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung ..................................................................................................................7
Jan-Peter Voß, Dierk Bauknecht
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
2
Steuerung und Transformation in der Sozial-ökologischen Forschung..............7
Ziel der QAG Steuerung und Transformation.....................................................8
Konzeptionelle Ansätze: Gemeinsamkeiten und Unterschiede ..........................9
Ausblick auf zu behandelnde Themen und Arbeitsprozess ..............................15
Literatur.............................................................................................................15
Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus und institutionelle
Steuerung ................................................................................................................17
Benjamin Nölting
2.1 Beschreibung des akteurzentrierten Institutionalismus.....................................17
2.2 Der akteurzentrierte Institutionalismus und Nachhaltigkeitsforschung............19
2.3 Die Anwendung des Ansatzes für die ökologische Land- und
Ernährungswirtschaft ........................................................................................20
2.4 Thesen zu den Stärken und Schwächen des akteurzentrierten
Institutionalismus..............................................................................................21
2.5 Literatur.............................................................................................................22
3
Global Governance und Klimawandel - Eine Mehrebenenanalyse zu
den Bedingungen, Risiken und Chancen sozial-ökologischer
Transformationen...................................................................................................25
Achim Brunnengräber und Bernd Hirschl
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
4
Vorbemerkungen...............................................................................................25
Einleitung ..........................................................................................................26
Global Governance: Steuerungsoption oder Forschungsansatz? ......................26
Zum Steuerungsbegriff......................................................................................29
Zu sozial-ökologischen Transformationen........................................................29
Regional Governance .............................................................................................31
Jochen Monstadt
4.1 Anwendungs- und Problemkontext im networks-Teilprojekt
"Räumlicher Wandel und regionale Steuerung in der Energie- und
Wasserversorgung" ...........................................................................................31
4.2 Regional Governance als konzeptioneller Rahmen der Analyse des
Wandels in der Energie- und Wasserversorgung..............................................33
4.3 Literatur.............................................................................................................38
5
Der Regulationsansatz ...........................................................................................41
Markus Wissen
5.1 Vorbemerkung...................................................................................................41
5.2 Von der hierarchischen Steuerung zur gesellschaftlichen
Selbstregulierung ..............................................................................................41
3
Sozialökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
5.3
5.4
5.5
5.6
6
Kritik der sozialwissenschaftlichen Steuerungsdebatte.................................... 43
Regulation und Regulationsweise .................................................................... 44
Regulation und sozial-ökologische Transformation......................................... 45
Literatur ............................................................................................................ 46
Die politische Steuerung von Netzwerken: Annäherung über
Wissenspolitologie und Advocacy-Coalitions-Ansatz......................................... 49
Delia Schindler
6.1
6.2
6.3
6.4
Anwendungs-/ und Problemkontext: ................................................................ 49
Sozialökologische Transformation als ergebnisoffener Prozess ...................... 49
Politische Steuerung in der unordentlichen Wirklichkeit................................. 49
Literatur ............................................................................................................ 55
7
Natur, Mensch und Gesellschaft: Thesen zu einer Integrativen sozialökologischen Heuristik .......................................................................................... 57
Maik Hosang
8
Ko-Evolution und reflexive Gestaltung ............................................................... 69
Jan-Peter Voß
8.1
8.2
8.3
8.4
8.5
9
Problem- und Anwendungskontext .................................................................. 69
Transformation als Ko-Evolution ..................................................................... 69
Steuerung als reflexive Gestaltung ................................................................... 75
Prozesselemente reflexiver Gestaltung............................................................. 77
Literatur ............................................................................................................ 80
Akteur-Netzwerk-Theorie..................................................................................... 83
Karl-Werner Brand
9.1
9.2
9.3
9.4
(Steuerungstheoretische) Fragestellung und Ziel des Projekts......................... 83
Implizite Steuerungskonzepte des Verbundprojekts ........................................ 84
Transformation und Steuerung im Ansatz der Akteur-Netzwerk-Theorie ....... 87
Literatur ............................................................................................................ 91
10 Das Konzept Gesellschaftliche Naturverhältnisse .............................................. 93
Diana Hummel und Thomas Kluge
10.1Anwendungs- und Problemkontext: Fragestellung und Zielsetzung der
Projekte demons und netWORKS ..................................................................... 93
10.2Gesellschaftliche Naturverhältnisse als theoretisches
Orientierungskonzept ....................................................................................... 94
10.3Sozial-ökologische Regulation......................................................................... 97
10.4Sozial-ökologische Transformation ................................................................. 98
10.5Verhältnis beider Begriffe zueinander ............................................................. 99
10.6Literatur............................................................................................................ 99
11 Komplexität und Komplexe Adaptive Systeme – Ansätze des Santa Fe
Instituts ................................................................................................................. 101
Karin Berkhoff, Britta Kastens und Jens Newig
4
Sozial-ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Inhalt
11.1Definition des Begriffes „Komplexität“ .........................................................101
11.2Komplexe adaptive Systeme...........................................................................103
11.3Steuerung und Transformation komplexer adaptiver Systeme.......................105
11.4Literatur ..........................................................................................................106
12 Verzeichnis der AutorInnen und Projekte.........................................................109
5
Einleitung
1
Einleitung
Jan-Peter Voß, Dierk Bauknecht
1.1
Steuerung und Transformation in der Sozial-ökologischen Forschung
Die sozial-ökologische Forschung versteht ihren Forschungsgegenstand als dynamische, gekoppelte Mensch-Umwelt-Systeme. Vor diesem Hintergrund erscheinen Umweltprobleme als komplexes Regulationsproblem.
Das lebensweltliche Ziel der sozial-ökologischen Forschung ist die „Steigerung gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit angesichts neuer und schwer durchschaubarer sozial-ökologischer Problemlagen durch den Aufbau einer neuen Wissensbasis“ (Becker
et al. 1999: 21).
Somit „werden (...) aus ganz praktischen Gründen integrative Problemlösungen benötigt, welche eine zielorientierte Veränderung der Beziehungsmuster zwischen Gesellschaft und Natur ermöglichen. Veränderungen dieser Beziehungsmuster lassen sich als
sozial-ökologische Transformationen beschreiben. Sie können entweder durch intentional kaum beeinflussbare evolutionäre Prozesse vorangetrieben werden (...) oder
durch gezielte Innovationen“ (Becker et al. 1999: 4).
Sozial-ökologische Forschung geht es also nicht nur um wissenschaftliche Analyse,
sondern um gesellschaftliches Handeln, das auf sozial-ökologische Transformationsprozesse gerichtet ist. Im Zusammenhang der allgemeinen Problem- und Zieldefinition
der sozial-ökologischen Forschung besitzt die Steuerung von verknüpften sozialen,
technischen und ökologischen Veränderungsprozessen damit eine zentrale Bedeutung.
Gleichzeitig steht die Steuerung sozial-ökologischer Transformationsprozesse vor besonderen Herausforderungen. Steuerung in der sozial-ökologischen Forschung bedeutet Steuerung angesichts von Komplexität, Unsicherheit und verteilten Einflussressourcen. Die besonderen Steuerungsprobleme im Zusammenhang sozial-ökologischer
Transformationsprozesse lassen sich folgendermaßen umreißen:
•
Der Untersuchungsgegenstand sozial-ökologische Transformationsprozesse beinhaltet komplexe Wechselwirkungen über die Grenze von Gesellschaft, technischen
Systemen und Ökosystemen hinweg. Es bleibt immer Unsicherheit und Unwissen
über zukünftige Entwicklungen und die Auswirkungen von Interventionen erhalten, die erhebliche Folgewirkungen haben können: Man weiß nicht vollständig,
wie das System funktioniert.
•
Das Ziel Nachhaltigkeit ist nicht eindeutig wissenschaftlich bestimmbar, sondern
beinhaltet Wertentscheidungen, die gesellschaftlich umstritten sind und sich im
Verlauf öffentlicher Diskurse verändern können: Man hat keine eindeutig und
dauerhaft bestimmbaren Ziele.
7
Sozialökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
•
Die Umsetzung von Strategien zur Beeinflussung von grundlegenden Wandlungsprozessen betrifft sehr viele Akteure, deren Unterstützung wichtig ist, die aber jeweils eigene Problemsichten und Interessen haben und i.d.R. nicht gezwungen
werden können: Es gibt keine zentrale Kontrolle über das System.
Die Kombination dieser Probleme stellt die spezifische Steuerungs-Problematik sozial-ökologischer Forschung dar.
Wie kann also das Dilemma gelöst werden zwischen der Notwendigkeit, sozialökologische Transformationsprozesse zu steuern, um gesellschaftliche Ziele, insbesondere Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, einerseits, und den spezifischen Steuerungsproblemen, die sich angesichts des Situation und des Gegenstandes ergeben, andererseits? Wie kann Steuerung in der sozial-ökologischen Forschung konzipiert werden?
1.2
Ziel der QAG Steuerung und Transformation
Vor dem Hintergrund der besonderen Problematik der Steuerung von sozialökologischen Transformationsprozessen hat sich die Arbeitsgruppe zum Ziel genommen, die dazu erfolgenden Arbeiten in den einzelnen Projekten miteinander in Beziehung zu setzen und in Bezug auf übergreifende Fragen auszuwerten.
Das wissenschaftliche Profil der sozial-ökologischen Forschung soll durch eine problemfeldübergreifende Betrachtung der spezifischen Steuerungsproblematik gestärkt
werden. Der praktische Problemlösungsbeitrag der sozial-ökologischen Forschung soll
durch das wechselseitige Lernen an konkreten Fällen und die Auslotung der Übertragungsmöglichkeiten von Problemlösungen über verschiedene Anwendungsfelder hinweg erweitert werden.
Obwohl es der QAG darum geht, wie sozial-ökologische Transformationsprozesse
unter realen Bedingungen praktisch gestaltet werden können (Transformations- bzw.
Gestaltungswissen), anstatt sie lediglich in ihrer Eigendynamik zu analysieren und zu
verstehen (Systemwissen), soll in der Arbeitsgruppe selbst keine direkte Umsetzungsarbeit und Praxiskooperation geleistet werden. Vielmehr sollen grundlegende konzeptionelle und theoretische Herausforderungen bearbeitet werden, die mit der Entwicklung und Implementation effektiver Strategien zur gesellschaftlichen Steuerung sozialökologischer Transformationen verbunden sind.
Das vorliegende Arbeitspapier wurde von der Querschnitts-Arbeitsgruppe (QAG)
„Steuerung und Transformation“ im BMBF-Förderschwerpunkt „Sozial-ökologische
Forschung“ erarbeitet. Es stellt den Diskussionsstand nach dem ersten Workshop der
Arbeitsgruppe im November 2003 und der daran anschließenden ersten Arbeitsphase
dar.
Ziel dieser ersten Arbeitsphase ist es, eine Bestandsaufnahme der unterschiedlichen
theoretischen Zugänge zur Steuerung sozial-ökologischer Transformationsprozesse
vorzunehmen, die in den teilnehmenden SÖF-Projekten verwendet werden. Dabei liegt
8
Einleitung
der Schwerpunkt nicht auf der jeweils modifizierten Ausprägung, in der theoretische
Konzepte in den Projekten zur Anwendung kommen, sondern auf ihrer „Rohform“,
die es erlaubt, sie idealtypisch einander gegenüber zu stellen.
In der zukünftigen Arbeit der QAG sollen die Stärken und Schwächen der einzelnen
Ansätze in ihrem jeweiligen empirischen Kontext durchleuchtet werden. Die in den
Projekten am konkreten Forschungsgegenstand entwickelten Ansätze sollen dann daraufhin untersucht werden, ob sie – ggf. in Kombination mit anderen theoretischen Arbeiten – zu Elementen einer Steuerungstheorie sozial-ökologischer Transformationsprozesse verknüpft werden können. Ein wichtiger Schritt in dieser Richtung wird es
sein, die jeweiligen theoretischen Ansätze zueinander in Beziehung zu setzen und auf
Widersprüche, Komplementaritäten oder Verknüpfungsmöglich-keiten zu überprüfen.
1.3
Konzeptionelle Ansätze: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Die Darstellung der einzelnen Ansätzen in diesem Papier zeigt, dass in den Projekten
der sozial-ökologischen Forschung unterschiedliche Begriffe von Steuerung und
Transformation verwendet werden. Wieweit diese Unterschiede durch semantische
Bezüge auf verschiedene Denkschulen bedingt sind, oder durch grundsätzliche Unterschiede in der Auffassung davon, was Steuerung und Transformation ist und wie mit
der Problematik umgegangen werden soll, wird ein Thema der weiteren Arbeit in der
Querschnittsarbeitsgruppe sein. Unterschiede liegen auch darin begründet, dass die
Ansätze auf unterschiedlichen Skalen operieren (z.B. regional/global) oder in verschiedenen Anwendungskontexten stehen (z.B. Umsetzungsprojekt/ Modellierungsprojekt) und entsprechend verschiedene Aspekte fokussieren1.
Aus Sicht der Mitglieder der Querschnittsarbeitsgruppe werden die verschiedenen
Begriffsinhalte und damit verbundenen theoretischen Konzepte nicht als konkurrierende, sondern als komplementäre Forschungsansätze begriffen. Sie verfolgen das
gemeinsame Ziel
a) Transformationsprozesse und ihre Einflussfaktoren zu verstehen,
b) Bedingungen für die intentionale Beeinflussung von Transformationsprozessen zu
untersuchen und
c) Strategien für die nachhaltige Gestaltung von Transformationsprozessen zu erarbeiten.
Nachfolgend geben wir einen kursorischen Überblick über einige Aspekte der Konzepte von Transformation und Steuerung, die in den Projekten der sozial-ökologischen
Forschung verwendet werden.
1
Der empirische Untersuchungsbereich, der durch die Projekte abgedeckt wird, umfasst 6 Regionen,
die Sektoren/Bedürfnisfelder Wasser, Ernährung, Landwirtschaft, Strom, Gas, Telekommunikation
sowie die Problem-/Politikfelder Klima, Agrobiodiversität, Bildung, Bevölkerungsentwicklung,
Siedlungsbau, Wirtschaftsentwicklung.
9
Sozialökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
1.3.1
Grundsätzliches Verständnis von Transformation
In allen Projekten wird Transformation als Strukturwandel begriffen. Das Transformationsverständnis der einzelnen Ansätze unterscheidet sich in der Frage, ob der Strukturwandel als offen angesehen wird oder ob Transformation als Strukturwandel in eine
bestimmte Richtung, mit einem bestimmten Ziel verstanden wird.
Wenn Transformation als eine Strukturveränderung mit einer bestimmten Richtung
aufgefasst wird, kann diese durch Nachhaltigkeitsziele bestimmt sein (Nölting, Brunnengräber/Hirschl) oder anderen Prinzipien folgen, wie z.B. der Verarbeitung von Krisen im kapitalistischen Produktionssystem (Wissen) oder Prozessen der Differenzierung und Integration (Hosang). Andere Ansätze verwenden den Transformationsbegriff zunächst offen, ohne spezifisch ausgerichtete Makrodynamiken konzeptionell zu
bestimmen. In dem Ansatz, den Voß vorstellt, sind „Verlaufsmuster und Richtung von
Transformationsprozessen (...) nicht konzeptionell vorgegeben, sondern empirisch zu
untersuchen (Typenbildung, z.B. abrupter oder gradueller Wandel, und Bewertung,
z.B. „nachhaltige Transformation“ sind dabei möglich)“ (68).
Unterschiedliche Interpretationen zeigen sich auch in der Verwendung des Begriffs
„sozial-ökologische Transformation“. Mal wird mit dem Adjektiv „sozial-ökologisch“
das System näher bezeichnet, das den Transformationsprozess durchläuft, nämlich ein
System, das sich durch die Verknüpfung von sozialen, ökologischen (und technischen)
Elementen auszeichnet (vgl. Voß). Mal wird das Adjektiv „sozial-ökologisch“ so verstanden, dass es eine bestimmte normative Qualität des Transformationsprozesses indiziert: eine sozial und ökologisch verträgliche Transformation. Dabei wird allerdings
betont, dass unterschiedliche Akteure den Begriff unterschiedlich interpretieren und
unterschiedliche Ziele mit ihm verbinden (s. z.B. Schindler).
In allen Ansätzen – auch jenen, die Transformation zunächst neutral zu beobachten
versuchen – geht es letztlich um die Frage, wie Steuerung in Richtung einer wie auch
immer definierten Nachhaltigkeit möglich ist. So schreiben z.B. Hummel/Kluge: „In
diesem Sinne ist das Konzept [sozial-ökologischer Transformation] deskriptiv und
analytisch orientiert, umfasst jedoch auch die normative Frage: was sind die Voraussetzungen für eine nachhaltige Gestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse.“
(94)
1.3.2
Strukturelemente, die für Transformation eine Rolle spielen
Wenn in den hier dargestellten Ansätzen von Strukturwandel die Rede ist, dann fokussieren die einzelnen Ansätze auf unterschiedliche Strukturelemente sozialökologischer Systeme. Der Gegenstand, der eine Transformation durchläuft, wird unterschiedlich konzipiert. Jeweils andere Bestandteile treten dabei in den Vordergrund.
Einige Ansätze versuchen, die verschiedenartigen Elemente sozial-ökologischer Systeme und ihre Beziehung untereinander möglichst umfassend abzubilden, um dann
auch den Transformationsprozess als Wechselspiel der Veränderung sozialer, technischer und ökologischer Elemente zu begreifen, wie im Konzept gesellschaftlicher Na-
10
Einleitung
turverhältnisse (Hummel/Kluge), im Ko-Evolutions Konzept (Voß) oder in der Akteur-Netzwerk-Theorie (Brand). Auch Hosang nimmt in seinen Thesen auf eine umfassende Konzeptionalisierung verschiedener sozialer und natürlicher Bestandteile von
sozial-ökologischen Systemen Bezug.
Andere Ansätze hingegen greifen bestimmte Dimensionen der Struktur sozialökologischer Systeme heraus, um deren Transformation ins Visier zu nehmen.2 So legt
Nölting basierend auf dem Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus das Augenmerk auf formale und informale Institutionen, die gesellschaftliche Interaktionsprozesse regeln. In Anlehnung an den wissenspolitologischen Ansatz von Nullmeier
und das Konzept der Advocacy-Koalitionen von Sabatier liegt bei Schindler der
Schwerpunkt auf der Analyse von kognitiven Deutungsmustern, die bei einzelnen Akteuren ein unterschiedliches Verständnis von nachhaltiger Transformation beinhalten.
Hosang stellt das Bewusstsein, d.h. die Formen der menschlichen Selbstreferenz in
den Fokus des Transformationsbegriffes. In diesen Fällen ist jeweils die Transformation der fokussierten Strukturen, Institutionen, Deutungsmuster oder das Bewusstsein
der Schlüssel zur sozial-ökologischen Systemtransformation.
Bei Monstadt steht regionale Governance im Zentrum und entsprechend bezeichnet
der Begriff „sozial-ökologische Transformation“ Veränderungen der institutionellen
und räumlichen Konfiguration von Governance.
Aus der Perspektive des Regulationsansatzes bei Wissen sind die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die durch ihre strukturellen Widersprüche hervorgebrachten
Krisen und deren Regulationsformen der Ausgangspunkt zur Analyse sozialökologischer Transformation.
1.3.3
Grundsätzliche Möglichkeit von Steuerung
Die Beiträge zeigen ebenfalls unterschiedliche Grundsatzverständnisse von Steuerung.
Während einige Ansätze Steuerung als möglich und wünschenswert betrachten und
die Herausforderung darin sehen, die richtigen Steuerungs-Strategien zu finden (vgl.
Brunnengräber/Hirschl, Nölting, Hosang), sind andere Ansätze skeptischer. Für sie ist
der Erfolg von Steuerung grundsätzlich unsicher, es können jedoch im Einzelfall mehr
oder weniger adäquate Steuerungsversuche unternommen werden (Hummel/Kluge,
Voß, Brand). Der Beitrag von Berkhoff et al. stellt Komplexität als eine Bedingung
heraus, die Steuerung grundsätzlich einschränkt: „Steuerungseinflüsse von außen werden von den CAS (Complex Adaptive System) zwar verarbeitet, das Ergebnis des Einflusses ist jedoch nicht prognostizierbar. Die Steuerung kann demzufolge als Aktivierung des CAS verstanden werden, welche einen Prozess mit unbekanntem oder zumindest unsicherem Ergebnis anstößt“ (104). Mit dieser Steuerungsskepsis verbindet
2
Dabei handelt es sich immer um gesellschaftliche, symbolisch verankerte Strukturen. Ansätze hingegen, die Transformationen im wesentlichen über physische, materiell verankerte Strukturveränderungen konzipieren, sind bisher nicht vertreten. Berkhoff et al. geben einen Ausblick auf naturwissenschaftliche Theorieelemente, die hier eine Rolle spielen könnten.
11
Sozialökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
sich jedoch auch ein optimistischere Sichtweise, nach der die Selbstorganisationspotenziale der komplexen Systeme externe Steuerungsversuche nicht nur erschweren,
sondern auch für externe Steuerung zu Nutze gemacht werden können.
Die Ansätze unterscheiden sich weiterhin darin, welche Rolle sie Akteuren zuschreiben. Das betrifft die Frage, ob es identifizierbare Steuerungsakteure gibt und wer diese
Akteure jeweils sind. Alle Ansätze thematisieren mehr oder weniger stark den Wandel
von einer theoretischen Fokussierung auf den Staat als zentralem gesellschaftlichen
Steuerungsakteur hin zu einer größeren Vielfalt unterschiedlicher Akteure, die parallel
versuchen, den jeweiligen Gegenstand zu steuern.
1.3.4
Ansatzpunkte für Steuerung: Struktur oder Handlung?
Daneben geht es um die Frage, ob Steuerung direkt bei gesellschaftlichen Handlungen
ansetzen kann oder ob sie darauf zielen muss, die strukturellen Bedingungen zu verändern, unter denen Interaktionsprozesse spezifische Formen annehmen, z.B. institutionelle Strukturen oder in Deutungsmustern verankerte Diskursstrukturen. Nölting formuliert z.B. auf der Basis des Ansatzes des akteurzentrierten Institutionalismus das
Ziel, dass „das institutionelle Zusammenspiel [...] untersucht und institutionelle Lücken in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung herausgearbeitet werden. Dies bietet
Ansatzpunkte für die Veränderung bestehender und der Schaffung neuer Institutionen
zur Stärkung nachhaltiger Entwicklung“ (19).
Auch aus der auf die Akteur-Netzwerk Theorie Bezug nehmenden Perspektive von
Brand soll nicht direkt bei den Akteuren angesetzt werden. Vielmehr sollen heterogene Akteursgeflechte mit Akteuren aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen, die nach einer jeweils eigenen Logik operieren, mit Hilfe einer dezentralen Leitbildsteuerung auf das Ziel der Agrar- und Konsumwende ausgerichtet werden: „Unter
Bedingungen hoch differenzierter, komplex vernetzter Handlungssysteme erfüllen
Leitbilder somit eine Koordinationsfunktion, die anders kaum mehr geleistet werden
kann“ (85).
1.3.5
Emergenz und/oder Steuerung
Eine andere Frage ist, ob sozial-ökologische Transformationsprozesse intentional beeinflusst werden können oder ob emergente Strukturveränderungen im Vordergrund
stehen. Im ersten Fall können Akteure auf der Mikroebene, durch ihre Handlungen
gezielt Einfluss auf Systemveränderungen auf der Makroebene nehmen (Nölting,
Brunnengräber/Hirschl). Im zweiten Fall werden Strukturveränderungen durch eine
Vielzahl von Handlungen verschiedener Akteure gemeinsam hervorgebracht, ohne
dass sich das Makroergebnis aber auf einzelne Handlungen auf der Mikroebene zurückführen ließe (Wissen, Berkhoff et al., implizit auch Hummel/Kluge). Eine Verbindung beider Fälle wird von Voß versucht, der Steuerung als intendierte Beeinflussung
versteht, die aber intendierte und unintendierte Folgen haben kann.
12
Einleitung
Wissen zieht in seinem Beitrag zur Regulationstheorie eine begriffliche Trennlinie
zwischen den beiden Perspektiven: „Regulation ist – und hierin liegt ein wesentlicher
Unterschied zum Steuerungs-Konzept – nicht das intendierte Ergebnis strategischen
Handelns, sondern das kontingente Resultat eines offenen Prozesses sozialer Auseinandersetzungen, die gleichwohl von intentional handelnden Akteuren geführt werden.“ (40, zum Begriff der Regulation vgl. auch Hummel/Kluge). Zu klären ist das
Verhältnis zwischen diesem Begriff der Regulation und allgemeinen Transformationskonzepten, wie z.B. dem der Ko-Evolution (vgl. Voß).
Unterschieden werden können die hier versammelten Ansätze auch danach, ob sie
Steuerungsakteure und Steuerungsgegenstand voneinander trennen oder nicht. Wird
Steuerung als endogen konzeptionalisiert, dann werden die Steuerungsakteure als Teil
des Transformationsprozesses gesehen, d.h. die Möglichkeiten von Steuerung werden
durch das System selbst bedingt und die Folgen von Steuerungshandlungen wirken auf
diese Bedingungen zurück (Voß, vgl. auch den Begriff von Regulierung bei Hummel/Kluge mit der Thematisierung von Problemen 2. Ordnung). Das endogene Steuerungsverständnis weitet die systemische Perspektive der sozial-ökologischen Forschung so weit aus, dass Steuerungshandeln selbst als Teil des zu steuernden Systems
– und seiner Transformation - gesehen wird.
In exogenen Steuerungsansätzen dagegen stehen die Steuerungsakteure außerhalb des
Steuerungsgegenstandes. Zwar thematisieren die meisten Projekte nicht explizit, dass
die Steuerungsakteure Teil des zu steuernden Systems sind. Wenn aber zum Beispiel
Schindler Steuerungsmodelle kritisiert, die „unterstellen, dass alle Akteure über ein
vollständiges Situationswissen verfügen, nach denen sie ihre rationalen ‚vernünftigen’
Entscheidungen treffen (was besonders im Kontext von Nachhaltigkeit problematisch
ist) und dass ihre Interessen exogen (vor)gegeben sind, d.h. dem politischen Prozess
vorgelagert“, dann zeigt sich beispielhaft, dass die Steuerungsakteure und ihre Ziele
selbst als variables Element des Steuerungsprozesses gesehen werden.
Schließlich kann unterschieden werden zwischen Steuerung und Selbststeuerung. Im
letzteren Fall sind Steuerungsakteur und -gegenstand identisch. Ein Beispiel für ein
sich selbst steuerndes System sind Komplexe Adaptive Systeme, wie sie von Berkhoff
et al. beschrieben werden. Die Selbststeuerung solcher Systeme hat Konsequenzen für
die Grenzen und Möglichkeiten externer Steuerung.
Die folgende Tabelle gibt einen stichwortartigen Überblick, wie der Begriff der sozialökologischen Transformation und der Begriff der Steuerung in den einzelnen Projekten gefasst werden.
13
Sozialökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Transformations- und Steuerungsbegriffe in den einzelnen Projekten
Begriff der sozial-ökologischen Transformation
Begriff der Steuerung
Transformationsbegriff nicht gerichtet, synonym für strukturellen
Wandel
Institutionen als Struktur
Politische, institutionelle Steuerung: Ansetzen am institutionellen
Kontext und Frage der Stärkung von Akteuren
Strukturwandel aufgrund von strategischem Handeln und
Makroeffekten von Einzelhandlungen (wiederum über Struktur
beeinflusst)
Analytisches Verständnis von Transformation: Schnittstellen und
Wechselwirkung zwischen lokaler und globaler Ebene werden
untersucht
Hierarchische vs. verhandlungsorientierte Steuerung; Bezug
zueinander durch „Schatten der Hierarchie“
Steuerung als Gestaltung/Einschränkung von Handlungsoptionen
von Akteuren im Hinblick auf ein Ziel
Normatives Verständnis von Transformation: Ebenenübergreifende Steuerung hat etwas mit Macht zu tun, die polyzentrisch verteilt ist;
Koordination im Sinne Nachhaltiger Entwicklung
Macht kann über Konsens hergestellt werden.
nicht zielgerichteter Wandlungsprozess, in dem sich die Muster
gesellschaftlicher Ordnung – Markt, Hierarchie, Verbände, Politiknetzwerke etc. – und die räumlichen Bezüge wirtschaftlicher und
politischer Beziehungen der Infrastruktursysteme neu definieren
Governance umfasst nicht nur absichtsvolles Handeln staatlicher
Akteure, sondern es werden auch Regelungseffekte nicht-staatlicher Koordinationsformen einbezogen (z.B. Marktkoordination,
Netzwerke)
Veränderungsprozess der institutionellen und räumlichen
Konfiguration regionaler Governance
Governance umfasst formelle Institutionen und Herrschaftssysteme
sowie informelle Regelungen
Wichtiger als Begriff der Steuerung oder Regulierung ist der Begriff
Transformation als prinzipiell offener Prozess der 'Suche' nach
der Regulation, verstanden als herrschaftsförmige Stabilisierung
neuen Formen der Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse widersprüchlicher Verhältnisse (Kapitalverhältnis, gesellschaftliches
Naturverhältnis, Geschlechterverhältnis etc.)
Regulation vollzieht sich über materielle und diskursive Praktiken
Steuerung als versuchte Beeinflussung mit intendierten und
unintendierten Folgen (kontingente, kontextabhängige Resultate,
Steuerungshandeln ist endogen, d.h. steht in Wechsel wirkung mit
Steuerungsgegenstand)
Ko-Evolution der Strukturdimensionen Werte, Wissen, Institutionen, Gestaltungsansatz für Ko-Evolutionsdynamiken:
Technik, Ökologie
Kopplungen/Interaktionen herstellen bzw. lösen
Rekursivität von Handlung und Struktur
Steuerung durch öffentliche Repräsentation der verschiedenen
Transformation als Netzwerkdynamik
Hybridelemente („Parlament der Dinge“), Zu-Wort-Kommen der
verschiedenen Akteure
Aktiver, ungerichteter Koproduktionsprozess in Netzwerken von
Steuerung durch kommunikative Strategien (Leitbilder)
heterogenen Aktanten (z.B. technische Artefakte, Menschen,
Ideen)
Komplexitätstheorie
Gesellschaftliche Naturverhältnisse
Akteur-Netzwerk-Theorie
Steuerungprozesse werden durch Diskurse, Wahrnehmungen,
Deutungen beeinflusst
Transformation als inhaltlicher Wandel von Deutungsmustern oder Steuerungshandeln zielt auf die Generierung/Veränderung von
Deutungsmustern und Diskurs-Koalitionen
Koalitionen verschiedener Deep Core Beliefs
(Frage: Wie kann man kognitive Rahmungen von Akteuren gezielt
verändern)?
Ko-Evolution und reflexive
Gestaltung
Relevanz von Macht-/Herrschaftsverhältnissen und sozialen
Konflikten für Transformation
Natur, Mensch,
Gesellschaft:
Steuerung von
Thesen zu einer
Netzwerken:
Integrativen
Wissenspolitologie und
sozialAdvocacy-Coalitionsökologischen
Ansatz
Heuristik
Regulationsansatz
Regional Governance
Global Governance
Akteurszentrierter
Institutionalismus
Tabelle 1:
Analytisches Transformationsverständnis: Fortschreitende
Ausdifferenzierung („Vervollständigung der Moderne“)
Normatives Transformationsverständnis: Entstehung einer
integrativen Bewusstseinsebene der Selbsterkenntnis
k.A.
Strukturwandel als teilweise emergentes, teilweise intendiertes
Ergebnis gesellschaftlicher Interaktion
Zentrale Begriffe: Translation, enrolment, alignment
Binnenrationalitäten verschiedener Netzwerke besser koordinieren
Phasen: heating up and cooling down von Aktantenkonfigurationen
Strukturveränderungen, analytisch
Keine linearen Ursache-Wirkungszusammenhänge, sondern
komplexes Wirkungsgeflecht mit Rückkopplungseffekten
Sozial-ökologische Regulation: Keine einzel-sektoralen
Regulierungen, die jeweils einem linearen Verständnis von
Regulierung folgen und Nebenfolgen erzeugen. Regulation bezieht
sich auf Probleme zweiter Ordnung
Transformation als Emergenz von Makrostrukturen
Selbststeuerung hat die Konsequenzen für externe Steuerung
(externe Einflüsse werden intern verarbeitet, Ergebnis ist nicht
prognostizierbar).
Dynamik als sprunghafte oder inkrementelle Strukturveränderung
Wie kann Selbstorganisation zur Gestaltung genutzt werden?
14
Einleitung
1.4
Ausblick auf zu behandelnde Themen und Arbeitsprozess
Die Arbeit der QAG Steuerung und Transformation wird ihre Arbeit in drei weiteren
Workshops bis Herbst 2005 fortsetzen. Nachdem im vorliegenden Papier die einzelnen, in den SÖF-Projekten verwendeten Ansätze dargestellt werden, wird es im zweiten Schritt darum gehen, Gegensätze und Gemeinsamkeiten eingehender herauszuarbeiten, sowie die Stärken und Schwächen der Ansätze für die Untersuchung von Fragestellungen der sozial-ökologischen Forschung zu diskutieren. Dabei wird es wichtig
sein, den Bezug der Steuerungsansätze auf ihren jeweiligen empirischen Kontext, in
dem sie ihre Stärken und Schwächen entfalten können, deutlich zu machen. Ein nützliches Ergebnis dieser Arbeit könnte es sein, empirische Steuerungskonstellationen
und Steuerungskonzepte zu typisieren, so dass strukturell ähnliche Steuerungsprobleme identifiziert werden können, für die bestimmte theoretische Konzepte jeweils einen
geeigneten Zugang bereithalten.
Darüber hinaus wird es aber darauf ankommen, die einzelnen Ansätze miteinander in
Beziehung zu setzen, Widersprüche, Kombinationsmöglichkeiten oder Brückenkonzepte zwischen den einzelnen Ansätzen zu erarbeiten und Möglichkeiten zur Integration verschiedener Ansätze zu erkunden. Diese Synthesearbeit soll einen Beitrag zur
Diskussion um eine Steuerungstheorie sozial-ökologischer Transformationsprozesse
leisten.
Dabei ist es wichtig, die Arbeit der QAG anschlussfähig zu machen an die Steuerungsdebatte außerhalb der SÖF und insbesondere auch die internationale Diskussion.
Über die konkrete Form der Einbindung internationaler Partner in die Arbeit der QAG
muss auf dem kommenden Workshop entschieden werden.
1.5
Literatur
Becker, Egon; Jahn, Thomas; Schramm, Engelbert (Hg.) 1999: ISOE. Sozialökologische Forschung. Rahmenkonzept für einen neuen Förderschwerpunkt. Frankfurt a.M.
15
Kapitel 2: Akteurzentrierter Institutionalismus
2
Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus und institutionelle Steuerung
Benjamin Nölting, Regionaler Wohlstand neu betrachtet
2.1
Beschreibung des akteurzentrierten Institutionalismus
Anwendungsbereich und Ziele des akteurzentrierten Institutionalismus:
Der akteurzentrierte Institutionalismus richtet sein Erkenntnisinteresse auf die Steuerung und Selbstregelung von Sektoren und Politikfeldern. Der Ansatz soll politische
Prozesse erfassen, die von den Interaktionen individueller und korporativer Akteure mit
spezifischen Fähigkeiten und spezifischen kognitiven und normativen Orientierungen
bestimmt werden und die in einem gegebenen institutionellen Kontext und unter gegebenen politischen Rahmenbedingungen stattfinden. Mit diesem Wissen sollen für die
Praxis realisierbare Problemlösungen entwickelt oder Institutionen entworfen werden,
die die Formulierung und Implementation einer am Gemeinwohl orientierten Politik,
also auch nachhaltiger Entwicklung, begünstigen (Zitate aus: SCHARPF 2000, hier S.
84-85).
Der Ansatz geht davon aus, dass politische Steuerung in einzelnen Politikfeldern möglich ist, ohne einem blinden Steuerungsoptimismus anheim zu fallen. Vielmehr weist er
auf die vielen Einflussfaktoren hin, von denen der Steuerungserfolg abhängt. In diesem
Sinne wäre sozial-ökologische Transformation in erster Linie als das Ziel zu verstehen,
zu der eine am Gemeinwohl orientierte Politik durch Steuerung beitragen kann und soll.
Policy-Analyse und „institutioneller Kontext“:
Scharpf/Mayntz legen Wert auf eine enge Definition von Institutionen, sie wollen sie
„auf Regelsysteme […] beschränken, die einer Gruppe von Akteuren offen stehende
Handlungsverläufe strukturieren. Diese Definition soll jedoch nicht nur formale rechtliche Regeln umfassen, die durch das Rechtssystem und den Staatsapparat sanktioniert
sind, sondern auch soziale Normen, die von den Akteuren im Allgemeinen beachtet
werden und deren Verletzung durch Reputationsverlust, sozial Missbilligung, Entzug
von Kooperation und Belohnung oder sogar durch soziale Ächtung sanktioniert wird.“
(77) Dabei geht es vor allem um die Verteilung und Ausübung von Macht, die Definition von Zuständigkeiten, die Verfügung über Ressourcen sowie die Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse. (MAYNTZ/SCHARPF 1995, S. 45-46).
Sie verwenden das Konzept des „institutionellen Kontextes“, der für sie ein Sammelbegriff darstellt „zur Beschreibung der wichtigsten Einflüsse auf jene Faktoren, die unsere Erklärungen eigentlich bestimmen – nämlich Akteure mit ihren Handlungsorientierungen und Fähigkeiten, Akteurkonstellationen und Interaktionsformen.“ (78) Durch
Institutionen wird soziales Verhalten von individuellen und kollektiven Akteuren orga-
17
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
nisiert und begrenzt. Durch diese Beschränkung wird Handeln für andere Akteure verstehbar und bis zu einem gewissen Grade auch vorhersehbar, eine extrem wichtige Voraussetzung für eine fruchtbare soziale Interaktion. Der institutionelle Kontext fasst für
einen gesellschaftlichen Teilbereich oder ein Politikfeld die wichtigsten Regeln und
Informationen darüber, was vor sich geht und was die Akteure voneinander zu erwarten
haben, zusammen. Dieses Wissen erleichtert die empirische Forschung: „Wenn wir
einmal den institutionellen Kontext der Interaktion kennen, wissen wir eine ganze Menge über die beteiligten Akteure, ihre Optionen und ihre Wahrnehmungen und Präferenzen.“ (81)
Der institutionelle Kontext prägt nicht nur das Handeln von Organisationen (kollektiven
Akteuren), sondern diese bilden ihrerseits einen institutionellen Rahmen für das Handeln ihrer (individuellen) Mitglieder. Für die Regelungs- und Orientierungsfunktion des
institutionellen Kontextes müssen werden zwei Einschränkungen gemacht:
1.) Institutionen werden durch menschliches Handeln geschaffen und verändert (im
Form wechselseitiger Anpassung oder durch Zweck gerichtete Veränderungen). Damit
ist auch der institutionelle Kontext im Prinzip steuerbar.
2.) Institutionen beeinflussen zwar das Handeln von Akteuren, aber sie determinieren es
nicht. Sie beschreiben einen teilweise ganz beträchtlichen Spielraum für das strategische und taktische Verhalten der Akteure (das im Extremfall sogar gegen die Regeln
verstoßen oder sie sogar ändern kann. (82-83)
Absichtsvoll gestaltendes oder strategisches Akteurhandeln kann dann durch diesen
institutionellen Filter analysiert werden. Dabei wird das Handeln aber nicht im Sinne
von Rational Choice als egoistisch-rationale Nutzenmaximierung unter externen Restriktionen verstanden, sondern in einem weiter gefassten Sinne a) an Hand ihrer Wahrnehmung der Handlungssituation und b) ihrer Motivationen und Interessen.
Das Handeln der Akteure kann in drei Schritte untergliedert werden, um die Analyse zu
entzerren:
1. Charakterisierung der kollektiven Akteure an Hand ihrer Organisation, Ressourcen
und Orientierungen.
2. die Akteurkonstellation (spieltheoretische Darstellung bei Scharpf)
3. die von den Akteuren gewählten Handlungsoptionen und Interaktionsformen – also
ihr strategisches Handeln (spieltheoretische Analyse bei Scharpf). (86-94)
Die Struktur gesellschaftlicher Teilsystem wird mit dem akteurzentrierten Institutionalismus nach den verschiedenen Modi sozialer Handlungskoordination beschrieben.
Markt, Netzwerk, Assoziation und Hierarchie charakterisieren die Akteurkonstellation
und insbesondere die Interaktionsformen (MAYNTZ/SCHARPF 1995, S. 60-61).
18
Kapitel 2: Akteurzentrierter Institutionalismus
Abbildung 1:
Der Gegenstandsbereich der interaktionsorientierten PolicyForschung
Institutioneller Kontext
Probleme
Akteure
Akteur-
Inter-
politische
Handlungsorientierungen,
Fähigkeiten
konstel-
aktions-
Entschei-
lationen
formen
dungen
Politik - Umwelt
Quelle: Scharpf 2000, S. 85)
2.2
Der akteurzentrierte Institutionalismus und Nachhaltigkeitsforschung
Wie kann der akteurzentrierte Institutionalismus für die Nachhaltigkeitsforschung genutzt werden? Der Ansatz ist deshalb interessant, weil man mit ihm in einer doppelten
Perspektive sowohl die institutionellen Rahmenbedingungen von nachhaltiger Entwicklung als auch das (politisch-strategische) Akteurhandeln untersuchen kann.
Der institutionelle Kontext nachhaltiger Entwicklung
Der institutionelle Kontext für ein Handlungs- und Politikfeld nachhaltiger Entwicklung
lässt sich meines Erachtens über die rechtlichen Regeln und sozialen Normen hinaus
noch um wichtige Aspekte wie natürliche Bedingungen und Technologien erweitern
(die z.B. von den Ansätzen von Elinor Ostrom über Allmende-Ressourcen übernommen
werden können (OSTROM 1998; 1999a; b)). Auch lassen sich für die Beschreibung des
institutionellen Kontextes die Ergebnisse der Umweltpolitikforschung nutzen. Jänicke
unterscheidet hier z.B. zwischen politisch-institutionellen, b) ökonomisch-technischen
und c) sozio-kulturellen bzw. d) kognitiv-informationellen systemischen Handlungsbedingungen (JÄNICKE et al. 1999, S. 87-93).
Der institutionelle Kontext eines Politikfeldes könnte bezogen auf nachhaltige Entwicklung also als Zusammenspiel der folgenden Elementen beschrieben werden:
19
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
a) rechtliche Regeln und Staatsapparat (politisch-institutionelle Bedingungen) / Politik
b) soziale und kulturelle Normen (sozio-kulturelle Bedingungen)/Gesellschaft
c) Wirtschaft und Technik (ökonomisch-technische Bedingungen)/Wirtschaft
d) Wissen und Wissenschaft (kognitiv-informationelle Bedingungen)/Wissenschaft
e) natürliche Bedingungen/Umwelt
Diese haben je nach Politikfeld ein unterschiedliches Gewicht und verschiedene Wechselwirkungen. Interessant für die sozial-ökologische Forschung wäre es hier, für Ansätze und Pfade nachhaltiger Entwicklung in den unterschiedlichen Politikfeldern begünstigende bzw. hemmende institutionelle Konstellationen zu beschreiben und wiederkehrende oder typische Muster solcher Konstellationen zu identifizieren.
Akteuranalyse und nachhaltige Entwicklung
Nachhaltige Entwicklung wird von Akteuren gemacht: ausprobiert, gefördert, formuliert, kritisiert, blockiert etc. Mit dem akteurzentrierten Institutionalismus lassen sich
diejenigen Akteure identifizieren, die nachhaltige Entwicklung voranbringen (wollen)
oder behindern (wollen). Sie sind ein wesentlicher Ansatzpunkt, um sozialökologischen Wandel voranzubringen. Auch hier scheint mir das Vorgehen des akteurzentrierten Institutionalismus mit den drei Schritten (Akteursbeschreibung, Akteurkonstellation und Interaktion) nützlich für die Analyse. Außerdem macht der Ansatz deutlich, dass sich kollektive Akteure selbst ebenfalls durch einen institutionellen Kontext
konstituieren (Regeln für die Herausbildung von Handlungsorientierungen, Informationsflüssen etc.). Die sozial-ökologische Forschung könnte hier ebenfalls versuchen,
typische Akteurkonstellationen und Interaktionsformen nachhaltiger Entwicklung beschreiben.
Zwischenfazit: Der akteurzentrierte Institutionalismus scheint mir, und das ist eine
wichtige Einschränkung, nur sehr begrenzt dafür geeignet zu sein, um Pfade, Korridore,
Probleme oder Protagonisten nachhaltiger Entwicklung zu identifizieren, weil er sich in
keiner Weise inhaltlich auf nachhaltige Entwicklung bezieht. Damit steigt der Nutzen
des Ansatzes nach meiner Einschätzung in dem Maße an, in dem präzise Definitionen
oder Vorstellung von nachhaltiger Entwicklung und diesbezügliche Problembeschreibungen bereits vorliegen. Unter diesen Voraussetzungen ist er ein hilfreicher Ansatz,
um folgende Fragen zu beantworten:
Mit welchen Strategien fördern welche Akteure in bestimmten Akteurskonstellationen
nachhaltige Entwicklung? Durch welche institutionellen Rahmenbedingungen werden
sie dabei eingeschränkt oder unterstützt?
2.3
Die Anwendung des Ansatzes für die ökologische Land- und Ernährungswirtschaft
In meinem Teilprojekt untersuche ich die institutionellen Rahmenbedingungen der öko-
20
Kapitel 2: Akteurzentrierter Institutionalismus
logischen Land- und Ernährungswirtschaft in der Region Berlin-Brandenburg. Hierfür
möchte ich den institutionellen Kontext der Bio-Branche beschreiben. Als maßgebliche
Institutionen/Regelungssysteme fließen ein a) der sozio-kulturelle Bereich der Landwirtschaft (v.a. die Gemeinschaft der Landwirte und der ländliche Bevölkerung), b) die
Agrarpolitik und c) der Lebensmittelmarkt ein (MICHELSEN et al. 2001). Hinzuzunehmen sind noch die natürlichen Bedingungen/Umwelt und Wissen (kognitivinformationelle Aspekte). Mit diesem Vorgehen können das institutionelle Zusammenspiel aller Aspekte für die ökologische Land- und Ernährungswirtschaft untersucht und
institutionelle Lücken in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung herausgearbeitet werden. Dies bietet Ansatzpunkte für die Veränderung bestehender und der Schaffung neuer Institutionen zur Stärkung nachhaltiger Entwicklung.
Umgekehrt gibt es interessante Ansätze, die die institutionellen Aspekte einer Politik
für nachhaltige Entwicklung herausarbeiten (MINSCH et al. 1998; KOPFMÜLLER et
al. 2001, S. 303-316; RESEL et al. 2002). Ihre volle Wirkung können sie aber erst dann
entfalten, wenn sie im institutionellen Kontext verortet und auf die jeweilige Akteurkonstellation und die Handlungsstrategien bezogen werden. Sonst droht deren Scheitern, wie es Knill/Lenschow für neue Steuerungsformen der EU-Umweltpolitik gezeigt
haben (KNILL/LENSCHOW 2000). Diese institutionellen Ansätze lassen sich dann
gezielt in den sektoralen Kontext der ökologischen Land- und Ernährungswirtschaft
einfügen.
2.4
Thesen zu den Stärken und Schwächen des akteurzentrierten Institutionalismus
Der akteurzentrierte Institutionalismus hat seine Stärken in der Analyse von Sektoren
und gesellschaftlichen Teilsystemen, also einer mittleren Ebene. Er bietet einen Rahmen, mit dem der spezifische institutionelle Kontext solcher Teilsysteme mit dem Handeln von Akteuren in Beziehung gesetzt werden kann. Somit kann auch die Wirkung
(politisch-institutioneller) Steuerung und gesellschaftlicher Selbstregelung für die nachhaltige Entwicklung von Sektoren untersucht werden (Systemwissen). Eine solche Analyse bietet dann nicht nur einzelne (institutionelle) Ansatzpunkte für die Gestaltung
nachhaltiger Entwicklung, sondern vermag sie auch im Kontext der Teilsysteme einzuordnen.
Allerdings setzt eine solche Analyse bereits ein inhaltliches Verständnis von nachhaltiger Entwicklung voraus. Auch legt der Ansatz den Schwerpunkt auf politischinstitutionelle Aspekte, während Diskurse und Normen sowie die individuelle Ebene
nur am Rande berücksichtigt werden. Damit kommen wichtige Aspekte von Gestaltungs- und Bewertungswissen nachhaltiger Entwicklung etwas kurz. Auch finde ich die
spieltheoretische Ausformulierung der Interaktionsanalyse von Scharpf nicht sehr hilfreich, weil sie sehr stark vereinfacht. Nicht zuletzt hat das Wortungetüm eine abschreckende Wirkung.
21
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
2.5
Literatur
JÄNICKE, Martin/KUNIG, Philip/STITZEL, Michael (1999): Umweltpolitik. Politik,
Recht und Management des Umweltschutzes in Staat und Unternehmen.
Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf.
KNILL, Christoph/LENSCHOW, Andrea (2000): Neue Steuerungskonzepte in der europäischen Umweltpolitik. Institutionelle Arrangements für eine effektivere Implementation? In: PRITTWITZ, Volker von (Hg.): Institutionelle
Arrangements in der Umweltpolitik. Zukunftsfähigkeit durch innovative
Verfahren? Opladen: Leske + Budrich, S. 65-83.
KOPFMÜLLER, Jürgen/BRANDL, Volker/JÖRISSEN, Juliane/PAETAU, Michael/BANSE, Gerhard/COENEN, Reinhard/GRUNWALD, Armin (2001):
Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet. Konstitutive Elemente,
Regeln, Indikatoren. Berlin: edition Sigma (Global zukunftsfähige Entwicklung - Perspektiven für Deutschland; 1).
MAYNTZ, Renate/SCHARPF, Fritz W. (1995): Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus. In: SCHARPF, Fritz W. (Hg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung. Frankfurt a.M.: Campus (Schriften des
Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln; 23), S. 39-72.
MICHELSEN, Johannes/LYNGGAARD, Kennet/PADEL, Susanne/FOSTER, Carolyn
(2001): Organic Farming Development and Agricultural Institutions in
Europe: A Study of Six Countries. Stuttgart: Universität Hohenheim
(Organic farming in Europe: Economics and policy; 9).
MINSCH, Jürg/FEINDT, Peter-Henning/MEISTER, Hans-Peter/SCHNEIDEWIND,
Uwe/SCHULZ, Tobias/(Arbeitsgemeinschaft IWÖ-HSG/IFOK) (1998):
Institutionelle Reformen für eine Politik der Nachhaltigkeit. Berlin:
Springer (Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt"
des 13. Deutschen Bundestages).
OSTROM, Elinor (1998): The Institutional Analysis and Development Approach. In:
KILGOUR, D. Marc (Hg.): Designing Institutions for Environmental and
Resource Management. Cheltenham: Elgar, S. 68-90.
OSTROM, Elinor (1999a): Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt.
Tübingen: Mohr Siebeck (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften;
104).
OSTROM, Elinor (1999b): Institutional Rational Choice. An Assesment of the Institutional Analysis and Development Framework. In: SABATIER, Paul
(Hg.): Theories of the Policy Process. Boulder, Colo: Westview Press, S.
35-71.
RESEL, Karl/ÖMER, Brigitte/KANATSCHNIG, Dietmar (2002): Institutionelle Innovationen für eine Nachhaltige Entwicklung. Analyse institutioneller
Nachhaltigkeitsdefizite, Studie erstellt im Auftrag des Bundesministeri22
Kapitel 2: Akteurzentrierter Institutionalismus
um für Verkehr, Innovation und Technologie. Wien: Bundesministerium
für Verkehr, Innovation und Technolgie.
SCHARPF, Fritz W. (2000): Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in
der Politikforschung. Opladen: Leske + Budrich (UTB für Wissenschaft:
Uni-Taschenbücher; 2136).
23
Kapitel 3: Global Governance und Klimawandel
3
Global Governance und Klimawandel - Eine
Mehrebenenanalyse zu den Bedingungen, Risiken und Chancen
sozial-ökologischer Transformationen
Achim Brunnengräber und Bernd Hirschl, Global Governance und Klimawandel
3.1
Vorbemerkungen
Das Projekt „Global Governance und Klimawandel“ widmet sich (u. a.) Fragen nach
Steuerungsformen, die angesichts der globalen Herausforderung des Klimawandels
entwickelt werden und danach, wie angemessen und Erfolg versprechend diese sind.
Dabei werden mit Blick auf den Governance-Diskurs neue Steuerungsformen als solche
aufgefasst, die über rein staatliche Konstrukte hinaus (government) auch nichtstaatliche Akteure berücksichtigen oder von solchen maßgeblich beeinflusst oder getragen werden.
Im Rahmen des Projekts stehen dabei angesichts der „Globalisierung“ der Klimaproblematik und der Klimapolitik insbesondere Fragen im Vordergrund, die darauf abzielen,
•
wie sich solche Steuerungsformen auf die verschiedenen Handlungsebenen (global,
national, regional, lokal) auswirken,
•
wie Formen auf den jeweiligen Ebenen selbst aussehen bzw. am effizientesten sind
•
und wie sich Zusammenhänge zwischen den Ebenen darstellen bzw. sein sollten.
Diese Aspekte deuten also auf einen Mehrebenen-Zusammenhang hin, dessen Untersuchung wir als Mehrebenenanalyse, dessen Zusammenhänge und Zusammenwirken
selbst als Mehrebenensysteme und –strukturen bezeichnen.
Der Terminus des Mehrebenensystems (und der Mehrebenenanalyse) ist bisher überwiegend im Rahmen der Förderalismus- und EU-Debatte angewendet worden (beispielhaft: Jachtenfuchs, Markus (Hrsg.) 2000). Für unsere Zwecke ist neu zu prüfen, welche
analytischen Zugänge und Methoden im Kontext des globalen Klimawandels adäquat
erscheinen. Das Projekt ist gegenwärtig dabei, derartige konzeptionelle und analytischmethodische Ansätze zu entwickeln. Daher erfolgt an dieser Stelle noch keine tiefer
gehende Darstellung.
Im Rahmen dieser Arbeit spielt das Konzept (bzw. die unterschiedlichen konzeptionellen Vorstellungen) von global governance eine Rolle. Global governance liefert je nach
Blickwinkel (und ggf. normativer Setzung) Ansätze möglicher Steuerungsformen – oder
einen noch recht jungen Forschungsansatz und mit ihm analytische und methodische
Ansätze. Dies wird nach einer kurzen Einführung in die Problemstellung des Projekts
nachfolgend diskutiert.
25
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
3.2
Einleitung
Der Klimawandel stellt eine tief greifende und umfassende Gesellschaftskrise dar. Diese These begründet sich erstens aus der vielschichtigen Problemstruktur des Klimawandels, die langfristige politisch-ökonomische, sozio-kulturelle und sozial-ökologische
Dimensionen umfasst (Problemkomplexität). Zweitens ist die Klimapolitik längst kein
ausschließlich staatliches Unterfangen mehr. Auch die Privatwirtschaft und ihre Interessenverbände, Gewerkschaften und Nicht-Regierungs-Organisationen sind daran beteiligt (Pluralisierung der Akteure). Drittens bleibt die Klimapolitik nicht auf die nationalstaatliche und internationale Handlungsebene beschränkt. Sie wirkt vielmehr in einem
komplexen und wechselseitigen Prozess international, regional, national und lokal (Denationalisierung), ein Phänomen, das auch mit dem Begriff der „Glokalization“ erfasst
wird. Auf Grund der Fokussierung auf die internationale Klimapolitik wurden diese
Verzahnungen und Interdependenzen bisher noch nicht ausreichend berücksichtigt und
analysiert. Sie geraten aber mit den Maßnahmen zur Umsetzung von internationalen
Instrumenten stärker in den Blick; meist deshalb, weil nun am „nationalen Ort“ ganz
neue Widersprüchlichkeiten und Widerstände gegen die Politik „von oben“ auftreten.
Das lässt sich an Beispielen wie dem Emissionshandel innerhalb der Europäischen Union, an Anpassungsmaßnahmen und an Senkenprojekten in den Entwicklungsländern
oder an der Energiepolitik in den Industrieländern, die weit gehend auf fossilen
Energieträgern beruht und somit CO2-intensiv ist, gut verdeutlichen.
3.3
Global Governance: Steuerungsoption oder Forschungsansatz?
Das Konzept global governance wird ganz unterschiedlich verwendet: Bisher waren die
wissenschaftlichen Arbeiten zum Themenfeld global governance vor allem an konzeptionellen Fragen nach einer neuen Architektur der Weltpolitik oder neuen globalen Ordnungsformen ausgerichtet. Der Hintergrund solcher Konzepte waren die realen weltpolitischen Strukturveränderungen, die governance gegenüber government mehr Bedeutung einräumten, Hoffnungen auf eine Friedensdividende und eine friedliche Konfliktlösung aufkommen ließen und einen neu aufkommenden Weltethos, das Schritte zu einer Weltinnenpolitik realistisch erscheinen ließen. Hinter diesen Konzepten stand ein
Steuerungsoptimismus, der sich auf zwei Ausgangspositionen stützte: einem Kooperationsimperativ und der Intensivierung des Multilateralismus nach dem Ende des OstWest-Konflikts.
Bekannt wurde der global governance-Ansatz durch die Commission on Global Governance (CGG), die sich nach dem Ende der Blockkonfrontation und im Hinblick auf
neue globale Probleme Fragen zur Regierbarkeit der Welt stellte. Die Ergebnisse dieser
unter dem Dach der UN arbeitenden Kommission wurden 1995 in dem Bericht „Our
Global Neighbourhood” zusammengefasst (Übersetzung: „Nachbarn in einer Welt”,
Hrsg.: Stiftung Entwicklung und Frieden 1995). Der Ansatz der CGG ist von der Beobachtung geprägt, dass die Problembearbeitung durch die Verknüpfung der unterschiedlichen Interessenlagen und in einem dynamischen und komplexen Prozess interaktiver
Entscheidungsfindung auf möglichst allen Handlungsebenen erfolgen soll. Er wurde in
26
Kapitel 3: Global Governance und Klimawandel
Deutschland vor allem vom Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) aufgegriffen
und weiterentwickelt:
„Global Governance ist ein Ansatz für die Bearbeitung globaler Probleme von zunehmender Komplexität und Interdependenz. Für Global Governance ist der dialogische und
kooperative Prozess konstitutiv, der die verschiedenen Handlungsebenen entlang der
Achse lokal-global sowie AkteurInnen aus unterschiedlichen Bereichen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenführt und vernetzt. Global Governance als Mehrebenenpolitik geht somit analytisch und normativ über den Ansatz internationaler Regime
hinaus, die zur Bewältigung globaler Probleme die internationale Verregelung auf Staatenebene vorsehen“ (SEF Policy-Paper 14, S.4).
Global governance kann nach dem Begriffsverständnis der Kommission entweder als
normatives oder als politisch-strategisches Projekt angesehen werden, das die internationale Politik um die Zivilgesellschaft erweitert. Im Wesentlichen aber soll die staatliche
Regierbarkeit vor dem Hintergrund komplexer werdender Globalisierungsprobleme
wiederhergestellt werden. Global governance ist aber auch ein deskriptives wie theoretisches Konzept zur Beschreibung von Prozessen nicht-hierarchischer Steuerung im
globalen System. Dort wo Markt und Staat versagen sollen innovative Steuerungsleistungen durch neue Akteurskonstellationen erzielt werden – entweder als Ersatz bestehender hierarchischer und Markt-Instrumente oder als geeignete Ergänzung. Der Ansatz
vor allem der Politikwissenschaft soll der Komplexität Rechnung tragen, die sich im
Prozess der Globalisierung durch Steuerungsprobleme, Demokratie- und Legitimationsdefizite, Koordinationsprobleme der Mehrebenenpolitik, Blockaden durch asymmetrische Machtstrukturen oder Verhandlungsblockaden bei zentralen Entscheidungsprozessen ergibt.
Global Governance kann insofern auch als ein wissenschaftliches Instrumentarium aufgefasst werden, um die politischen, sozio-ökonomischen und sozial-ökologischen
Prozesse der Globalisierung empirisch-analytisch und zeitdiagnostisch zu erfassen. Fragen nach einer globalen Ordnungspolitik, organisatorischen Säulen einer Weltpolitik
oder Fragen der Steuerung spielen insofern nicht die primäre Rolle. Vielmehr wird
deutlich, dass eine zielgerichtete Steuerung schwierig ist und auf jeden Fall die Identifizierung und Analyse von komplexen gesellschaftlichen und sozialökologischen Transformationsprozessen voraussetzt. Warum dies der Fall ist, kann an unserem Forschungsgegenstand, dem Klimawandel, gut verdeutlicht werden:
(1) Der Klimawandel und plötzlich auftretende Klimakatastrophen sind keine natürlichen Erscheinungen, sondern der Ausdruck spezifischer Beziehungen zwischen
Natur und Gesellschaft. Mit anderen Worten: Natur existiert nicht unabhängig von
ihrer gesellschaftlichen Bestimmtheit. Technische Lösungen, Effizienz- und Suffizienzrevolutionen allein reichen zur Bewältigung der Krise nicht aus.
(2) Beim Klimaproblem sind strukturell-ökonomische, sozio-kulturelle und sozioökologische Probleme eng miteinander verknüpft. Zu hoher Energie- und Materialdurchsatz der fossilen und atomaren Wirtschaft, Ressourcen strapazierende Kon-
27
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
sum- und Lebensstile sowie schwerwiegende, teils irreversible Schädigungen der
Ökosysteme wirken auf komplexe Weise ineinander.
(3) Gesellschaften werden in ihren Reaktionsweisen und Entwicklungsmöglichkeiten
durch „die Natur“ nicht eindeutig festgelegt. Denn die Natur resultiert aus der gesellschaftlichen Kommunikation über die Natur, erst dadurch rückt sie ins Interesse
der Öffentlichkeit und wird bearbeitbar. Ein besonderes Problem stellt in diesem
Zusammenhang die Nicht-Thematisierung von Umweltproblemen dar.
(4) Die Art und Weise der Symbolisierung, machtförmige Diskurse oder die mediale
Aufbereitung dessen, was als Krise definiert wird, sind entscheidende Elemente der
Perzeption von Umweltproblemen. Darauf gründen die Unterschiede, die zwischen
lokalen, nationalen und globalen Problemlagen und ihren Bearbeitungsformen bestehen.
(5) Die materielle Aneignung der Natur, das gesellschaftliche Wissen über und die
dominierenden kulturellen Praktiken hinsichtlich der Natur sind heterogen.
Zugleich entstehen hegemoniale Formen der Problembearbeitung, die abhängig
sind von machtvollen Interessen und einflussreichen Akteuren. Gesellschaftliche
Versuche der Lösung des Klimawandels können nicht-intendierte und unvorhergesehene Nebenfolgen auslösen, die zu einer Verschärfung der Krisendynamik führen.
Global Governance reflektiert die Verzahnung der verschiedenen räumlichen, instrumentellen und akteursspezifischen Handlungsebenen lokal-national-internatonal und
soll der Analyse ganz unterschiedlicher regional-lokaler Praktiken dienen, die notwendig werden, weil die regionalen Auswirkungen des Klimawandels ganz unterschiedlich
sind. Er berücksichtigt die netzwerkförmigen Kooperationsformen und Interdependenzen unter den Akteuren (NaturwissenschaftlerInnen, PolitikerInnen, Industrielobby,
Gewerkschaften, Umweltbewegung etc.), die in der Klimapolitik aktiv sind, und
schließlich die Komplexität der sozial-ökologischen Problemstruktur, die die politische
Bearbeitung des Klimawandels schwierig gestalten.
Der Begriff bietet aber noch kein entwickeltes methodologisches Instrumentarium oder
gar einen Theorieansatz. Global Governance reflektiert vielmehr einen Suchprozess, um
die Transformation von Politik, Gesellschaft und Natur unter den Bedingungen der
Globalisierung zu rekonstruieren und theoretisch einzuordnen. Dafür müssen theoretische Konzepte wie Steuerungstheorien, die Policy-Analyse oder Theorien Internationaler Beziehungen kombiniert werden. Analogiefallen, die Übertragung von theoretischen
Ansätzen von der nationalstaatlichen Ebene in komplexe Mehrebenensysteme müssen
vermieden werden.
28
Kapitel 3: Global Governance und Klimawandel
3.4
Zum Steuerungsbegriff
Steuerung verstanden als die zielgerichtete Lösung gesellschaftlicher Probleme wird vor
dem Hintergrund von heterogenen Akteursbeziehungen und Interessen, der Mehrebenenproblematik und den Unsicherheiten schwierig. Steuerung kann auch die Einschränkung von Handlungsoptionen der Adressaten bedeuten, etwa negativ durch Sanktionen
oder positiv durch Anreize, um intendierte Ziele zu erreichen.
Beispiel sind die Erneuerbaren Energien im Kontext der internationalen Klimapolitik,
wo Versuche einer globalen Steuerung in Richtung eines verbindlichen Ausbaus der
neuen Technologien eher unterbunden als intensiviert werden. Normsetzungs-, Institutionalisierungs- und Verrechtlichungsprozesse sind vielmehr auf win win-Lösungen aus,
die der fossilistischen Energiewirtschaft nicht schaden.
Globale Lösungsansätze sind aber noch aus einem anderen Grund problematisch. Innerhalb von Ländern und Regionen müssen die spezifischen Wirkungen des Klimawandels
ebenso wie die jeweiligen sozial-ökologischen, politischen und ökonomischen Kontextbedingungen berücksichtigt werden, wenn politische Klimaschutzinstrumente, Anpassungsmaßnahmen oder Vermeidungsstrategien entwickelt werden und erfolgreich sein
sollen. Dabei führen die spezifischen Kontextbedingungen und Interessengegensätze zu
einer Diversifizierung, Aufsplitterung und Neudeutung der international vereinbarten
Handlungsstrategien. Weiche Steuerungsinstrumente, soft law, werden gegenüber kodifiziertem Recht aufgewertet. Zum anderen entwickeln sich zu den staatlichen Maßnahmen Parallelstrukturen, in denen „alternative“ Lösungsmodelle für den Klimaschutz
angeboten oder auch Blockadepolitiken betrieben werden. Verschiedene Steuerungsmodelle können also durchaus konkurrieren und stellen wohl nur in seltenen Fällen einen kohärenten Politikansatz dar. Insofern ist immer auch Fehl-Steuerung möglich.
3.5
Zu sozial-ökologischen Transformationen
Zur Richtung sozial-ökologischer Transformationen ist grundsätzlich zu fragen, ob sich
diese am Leitbild der Nachhaltigkeit orientiert – oder in spezifischer Weise die sozialen
und ökologischen Effekte „höher gewichtet“ werden als die ökonomischen. Da das
Leitbild der Nachhaltigkeit allenfalls eine Richtung aufweist, im Detail jedoch keine
allgemein verbindlichen bzw. vereinbarten Ziele enthält, (von einzelnen, wie z.B. den
nationalen Nachhaltigkeitsindikatoren abgesehen), liefern sie auch keine klare Orientierung für ein Bild sozial-ökologischer Transformationen.
Zunächst erfordert die Untersuchung sozial-ökologischer Transformationsprozesse,
sofern sie der wissenschaftlichen Analyse und Theoriebildung dienen sollen, eine gewissenhafte Beschreibung der sozial-ökologischen Problemlage. Hier spielen die komplexen Beziehungsmuster zwischen Gesellschaft und Natur eine Rolle. Dabei ist einerseits die Festlegung von Systemgrenzen bedeutsam – allerdings finden gesellschaftliche
und sozial-ökologische Transformationsprozesse heute zunehmend in globalen Mehrebenensystemen statt. Das Denken in nationalen Räumen, Politikfeldern und Fachdisziplinen oder in gesellschaftlichen Teilsystemen wird der Komplexität von Mehrebe-
29
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
nenprozessen nicht gerecht. Sozio-kulturelle Besonderheiten am lokalen Ort, nationalstaatliche Interessenlagen innerhalb von Regierungen, Parlamenten, Parteien oder Lobbygruppen, supranationale Politikprozesse (wie etwa in der EU), und die Politikformulierung innerhalb internationaler Regime wirken auf vielfältige Weise ineinander. Somit
erscheinen sozial-ökologische Transformationen mit dem Leitbild der Nachhaltigkeit
konnotiert, ihre Untersuchung umfasst natur- und gesellschaftsverändernde Prozesse
und Strukturen, wobei eine sinnvolle, pragmatische Festlegung von Systemgrenzen unter Berücksichtigung der (in aller Regel) komplexen Beziehungen in einem Mehrebenensystem.
30
Kapitel 4: Regional Governance
4
Regional Governance
Jochen Monstadt, Teilprojekt "Räumlicher Wandel und regionale Steuerung in der Energie- und Wasserversorgung", Verbundprojekt "Sozial-ökologische Regulation netzgebundener Infrastruktursysteme – netWORKS"
Das politikwissenschaftliche Konzept von "regional governance" bildet einen wesentlichen theoretischen Bezugspunkt der Forschung am Institut für Regionalentwicklung
und Strukturplanung (IRS). Es wird in dem vom IRS bearbeiteten Teilprojekt im Verbund netWORKSzur Analyse und Erklärung der räumlichen Transformation und regionalen Steuerung in der Energie- und Wasserversorgung herangezogen.
4.1
Anwendungs- und Problemkontext im networks-Teilprojekt "Räumlicher Wandel und regionale Steuerung in der Energie- und Wasserversorgung"
Wie netzgebundene Infrastruktursysteme räumlich1 organisiert sind und durch welche
Governanceformen sie geprägt sind, hat einen maßgeblichen Einfluss auf die institutionelle Ausgestaltung und Funktionsweise staatlicher Aufgabenwahrnehmung und die
Erreichung verteilungs-, umwelt- und wirtschaftspolitischer Ziele. Mit den gegenwärtigen Transformationsprozessen zur Privatisierung, Liberalisierung bzw. Kommerzialisierung erodiert die herkömmliche sozialräumliche Organisation der deutschen Energieund Wasserversorgung, die durch nationale Industrien, Gebietsmonopole, weitreichende
regulative Steuerungskompetenzen der Länder und Kommunen und einen geringen
Grad räumlicher Arbeitsteilung strukturiert wird. Im Transformationsprozess gleichen
sich die wirtschaftsräumlichen Strukturen der Infrastrukturversorgung immer stärker
derjenigen von marktwirtschaftlich organisierten Sektoren an. Dies umfasst nicht nur
die Internationalisierung und Europäisierung der ehemals strikt nationalen Industrien
der Energie- und Wasserversorgung. Auch im subnationalen Kontext organisieren sich
die sozioökonomischen und politischen Beziehungen im Raum neu. So lösen sich die
Ver-, Entsorgungs- und Dienstleistungsunternehmen zunehmend von den Gebietsterritorien der Länder und Kommunen bzw. den Monopolgebieten, und es entwickeln sich
neue Handlungsräume für wirtschaftliche (und politische) Beziehungen über administrative Grenzen und Grenzen der Gebietsmonopole hinweg. Dabei ist klärungsbedürftig,
welche räumlichen Auswirkungen von den Transformationsprozessen ausgehen, welche
regionalen Governancestrukturen sich herausbilden und welche Konsequenzen dies für
1
Raum wird im Folgenden als ein soziales Konstrukt verstanden, dessen Grundlage die materiellen
bzw. physischen Raumstrukturen darstellen. Raum wird also neben physischen Komponenten wesentlich durch soziales Handeln und soziale Konstruktionen geprägt: "Space in itself may be primordially
given, but the organization, and meaning of space is a product of social translation, transformation,
and experience" (SOJA 1989: 80). Neben seiner physisch-materialen Gestalt ist Raum also durch die
strukturierende politische Regulierung im Raum und des Raumes, die Wirtschaftsbeziehungen im
Raum, das historische Konstituieren des Raumes und den kulturelle Ausdruck im Raum und des Raumes geprägt (STURM 2000: 200).
31
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
die öffentliche Aufgabenwahrnehmung und die räumliche Organisation politischer
Steuerung hat.
Die bereits eingetretenen und absehbaren regionalen Wirkungen des gegenwärtigen
Institutionenwandels im Infrastrukturbereich wurden in Deutschland bislang nicht systematisch analysiert. Wissenschaftliche Aufarbeitungen der Thematik für den deutschen
Raum gibt es nur in ersten Ansätzen. Dagegen hat sich insbesondere im angelsächsischen Raum die Untersuchung der räumlichen Dimensionen von Infrastrukturmanagement im Zuge von Liberalisierung und Privatisierung als Forschungsfeld etabliert2. Analysiert werden die Erfahrungen vor allem in Großbritannien und den USA, wo die
Transformationsprozesse früher einsetzten und teilweise intensiver verliefen als in
Deutschland, um die Wirkungen auf das Verhältnis von Raumentwicklung und Infrastrukturmanagement im Allgemeinen und auf die Raumstrategien der Versorgungsunternehmen im Besonderen aufzuzeigen. Zusammenfassend wurden drei räumliche
Trends konzeptionell aufgearbeitet und empirisch belegt:
•
•
•
die Erweiterung und Neukonfiguration der Wirtschaftsräume infolge der Auflösung
von Gebietsmonopolen und betrieblichen Zusammenschlüssen,
die räumliche Durchdringung von konkurrierenden Anbietern in das Territorium
etablierter Versorger,
und die räumliche Differenzierung der Versorgungsdienstleistungen zwischen aus
stadttechnischer und betriebswirtschaftlicher Sicht lukrativen entwicklungsdynamischen Gebieten ("hot-spots") und strukturschwachen bzw. peripheren Räumen
("cold-spots").
Aufbauend auf diese Erkenntnisse hat die Analyse des IRS zum Ziel, die aufgezeigten
Tendenzen anhand der regionalen Energie- und Wasserversorgung in Deutschland zu
überprüfen. Anhand regionaler Fallanalysen sollen die räumlichen Auswirkungen der
gegenwärtigen Transformationsprozesse und die sich etablierenden Formen regionaler
Governance in raum- und sektorvergleichender Perspektive untersucht werden. Folgende Untersuchungsschwerpunkte sind anvisiert:
•
•
•
2
Die Raumbezüge und -strukturen der Ver- und Entsorgungssysteme und deren Veränderung im Zuge von Liberalisierung und Privatisierung. Dies umfasst die Interaktionsbeziehungen von Versorgungs- und Dienstleistungsunternehmen, kommunaler
und staatlicher Politik sowie weiterer, maßgeblich beteiligten Akteursgruppen.
Die Raumstrategien der Ver- und Entsorgungsunternehmen als Reaktion bzw. im
Vorgriff auf die Transformationsprozesse. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der
Strategien von Formen der räumlichen Erweiterung, Durchdringung und Differenzierung (s. oben).
Die veränderten Strukturen regionaler Governance in der Infrastrukturversorgung
und die veränderten politisch-administrativen Steuerungsbedarfe im Umweltschutz
Vgl. GRAHAM 2000a und 2000b; GUY & GRAHAM & MARVIN 1996; GUY, MARVIN, MOSS 2001.
32
Kapitel 4: Regional Governance
und in der Daseinsvorsorge. Dies umfasst die institutionelle Ausgestaltung und
räumliche Organisation politischer Aufgabenwahrnehmung.
4.2
Regional Governance als konzeptioneller Rahmen der Analyse des
Wandels in der Energie- und Wasserversorgung
In den letzten Jahren hat die Diskussion über Governance die bisherige Steuerungsdebatte weitgehend verdrängt. Dabei wird der Governance-Begriff vielfach in Abgrenzung
zu dem des Government (Regierung/ Regierungssystem) verwendet. Analytisch wird
neben der formellen, durch Verfassung, Recht und Gesetz definierten Dimension von
Politik sowie den Regierungsinstitutionen, die mit staatlichem Machtmonopol ausgestattet sind, bei der Governance-Analyse die informellen Regelungen und nichtinstitutionalisierte Formen des Regierens einbezogen. Der Governance-Begriff findet
mittlerweile breite Anwendung3. Neben der auf Unternehmen und Organisationen bezogenen Debatte (Corporate Governance) wird der Begriff zumeist im Zusammenhang
mit Raumeinheiten bzw. politischen Ebenen verwendet. Neben der Anwendung auf
regionale Entwicklungsprozesse (Regional Governance) wird er auf lokale Politik bezogen (Local Governance, Urban Governance) und spielt daneben sowohl im Bereich
der europäischen Politik (European Governance) als auch in den internationalen Beziehungen eine wichtige Rolle (Global Governance, Transnational Governance).
Die zumeist im nationalen Kontext diskutierten drei grundlegenden Muster gesellschaftlicher Ordnung – Markt, Hierarchie und Selbstorganisation – wurden in den letzten Jahren modifiziert und erweitert. So führten Streeck und Schmitter als vierten Typus, Assoziationen, ein (Streeck & Schmitter 1985), ferner standen Verhandlungssysteme, Politiknetzwerke oder Organisationen als weitere Typen im Zentrum der Diskussion (vgl.
als Überblick Kenis & Schneider 1996). Vor allem in jüngerer Zeit werden die unterschiedlichen Regelungstypen immer weniger als sich gegenseitig ausschließende Alternativen gesehen (z.B. Markt versus Hierarchie). Vielmehr werden zunehmend die Regelungseffekte bestimmter Kombination diskutiert (vgl. stellvertretend: Prittwitz 2000;
Kenis & Schneider 1996).
Besonders in der raum- bzw. regionalwissenschaftlichen Literatur hat die GovernanceDiskussion in jüngerer Zeit stark an Bedeutung gewonnen. Ausgangspunkt dieser De-
3
Vgl. hierzu z.B March & Olsen 1995; Kenis & Schneider 1996; Mayntz 1996.
33
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
batte ist der Befund, dass die Region4 sowohl als Ebene privaten ökonomischen Handelns als auch öffentlicher Steuerungstätigkeit in der wissenschaftlichen Diskussion und
in der realen Entwicklung aufgewertet wurde (Diller 2002: 42). In wirtschaftlich(tspolitisch)er Hinsicht wird angenommen, dass Regionen spezifische Entwicklungsvorteile für Unternehmen bieten, die aus der räumliche Nähe und der damit möglichen kommunikativen Dichte und Vernetzung resultieren (Voelzkow 1999). Die Rede
ist von positiven Effekten " kreativer Milieus" (Matthiesen 1998) sowie von Agglomerations- und Innovationsvorteilen, die sich durch Unternehmensnetzwerke bzw. externe
Effekte von F- & E-Einrichtungen ergeben (Postlep 1999). Vielfach wird erwartet, dass
die Region als Raumkonfiguration nicht nur Defizite des Nationalstaats kompensiert,
sondern die Region in einer noch nicht festgefügten suprastaatlichen Ordnung als Gegengewicht fungiert, das Menschen räumliche Verankerung und Identität gewährleistet
(Diller 2002: 42). Es wird die These vertreten, dass Regionen besser unterschiedliche
Steuerungslogiken als die staatliche oder kommunale Ebene integrieren können, etwa
die hierarchische Steuerung durch den politisch-administrativen Bereich, marktliche
Steuerungsformen und die Regelung durch Verbände (Fürst 2001: 5). Gerade weil die
regionale Ebene noch wenig institutionalisiert, d.h. noch wenig durch Behörden und
politische Gremien bestimmt sei, eigne sich diese besonders für offene Kooperationen
über die traditionellen Institutionen hinweg (ebd.).
Regional Governance integriert insofern unterschiedliche Steuerungslogiken. Sie entsteht "von unten" in Form interkommunaler Kooperationen, aber auch "von oben" im
Zuge der Suche des Staates nach neuen moderierenden Steuerungsformen und zugleich
durch Förderinstrumente der europäischen Regionalpolitik. Sie stützt sich auf ein breites
Fundament staatlicher und außerstaatlicher Institutionen. Regional Governance wird
auch aber nicht nur durch staatliche Politik geprägt. Vielmehr wird sie durch das Zusammenwirken einer Vielzahl von Subjekten, wie der Europäische Kommission, dem
Staat, den Kommunen, Unternehmen, Gewerkschaften, Verbänden, Kammern,
Verbrauchergruppen u.a. strukturiert (vgl. HEINZE ET AL. 1997: 320). Je nach Region
kommt es zu einer spezifischen Kombination und kontextgebundenen Ausprägung der
unterschiedlichen Ordnungsmuster wie Netzwerk, Hierarchie, Markt und Verbände etc.
(vgl. Voelzkow 1999). In Anlehnung an Fürst (2001: 10f.) strukturieren vor allem folgende Kontextbedingungen regionale Governance:
4
Die Region wird im Folgenden verstanden als räumliche Handlungsebene zwischen Nationalstaat und
kommunalen Gebietskörperschaften. Im Unterschied zu einem Verständnis von Regionen als für
Zwecke der Verwaltung, Planung, Raumordnung etc. geschaffenen Gebietskörperschaften, die mit
formellen politisch-institutionellen Eigenkompetenzen ausgestattet sind, werden Regionen als flexibler Interaktionszusammenhangs interpretiert, den die unterschiedlichen ökonomischen, sozialen und
politischen Akteure innerhalb eines "physischen", geografischen Raumes bilden. Prägend für die Kohäsion einer Region sind nicht nur politisch-administrative, sondern auch wirtschaftsstrukturelle und
sozio-kulturelle Raumbezüge (vgl. BENZ ET AL. 1999: 24f., KUJATH 1998: 14; HEINZE ET AL. 1997:
329; DILLER 2002: 44). Regionen erscheinen demnach als von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Akteuren selbst organisierte Beziehungssysteme mit jeweils sehr spezifischen Eigenschaften,
z.B. intraregionalen und interregionalen Kooperationsformen, wirtschaftshistorischen und kulturellen
Traditionen, spezifischen Qualifikationsrepertoires etc. (KUJATH 1998: 14).
34
Kapitel 4: Regional Governance
•
•
•
•
•
die gewachsene Wirtschaftsstruktur
die politisch-administrative Kultur (kompetitiv oder kooperativ)
das institutionelle Umfeld
das nationale und europäische Umfeld und deren Regionalpolitik
Anreize und Strukturen der regionalen Selbststeuerung und Netzwerkbildung
Dementsprechend ist die Struktur regionaler Governance sowohl in räumlicher als auch
in institutioneller Hinsicht von Region zu Region sehr ungleich, wobei die Einflussfaktoren noch nicht systematisch erfasst wurden. Regionale Governancestrukturen sind
pfadabhängig, also von kulturellen Prägungen, Vorerfahrungen und historischen Entwicklungen beeinflusst, zugleich aber grundsätzlich dynamisch und wandelbar. So können diese zunächst durch Netzwerke formiert werden, die sich dann durch konkrete Projekte und Partnerschaften in institutionelle Formen der Zusammenarbeit und Koordination weiterentwickeln können, die jedoch auch wieder auf die Stufe lose gekoppelter
Netzwerke zurückfallen können (Fürst 2001: 11).
4.2.1
Verständnis von sozial-ökologischer Transformation
Im Gegensatz zu marktwirtschaftlich organisierten Sektoren waren die Energie- und
Wasserversorgung lange Zeit von Prozessen der Globalisierung/Internationalisierung
der Märkte allenfalls indirekt betroffen5. Ihre räumliche Organisation und regionalen
Governance-Strukturen blieben bis zu den achtziger bzw. neunziger Jahren des 20.
Jahrhunderts in allen Industrieländern weitgehend konstant. Wohl auch aus diesem
Grund sind sie – zumindest in Deutschland – bis heute kaum zum Gegenstand regionaler Governanceanalysen avanciert. Erst im Zuge des gegenwärtigen Liberalisierungs-,
Kommerzialisierungs- und Privatisierungsprozesses verändern sich auch die raumwirtschaftlichen Strukturen der Versorgungssysteme, die räumliche Organisation politischer
Steuerung und weitere Interaktionsbeziehungen im Raum.
Ausgehend von den Erfahrungen in anderen Wirtschaftssektoren ist es auch in diesen
Sektoren der Infrastrukturversorgung eher unwahrscheinlich, dass Liberalisierungs- und
Kommerzialisierungsprozesse zu einer "Enträumlichung" führen, vielmehr bleiben ökonomische und politische Prozesse neben den großräumigen Vernetzungen in sozial überschaubare, regionale Strukturen eingebettet. Ähnlich wie in anderen wettbewerblich
organisierten Wirtschaftssektoren ist davon auszugehen, dass diese räumliche Rückbindung weniger in den Grenzen herkömmlicher Verwaltungseinheiten oder Versorgungsgebiete verläuft. Zwar beeinflussen die historisch gewachsenen Versorgungsgebiete und
die territoriale Organisation von Ländern und Kommunen nach wie vor die wirtschaftsräumliche Strukturierung der Infrastrukturversorgung. Allerdings nimmt die raumstrukturierende Wirkung der öffentlichen Gebietskörperschaften mit dem Abbau regulativer
Einflussmöglichkeiten der Länder und Kommunen ebenso ab, wie diejenige der etab-
5
Dies geschah durch ihre Einbindung in globale Rohstoff- und Technologiemärkte oder durch die
Effekte der Globalisierung auf die Nachfrage von Infrastrukturdienstleistungen.
35
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
lierten Versorgungsgebiete. Im Gegenzug gewinnen wirtschaftliche Funktions- und
Verflechtungsräume an Bedeutung (vgl. zur Energieversorgung MONSTADT 2004: 208214).
Nicht nur in raumstruktureller Hinsicht, sondern auch was die Governance regionaler
Infrastruktursysteme betrifft, kommt es zu einem tiefgreifenden Wandel. Auf liberalisierten Märkten bzw. im Zuge von Kommerzialisierungsprozessen werden Investitionsentscheidungen der Versorgungsunternehmen stärker nach betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien getroffen, wodurch regional- und strukturpolitische Ziele in den Hintergrund treten können. Es kommen neue Marktteilnehmer, etwa eine ausdifferenzierte
ökologisch orientierte Infrastrukturbranche, aber auch neue Dienstleister im Abrechnungswesen, Handel etc. hinzu, welche das institutionelle Arrangement teilweise erheblich transformieren. Indem der regulative Einfluss der Länder und Kommunen über öffentliches Eigentum bzw. die Wirtschaftsaufsicht der Länder abnimmt, verlieren hierarchische Steuerungsformen bei der Realisierung von öffentlichen Zielen der Daseinsvorsorge und des Umweltschutzes an Bedeutung. Die verstärkte Wettbewerbsorientierung
transformiert die herkömmlichen Steuerungsformen staatlicher Kontrolle bzw. öffentlicher Eigenleistungen in kooperative und marktorientierte Formen der Governance.
Sozial-ökologische Transformation wird in dem Projekt als ein nicht zielgerichteter
Wandlungsprozess von Infrastruktursystemen verstanden, in dem sich die räumlichen
Bezüge und Governanceformen der Systeme neu definieren. Ein sozial-ökologischer
Transformationsprozess liegt vor, wenn sich die institutionelle und räumliche Konfiguration regionaler Governance in maßgebenden Faktoren verändert. Er ist danach zu
bestimmen, welche der Faktoren sich verändern und welche einigermaßen unverändert
bleiben, bemisst sich also an der Verteilung von Wandel und Kontinuität.
4.2.2
Steuerungsverständnis
Politische Steuerung kann in Anlehnung an Kuhlmann (1998; 13) verstanden werden
als "absichtsvolle Beeinflussung erkannter gesellschaftlicher Problemzustände durch
staatliche Institutionen". Nach dem – in Deutschland insbesondere von Renate Mayntz
geprägten (vgl. insbesondere Mayntz 1997) – Steuerungsverständnis geht man von
Steuerungsakteuren aus, die ein bestimmtes Steuerungsziel verfolgen, dafür bestimmte
Steuerungsinstrumente einsetzen, um ein Steuerungsobjekt zu beeinflussen, und die
dafür eine Reihe von Steuerungsaktivitäten entfalten.
Umfassender als der Steuerungsbegriff, zu dessen definitorischen Eigenschaften die
Bindung an staatliche Institutionen und an absichtsvolles Handeln zählt, schließt der
Begriff der Governance (oder Regelung) einseitige Steuerung als eine mögliche Variante der Regelung ein (vgl. auch Mayntz & Scharpf 1995: 16). Die Governance-Analyse
bezieht allerdings ausdrücklich die Regelungseffekte nicht-staatlicher Koordinationsformen ein, z.B. die Koordination über Märkte, Netzwerke, Organisationen. Die Commission on Global Governance umschrieb den Begriff folgendermaßen: "Governance ist
die Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln. (...) Der Begriff umfaßt
36
Kapitel 4: Regional Governance
sowohl formelle Institution und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme
als auch informelle Regelungen, die von Menschen und Institutionen vereinbart oder als
im eigenen Interesse liegend angesehen werden" (zitiert nach nach Kenis & Schneider
1996: 39).
4.2.3
Verhältnis sozial-ökologische Transformation und politische Steuerung
Die Veränderung der Raumbezüge und Governance-Strukturen in der Energie- und
Wasserversorgung stellen zugleich neue Anforderungen an die räumliche Organisation
staatlicher und kommunaler Steuerung. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die
Effektivität politischer Steuerung wesentlich davon abhängt, inwieweit ihr räumlicher
Zuschnitt mit den Raumbezügen wirtschaftlicher Verflechtungen kompatibel ist, und
inwieweit Steuerungskonzepte und –prozesse auch in räumlicher Hinsicht die Netzwerkbeziehungen der Wirtschaftsakteure und anderer Adressaten politischer Steuerung
antizipieren (vgl. BENZ ET AL. 2000; HOLZINGER 2002). Angesichts wachsender Inkongruenzen zwischen den wirtschaftlichen Funktionsräumen und den öffentlichen Gebietsterritorien ist davon auszugehen, dass sich öffentliche Interessen der Infrastrukturversorgung nur noch eingeschränkt innerhalb der territorialen Grenzen der Länder und
Kommunen geltend machen lassen.
In dem Maße wie die territorial organisierte Steuerung der Länder und Kommunen bei
der Beeinflussung der herkömmlichen Versorgungsunternehmen und neuer Wettbewerbsakteuren, bei der Förderung innovativer Technologie- und Dienstleistungsunternehmen und bei der Beeinflussung der Nachfrage von Infrastrukturdienstleistungen
immer deutlicher an Grenzen stößt, gerät die Region als Arena für politische Steuerung
in den Blick. Dies bedeutet nicht, dass die Politiken der Länder und Kommunen in der
Infrastrukturversorgung an Bedeutung verlieren6. Dennoch kann die dezentrale Steuerung effektiviert werden, wenn diese sich vermehrt an der Reichweite sozioökonomischer Interaktionszusammenhänge orientiert. Hierbei geht es nicht um die Schaffung
und Abgrenzung neuer Gebietseinheiten oder auch nicht in erster Linie um die Schaffung neuer formaler Organisationen auf Ebene der Region. Vielmehr geht es im Rahmen regionaler Politik darum, die regionalen Wirtschaftsbeziehungen gezielt für politische Problemlösungsprozesse zu nutzen und mit Aktivitäten regionaler Akteure in Wissenschaft, Kammern, Verbänden sowie anderen Wirtschaftsakteuren zu integrieren.
Dies umfasst den Aufbau von interkommunalen Kooperationen und strategischen Formen der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen staatlichen (EU, Nationalstaat; Länder), kommunalen und privaten Akteuren im regionalen Kontext.
6
So bleiben zahlreiche Steuerungsaufgaben, wie die Aufstellung und Umsetzung von Plänen und Programmen (u.a. Flächennutzungs- und Raumplanung, Fachplanungen in der Infrastrukturversorgung),
die Vergabe von Fördermitteln, die Implementierung rechtlicher Vorschriften, die Kontrolle kommunaler Unternehmen ebenso an die formalen Institutionen der Länder und Kommunen gebunden, wie
die politische Konsensfindung und die Herstellung politischer Legitimität.
37
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
4.3
Literatur
Benz, Arthur et al. 1999: Regionalisierung. Theorie – Praxis – Perspektiven. Leske &
Budrich: Opladen.
Diller, Christian 2002: Zwischen Netzwerk und Institution. Eine Bilanz regionaler Kooperationen in Deutschland. Leske & Budrich: Opladen.
Fürst, Dietrich 1993: Raum – Die politikwissenschaftliche Sicht. In: Staatswissenschaften und Staatspraxis, Heft 3, S. 293-315.
Fürst, Dietrich 2001: Regional Governance zwischen Wohlfahrtsstaat und neo-liberaler
Marktwirtschaft. Hannover (unveröffentl. Manuskript).
Graham S, 2000a, “Introduction: Cities and Infrastructure Networks” International Journal of Urban and Regional Research 24 (1) 114 – 119.
Graham S, 2000b, “Constructing Premium Network Spaces: Reflections on Infrastructure Networks and Contemporary Urban Development” International
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Guy S, Graham S, Marvin S, 1996, “Privatized Utilities and Regional Governance: The
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Heeg, Susanne 2001: Politische Regulation des Raums: Metropolen – Regionen – Nationalstaat. Berlin: Edition Sigma.
Heinze, Rolf G. et al. (Christoph Strünck & Helmut Voelzkow) 1997: Die Schwelle zur
globalen Welt. Silhouetten einer regionalen Modernisierungspolitik. In:
Udo Bullmann & Rolf G. Heinze (Hrsg.): Regionale Modernisierungspolitik. Nationale und internationale Perspektiven. Leske & Budrich: Opladen, S. 317-346.
Holzinger, Katharina 2002: Optimale Regulierungsräume für Europa. Flexible Kooperation territorialer und funktionaler Jurisdiktionen. In: Christine Landfried
(ed.): Politik in einer entgrenzten Welt. Verlag Wissenschaft und Politik,
pp. 153-180.
Kenis, Patrick, Schneider, Volker 1996: Verteilte Kontrolle: Institutionelle Steuerung in
modernen Gesellschaften. In: dies. (Hrsg.): Organisation und Netzwerk:
Institutionelle Steuerung in Wirtschaft und Politik. Frankfurt/M., New
York, S. 9-43.
Kujath, Hans Joachim 1998: Regionen im globalen Kontext. In: ders. (Hrsg.): Strategien
der regionalen Stabilisierung. Wirtschaftliche und politische Antworten
auf die Internationalisierung des Raumes. Edition sigma: Berlin, S. 13-37.
Kuhlmann, Stefan 1998: Politikmoderation – Evaluationsverfahren in der Forschungsund Technologiepolitik. Nomos: Baden-Baden.
38
Kapitel 4: Regional Governance
March, J. G. & Olsen, J. P. 1995: Democratic Governance. New York.
Mayntz, Renate 1998: New Challenges to Governance Theory. European University
Institute, Robert Schuman Centre, Jean Monnet Chair Papers 50, Badia
Fiesolana, San Domenico (FI).
Matthiesen, Ulf 1998 (Hrsg.): Die Räume der Milieus. Neue Tendenzen in der sozialund raumwissenschaftlichen Milieuforschung in der Stadt- und Raumplanung. Berlin.
Mayntz, Renate 1996: Politische Steuerung: Aufstieg, Niedergang und Transformation
einer Theorie. In: Klaus von Beyme, & Claus Offe (Hrsg.): Politische
Theorien in der Ära der Transformation. PVS- Sonderheft 26, Westdeutscher Verlag: Opladen, S. 148-168.
Mayntz, Renate & Scharpf, Fritz W. 1995: Steuerung und Selbstorganisation in staatsnahen Sektoren. In: dies. (Hrsg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und
politische Steuerung. Campus: Frankfurt/M., New York, S. 9-38
Monstadt, Jochen 2004 (im Erscheinen): Die Modernisierung der Stromversorgung.
Regionale Energie- und Klimapolitik im Liberalisierungs- und Privatisierungsprozess. Verlag für Sozialwissenschaften: Opladen.
Monstadt, Jochen & Matthias Naumann 2004 (im Erscheinen): New Geographies of
Infrastructure Systems. Spatial Impacts of Socio-technical Change to
Energy and Water Supply Systems in Germany. netWORKS-Papers, Nr.
6, Berlin.
Moss, Timothy 1998: Neue Managementstrategien in der Ver- und Entsorgung europäischer Stadtregionen. Perspektiven für den Umweltschutz im Zuge der
Kommerzialisierung und Neuregulierung. In: Hans-Joachim Kujath &
Timothy Moss & Thomas Weith (Hrsg.): Räumliche Umweltvorsorge.
Wege zu einer Ökologisierung der Stadt- und Regionalentwicklung. Berlin, S. 211-240.
Postelp, Rolf-Dieter 1999: Anforderungen an eine innovative Politik der Regionen in
globalisierten Arenen. In: Klaus Grimmer, Stefan Kuhlmann, Frieder
Meyer-Krahmer (Hrsg.): Innovationspolitik in globalisierten Arenen.
Neue Aufgaben für Forschung und Lehre: Forschungs-, Technologieund Innovationspolitik im Wandel. Leske & Budrich: S. 75-85.
Prittwitz, Volker von (Hrsg.): Institutionelle Arrangements in der Umweltpolitik. Zukunftsfähigkeit durch innovative Verfahrenskombinationen? Leske &
Budrich: Opladen.
Rhodes, R.A.W. 1997: Understanding Governance. Policy Networks, Governance, Reflexibility and Accountability. Buckingham.
Streek, W. & P. C. Schmitter (Hrsg.) 1985: Private Interest Government. Beyond Market and State. London.
Voelzkow, Helmut 1999: Die Governance regionaler Ökonomien im internationalen
39
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Vergleich: Deutschland und Italien. In: Gerhard Fuchs, & Gerhard
Krauss & Hans-Georg Wolf (Hrsg.): Die Bindungen der Globalisierung.
Interorganisationsbeziehungen im regionalen und globalen Wirtschaftsraum. Metropolis: Marburg, S. 48-91.
40
Kapitel 5: Der Regulationsansatz
5
Der Regulationsansatz
Markus Wissen, Agrobiodiversität entwickeln
5.1
Vorbemerkung
Der Regulationsansatz bildet nicht den theoretischen Kern des Projekts „Agrobiodiversität entwickeln“, spielt aber im sozialwissenschaftlichen Part desselben eine Rolle. Ich
will seine Kernaussagen im Folgenden aus einer Erörterung herkömmlicher Vorstellungen von Steuerung herleiten und anschließend einige Bemerkungen zur Frage sozialökologischer Transformation machen.
5.2
Von der hierarchischen Steuerung zur gesellschaftlichen Selbstregulierung
In weiten Teilen der Sozialwissenschaften wird seit einiger Zeit die Aufwertung netzwerkartiger, „kooperativer“ Steuerungsformen gegenüber solchen der hierarchischen
Intervention diskutiert. Der Staat, so eine zentrale These, werde zum „Moderator“. Seine neue Aufgabe liege darin, „die Herstellung von Konsens und Akzeptanz zu organisieren, die innovativen Potentiale der unterschiedlichen Akteure zu mobilisieren und
politische Schwerpunkte für die aktive Gestaltung der Zukunft zu formulieren“ (Voigt
1996: 129; vgl. Heinze u.a. 1997, Heinze/Schmid 1994, Kilper 1999). Diese Konzeptualisierung von Steuerung trägt dem Umstand Rechnung, dass es sich bei Formulierung
und Implementation politischer Entscheidungen um – institutionell strukturierte – Aushandlungsprozesse handelt, die zwar von intentional handelnden Akteuren gestaltet
werden, die aber nicht auf ein zu rationalem Handeln befähigtes Subjekt „Staat“ reduziert werden können. Sie ist folglich Ausdruck „einer skeptischen Beurteilung der Fähigkeit entwickelter kapitalistischer Industriegesellschaften, mittels rationaler staatlicher Planung, Lenkung und Intervention auf sich selbst und ihre zukünftige Entwicklung einzuwirken“ (Offe 1987: 310).
Die Arbeiten zu „kooperativen“ Steuerungsformen stellen einen Bruch mit der Steuerungseuphorie dar, die in den späten 60er und frühen 70er Jahren in Teilen der Sozialwissenschaften verbreitet war: Vor dem Hintergrund der sozialdemokratischen Reformversuche wurde dem Staat damals die prinzipielle Fähigkeit zur vorausschauenden und
41
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
aktiven Steuerung sozioökonomischer Prozesse zugeschrieben (Mayntz/Scharpf 1973).1
Es bedurfte erst der Implementationsprobleme von (Reform-) Politik und der im Zuge
der gesellschaftlichen Transformationsprozesse seit Mitte der 70er Jahre grundlegend
veränderten Bedingungen staatlicher Politik, damit sich eine gewisse Ernüchterung breit
machen konnte (vgl. Esser 1998: 38 f.). In den Vordergrund vieler politikwissenschaftlicher Debatten rückten nun die „Politikverflechtungs-Falle“ (Scharpf) oder die „Entzauberung des Staates“ (Willke), aber auch die Suche nach einem funktionalen Äquivalent zum hierarchisch intervenierenden Staat. Nicht zuletzt die Folgen neoliberaler und
neokonservativer Politik seit Ende der 70er Jahre schienen die Notwendigkeit eines
solchen zu unterstreichen.2
Die neuere Steuerungsdebatte scheint einen Ausweg aus dem Dilemma zu weisen, das
in dem weitgehenden Scheitern politischer Planung einerseits und der „Unverzichtbarkeit einer zur ‚Gesamtverantwortung’ kompetenten Instanz gesellschaftlicher Steuerung“ (Offe 1987: 317) andererseits begründet liegt. Das heißt, sie zieht Lehren aus der
politikwissenschaftlichen Steuerungseuphorie der späten 60er und frühen 70er Jahre,
ohne dabei der Staatsvorstellung eines kruden Neoliberalismus anheim zu fallen.
1
2
Im Zentrum des Interesses von Mayntz und Scharpf (1973) stand dabei die Konfliktdimension einer
„aktiven Politik“. Das heißt, der Erfolg letzterer wurde vor allem als Funktion der Konfliktregelungsfähigkeit des politischen Systems angesehen. Mayntz und Scharpf zufolge konnte aktive Politik nur
dann reüssieren, wenn es gelinge, die Konfliktregelungskapazität sowohl zwischen Regierung/Verwaltung (dem „politischen Aktivsystem“) und „gesellschaftlicher Umwelt“ als auch innerhalb von Regierung und Verwaltung zu steigern (ebd.: 126 ff.). Dabei blieb die Analyse in einem entscheidenden Punkt inkonsistent: Die die Konflikte generierenden gesellschaftlichen Interessengegensätze wurden einmal als „externe Restriktionen“ bzw. als „Rahmen“ aktiver Politik konzeptualisiert,
das andere Mal wurde dagegen eingeräumt, dass sie auch das Verhältnis zwischen den verschiedenen
Regierungs- und Verwaltungsapparaten strukturierten, dass sie von diesen also „internalisiert“ würden und in ihnen institutionalisierte Fürsprecher fänden (ebd.: 128). Dieser Unterschied ist insofern
von Bedeutung, als nur die Wahrnehmung von Interessengegensätzen als externe Restriktionen die
Möglichkeit eröffnet, durch Regierungs- und Verwaltungsreformen die Konfliktregelungsfähigkeit
und damit den Handlungsspielraum aktiver Politik zu erhöhen. Im Konzept internalisierter Interessengegensätze (das eine große Nähe zur materialistischen Staatstheorie und zum Ansatz von Charles
Lindblom aufweist) ist diese Möglichkeit dagegen nur äußerst eingeschränkt bzw. nur im Fall einer
Erschütterung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse gegeben. Unter „normalen Umständen“ wäre
davon auszugehen, dass sich die (internalisierten) Interessen bereits im Reformvorhaben selbst artikulieren, dass also jene Maßnahmen, mit denen Regierung und Verwaltung ihre Konfliktregelungsfähigkeit gegenüber den vorhandenen Interessengegensätzen zu steigern versuchen, durch eben letztere
blockiert zu werden drohen. Ihren Empfehlungen legten Mayntz und Scharpf denn auch primär das
Konzept externer Restriktionen oder aber ein voluntaristisch gewendetes, von gesellschaftlichen
Kämpfen und strukturellen Zwängen abstrahierendes Konzept internalisierter Interessen zugrunde,
dem zufolge die Konfliktfähigkeit subalterner Anliegen durch den Aufbau entsprechender Apparate
institutionalisiert und dadurch „künstlich“ gesteigert werden könne (ebd.: 142).
Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser theoretischen Kehrtwende findet sich bei Panitch
(1998), Görg/Hirsch (1998: 328 ff.) und Esser (1998: 40 ff.).
42
Kapitel 5: Der Regulationsansatz
5.3
Kritik der sozialwissenschaftlichen Steuerungsdebatte
Die neuere Steuerungsdebatte weist allerdings einige Probleme auf, von denen im Folgenden drei benannt seien:
Erstens wird der Bruch, den Teile der Politikwissenschaften gegenüber ihren eigenen
früheren Konzepten vollzogen haben, überlagert von einer Kontinuität, die die Vorstellung vom gesellschaftlichen Steuerungszentrum auch im Konzept des verhandelnden
bzw. „kooperativen“ Staates fortwirken lässt. Die meisten VertreterInnen des letzteren
betonen die hohe Bedeutung, die dem hierarchischen Interventionspotenzial des Staates
nach wie vor zukomme: Es wirke als „Rute im Fenster“ (Mayntz/Scharpf 1995: 29), die
(etwa in Gestalt gesetzlicher Eingriffe) immer dann zum Einsatz komme, wenn die kooperativen Verfahren keine oder unerwünschte Ergebnisse hervorzubringen drohten.
Verhandlungen fänden mithin im „Schatten der Hierarchie“ statt (ebd.: 28).3 Im Grunde
wird der Staat hier analytisch zweigeteilt. Der eine Teil ist jene Instanz, die unmittelbar
in Verhandlungen mit gesellschaftlichen Akteuren involviert ist bzw. diese moderiert
und dabei sowohl deren je spezifische Potentiale aktiviert, als auch Konsens stiftend
wirkt. Der zweite Teil des Staates – und hier wirkt die Vorstellung vom Staat als hierarchischer Spitze der Gesellschaft fort – ist jener mit Rechtsetzungskompetenz ausgestattete Apparat, der die Bedingungen gesellschaftlicher Verhandlungssysteme gestaltet,
ihre Ergebnisse korrigiert oder auch einspringt, wenn sich Verhandlungsblockaden ergeben, der dabei aber von gesellschaftlichen Einflüssen prinzipiell unberührt bleibt. Es
gibt also gewissermaßen den „Governance“- und den „Government-Staat“, wobei letzterer immer dann gefordert ist, wenn ersterer an seine Grenzen stößt. Inwieweit auch
government schon das Ergebnis gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ist, wird nicht untersucht. Staatliche Aktivitäten, die dem government zuzurechnen sind, werden letztlich
als der machtanalytischen black box der Hierarchie entsprungen begriffen. Die dem
planenden Staat der späten 60er und frühen 70er Jahre zugeschriebene Intentionalität,
die mit dem Konzept vom verhandelnden Staat überwunden zu sein schien, schleicht
sich durch die Hintertür der hierarchischen Intervention, die die Bedingungen gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse strukturiert bzw. deren Ergebnisse korrigiert, wieder
ein. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bleibt letztlich ein äußerliches.
Zweitens läuft die neuere Steuerungsdebatte Gefahr, das intentionale Moment politischen Handelns überzubetonen. Das Moment des Nicht-Intendierten gilt dagegen eher
als „Steuerungsversagen“, das es durch stets verfeinerte Steuerungstechniken zu minimieren gilt. Inwieweit gesellschaftliche Widersprüche gerade durch dieses angebliche
„Versagen“ hindurch reguliert werden, bleibt unbeachtet.
Drittens setzt die Untersuchung neuer Steuerungsformen in der Regel dort an, wo sich
bereits ein gemeinsames Problemverständnis unter den beteiligten Akteuren heraus gebildet hat. Dieses gilt dann gleichsam als gegeben, es wird nicht weiter hinterfragt. Der
Prozess der Problemkonstitution wird vernachlässigt; es gerät z.B. aus dem Blick, wie
3
In der Systemtheorie von Willke wird der gleiche Sachverhalt mit dem Begriff der „dezentralen Kontextsteuerung“ beschrieben (Willke 1987, Teubner/Willke 1984).
43
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
bestimmte Akteure aufgrund ihrer Machtressourcen ihre Problemsicht durchsetzen bzw.
verallgemeinern und dabei alternative Problemdefinitionen marginalisieren. Im Bemühen um Problemlösungen wird der Blick für gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse getrübt.
5.4
Regulation und Regulationsweise
Der Begriff der Regulation legt eine andere Sichtweise auf Gesellschaft nahe: Statt diese dem Staat dichotomisch gegenüber zu stellen, begreift er beide Sphären als widersprüchliche Einheit; ohne die Bedeutung intentionalen Handelns zu bestreiten, bezieht
er das Moment des Nicht-Intendierten stärker mit ein; und anstatt bestimmte Problemdefinitionen als gegeben voraus zu setzen, lenkt er den Blick auf den konflikthaften
Prozess der Problemkonstitution, auf die Kämpfe um die Deutungshoheit über gesellschaftliche Probleme, deren Ausgang wesentlich über die (materiellen) Korridore der
Problemlösung entscheidet.
Der ursprünglich aus Frankreich stammende Regulationsansatz4 geht von der Annahme
aus, dass kapitalistische Gesellschaften von strukturellen Widersprüchen durchzogen
sind, die ihre Reproduktion permanent gefährden, dass es also gerade das Wirken der
diese Gesellschaften strukturierenden Prinzipien ist, das ihre Existenz ständig in Frage
stellt.5 Die sozialen Verhältnisse “sind nicht bloß konfliktiv (wie radikale Pluralisten
betonen), sondern widersprüchlich, das heißt, ihre Reproduktion tendiert systematisch
dazu, sie zu sprengen” (Eisenschitz/Gough 1998: 760). Die strukturellen Widersprüche
der kapitalistischen Produktionsweise verschränken sich dabei mit anderen – nicht auf
die spezifisch kapitalistischen reduzierbaren – Widersprüchen, wie die mit dem Geschlechterverhältnis verbundenen (was der Regulationsansatz bislang aber nur unzureichend thematisiert).
Trotz der ihnen innewohnenden Widersprüche ist die Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften historisch gesehen aber der Regelfall und der Zusammenbruch die Ausnahme. Um dies zu erklären, führt die Regulationstheorie die Kategorie der “Regulation” ein. Regulation ist – und hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zum SteuerungsKonzept – nicht das intendierte Ergebnis strategischen Handelns, sondern das kontingente Resultat eines offenen Prozesses sozialer Auseinandersetzungen, die gleichwohl
von intentional handelnden Akteuren geführt werden: “Regulation ereignet sich auf
kontingente Art und Weise und ist nicht unbedingt, oder auch nur für gewöhnlich, das
beabsichtigte Ergebnis einer durchdachten Strategie. Allerdings kann sie häufig als das
Produkt der Interaktion der nicht-intendierten Folgen intentionaler Handlungen erklärt
werden” (Painter 1997: 123).
Regulation vollzieht sich über bestimmte institutionelle Formen, die zusammen eine
„Regulationsweise“ konstituieren. „Institutionell“ bzw. „Institution“ ist dabei im umfas4
5
Als „Pionier“ gilt vor allem Michel Aglietta (1979). Zur neueren Debatte siehe Brand/Raza (2003).
Jessop (2000: 325) spricht von der „konstitutiven Unvollständigkeit des Kapitalverhältnisses“.
44
Kapitel 5: Der Regulationsansatz
senden Sinn als kodifiziertes oder nicht-kodifiziertes Regelwerk zu verstehen, das seinerseits das geronnene Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen ist, das bestimmte
Handlungsmuster erzeugt und sich durch diese hindurch reproduziert, das aber eben
auch durch menschliches Handeln veränderbar ist (vgl. Giddens 1990). Eine Regulationsweise kann dem widersprüchlichen Prozess kapitalistischer Akkumulation für eine
begrenzte Zeit eine gewisse Stabilität verleihen: Sie macht die individuellen Erwartungen und Verhaltensweisen der Gesellschaftsmitglieder und die Muster gesellschaftlicher
Konfliktaustragung mit den je spezifischen und sich ständig wandelnden (und natürlich
nicht naturwüchsigen, sondern sozial konstruierten) „Erfordernissen“ kapitalistischer
Akkumulation kompatibel. Über eine Regulationsweise stellt sich mithin ein Entsprechungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen Produktions- und Konsummustern her,
das in der Terminologie der Regulationstheorie als “Akkumulationsregime” bezeichnet
wird (vgl. u.a. Lipietz 1985).
5.5
Regulation und sozial-ökologische Transformation
Aus der Perspektive des Regulationsansatzes lässt sich sozial-ökologische Transformation als prinzipiell offener „Suchprozess“ nach neuen Formen der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse begreifen. Ausgangspunkt ist die ökologische Krise, die
ihrerseits Ausdruck der Krise einer bestimmten kapitalistischen Konstellation ist: des
Fordismus, der die Entwicklung der Industrieländer in den ersten Jahrzehnten nach dem
Zweiten Weltkrieg prägte. Beim Fordismus handelte es sich um eine auf Massenproduktion und –konsum sowie wohlfahrtstaatlicher Regulation beruhende Entwicklungsweise, die durch hohen Ressourcenverbrauch, hohe Schadstoffbelastung und Risikotechnologien wie Atomkraftwerke geprägt war und auf dem Glauben beruhte, „dass die
Steigerung der Naturbeherrschung den Richtungsvektor gesellschaftlicher Evolution
ausmache“ (Görg 2003: 190). Seit den 70er Jahren wurden die ökologischen Widersprüche des Fordismus durch die Umweltbewegung politisiert.
Sozial-ökologische Transformation als prinzipiell offenen Suchprozess zu begreifen,
heißt nicht dass alle Vorstellungen der Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse
dieselben Chancen hätten, sich durchzusetzen. Denn der Suchprozess findet unter Bedingungen statt, die bestimmte Deutungsmuster und materielle Praktiken begünstigen
und andere benachteiligen. Aber diese Bedingungen wirken eben nicht determinierend,
sondern strukturierend auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen ein. Es besteht die
Möglichkeit, die Bedingungen selbst in Frage zu stellen. Die gegenwärtigen sozialökologischen Transformationsprozesse laufen deutlich unter neoliberalen Vorzeichen
ab: Der Markt gilt als das effizienteste Mittel der Ressourcenallokation, und die Lösung
ökologischer Probleme wird als Funktion ökonomischer Effizienz und der Einführung
neuer Technologien betrachtet. Insofern bricht die post-fordistische Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse nicht mit der dem Fordismus innewohnende Tendenz der
Steigerung von Naturbeherrschung. Eher deutet sich eine „reflexiv gebrochene Strategie
der Naturbeherrschung“ (ebd.: 190) an. Gleichzeitig bilden sich in gesellschaftlichen
„Randbereichen“ aber auch fehlerfreundliche, reflexive Formen des Umgangs mit Natur
45
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
heraus. Dies zeigt das Beispiel der Agrobiodiversität: Gegen den dominanten Trend,
dem Verlust von Agrobiodiversität mit biotechnologischen Verfahren zu begegnen,
gewinnen landwirtschaftliche und gärtnerische Praktiken an Bedeutung, die auf Standortangepasstheit, Vielfalt und demokratische Ressourcenkontrolle bauen.
Mit Hilfe des Regulationsansatzes wären diese Praktiken darauf hin zu untersuchen,
inwieweit sie die dominanten Problemdefinitionen und Praktiken herausfordern und die
Widersprüche der – ebenfalls noch genauer zu untersuchenden – post-fordistischen Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse politisieren können. Allerdings reicht der
Regulationsansatz hierzu allein nicht aus, sondern bedarf der Ergänzung vor allem
durch feministische Ansätze und – das klang bereits an – das Konzept gesellschaftlicher
Naturverhältnisse.
5.6
Literatur
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Brand, Ulrich/Werner Raza (Hrsg.): Fit für den Postfordismus? Theoretisch-politische
Perspektiven des Regulationsansatzes, Münster
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Ellwein, Thomas/Joachim Jens Hesse/Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf (Hrsg.) 1987:
Jahrbuch Staats- und Verwaltungswissenschaft, Band 1, Baden-Baden
Esser, Josef 1998: Konzeption und Kritik des kooperativen Staates, in: Görg/Roth
(Hrsg.), 38-48
Giddens, Anthony 1990: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie
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Strukturwandel und Kontingenz politischer Steuerung in drei Bundesländern, in: Streeck, Wolfgang (Hrsg.): Staat und Verbände. Sonderheft
25 der Politischen Vierteljahresschrift, Opladen, 65-99
46
Kapitel 5: Der Regulationsansatz
Jessop, Bob 2000: The Crises of the National Spatio-Temporal Fix and the Tendential
Ecological Dominance of Globalizing Capitalism, in: International Journal of Urban and Regional Research, Vo. 24, 323-360
Kilper, Heiderose 1999: Die Internationale Bauausstellung Emscher Park. Eine Studie
zur Steuerungsproblematik komplexer Erneuerungsprozesse in einer alten Industrieregion, Opladen
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Panitch, Leo 1998: Die Verarmung der Staatstheorie, in: Görg/Roth (Hrsg.), 20-37
Teubner, Gunther/Helmut Willke 1984: Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche
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Voigt, Rüdiger 1996: Des Staates neue Kleider. Entwicklungslinien moderner Staatlichkeit, Baden-Baden
Willke, Helmut 1987: Entzauberung des Staates. Grundlinien einer systemtheoretischen
Argumentation, in: Ellwein u.a. (Hrsg.), 285-308
47
Kapitel 6: Regionale Netzwerkanalyse
6
Die politische Steuerung von Netzwerken: Annäherung über Wissenspolitologie und Advocacy-Coalitions-Ansatz
Delia Schindler, Nachhaltige Entwicklung zwischen Durchsatz und Symbolik – Leitbilder der ökonomischen Konstruktion ökologischer Wirklichkeit in europäischen Regionen“ (NEDS)
6.1
Anwendungs-/ und Problemkontext:
NEDS erforscht wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse über das Verständnis
von ‚Natur’ und ‚Umwelt’. Dabei wird die ökologische Wirklichkeit als ökonomisches
und politisch wirksames Konstrukt verstanden. Um das Zusammenspiel diskursiver
Praktiken mit ihren materiellen Grundlagen zu beleuchten werden neben den Wirtschafts- sowie Technik- und Naturwissenschafts-Diskursen (wissenschaftshistorische
Perspektive) regionale Diskurse (in Hamburg, Leipzig und Wien) in den Blick genommen. (Die materielle Dimension wird über Materialflussanalysen unserer Untersuchungsregionen und mit der Analyse diskursiver Praktiken von Leitbildprojekten
nachhaltiger Regionalentwicklung bearbeitet.) Um der Handlungswirksamkeit von Bildern, Metaphern und Ideen über ‚Natur’ und ‚Umwelt’ im politischen Prozess nachzugehen, wird die Perspektive der Diskurs-Analyse (Foucault’scher Provenienz) um Akteursanalysen in Form von (qualitativen) regionalen Netzwerkanalysen ergänzt.
6.2
Sozialökologische Transformation als ergebnisoffener Prozess
Der Begriff der sozialökologischen Transformation wird bei NEDS verstanden als ergebnisoffener Prozess, der dadurch gekennzeichnet ist, dass Akteure (Individuen und
kollektive Akteure) unterschiedlichster Positionen (Markt, Staat oder Gesellschaft) in
den Politikfeldern Ökonomie, Ökologie und Soziales mittels eines bestimmten Verständnisses des Querschnittskonzepts Nachhaltigkeit gesellschaftliche und politische
Veränderungen herbeizuführen versuchen. Die These von NEDS dazu lautet, dass die
diskursive Konstruktion von ‚Natur’ und ‚Umwelt’ bedingt und begrenzt, was als
‚nachhaltig’ gelten kann und welche Ziele und Praktiken sich mit dem Konzept verbinden lassen. „Sozialökologische Transformation“ ist also die Überschrift über eine Vielzahl unterschiedlichst akzentuierter Interventionen in unterschiedlichste Policy-Felder.
In der Diskursanalyse wird die sozialökologische Transformation über die Analyse von
Begriffswandlungen in regionalen Nachhaltigkeitsdiskursen erfasst.
6.3
Politische Steuerung in der unordentlichen Wirklichkeit
Rational-Choice-Modelle vertreten in der Regel einen Steuerungsbegriff, bei dem am
Anfang ein empirisch zu beobachtender Akteur bzw. kollektiver Akteur steht, der mit
einer gewissen Legitimation (die unterschiedlicher Art sein kann) und Intention auf
49
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
einen zu transformierenden ‚Gegenstand’, zugreift mit dem Ziel seiner Veränderung.
Gesteuert werden kann mit unterschiedlichen Steuerungsmodi und -instrumenten. In
solchen Modellen sind Akteure allein auf Nutzenmaximierung aus versuchen ihre Interessen über ihren Einfluss und ihre Macht durchzusetzen.
Problematisiert wurde im Zusammenhang mit Rational-Choice-Modellen, dass sie unterstellen, dass alle Akteure über ein vollständiges Situationswissen verfügen, nach denen sie ihre rationalen „vernünftigen“ Entscheidungen treffen (was besonders im Kontext von Nachhaltigkeit problematisch ist) und dass ihre Interessen exogen
(vor)gegeben sind, d.h. dem politischen Prozess vorgelagert. Rational Choice-Ansätze
können daher nicht klären, warum sich Interessen im Verhandlungsprozess wandeln
oder neue ins Spiel kommen.
Hier setzen Ansätze an, die kognitiven und diskursiven Faktoren ein starkes Gewicht
beimessen, und die ihre epistemologische Position im Sozialkonstruktivismus verorten
und aus dieser Position heraus versuchen, Rational-Choice-Modelle zu erweitern bzw.
ein Gegengewicht zur Seite zu stellen. Sie legen eine skeptische Haltung gegenüber
einem Steuerungsbegriff nahe, der sich rückbindet auf ein Reiz-Reaktions-Schema oder
einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und erinnern an die Komplexität sozialer
wie politischer Prozesse, die sich der ‚ordentlichen Wirklichkeit’ von analytischen Konzepten häufig nicht ohne wesentliche Informationsverluste unterordnen lassen. Mit
einem solcherart ‚geläutertem’ Steuerungsbegriff versucht NEDS den gerade in der
Nachhaltigkeitsliteratur oftmals anklingenden Steuerungsoptimismus, der unintendierte
Handlungsfolgen und die Bedingungen der Problemidentifizierungen und -definitionen
unterschlägt, zu entgehen.
6.3.1
Sozialkonstruktivistische Vorüberlegungen: Deutungenund Kontingenz
Im Projekt NEDS wird eine Sichtweise auf gesellschaftliche Wirklichkeit vertreten, die
sich aus dem Sozialkonstruktivismus speist.1 Dieser interessiert sich für die „Produktion
von Wirklichkeit“, ihre soziale Konstruktion: Er stellt die Frage, wie es dazu kommen
kann, dass die von Individuen selbstproduzierte Sozialordnung von eben diesen Individuen gleichzeitig als ‚objektive’ erfahren wird. Sozialkonstruktivistisch inspirierte Forschung geht damit nicht von einem Gegeben-, sondern vielmehr von einem Gemachtsein von Wirklichkeit aus.
Was bedeutet das für die Analyse politischer Steuerung nachhaltiger Politik?
Zum einen wird der in der deutschsprachigen politikwissenschaftlichen Forschung lange Zeit vorherrschenden funktionalistischen, rational-choice-theoretischen Perspektive
auf Systeme und Institutionen um den Blick auf (Situations-)Deutungen der Individuen
erweitert. Damit werden Politik-Inputs und Outputs besser erklärlich, denn
1
Für einen kurzen Überblick siehe Knorr-Cetina (1989).
50
Kapitel 6: Regionale Netzwerkanalyse
„what counts as justified belief and valid knowledge sets limits to the kind of questions
and information that are acceptable in the political debate“, so Hajer und Wagenaar
(2003:13).
Eine solche Sichtweise betont zum anderen die Kontingenz politischen Handels und der
politischen Institutionen: „sie sind in ihrer Wirkung und ihrem Bestand... abhängig von
Deutungs- und Interpretationskämpfen“ so Nullmeier/Rüb (1993: 25), deren grundlegenden Überlegungen zu einer Wissenspolitologie Anfang der 1990er Jahre die ‚kognitive Wende’ (Fischer/Forester 1996) in der deutschsprachigen Policy-Forschung maßgeblich inspirierte.
Bevor auf das damit verbundene und im Rahmen von NEDS verfolgte methodischmethodologische Konzept eingegangen wird, sollen regionale Netzwerke als Untersuchungsgegenstand im Kontext politischer Steuerung eingeführt und begründet sowie der
Stellenwert des ‚Konzepts Nachhaltigkeit’ geklärt werden.
6.3.2
Regionale Netzwerke als Governance-Strukturen in der Nachhaltigkeitspolitik
Mit Policy-Netzwerken können formelle und informelle Interaktionen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen bzw. privaten Akteuren verstanden werden. Letztere können
aus unterschiedlichen Teilsystemen der Gesellschaft stammen, wie Wirtschaft, Wissenschaft usw.
Kennzeichnend für die Netzwerke ist, dass auf der Basis relativer Autonomie agieren.
Policy-Netzwerke werden häufig als neue Governance-Form neben Markt und Staat
verstanden, in denen Politik durch die Verhandlung zwischen funktional ausdifferenzierten Akteuren „gemacht“ wird. Staatliche Akteure sind in dieser Perspektive zwar
nicht bedeutungslos, aber sie haben nicht mehr per se eine dominante Stellung gegenüber gesellschaftlichen Akteuren.
Die Fragen, die sich in einer netzwerkorientierten Perspektive stellen, lauten Über welche Inhalte wird hier in welcher Form verhandelt und mit welchen Ergebnissen? Welche Möglichkeiten sind mit dem netzwerkartigen Regieren gegenüber bspw. einem hierarchischen Modell verknüpft? Was ist das ‚Neue’ am netzwerkartigen Regieren? Was
bedeuten netzförmig organisierte Verhandlungsprozesse und deren Ergebnisse gegenüber dem nach wie vor sektoral organisierten Regierungssystem bspw. der Stadt Hamburg?
Neben diesen Fragen, die aus institutionalistischen Gesichtspunkten heraus relevant
sind, stellt sich insbesondere im NEDS-Kontext die Frage, ob die im Wissenschaftsdiskurs, in den Diskursen der Technik- und Naturwissenschaften sowie im regionalen Diskurs gefundenen Bilder und Metaphern und den in ihnen enthaltenen Ideen von ‚Natur’
und ‚Umwelt’ in den Policy-Prozessen in Hamburg, Wien und Leipzig wiederentdeckt
werden können und welche Rolle sie im Politikprozess spielen. Wie werden sie ins
51
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Spiel gebracht, wonach bemisst sich, wann und wie diese Metaphern als ‚implizite Leitbilder’ der politischen Debatten wirken und wie läuft ihr Transformationsprozess hin zu
expliziten, heißt: programmatischen Leitbildern ab?
„Das“ Leitbild Nachhaltigkeit wird in der Analyse als politisches Konzept, das die mit
den post-modernen Bedingungen von Politik verbundenen Probleme dramatisiert, weil
es hybrid ist, überkomplex, hoch normativ aufgeladen und zudem auf einen Zeithorizont
abzielt, der weit hinter jeder politischen Legislaturperiode liegt. Abgesehen davon ist
sein Bedeutungsgehalt andauernd umstritten. Daher ist besonders geeignet, Probleme
politischer Steuerung zu erörtern und empirisch zu untersuchen.
6.3.3
6.3.3.1
Kurzer Umriss der beiden NEDS-relevante Konzepte zur Untersuchung
der politischen Steuerung von Nachhaltigkeit in den Regionen Hamburg,
Leipzig und Wien
Wissenspolitologie: Relevanz von Deutungsmustern im Policy-Prozess
Im wissenspolitologischen Ansatz von Nullmeier/Rüb (1993) ist „Wissen“ als Schlüssel
zur Erklärung politischen Handelns konzipiert.2 „Wissen“ wird als Synonym für „Deutungsmuster“ bzw. als „kognitives System“ verstanden, das „sowohl normatives wie
deskriptives, implizites wie explizites Wissen“ umfasst. Deskriptives Wissen umfasst
das Wissen über das ‚Sein’ der Welt bspw. aus den Wissenschaften oder aus Alltagserfahrungen.3 Als normativ-praktisches Wissen werden all diejenigen Wissenselemente
bezeichnet, die die Willensbestimmung des Handelns oder der Handlungsziele bestimmen lassen.4
Nullmeier/Rüb vertreten die These, dass es in (post-)modernen Gesellschaften „Wissensmärkte“ gibt, die sich in gesellschaftlichen Teilöffentlichkeiten herausbilden, z.B.
in politischen Institutionen, in den Wissenschaften, in den Medien. Hier konkurrieren
Deutungsmuster und Wissensarten um soziale Geltung. Über ein dreistufiges Auswahlmodell (Wissenswahl, Deutungswahl, Handlungswahl) werden als legitim erachtete
Deutungen ausgewählt, wobei auf der dritten Stufe (Handlungwahl) die Festlegung auf
eine Handlungsalternative stattfindet. In diesem Rezeptionsprozess nehmen die AkteurInnen jedoch existierendes Wissen nicht einfach passiv auf, sondern modifizieren es
und produzieren auch selbst neues Wissen.
Der wissenspolitologische Ansatz betrachtet politische Institutionen und strukturelle
Entwicklungstendenzen unter der Annahme, dass sie ihre Wirksamkeit nur durch die
2
3
4
Vgl. grundlegend und begründend auch Nullmeier (1993).
Unterschieden wird zwischen Gegenwarts-, Vergangenheits- und Zukunftswissen sowie zwischen
singulärem bzw. Gesetzes- und Regelwissen (vgl. Nullmeier/Rüb 1993:45).
Die Autoren unterscheiden zwischen Handlungsorientierungen „basierend auf Willenskonstruktionen
(Präferenzen, Interessen und Wünsche) sowie auf der Basis von Sollenskonstruktionen (Konventionen, Normen, Moralen, Ethiken, Gerechtigkeitsvorstellungen, kategorische Verpflichtungen)... In diesen beiden Formen spiegelt sich die gesamte Konfliktlage der Sozialwissenschaft zwischen Interessen
und Normen wider, zwischen homo sociologicus und homo oeconomicus“ (Nullmeier/Rüb 1993:49).
52
Kapitel 6: Regionale Netzwerkanalyse
Interpretationsleistungen politischer Akteure hindurch entfalten können: „Politische
Entscheidungsprozesse sind weder als Ausdruck von Interessen zu verstehen, die gegeben oder aus situativen und strukturellen Bedingungen abgeleitet sind, noch als Wirkung von Institutionen und Institutionengeflechten, die das Handeln der Akteure in eindeutig bestimmte Bahnen lenken. Weder ökonomische, soziale oder demographische
Rahmenbedingungen, noch politische Institutionen, Klassenkonstellationen oder bündnisse, Parteienkonstellationen und Machtverhältnisse lassen sich – sei es als Kausalfaktoren, sei es als Handlungsconstraints – in eine unmittelbare Beziehung zu Politikergebnissen bringen. Die politischen Akteure konstituieren ihren Handlungsraum
durch die Deutung von Situationen und möglichen Handlungszielen selbst. Gegenüber
einem institutionalistischen, strukturalistischen oder klassenanalytischen Ansatz eröffnet sich damit aber ein Kontingenzraum, den politische Akteure durch die Wahl von
geeignetem (legitimem, wahrem, richtigem) Wissen füllen müssen“ (Nullmeier/Rüb
1993:19).
Diese Perspektive hat einige Vor- und Nachteile, die jüngst z. B. in der Frauen- und
Geschlechterforschung verstärkt diskutiert werden. (vgl. Henninger i.E.), insbesondere
das zugrundeliegende intentionalistische Handlungsmodell wird dabei hervorgehoben:
Handlung wird allein als durch Wissen gesteuertes Handeln konzipiert. Dass Kognition
und Handlung auseinanderfallen können, bliebe unberücksichtigt und Routinen sowie
unintendierte Handlungsfolgen unterbelichtet.
Zudem ist die Gültigkeit von Wissen für Nullmeier/Rüb allein Ergebnis von sozialen
Geltungszuschreibungen. Damit teilt er ein Problem, das alle radikal konstruktivistisch
argumentierenden ForscherInnen haben: Die Frage nach der Beurteilung des ‚Wahrheitsgehaltes’ unterschiedlicher Deutungen desselben Sachverhalts stellt sich für ihn
ebensowenig wie die Frage nach der Existenz einer materiellen Realität jenseits der
Deutungen der AkteurInnen.5
Zusammenfassend lässt sich aber sagen, dass Nullmeier und Rüb eine gute Grundlage
bieten, um Fragen nach Deutungsmustern innerhalb von Policy-Prozessen zu operationalisieren und sich über die Bedingungen und Begründungen der Auswahl von Handlungsoptionen zu informieren.
6.3.3.2
Advocacy-coalition-Ansatz: Die Bedeutung von miteinander geteilten Wertvorstellungen und Kernüberzeugungen
Das Konzept der Advocacy-Koalitionen wurde von Sabatier u.a. entwickelt, um PolicyWandel zu erklären In dem Ansatz wird davon ausgegangen, dass Akteure sich wenigstens zum Teil im politischen Prozess engagieren, um ihre handlungsleitenden Orientie5
Vgl. zu dem daraus folgenden „wissenssoziologischen Dilemma“ Nullmeier (1997). Dieses besteht
darin, dass es bei Einlösung der konstruktivistischen Perspektive in der Forschungspraxis am Ende zu
einem Rückfall in „traditionelle Ideologiekritik“ kommt, weil bestimmte Realitätsdeutungen von den
beforschten AkteurInnen als nicht übereinstimmend mit der Realität, genauer: der Realität der forschen SozialwissenschaftlerIn gebracht werden kann. Alternativ stünde nur die Lösung zur Auswahl,
sich der Evaluation von Politiken zu enthalten und Diskursverläufe zu beschreiben.
53
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
rungen in öffentliche Maßnahmen umzusetzen, und zwar in Policy-Subsystemen. Damit
sind „diejenigen Akteure oder Anzahl öffentlicher und privater Organisationen [gemeint, D.S.], die aktiv mit einem Policy-Problem oder Policy-Fragen, wie beispielsweise der Luftreinhaltepolitik... befasst sind“ (Sabatier 1993:120). Sie bestehen also aus
Personen unterschiedlicher Positionen wie Beamte, PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, JournalistInnen usw.
Innerhalb der Subsysteme ist eine Reihe von „belief systems“ zu finden. Mit „belief
system“ ist ein Set von grundlegenden Wertvorstellungen, Kausalannahmen und
Problemperzeptionen gemeint sowie Auffassungen über die Wirksamkeit von PolicyInstrumenten. Diese belief systems verbinden Akteure so, dass sie einen „durchschnittlichen Grad“ koordinierter Handlungen aufweisen (Sabatier 1993:127).
Belief systems können für die spezifisch je unterschiedlichen Policy-Subsysteme beschrieben und zur Erklärung des Policy-Prozesses herangezogen werden, sozusagen
stellvertretend für die Befragung aller an einem Policy-Prozess beteiligten Akteure.
(Der angenehme Nebeneffekt ist also, dass die ForscherIn entlastet wird.) Die Akteure
eines Subsystems werden über ihre gemeinsamen Normen und Kausalvorstellungen in
einer bestimmten Anzahl von Advocacy-Koalitionen aggregiert, z.B. die Koalition der
Wachstumsbefürworter („Wirtschaft muss es gut gehen, dann klappt’s auch mit der
Nachhaltigkeit“) und Integrationsbefürworter („Nachhaltig ist, was sozial gerecht ist“).
Jede Koalition wendet zu jedem Zeitpunkt Strategien an, deren Ziel eine oder mehrere
institutionelle Innovationen sind, von denen angenommen wird, dass sie den PolicyZielen förderlich sind. 6
Belief systems haben „core beliefs“, die nur schwer zu ändern sind und sich auch durch
neue Informationen, „verbessertes Wissen über Zusammenhängen“ eher nicht beeinflussen lassen. Ganz im Gegenteil geht Sabatier davon aus, dass es vor allem exogene
Ereignisse sind, die zu einem Policy-Wandel in der Nachhaltigkeit führen, z.B. ein
Wandel in den sozioökonomischen Bedingungen.7 Plausibel wird dieser Gedanke beim
Hinweis darauf, dass es zwischen der derzeitigen schlechten gesamtwirtschaftlichen
6
7
Zwischen den konfligierenden Strategien verschiedener Koalitionen wird normalerweise durch eine
dritte Gruppe von Akteuren vermittelt, die ‚Policy Brokers’ genannt werden. Deren wesentliches Anliegen ist es, einen „vernünftigen Kompromiss“ zu finden, der die Intensität eines Konflikts reduziert.
Das Ergebnis sind eine oder mehrere staatliche Maßnahmen, die ihrerseits wiederum Policy Outputs
auf der operationalen Ebene (z.B. behördliche Genehmigungsentscheidungen) hervorbringen. „Diese
Outputs, beeinflusst durch eine Anzahl von anderen Faktoren, münden in eine Vielfalt von Wirkungen auf Problemparameter, die Zielobjekt des Handelns sind (z.B. Luftqualität), ebenso wie in Nebeneffekte“ (Sabatier 1993:121).
Zu diesen Faktoren gehören a) stabile Parameter: Grundlegende Merkmale des Problembereichs oder
Gutes, um das es geht, grundlegende Verteilung der natürlichen Ressourcen, grundlegende soziokulturelle Wertvorstellungen und Sozialstruktur sowie die grundlegenden Merkmale der Verfassungsstruktur; b) dynamische Parameter oder externe System-Ereignisse: Wandel in den sozioökonomischen Bedingungen, Wandel in der öffentlichen Meinung, Wandel in der regierenden Koalition auf
Bundesebene, Policy-Entscheidungen und -auswirkungen aus anderen Subsystemen. Diese verändern
die „politischen Ressourcen“ von verschiedenen Advocacy-Koalitionen und damit die PolicyEntscheidungen auf der zentralen politischen und nachgeordneten administrativen Ebene.
54
Kapitel 6: Regionale Netzwerkanalyse
Lage und der geringen Relevanz, die dem Ökologie-Thema derzeit zugesprochen wird,
einen signifikanten Zusammenhang gibt.
Welche Rolle spielt Wissen hierbei?
Sabatier konzipiert policy-Lernen als einen Faktor (neben vielen anderen), der den Policy-Wandel beeinflusst bzw. hervorruft.
Der Lernprozess impliziert (neben feedback loops) die Perzeption „der externen Dynamik [von Policy-Prozessen, D.S.] und das verbesserte Wissen über den Zustand der
Problemparameter und der Faktoren, die diese beeinflussen. Der Fokus des PolicyLernens richtet sich auf die Verbindung des Wissens mit den grundlegenden Wertvorstellungen und Kausalannahmen, die die ‚core beliefs’ der Advocacy-Koalitionen ausmachen“ (Sabatier 1993:122).
Das Lernen ist instrumentell: d. h. die Mitglieder der Advocacy-Koalition versuchen
„die Welt besser zu verstehen“, um ihre Policy-Ziele zu erreichen. „Sie lernen es, Informationen zurückzuweisen, die nahe legen, dass ihre Grundannnahmen ungültig
und/oder nicht realisierbar sind“ und verwenden ‚Wissen’ in erster Linie, um diese ‚beliefs’ zu untermauern und zu elaborieren (oder dasjenige ihrer Gegner anzugreifen).
Diese Konzeption von nachträglicher Rationalisierung macht Handlungen ‚wider besseren Wissens’ erklärlich. „Wenn ... zwei Kerne [core beliefs, D.S.] im Konflikt stehen,
besteht für jede Koalition die Tendenz, an der anderen vorbeizureden und sich in einem
‚Dialog der Tauben’ zu engagieren, der so lange dauert, bis externe Bedingungen dramatisch das Kräfteverhältnis innerhalb des Subsystems verändern“ (Sabatier 1993:139).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Sabatier darüber Auskunft geben kann,
wann die Chancen für ein Thema wie Nachhaltigkeit steigen und welche Faktoren dafür
verantwortlich sind, dass es zu Veränderungen von belief systems und damit zu PolicyWandel, z.B. in der Stadtentwicklungspolitik hin zu mehr Nachhaltigkeit, kommt.
Wichtig an dem Ansatz ist in diesem Zusammenhang der neuerliche Hinweis, der bei
Nullmeier und seinen verschiedenen Wissensarten auch schon angeklungen ist, dass es
offenbar Filter gibt, die zur „Auswahl“ des relevanten (als relevant erachteten) Wissens
dienen.8
6.4
Literatur
Fischer, Frank/Forester, John, (1996): The Argumentative Turn in Policy Analysis and
Planning. Durham, N.C. u.a.
8
Ein anderes Wort hierfür sind „frames“. Sie werden z.B. in der EU-Bewegungsforschung verstanden
als spezifische Metaphern, symbolische Repräsentationen und kognitive „cues“, die benutzt werden,
um Verhalten in bewertender Weise wiederzugeben und eine alternative Handlungsform vorzuschlagen (vgl. z.B. Keck/Sikkink 1998).
55
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Hajer, Maarten A./Wagenaar, Hendrik, (2003): Introduction. In: dies. (ed.): Deliberative
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Henninger, Annette, i.E. (2004): Politik als Kopfgeburt? Nutzen und Grenzen des wissenspolitologischen Ansatzes für die Untersuchung von Geschlechterpolitik. In: Harders, Cilja/Kahlert, Heike/Schindler, Delia (Hrsg.): Forschungsfeld Politik: Geschlechtskritische Einführung in die Sozialwissenschaften. Opladen.
Keck, Margaret E./Sikkink, Kathryn, (1998): Acitivists beyond Borders. Advocacy
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Knorr-Cetina, Karin, (1989): Spielarten des Konstruktivismus. Einige Notizen und Anmerkungen. In: Soziale Welt, Jg. XXXX/1989. Göttingen. S. 86-96.
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Sozialstaat zum Sicherungsstaat. Frankfurt/Main, New York.
Nullmeier, Frank (1993): Wissen und Policy-Forschung. Wissenspolitologie und rhetorisch-dialektisches Handlungsmodell. In: Héritier, Adrienne (Hrsg.): Policy-Analyse. Kritik und Neurorientierung. PVS-Sonderheft 24. Opladen.
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Nullmeier, Frank, (1997): Interpretative Ansätze in der Politikwissenschaft. In: Benz,
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Sabatier, Paul A., (1993): Advocacy-Koalitionen, Policy-Wandel und Policy-Lernen:
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116-148.
56
Kapitel 7: Thesen zu einer Integrativen sozialökologischen Heuristik
7
Natur, Mensch und Gesellschaft: Thesen zu einer Integrativen
sozial-ökologischen Heuristik1
Maik Hosang, Natur-Kultur-Mensch
1. Die moderne Welt entstand durch zunehmende Befreiung menschlicher Individuen
von Natur- und Gesellschaftszwängen. Daraus erwuchs jedoch eine Abgespaltenheit, die immer mehr zum Grundproblem weiterer Entwicklung wird. Neue Theorien und Methodiken, welche Natur, Mensch und Gesellschaft nicht gespalten voneinander, auch nicht nur schwach, sondern stark gekoppelt erfassen, könnten spannende und wichtige Erkenntnisakzente für die Zukunft bedeuten. Solche starkintegrativen Denkweisen ersetzen weder fachwissenschaftliche noch konkretinterdisziplinäre Analysen und Theorien, ergänzen diese jedoch im Sinne einer die
Erkenntnis- und Handlungsphantasie nachhaltig orientierenden Heuristik.2
2. Trotz der Komplexität ihres Gegenstandes und dessen vielfältiger Wirklichkeit
könnte diese Heuristik einfach und elegant sein - ähnlich wie sich komplexe mathematisch-physikalische Systeme durch relativ einfache Fraktale erfassen lassen,
wie die vier elementaren Wechselwirkungen den Hintergrund aller physikalischen
Phänomene bilden, und wie die Vielfalt der biotischen Lebensformen auf dem genetischen Code, d.h. dem Wechselspiel von wenigen Basen und Aminosäuren beruht,
ohne sich in ihrer konkreten, ausdifferenzierten Vielfalt daraus ableiten oder erklären zu lassen.3
3. Aus dem Gedanken der Integration von Natur, Mensch und Gesellschaft ergibt sich
die heuristische Grundfigur einer dreiseitigen Kritik: am Naturalismus, am Anthropologismus und am Kulturalismus/Soziologismus; sowie die Kritik an jedem Denkansatz, der eine Seite dieser Dreiheit von Natur, Mensch und Gesellschaft vernachlässigt.4 Da die Theorie- und Praxisspaltung von Natur, Mensch und Gesellschaft
allmählich als fundamentales Problem einer nachhaltigen Zukunft erkannt wird, gibt
es verschiedene Brückentheoriekonzepte.5 Der auch zwischen zwei zentralen Brückenkonzepten – zwischen naturwissenschaftlich objektivierender Systemtheorie
und kulturalistisch relativierender Anthropologie - noch existente Spalt verbirgt die
vielleicht fruchtbarste Integrationschance. Neuere Systemtheorien bieten zwar bereits Denkansätze, um Akteure und Systeme zu integrieren6; jedoch keine diese Differenz überwölbende, keine den inneren Zusammenhang von Natur, Mensch und
Gesellschaft erfassende Heuristik.
4. Gesellschaftliche Systeme und Entwicklungen sind nicht anthropologisch, nicht aus
der menschlichen Natur erklärbar, sondern folgen eigenen Systemlogiken. Andererseits setzen alle gesellschaftlichen Funktionen entsprechende anthropologische Verhaltensmöglichkeiten voraus. Es gibt anthropologisch vorbestimmte Verhaltensgrundlagen bzw. Grundbedürfnisse. Diese stellen basale gesellschaftliche Naturverhältnisse dar, werden aber jeweils hochgradig gesellschaftlich (kulturell)7 geprägt.
Ihr Spektrum ist wesentlich breiter als die biologischen Lebensfunktionen; es um-
57
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
fasst neben physisch-materiellen auch sexuelle, Anerkennungs-, Mitgefühls-, Kommunikations-, Lern- und Erkenntnisbedürfnisse 8.
5. Betrachtet man diese basalen gesellschaftlichen Naturverhältnisse aus einem übergreifenden Blick universeller Selbstorganisation, so zeigen sich Korrespondenzen
zwischen den Ansätzen von systemischer Sozialtheorie und Kulturanthropologie.
Man geht davon aus, dass sich im Verlauf der Evolutionsgeschichte aufeinander
aufbauende Schichten selbstorganisierender Existenz herausbildeten. Sowohl Menschen als auch Gesellschaften sind Teil dieser übergreifenden Evolution bzw. stellen
selbst die späteren Schichten dieser Evolution dar. Die Evolutionsschichten lassen
sich daher – trotz aller konkret-kulturellen Ausprägung - sowohl in den anthropologischen Grundbedürfnissen als auch in den gesellschaftlichen Funktionssystemen
wiederfinden9.
Aus der dadurch möglichen Denkbrücke lässt sich folgendes Bild ableiten:
Abbildung 2 :
Skizze zu Thesen zu einer integrativen sozial-ökologischen Heuristik
Natur als Gesamtheit von aufeinander
aufbauenden und ineinandergreifenden
Evolutionsschichten (ES)
Komplexe gesellschaftliche
Selbstorganisation durch
ausdifferenzierte
Funktionssysteme
Primärorganische ES
Geschlechtliche ES
Bio-soziale ES
Sozial-fühlende ES
Kommunikative ES
Lernfähige ES
Reflexionsfähige ES
Wirtschaftssystem/Ökologie
Gendersystem
Politik- und Rechtssystem
Kooperations-Solidarsystem
Medien/Kommunikationen
Bildungssystem
Wissenschaft, Religion, Kunst
Konkrete Menschen als Gesamtheit hochgradig gesellschaftlich (kulturell) geformter
Anthropoligischer
=
basaler gesellschaftlicher
Grundbedürfnisschichten
Naturverhältnisse
Physische Bedürfnisse
Materielle Verhältnisse
Sexuelle Bedürfnisse
Sexuelle Verhätnisse
Anerkennungsbedürfnis
Machtverhältnisse
Mitgefühl / Liebe
Solidarverhältnisse
Kommunikationsbedürfnis
Kommunikationsverhältn.
Lernbedürfnisse
Lernverhältnisse
Erkenntnisbedürfnisse
Erkenntnisverhältnisse
6. Ein anthropogener Code ermöglicht die Erkenntnis, dass eine nachhaltige Entwicklung moderner Gesellschaft nur als ko-evolutionäre Entfaltung aller basalen gesellschaftlichen Naturverhältnisse denkbar ist, sowohl in Form ihrer ausdifferenzierten
gesellschaftlichen Funktionssysteme als auch ihrer individuellen menschlichen
Grundbedürfnisse. Damit fällt der Blick nachhaltiger Entwicklung mehr als bisher
auf die in der bisherigen Moderne vernachlässigten, d.h. nicht gleichwertig wie
58
Kapitel 7: Thesen zu einer Integrativen sozialökologischen Heuristik
Wirtschaft, Politik und teilweise Wissenschaft ausdifferenzierten Grundbedürfnisse
und Funktionssysteme: Gendersensibilität, Mitgefühl, Kommunikation, Bildung und
integrative Wissenschaft.10
7. Indem die anthropologischen Grundbedürfnisse als nicht konkret, dennoch basal
determinierende Grundlagen gesellschaftlicher Funktionssysteme erkannt werden,
wird eine Integration von Systemtheorie und Humanismus denkbar: Die für die
Selbstorganisation aller Funktionssysteme konstitutive Selbstreferenz vollzieht sich
durch die Kommunikation menschlicher Individuen. Die Individuen realisieren ihre
Kommunikation einerseits gemäß den Erfordernissen und Formen des jeweiligen
Funktionssystems (als Funktionssubjekte). Andererseits verkörpern sie – mehr oder
weniger entwickelt, jedoch zumindest als basale, bei aller kulturellen Prägung nie
völlig auslöschbare Anlage - in sich selbst und miteinander-kommunizierend in jedem Moment auch die Gesamtheit aller Grundbedürfnisschichten bzw. basalen gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Das bedeutet: trotz aller kulturellen Prägung und
funktionssystemspezifischen Sprache existiert in der Selbstreflexion und Kommunikation menschlicher Individuen ein mehr oder weniger ausgeprägtes Moment intuitiv-integrativer Wahrnehmung von Natur, Mensch und Gesellschaft. D.h. trotz aller
Ausdifferenzierung von Funktionssystemen gibt es eine diese Differenzierung überwölbende, selbstreferentielle Innenperspektive des jeweiligen Gesamtsystems
von Natur-Mensch-Gesellschaft. In dieser integrativen Selbstreferenz (oder integralen Subjektivität) menschlicher Existenz11 und gesellschaftlicher Problemwahrnehmung (z.B. heute ökologisches Krisenbewusstsein oder globales Gerechtigkeitsgefühl) wurzelt die Chance einer offenen Gesellschaft, welche zugleich naturbezogenökologisch und menschlich ist; welche die ausdifferenzierte Vielfalt der Moderne
nicht retardiert, jedoch theoretisch wie auch praktisch nachhaltig integriert.12
8. Aus der heuristischen Integration von anthropologischen Grundbedürfnisschichten
und reflexiver gesellschaftssystemischer Differenzierung, Befreiung und Ergänzung
ergibt sich eine ermutigende Erkenntnis: Die erforderliche Neuintegration von Natur, Mensch und Gesellschaft und die weitere Ausdifferenzierung und Optimierung
gesellschaftlicher Funktionssysteme stehen sich nicht im Weg, sondern bedingen
sich. Die aus der Spaltung von Natur, Mensch und Gesellschaft folgenden Problemfelder der Moderne (ungenügende gesellschaftliche Ausprägung von Umwelt-, Gender-, Mitgefühls-, Kommunikations- und ganzheitlichen Erkenntnisbedürfnissen)
werden nur dann durch weitere funktionale Ausdifferenzierung lösbar, wenn diese
Differenzierung eine sie überwölbende Integration einschliesst.13 Damit fällt die
Perspektive einer nachhaltigen Entwicklung zusammen mit der Perspektive einer offenen und menschlichen Gesellschaft, ohne dass eine solche wünschenswerte Zukunft festgelegt oder ideologisch forderbar ist. Sie realisiert sich in dem Maße, in
dem die selbstreferenzielle Kommunikation der Funktionssysteme, die freie Subjektivität der Individuen und die wissenschaftlich-integrative Selbstlegitimation der
Moderne ihre Abgespaltenheit voneinander überwinden.
59
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Endnoten:
1
Diese Thesen sind ein Zwischenergebnis eines Projektes im Rahmen des BMBF-Programms „Sozialökologische Forschung“. Es hat die Aufgabe, den Theorieansatz Rudolf Bahros mit anderen sozialökologischen Forschungsansätzen zu vergleichen, Differenzen und Analogien herauszuarbeiten, sowie durch Dialoge mit entsprechenden Vordenkern Anregungen für eine Integration zu entwickeln.
Die hier entwickelte heuristische Grundidee einer holistischen Integration von Evolutionsschichten,
Kuturanthropologie und sozialer Systemtheorie ergab sich insbesondere aus den Analogien und Differenzen zwischen dem kulturanthropologisch-philosophischen Sozialökologieansatz Bahros, dem stärker theoretisch-systemischen Ansatz des Frankfurter Instituts für sozial-ökologische Forschung
(ISOE; Egon Becker, Thomas Jahn u.a.), dem humanökologischen Ansatz Dieter Steiners, dem Denkansatz des ORDO (Kurt Biedenkopf), dem Ansatz der Kritischen Theorie (Herbert Marcuse, Jürgen
Habermas, Axel Honneth), verschiedenen Evolutions-, Komplexitäts- und Systemtheorien sowie Ulrich Becks Konzept reflexiver Modernisierung.
2
Um die Differenz deutlich zu machen, seien hier drei wissenschaftliche Strategien unterschieden:
a) Fachwissenschaftliche: als Erforschung von Sachverhalten im Rahmen traditioneller Wissenschaftsdisziplinen.
b) Interdisziplinäre oder schwach-integrative: als Zusammenspiel mehrerer Disziplinen zur Erforschung eines konkreten Sachverhaltes.
c) Stark-integrative bzw. integrale Heuristiken, die sowohl disziplinäre und interdisziplinäre Forschungen als auch praktisches Handeln aller Bereiche mit einer orientierenden Phantasie versorgen, welche der theoretischen und praktischen Abspaltung bzw. Vernachlässigung von Wirklichkeitsbereichen vorbeugt.
Insbesondere in der Nachhaltigkeitsforschung ist die Strategie b inzwischen allgemein anerkannt. Die
Strategie c ist jedoch bisher nur ansatzweise entwickelt. Sie könnte jedoch für Perspektiven nachhaltiger Entwicklung entscheidend sein: zum einen, um keine relevanten Faktoren zu vernachlässigen und
zum anderen, um die mögliche Emergenz einer neuen gesellschaftlichen Selbstreferenz durch ganzheitlich-menschliche Subjektivität (siehe These 7) zu verstehen. Um dies zu verdeutlichen, einige
kompetente Zitate aus ganz verschiedenen Disziplinen:
„Nachhaltigkeit ist ein ganzheitliches, ein integratives Prinzip, aber die Wissenschaft ist durch ihre
Entwicklung auf eine Herangehensweise eingestellt, die Dinge möglichst eng geführt zu analysieren,
von dem anderen sieht sie ab....Ich fände es wichtig, dass eine neue, überwölbende Sichtweise und
Methodik entwickelt würde, damit eine grundsätzliche, auch paradigmatische Neuortientierung deutlich werden kann.“ (Christiane Busch-Lüty, in: Was für eine Wirtschaft, GSF/BMBF, München
2001).
„Differenzierung wird selbst zum gesellschaftlichen Problem, das nicht mehr durch Differenzierung
bewältigt werden kann...(46/47) Die Folgeprobleme funktionaler Differenzierung stellen funktionale
Differenzierung in Frage. Wie wird die Koordination, Vernetzung, Verschmelzung ausdifferenzierter
Teilsysteme möglich? (67) Eine „Dialektik“ allerdings, die sich nicht nur objektiviert, hinter dem Rücken der Individuen ein- und abspielt, sondern die auch wesentlich im Handeln, im Denken ausgetragen und ausgestaltet wird...(61). Theorien reflexiver Modernisierung sind nicht nostalgisch. Sie sind
vom Wissen durchdrängt, dass die Zukunft nicht im Begriffsrahmen der Vergangenheit verstanden
und bestanden werden kann (25).“ (Ulrich Beck, in: Beck, U./Giddens, A./Lash, S., Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt/M 1996.)
„Der postmoderne Geist hat durch sein Insistieren auf Wahrheitspluralismus auf vielen Feldern ein
breites Spektrum an unvorhergesehenen Möglichkeiten eröffnet... Die praktischen Vorteile seines Plu-
Kapitel 7: Thesen zu einer Integrativen sozialökologischen Heuristik
Endnoten:
ralismus werden immer wieder von sturen begrifflichen Trennungen untergraben. Obwohl in der Frage des Ziels nicht selten Übereinstimmung besteht, gibt es wenig wirklichen Zusammenhalt; es gibt
kein Medium, durch das eine gemeinsame kulturelle Vision entstehen könnte; es existiert keine integrierende Perspektive, die triftig und umfassend genug wäre, um die blühende Vielfalt an intellektuellen Bedürfnissen und Richtungen befriedigen zu können....Psychologisch wie pragmatisch leidet die Kultur unter der vorherrschenden philosophischen Anomie...Angesichts einer derart problematischen geistigen Situation beschäftigt sich eine wachsende Zahl nachdenklicher Menschen mit der
anstehenden zentralen Aufgabe, eine flexible Ordnung an Prämissen und Perspektiven zu entwickeln,
die der Vermittlung, Integration und Klärung dient, ohne jedoch die Komplexität und Vielgestaltigkeit
der menschlichen Wirklichkeiten zu reduzieren oder zu unterdrücken. Viele spüren die dialektische
Herausforderung: eine kulturelle Vision zu entwickeln, die die gegebene Fragmentierung in einen authentischen und fruchtbaren Zusammenhang bringt; die einen Boden für unerwartet neue Perspektiven und Möglichkeiten in der Zukunft schafft; die aber dem möglichen Spektrum legitimer Interpretationen nicht von vornherein Grenzen auferlegt.“ (Richard Tarnas, Idee und Leidenschaft. Die Wege
des westlichen Denkens, Hamburg 1997, 514ff.)
„In der wachsenden Un-Ordnung der Teilaspekte unseres Tuns und Lebens, der Organisation unserer Gesellschaft suchen wir nach den Konturen des Ganzen, dass den Teilen ihren Sinn gibt...Die
Wissenschaften, die Staat und Gesellschaft, Wirtschafts- und Sozialordnung erklären und damit begreifbar und handhabbar machen sollen...sind überfordert, weil sie durch die immer stärkere Aufteilung in Einzelgebiete die Fähigkeit verloren haben, die Entwicklung und das Wirken menschlicher
Gesellschaft in ihrer Ganzheitlichkeit zu begreifen und den Ordnungen nachzuspüren, die das Ganze
bestimmen....Ihnen fehlt auch der Dialog mit den Naturwissenschaften über das Ganze. Nur das gemeinsame Bemühen um die Wiederentdeckung der Zusammenhänge, um eine ganzheitliche Betrachtungsweise in allen Bereichen der Wissenschaft kann uns jedoch den Zugang zu den Ordnungsgesetzen erschliessen, denen die Organisation menschlicher Gesellschaft entsprechen soll, wenn sie
zugleich lebensfähig und menschgerecht sein soll.“ (Kurt Biedenkopf, Die neue Sicht der Dinge,
München 1985, 20ff.)
Quasi identisch wie der Staats- und Rechtswissenschaftler Biedenkopf beschrieb dieses Dilemma im
selben Jahr der Biologe Rupert Riedl im Werk: Die Spaltung des Weltbildes, Berlin/Hamburg 1985.
Ein neues „ganzheitliches Modell (muss) das reduktionistische Programm ergänzen“. Zwar wird die
Einteilung der Erkenntnisbereiche in einzelne wissenschaftliche Disziplinen eine unentbehrliche analytische Methodik zur Durchdringung der komplexen Welt bleiben, „aber die isolierten Erkenntnisse
einzelner Disziplinen genügen nicht mehr...Die Verkoppelung von menschlichen und biophysikalischen Systemen erfordert eine Vereinheitlichung des Wissens...“ Paul Raskin et al., Great Transition Umbrüche und Übergänge auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft. Herausgegeben von
ISOE, HGDÖ, SEI. Materialien Soziale Ökologie (MSÖ) 20. Frankfurt am Main 2003, 66.
Der philosophische Dichter Hölderlin umriss diese Ahnung in für moderne Freiheitsansprüche sehr
akzeptabler Form: „Es gibt zwei Ideale unseres Daseins: einen Zustand der höchsten Einfalt, wo unsre Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften, und mit allem, womit wir in Verbindung stehen, durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zutun, gegenseitig zusammenstimmen, und
einen Zustand der höchsten Bildung, wo dasselbe stattfinden würde bei unendlich vervielfältigten und
verstärkten Bedürfnissen und Kräften, durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben imstande
sind."
Friedrich Hölderlin, Fragment von Hyperion, in: Hölderlin Werke, Bd. 2, Weimar 1989, 7.
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Endnoten:
3
Zum Verständnis des hier verfolgten heuristischen Herangehens an eine starke Integration ist folgendes vorauszuschicken:
Im Unterschied zu fachwissenschaftlichen oder zu konkret-gegenstandsbezogenen interdisziplinären
Forschungen geht es nicht um Detailgenauigkeit oder Vollständigkeit im Detail. Es geht auch nicht
um Ganzheitlichkeit im Sinne einer alles umfassenden und alles erklärenden Theorie; angesichts der
Komplexität von Natur und Gesellschaft führt jeder diesbezügliche Anspruch sich selbst ad absurdum.
Ziel dieser Heuristik ist es vielmehr, zentrale, d.h. die vielfältigen Details der komplexen Wirklichkeit
durchdringende Muster des Zusammenhangs von Natur, Mensch und Gesellschaft sichtbar zu machen.
In philosophischer Terminologie spricht man diesbezüglich von allgemeinen oder grundlegenden Zusammenhängen, in physikalisch-systemtheoretischer Terminologie von Fraktalen. Gelingt es, diese
allgemeinen Zusammenhänge oder Fraktale herauszuarbeiten, entwirrt sich die in ihrer konkreten
Komplexität undurchschaubare und unbegreifbare Wirklichkeit manchmal zur Schönheit einer oft erstaunlich einfachen Erkenntnis.
Hauptkriterium der hier verfolgten heuristischen Vereinfachung ist es, einen integrativen, fraktalen
Rahmen zu entwickeln, der die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der naturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und sozial-ökologischen Theorieansätze nicht aus- sondern einschliesst. D.h. einen
möglichst einfachen Denkansatz, der Anschlussfähigkeit für jede gängige natur- und sozialwissenschaftliche Konzeptionen, inklusive der Differenzen und Paradoxien zwischen diesen Konzeptionen,
zulässt.
Heuristisch-fraktaler, theoretisch-offener Orientierungsrahmen und konkreter theoretischer Pluralismus schliessen sich nicht aus, sondern gehören zusammen. Eine integrative sozial-ökologische Heuristik ersetzt keine Vielfalt konkreter sozial-ökologischer Analysen und Experimente. Diese sind in allen basalen gesellschaftlichen Naturverhältnissen bzw. gesellschaftlichen Funktionssystemen mittels
konkreter fachlicher Kompetenz und Methodik durchzuführen. Eine integrative sozial-ökologische
Heuristik kann jedoch dazu beitragen, eine füreinander sprachlose – und wegen fehlender Anschlussfähigkeit für das Ganze letztlich folgenlose - Beliebigkeit von sozial-ökologischen Forschungen zu
vermeiden. Sie kann statt dessen eine gewisse Konsistenz, eine wechselseitige Ergänzung und füreinander Aufgeschlossenheit, d.h. eine lernfähige Einheit in der Vielheit, fördern.
4
Einige für diese integrative Heuristik zentrale Begriffe und Denkmuster (insbesondere: „basale gesellschaftliche Naturverhältnisse entlang anthropologisch vorgezeichneter Grundbedürfnisse und Lebensfunktionen“) verdanken wir den Vorarbeiten des Frankfurter Instituts für sozial-ökologische Forschung (siehe deren Texte unter www.isoe.de). Auch die methodologische Grundfigur einer doppelseitigen Kritik am Naturalismus einerseits und Kulturalismus bzw. Soziologismus wurde, neben dem
Wiener Team für Soziale Ökologie, vor allem vom ISOE entwickelt.
Analog dazu wurde im Rahmen der Berliner Bahro-Arbeitsgruppe für Sozialökologie eine Kritik an
Theoriekonzepten entwickelt, welche die ökologische Problematik einseitig, d.h. unter Vernachlässigung gesellschaftlicher und anthropologischer Zusammenhänge betrachten (siehe dazu insbesondere
die Texte in Rudolf Bahro: Rückkehr. Die In-Weltkrise als Ursprung der Weltzerstörung, Berlin/Frankfurt 1991). In Anlehnung an tiefenökologische (Arne Naess, Joanna Macy u.a.) und radikalfeministisch-ökologische Ansätze (Claudia von Werlhof, Veronika Bennholdt-Thomsen u.a.) geht die
Kapitel 7: Thesen zu einer Integrativen sozialökologischen Heuristik
Endnoten:
von Bahro entwickelte sozialökologische Kritik davon aus, dass zukunftsorientierte Denkansätze eine
radikale Aufhebung jener beiden starken Spaltungen bzw. Verdrängungen erfordern, welche den Diskurs der Moderne kennzeichnen. Die Abspaltung bzw. Verdrängung der nicht zweckrational-fassbaren, d.h. der holistischen bzw. „spirituellen“ Aspekte der Natur und die Abspaltung bzw. Verdrängung der nicht-patriarchalen, d.h. „weiblichen“, „liebenden“ und „sehnenden“ Aspekte der menschlichen Natur. Während beide Aspekte beim Beginn von Wissenschaft in altgriechischer Philosophie
und auch bei massgeblichen Denkern der Neuzeit (Jakob Böhme, Giordano Bruno, Baruch Spinoza,
Goethe u.a.) noch integriert sind, fallen sie im Verlauf de Moderne mehr und mehr heraus aus den
wissenschaftlichen Diskursen. Bahros Insistieren darauf, keine nur oberflächlich bzw. angepasst sozial-ökologischen Konzepte zu entwickeln, sondern erst einmal diese verdrängten Aspekte wahrzunehmen und diese dann auch theoretisch und praktisch neu zu integrieren, wurde daher von anderen Seiten oft als „unwissenschaftlich“ betrachtet. Diese Beurteilung stimmt insofern, als tatsächlich anfänglich kaum über die Kritik hinausgehende Theorieansätze vorhanden waren; sie negiert jedoch, dass
genau diese Entwicklung neuartiger, die modernen Verdrängungen integrierender Theorie- und Praxisansätze das Ziel des konzipierten Instituts für Sozialökologie war und - mangels
Forschungskapazitäten – bisher nur in Ansätzen geleistet werden konnte.
5
Neben den unter Anmerkung 1 explizit genannten Ansätzen siehe z.B. das umfangreiche Programm
für sozial-ökologische Forschung des BMBF (www.sozial-oekologische-Forschung.org). Die ersten
Ergebnisse dieses Programms siehe bei Ingrid Balzer / Monika Wächter, Sozial-ökologische Forschung. Ergebnisse der Sondierungsprojekte aus dem BMBF-Programmschwerpunkt. München 2002.
Einen gut reflektierten und vielseitigen Überblick sowohl über naturalistische bzw. soziozentrische,
als auch über neuere integrative bzw. Hybridansätze für Natur und Gesellschaft bietet Cordula Kropp:
„Natur“. Soziologische Konzepte. Politische Konsequenzen, Reihe Soziologie und Ökologie 9, Opladen 2002. Auch ältere Integrationsansätze, wie sie bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
von Max Scheler und Nikolai Hartmann, und später von der Evolutionären Erkenntnistheorie (insbes.
Rupert Riedl) entwickelt wurden, lohnen eine Neubetrachtung.
6
Die theoretische Spaltung von System- und Subjekttheorie (bzw. von Natur, Gesellschaft und
Mensch) ist ein altes Problem der modernen Wissenschaft. Die Art der Thesen hat daher absichtlich
Bezug zu ähnlichen, die vor ca. 160 Jahren angedacht wurden: Als Kritik an der systemischen Philosophie Hegels, die den Menschen und dessen Bedürfnisse nur als Material einer davon unabhängigen
Entwicklung des Weltgeistes betrachtete, hatte Feuerbach eine anthropologische Konzeption entwickelt, die den konkreten, selbstbewussten Menschen in seiner Relation von Ich und Du, sowie von
Mensch und Natur, zur Grundlage aller Theorie und Praxis macht. In seinen sogenannten FeuerbachThesen wagte Marx den Versuch einer praxisbezogenen theoretischen Integration beider Konzepte.
Dieser Integrationsansatz gipfelte in seiner Ahnung, dass „durchgeführter Naturalismus = durchgeführter Humanismus = durchgeführtes freies Gesellschaftssystem“ sei. Aus theoretischen wie praktischen Gründen konnte diese heuristische Integration seinerzeit nicht weiter entwickelt werden; seine
Anregungen und Irrtümer hatten jedoch nicht geringen Einfluss auf die seitdem ereigneten gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie trafen ein offensichtlich tief im Anthropologischen wurzelndes
Grundbedürfniss integrativer Selbsterkenntnis. Es scheint daher kein Zufall, dass die konsequentesten
neuen Denkansätze eine theoretische und praktische Neuintegration von Natur, Mensch und Gesellschaft anstreben.
Die in den modernen Sozialwissenschaften seit den 70-iger Jahren geführten Debatten zur Vermittlung von Handlungs- und Systemtheorie griff dieses Problem neu auf. Für die inzwischen klassische
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Endnoten:
Kontroverse zwischen Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns) und Luhmann (Soziale
Systemtheorie) gab es seitdem vielfältige Vermittlungsversuche. Einen guten Überblick dazu siehe
bei Melitta Konopka, Akteure und Systeme. Ein Vergleich der Beiträge handlungs- und systemtheoretischer Ansätze zur Analyse zentraler sozialtheoretischer Fragestellungen, Frankfurt 1999.
Da diese Debatten weitgehend im soziologischen bzw. sozialpsychologischen Kontext abliefen, gab
es jedoch wenig Ansätze zur darüber hinausgehenden, bzw. den ursprünglichen Gehalt der HegelFeuerbach-Differenz aufgreifenden Integration von Natur, Mensch und Gesellschaft. Als Ausnahmen
siehe die in den Anmerkungen 1, 2 und 4 Genannten; an deren Konzepte sich diese Thesen anschliessen.
7
Die Begriffe „Gesellschaft“ und „Kultur“ bzw. „gesellschaftlich“ und „kulturell“, die in anderen Erkenntniszusammenhängen zu unterscheiden sind, werden im Rahmen dieser Heuristik synonym gefasst: als Gesamtheit der in der Kulturgeschichte hervorgebrachten Entitäten (Techniken, Institutionen, Symbole etc.), welche die natürlichen Anlagen des Menschen zu einer eigenständigen, d.h. nicht
aus den natürlich-anthropologischen Voraussetzungen erklärbaren Geschichte gesellschaftlicher bzw.
kultureller Selbstorganisation überformen.
8
Parallel zur Diskussion und zum Begriff „anthropologische Grundbedürfnisse“ gibt es den Begriff
von „Lebensgrundfunktionen“. Da dieser zweite Begriff zu eng auf die physischen Funktionen bzw.
Bedürfnisse verweist, wird für die hier erfolgte anthropologische Weitung der Begriff der Grundbedürfnisse bzw. der Grundbedürfnisschichten verwendet. Gegenüber soziologistischen Denkansätzen,
welche auch den Begriff der Grundbedürfnisse kulturabhängig denken, wird er hier eindeutig „naturalistisch“ verwendet. D.h. er bezeichnet jene in der Naturausstattung des Menschen angelegten, d.h. allen menschlichen Individuen angeborenen Bedürfnisse. Diese können in der konkreten Kulturgeschichte des Individuums zum Teil verdrängt, frustriert, sublimiert, verstärkt oder zu ganz neuen Bedürfniskomplexen integriert werden. Aber letztlich sind und bleiben es die Grundbedürfnisse bzw.
Grundbedürfnisschichten, die quer durch alle Kulturen den Menschen zum Menschen machen und
trotz oft extremer kultureller Vielfalt humane Identifikationseffekte ermöglichen.
Um angesichts der Vielfalt naturalistisch-anthropologischer Bedürfnistheorien ein deutliches Bild zu
gewinnen, wurden die modernen Theorien mit älteren Konzepten menschlicher Natur abgeglichen. In
Anlehnung an entsprechende Vorarbeiten Rudolf Bahros wurden dabei insbesondere der moderne Bedürfnisansatz der humanistischen Psychologie nach Abraham Maslow und der jahrhunderlang und
kulturübergreifend gereifte Ansatz grundlegender menschlicher Lebensfunktionsschichten (Chakren;
siehe z.B. Anodea Judith, Psychology and the Chakra System, London 1997; oder Shalila Sharamon /
Bodo J. Baginski, Das Chakra-Handbuch, Aitrang 2001) integriert.
Da die menschlichen Bedürfnisse immer nur in konkreter kultureller Ausprägung existieren, ist die
hier vorausgesetzte Differenzierung dieser sieben genannten und keiner anderen Grundbedürfnisschichten nicht eindeutig verifizierbar. Sie folgt letztlich dem bewährten, von Aristoteles bis zur modernen Selbstorganisations- und Evolutionstheorie (siehe z.B. Erich Jantsch, Die Selbstorganisation
des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist. München/Wien 1992) immer wieder neu aufgegriffenen Denkansatz von aufeinander aufbauenden und nicht aufeinander reduzierbaren Seinsbzw. Evolutionsschichten, die sich in den zentralen Lebensbereichen und Bedürfnissen des Menschen
wiederfinden. Die aus dieser Sicht mögliche Korrespondenz zwischen drei völlig unabhängig voneinander herausgebildeten Theoriegebilden – dem naturontologischen Ansatz selbstorganisierender Evolutionsschichten, dem anthropologischen Grundbedürfnisansatz und dem soziologischen Ansatz aus-
Kapitel 7: Thesen zu einer Integrativen sozialökologischen Heuristik
Endnoten:
differenzierender sozialer Subsysteme - erscheint jedoch als legitime Begründungsbasis dieses hier
entwickelten integrativen Konzeptes.
Zur theoretischen Klärung ist noch etwas zu diesen sieben Grundbedürfnisschichten auszuführen:
Wie bereits ausgeführt, repräsentiert jede dieser Schichten ein den menschlichen Individuen angeborenes Bedürfnis- und Handlungspotenzial, dessen konkrete Ausprägung, Verdrängung bzw. Integration zu vielfältigsten praktischen Bedürfnissen vom konkreten Gesellschafts- bzw. Kulturumfeld stilisiert wird. Die elememtarste, materiell-physische Bedürfnisschicht – welche z.B. Lebensansprüche
nach Nahrungs- oder Wärmeenergie umfasst – ist dabei „härter“, d.h. weniger umform- oder verdrängbar als evolutionär später herausgebildete, „weichere“, z.B. Anerkennungs-, Mitgefühls-, Lernoder Erkenntnisansprüche. Doch auch diese letzteren sind grundlegende und massgebliche Schichten
jeglicher menschlicher bzw. gesellschaftlicher Existenzform. In der gegenwärtig dominanten industriell-kapitalistischen Kulturform besteht zwar der Anschein, als ob die materiell-physischen Bedürfnisse die letztlich alles entscheidenden Grundlagen menschlicher Existenz sind. Doch bei genauerer
Hinsicht erweist sich dies als Trugbild. So sind z.B. im für viele moderne Menschen scheinbar elementaren „materiellen“ Bedürfnis nach einem Privat-KFZ fast alle Grundbedürfnisschichten verschmolzen; es bedient sowohl materiell-physische, sexuelle, Anerkennungs-, Liebes- und Kommunikations-, und oft auch Lern- und Erkenntnisansprüche. Noch extremer integriert sind alle diese
Schichten im modernen Bedürfnis nach Geld. Es gab und gibt andere, weniger „materiell“-fukussierte
Kulturen, in denen eher weichere Grundbedürfnisse Bedürfnisse als Fokus fungieren: Z.B. konnte und
kann das Bedürfnis nach „Gott“ oder „Göttin“, nach „Brahma“, „Allah“ oder „Buddha“ sowohl Nahrungs- als auch sexuelle, Anerkennungs-, Kommunikations-, Lern- und Erkenntnisbedürfnisse integrieren. Auch in vielen modernen Subkulturen sind die Bedürfnisse nach „Freiheit“, nach „Gesundheit“, nach „Liebe“ oder nach „Sinn“ oft integrativer und damit handlungsleitender als die nach
„Geld“ oder „materiellem Besitz“. Jedoch gelingt es diesen, oft als alternativ titulierten Kulturansätzen bisher kaum, die für die kapitalistische Kultur besonders effizienten Bedürfnis- und Handlungskomplexe von materieller Kompetenz, Macht/Anerkennung, Kommunikation und Erkenntnis gleichwertig auszuprägen. Die spannende, jedoch kaum theoretisch lösbare Frage wäre demnach, ob und
wie in ihren inneren menschlichen und äusseren Naturgrundlagen wissendere, freiere bzw. souveränere Gesellschaften all ihre Grundbedürfnisschichten gleichwertiger – und damit weniger so oder so
einseitig und destruktiv - entwickeln und integrieren. Bedürfnismanipulation, für welche Bedürfnisoder Zweckkomplexe auch immer, scheint nach allen historischen Erfahrungen auf jeden Fall der falsche Weg. Ganzheiltliche, d.h. spaltungsfreie Wissenschaft und offene, dialogische Kommunikation
und Bildung könnte der bisher noch nicht wirklich erprobte Übergang sein, zu einer zugleich natürlichen, menschlichen, freien und vielfältigsten Gesellschaft und Kultur (siehe z.B. Bernd Markert/Stefan Fränzle/Maik Hosang: Wie aus Wissen und Bildung Liebe und Gewissheit wird, Manuskript, Internationales Hochschulinstitut Zittau 2003). Siehe dazu auch Anmerkung 10.
9
Die evolutionäre Herausbildung dieser universellen Selbstorganisationsschichten und deren Wechselwirkung durch Überformungen und Verflechtungen und ist ein eigenes, hier nicht ausgeführtes
Thema. Siehe dazu die Arbeiten von Nicolai Hartmann, Erich Jantsch, Rupert Riedl und der neueren
Evolutions-, Selbstorganisations- und Komplexitätsforschung; bzw. auch Maik Hosang, Der integrale
Mensch, Gladenbach 2000.
Um die mit Hilfe der evolutionären Selbstorganisationsschichten erkennbare Korrespondenz bzw. Integration von Naturgeschichte und Kulturgeschichte ohne naturalistische oder kulturalistische Vereinseitigungen denken zu können, bietet sich der Denkansatz der Ko-evolution an. Dieser macht es mög-
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Endnoten:
lich, sowohl die phylogenetische Herausbildung anthropologischer Bedürfnisschichten als auch die
historische Herausbildung entsprechender gesellschaftlicher Funktionssysteme und davon geformter
individueller Bedürfnisse als Zusammenspiel natürlicher und gesellschaftlicher Prozesse zu begreifen.
Die ersten Bedürfnisschichten entstanden bereits vor der Menschwerdung und wurden in der Anthropogenese den Erfordernissen gesellschaftlichen Lebens angepasst. Die letzteren Bedürfnisschichten
bildeten sich erst in direkter koevolutionärer Wechselwirkung mit der Kulturentwicklung bzw. wurden dabei signifikant verstärkt.
Die entdeckte Korrespondenz zwischen anthropologischen Grundbedürfnisschichten und gesellschaftlichen Funktionssystemen ist keine Gleichsetzung. Die Selbstorganisation eines Funktionssystems
nutzt jeweils mehr oder weniger alle anthropologischen Potenziale; z.B. organisiert sich das Politiksystem auch durch Einbezug jeweils spezifisch kultivierter physischer, sexueller, kommunikativer u.a.
Bedürfnisse; dennoch entspricht das Funktionssystem Politik in besonderem Maß der Schicht anthropologischer Anerkennungs- und Machtbedürfnisse. Ebenso entspricht das Funktionssystem Medien/Kommuikation besonders der Schicht kommunikativer, oder das Bildungssystem besonders der
Schicht der Lernbedürfnisse etc.
Die Korrespondenz zwischen Grundbedürfnisschichten und kulturellen Form bzw. Funktionssystemen ist in den verschiedenen historischen Gesellschaftsformen sehr verschieden ausgeprägt. Es könnte sein, dass Gesellschaften, die sich im relativen Gleichgewicht mit der äusseren Naturumwelt beweg(t)en, sich auch dadurch auszeichne(te)n, dass alle Grundbedürfnisschichten („innere Natur“)
durch entsprechende kulturelle Formen anerkannt und befriedigt bzw. entfaltet werden. Bei der die
gegenwärtige Moderne kennzeichnenden Ausdifferenzierung funktionsspezifischer Teilsysteme ist
jedoch ein Ungleichgewicht zu beobachten:
Einige, doch nicht alle aus evolutionär-anthroplogischen Grundbedürfnissen (bzw. basalen gesellschaftlichen Naturverhältnissen) ableitbaren Funktionssysteme sind in den uns bekannten modernen
Gesellschaften ausreichend reflektiert und entwickelt. Die moderne Gesellschaft entwickelte sich
durch die Ausdifferenzierung der Funktionsbereiche Wirtschaft, Politik, Medien, Bildung und Wissenschaft. Diese befreiten die Moderne von den in vormodernen Gesellschaften permanenten Gefährdungen durch unbeherrschte äussere Naturgewalten und unreflektierte Machtansprüche (siehe dazu
die Werke von Lewis Mumford, Manuel Castells; zum Thema „Befreiung“ bzw. „Freiheit“ als zentralem Evolutionsmotiv menschlicher Gesellschaften siehe die Werke von A. Sen, Ökonomie für den
Menschen. München/Wien 1999). Infolge dieser „evolutionären Konzentration“ moderner gesellschaftlicher Entwicklung auf die Absicherung von materiellen Basisbedürfnissen und persönlicher
Freiheit wurden andere Bedürfnisschichten, insbesondere die mitfühlend-kooperativen, die kommunikativen und teilweise auch die kognitiv-spirituellen Grundbedürfnisse, strukturell vernachlässigt. Mit
den neuen sozialen Bewegungen (Frauen- und Umweltbewegung) begann ihre kulturelle Neubewertung, die zur Entwicklung entsprechender gesellschaftlicher Funktionssystemstrukturen (Umweltministerien, Genderbeauftragte etc.) zu führen scheint.
Nicht nur die ökologischen Probleme deuten darauf hin, dass damit der Prozess erweiterter bzw. reflexiver Modernisierung (Ulrich Beck) jedoch noch lange nicht abgeschlossen ist. Die krisenhafte Abnahme der Geburtenrate als auch die Zunahme von psychosomatischen Krankheiten in modernen Gesellschaften machen deutlich, dass trotz allen materiellen Reichtums und demokratischer Freiheit andere elementare menschliche Grundbedürfnisse nur sehr ungenügend als basale gesellschaftliche Naturverhältnisse erkannt und instutionell ausdifferenziert anerkannt sind.
Kapitel 7: Thesen zu einer Integrativen sozialökologischen Heuristik
Endnoten:
10
Daraus lässt sich z.B. ableiten, dass nachhaltiger Lebensstil, nachhaltige Produktions- und Konsummuster eine relativ freie und subjektiv- selbstbewusste, d.h. weitgehend kompensationsfreie Entfaltung und Befriedigung aller basalen anthropologischen Grundbedürfnisse bedeuten.
Kritische Theoretiker wie Herbert Marcuse, Rudolf Bahro und andere wiesen darauf hin, dass ein
(Gross-)teil des umweltgefährdenden Konsums der Moderne nicht zur Befriedigung physischer Basisbedürfnisse, sondern als Kompensation für in modernen Gesellschaftssystemen frustrierte Gender-,
Anerkennungs- und Mitgefühlsbedürfnisse umgesetzt wird. Die mit dieser Heuristik begründbare Unterscheidung von freien versus kompensatorischen Bedürfnissen wurde von der neueren Debatte um
nachhaltigen Konsum bisher kaum aufgegriffen.
Auch die in der allgemeinen Nachhaltigkeitsforschung beobachtbare Tendenz, sich auf die Analyse
der physisch-materiellen Bedürfnisse und Stoffströme sowie deren symbolischer Regulationsformen
zu konzentrieren, d.h. die für gesellschaftliche Selbstorganisation ebenso relevanten basalen vitalen
Schichten bzw. Verhältnisse von Gender, Macht und Mitgefühl auszublenden, erscheint aus Sicht dieser sozial-ökologischen Heuristik fragwürdig.
Das Rahmenkonzept zum BMBF-Programm „Sozial-ökologische Forschung“ geht hier einen Schritt
weiter und benennt neben den beiden Aufgabendimensionen Stoffstromanalysen und Theorieentwicklung explizit eine dritte, die Genderdimension. Mit Hilfe der hier entwickelten Heuristik lässt sich begründen, dass dies kein willkürlicher feministischer Zusatz, sondern tatsächlich eine gleichwertige,
mit den anderen Dimensionen integrierbare sozial-ökologische Erkenntnisaufgabe darstellt.
11
Darauf fußt die von human- und freiheitsbezogenen Philosophien (von Sokrates, über Fichte bis zu
Jean Paul Sartre, Simone de Beauvoir u.a) sowie von der ursprünglichen Kritischen Theorie betonte
Möglichkeit, das eigene Handeln nicht nur herrschenden Umständen anzupassen, sondern mehr oder
weniger frei, gemäß den universellen Maßstäben eines kritischen Humanismus zu gestalten.
12
Zur Bedeutung von Subjektivität als Selbstreferenz für gesellschaftliche Selbstorganisation siehe
Maik Hosang, Der integrale Mensch. Transdisziplinäre Begriffe für eine nachhaltige Entwicklung,
Gladenbach 2000.
Auch der Biologe, Systemwissenschaftler und Nobelpreisträger Humberto Maturana kommt zum Fazit, dass die theoretisch neu zu begründende subjektive Perspektive eine der dringendsten Aufgaben
der Gegenwart ist: „Unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten als menschliche Wesen bestehen nicht,
weil wir nicht über ausreichendes Wissen verfügen oder weil es uns an technischen Fertigkeiten mangelt...Ich denke, dass der einzige Ausweg aus dieser Situation darin besteht, das verlorene Bewusstsein unserer persönlichen Verantwortung für das Leben, das wir leben und die Welt, die wir hervorbringen, wiederzugewinnen“ (Humberto Maturana, in: Liebe und Spiel. Die vergessenen Grundlagen
des Menschseins. Heidelberg 1994, 134ff.). Ähnlich formuliert es der Biologe Edward Wilson: „Wir
haben bereits begonnen, die Grundlagen der menschlichen Natur zu erforschen und zu ergründen,
welche zwingenden Bedürfnisse dem Menschen angeboren sind und weshalb er ihnen folgen muß.
Wir betreten die Ära eines neuen Existentialismus, nicht jenes alten...absurden Existentialismus, der
dem Individuum vollständige Autonomie zuschreibt, sondern eines, der das Konzept vertritt, daß eine
korrekte Voraussicht und weise Entscheidung nur durch universales, ganzheitliches Wissen möglich
sind.“ (E. O. Wilson, Die Einheit des Wissens, München 2000, 10ff.).
Die 2002 erstmals veröffentlichte Studie „Great Transition“ der Global Scenario Group kommt zu einem quasi identischem Schluss: Weder entsprechend forcierte marktwirtschaftliche, noch poltiische
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Endnoten:
noch zivilgesellschaftliche Entwicklungen sind in der Lage, den für eine nachhaltige Entwicklung erforderlichen Wandel einzuleiten; dazu bedarf es einer „vierten Kraft“. Diese „vierte Kraft ist weniger
greifbar, gibt jedoch den Ausschlag. Gemeint ist die wachsame Öffentlichkeit, der die Notwendigkeit
von Veränderungen und neuen Werten bewusst ist und die auf mehr Lebensqualität, menschliche Solidarität und ökologische Nachhaltigkeit achten“ (Paul Raskin et al., Great Transition - Umbrüche
und Übergänge auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft. Herausgegeben von ISOE,
HGDÖ, SEI. Materialien Soziale Ökologie (MSÖ) 20. Frankfurt am Main 2003).
13
Anders gesagt: Eine integrative sozial-ökologische Heuristik unterstützt die Theorie- und Praxismöglichkeit, einer systemisch-ausdifferenzierten Gesellschaft (mit ökologischer Marktwirtschaft, freiem
Rechtssystem etc., siehe die Darstellung der einzelnen Funktionssysteme bei Niklas Luhman) dennoch ein menschliches Antlitz zu geben. Während Luhmanns Theorie dies explizit ausschliesst und er
daher von einem radikal antihumanistischem Gesellschaftsbegriff spricht (siehe Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1998), gab und gibt es andere Theorieansätze, welche die Möglichkeit einer Integration von offener, ideologiefreier Gesellschaftsstruktur und Humanismus voraussetzen bzw. anstreben. Im Bereich der Wirtschaftstheorie siehe dazu z.B. Joseph Schumpeter oder die
Denker des ORDO (Franz Böhm, Walter Eucken, Kurt Biedenkopf). Im Bereich der Gesellschaftstheorie siehe die ursprünglichen und neueren Ansätze der Kritischen Theorie (Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Axel Honneth). Auch der Ansatz von Anthony Giddens (Theorie der
Strukturierung) mit seiner Vermittlung von objektivem System und subjektiver Handlung ist mit der
hier dargestellten Heuristik kompatibel. Ein guter konzeptioneller Anschluss ergibt sich ebenso zu Ulrich Becks Konzept reflexiver Modernisierung. Siehe dazu auch Anmerkung 7.
In diesem Sinne ermöglicht der integrative sozial-ökologische Denkansatz auch die Begründung eines
zunehmend (Edward Wilson, Richard Tarnas u.a.) geforderten neuen wissenschaftlichen Prinzips: das
Zusammenfallen von Wertfreiheit und ökologischem und humanem Wertmaßstab.
68
Kapitel 8: Ko-Evolution und reflexive Gestaltung
8
Ko-Evolution und reflexive Gestaltung
Jan-Peter Voß, Integrierte Mikrosysteme der Versorgung und Nachhaltige Transformation des Elektrizitätssystems (TIPS)1
8.1
Problem- und Anwendungskontext
Die vorgestellte Konzipierung von Steuerung und Transformation bezieht sich auf das
Anwendungsfeld netzgebundene Versorgungssektoren. Im Zusammenhang mit Liberalisierung und Privatisierung durchläuft die Versorgung mit Strom, Gas, Wasser und
Telekommunikation in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre einen strukturellen
Wandlungsprozess.2 Dieser umfasst die Unternehmens- und Marktorganisation, technische Strukturen, Kundenrollen und Nutzungsmuster, Regulierungsinstitutionen und
Governancemuster sowie Stoff- und Energieströme und den Zustand ökologischer Systeme bei veränderten Zugriffsmustern. Diese unterschiedlichen Veränderungen beeinflussen sich gegenseitig.
Einerseits ist dieser Strukturwandel wegen zahlreicher Wechselwirkungen und der sich
daraus ergebenden komplexen Dynamik nicht vorhersagbar und deshalb auch nicht
zielgerichtet zu kontrollieren. Andererseits erfordern Pfadabhängigkeiten in der Entwicklung von Infrastruktursystemen und deren beachtliche ökologische, soziale und
ökonomische Auswirkungen eine vorausschauende Gestaltung entsprechend dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung.
8.2
Transformation als Ko-Evolution
Versorgungssysteme werden als sozial-ökologische Systeme konzipiert, d.h. als ein
Zusammenhang gesellschaftlicher, technischer und ökologischer Elemente, die in enger
Wechselwirkung stehen. Diese Elemente wirken so zusammen, dass sie eine gesellschaftliche Funktion erfüllen- im Fall der Versorgungssysteme die Ermöglichung von
Energie-, Wasser- und Telekommunikationsdienstleistungen (z.B. Beleuchtung, Waschen, Information).
Wir verstehen Transformation als Strukturwandel in sozial-ökologischen Systemen, d.h.
als eine Veränderung der spezifischen Konfiguration von sozialen, technischen und
ökologischen Elementen. Für eine präzisere Konzeption der Struktur solcher Systeme
und der dynamischen Muster, in denen sie sich verändert, knüpfen wir an gegenwärtige
1
2
Die in der vorliegenden Zusammenstellung ausgearbeitete Konzeption ist nicht identisch mit der in
den Projekten jeweils für die gemeinsame Arbeit zur Grundlage genommenen Konzeption. Diese
stimmen aber mit den Grundzügen der hier vorgestellten Konzeption überein und umfassen jeweils
Teile davon. Besonderer Dank für Diskussion und Kommentare gilt Dierk Bauknecht, Kornelia Konrad, Bernhard Truffer und Corinna Fischer.
Ähnliches gilt auch für öffentliche Verkehrssysteme und die Abfallentsorgung. Diese stehen allerdings nicht im Fokus der hier zum Ausgangspunkt genommenen Projekte.
69
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Arbeiten an einer „theory of (technological) transitions“ an, insbesondere an die Konzipierung einer Wechselwirkung zwischen Mikro-, Meso- und Makroprozessen (Geels
2002; Geels 2002; Kemp 1994; Rip 1995; Rip, Kemp 1998).Wir erweitern den technologischen Fokus dieses Theorieansatzes jedoch im Sinne einer symmetrischen Berücksichtigung von sozialen, technischen und ökologischen Elementen. Außerdem wollen
wir diese strukturellen Dynamiken theoretisch fundieren, indem wir sie in ihren
Grundmechanismen als Ergebnis der rekursiven Beziehung zwischen sozialen Interaktionsprozessen und sozialen, technischen und ökologischen Strukturdimensionen erklären.
Charakteristika des verwendeten Transformationsbegriffes sind:
•
Transformation wird als Strukturwandel verstanden.
•
Verlaufsmuster und Richtung von Transformationsprozessen sind nicht konzeptionell vorgegeben, sondern empirisch zu untersuchen (Typenbildung, z.B. abrupter oder gradueller Wandel, und Bewertung, z.B. „nachhaltige Transformation“ sind dabei möglich)
•
Transformation ist das Ergebnis der eigendynamischen, gekoppelten Veränderung von sozialen, technischen und ökologischen Systemelementen (KoEvolution).
•
Transformationsdynamik entsteht aus intendierten und unintendierten Folgen sozialer Interaktion.
8.2.1
Strukturelemente sozial-ökologischer Systeme
Woraus bestehen sozial-ökologische Systeme?
Zur Untersuchung von Transformationsprozessen führen wir Akteure und eine heuristische Unterscheidung von unterschiedlichen Strukturelementen sozial-ökologischer Systeme ein. Den Ausgangspunkt einer einfachen Grundkonzeption sozial-ökologischer
Systemzusammenhänge bilden zunächst Akteure (Individuen oder Kollektive), die miteinander in Interaktion stehen. Akteure besitzen bestimmte immanente Eigenschaften
wie ein eigenes Selbstverständnis (Identität), bestimmte Formen, in denen sie Umwelteindrücke wahrnehmen und verarbeiten (Perzeption) und spezifische Mittel, mit denen
sie ihre Ziele verfolgen können (Handlungskapazität). Je nach Anzahl und Eigenschaften der Akteure ergeben sich unterschiedliche Akteurkonstellationen, die z.B. eher kooperativ oder konkurrenzartig strukturiert sind.
Akteurkonstellationen sind immer in einen spezifischen strukturellen Kontext eingebettet. Dieser besteht aus unterschiedlichen Elementen wie z.B. gesellschaftlichen Werten,
formalen Entscheidungsverfahren, verfügbaren Techniken, natürlichen Ressourcen. Ihre
Verknüpfung bestimmt den Handlungskontext der Akteure. Dieser Kontext stellt den
Hintergrund dar, auf dem sich Akteursinteressen herausbilden und Akteurskonstellationen konfiguriert werden. Und er strukturiert den Interaktionsprozess der Akteure, indem
70
Kapitel 8: Ko-Evolution und reflexive Gestaltung
er Gelegenheiten bietet oder Restriktionen bereithält, die von Akteuren wahrgenommen
und – bewusst oder unbewusst – in die Interessen- und Strategiebildung einbezogen
werden. Die Struktur des sozial-ökologischen Handlungskontextes lässt sich konzeptionell in fünf Dimensionen differenzieren (cf. Norgaard 1994; Scott 1995; Voß, Barth,
Ebinger 2002):
Werte umfassen gesellschaftliche3 Maßstäbe für das Gewünschte, das „Gute, Schöne
und Gerechte“, und strukturieren die Interaktion der Akteure auf der normativen Ebene.
Wissen umfasst gesellschaftlich geltende Auffassungen von der Realität, sowohl wissenschaftlich fundierte wie alltagspraktisch etablierte, und strukturiert die Interaktion
der Akteure auf der kognitiven Ebene.
Institutionen umfassen gesellschaftlich etablierte Handlungsregeln in Form von kodifizierten oder informellen Erwartungen über angemessenes Handeln in bestimmten Rollen und Situationen und strukturiert die Interaktion der Akteure auf der regulativen Ebene.
Technik umfasst materielle Strukturen, die von Menschen konstruiert und kontrolliert
werden, um bestimmte Zwecke zu erfüllen. Sie strukturiert Interaktionen auf der instrumentellen Ebene durch die Erweiterung und gleichzeitige Kanalisierung von Handlungsmöglichkeiten entlang technischer Funktionalität.
Ökologie umfasst materielle Strukturen, die in einem bio-physischen Reproduktionszusammenhang stehen. Sie strukturiert Interaktionen auf der physischen Ebene durch naturgesetzlich gegebene Handlungsbedingungen und ökologische Rückwirkungen.
Sozial-ökologische Handlungskontexte besitzen Ausprägungen in allen analytischen
Dimensionen, die sich wechselseitig bedingen. Diese Kopplung der eigendynamischen
Veränderungsprozesse in den genannten Strukturdimensionen bezeichnen wir als KoEvolution.4 Neben dieser Form von Ko-Evolution betrachten wir jedoch noch eine weitere, die weiter unten angeführt werden.
8.2.2
Transformationsdynamik: Rekursivität von Prozess und Struktur
Wie verändern sich sozial-ökologische Systeme?
Die Strukturen sozial-ökologischer Systeme reproduzieren und verändern sich dadurch,
dass sie in einer rekursiven, d.h. sich wechselseitig bedingenden, Beziehung mit gesellschaftlichen Handlungsprozessen stehen. Strukturen wirken nicht nur, wie oben beschrieben, auf Handlungen ein, sondern werden selbst maßgeblich durch Handlungsprozesse beeinflusst. Aus der Veränderung von Handlungswirkungen und der Rückwirkung von Strukturen auf Handlungen gewinnen sie ihre Dynamik.
3
4
D.h. “überindividuell” geltende
Weitere konzeptionelle Arbeiten werden sich mit der Zusammenführung des Forschungsstandes zu den
eigenen Dynamiken in den jeweiligen Strukturdimensionen und mit der präziseren Ausformulierung
der Kopplungsformen zwischen diesen beschäftigen.
71
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Sozial-ökologische Strukturen und gesellschaftliche Handlung stehen damit in einer
zirkulären Wirkungsbeziehung: Einerseits werden Interaktionsprozesse durch Strukturen in ihrem Verlauf und Ergebnis beeinflusst. Andererseits bringen Interaktionsprozesse Auswirkungen hervor, die z.B. gesellschaftliche Werthaltungen verändern oder einen
institutionellen Wandel einleiten.
Wegen der fortwährenden Wechselwirkung der verschiedenen Einflussfaktoren, der
Vielzahl und der hohen Variabilität von Handlungsentscheidungen und der nichtlinearen Übersetzung individueller Handlungsstrategien in kollektive Handlungsergebnisse sind sozial-ökologische Systemzusammenhänge niemals statisch stabil, sondern
verändern sich fortwährend.
Durch sich überlagernde positive und negative Rückkopplungen zwischen Systemelementen können dynamische Gleichgewichte auftreten, d.h. Phasen weitgehender Stabilität mit nur langsamen und inkrementellen Strukturveränderungen. Über Kopplungen
mit anderen Systemen (z.B. andere Regionen oder Sektoren) oder durch akkumulierte
Wirkungen und Überschreitung von kritischen Schwellenwerten können aber auch dynamische Gleichgewichte unerwartet in Phasen schnellen und radikalen Wandels übergehen.5
Ein Beispiel für differenzierte Handlungszusammenhänge innerhalb der Versorgungssysteme sind Produktion, Konsum und Regulierung.6 In diesen Handlungsfeldern sind
unterschiedliche soziale Rollen und Organisationen ausgebildet, die besondere Wertstrukturen, kognitive Konzepte, Handlungsregeln und Technikstrukturen umfassen und
für die unterschiedliche Aspekte ökologischer Strukturen relevant sind. Auf der Basis
dieser spezifischen Strukturen ergeben sich jeweils eigene strukturelle Entwicklungsdynamiken.
Quer zu Interaktionen innerhalb der Handlungsfelder finden Interaktionen zwischen den
Handlungsfeldern statt, aus denen sich die übergreifenden Strukturen der Versorgungssysteme entwickeln (z.B. Konzept der Daseinsvorsorge). Diese Interaktionen – und damit die Entwicklung des Versorgungssystems als Ganzes – werden durch die Eigendynamiken der Handlungsfelder beeinflusst (z.B. hat die Veränderung von Konsumstilen
Auswirkungen darauf, welche Versorgungsprodukte entwickelt werden). Innovationen
in den einzelnen Handlungsfeldern müssen mit den Strukturen der anderen Handlungsfelder zusammenpassen, um erfolgreich zu sein. Hier zeigt sich – neben der KoEvolution von Werten, Wissen, Institutionen, Technik und Ökologie - eine weitere Dimension, in der Transformationsprozesse durch Prozesse der Ko-Evolution bestimmt
werden.
5
6
Sozial-ökologische Systeme zeigen auch noch weitere dynamische Eigenschaften komplexer Systeme
(vgl. Aida 1985; Anderson 1999; Byrne 1998; Holland 1998; March 1994). Ein wichtiger Aspekt ist
die Entstehung von neuen Systemzusammenhängen über den Mechanismus der Selbstorganisation
(Kauffman 1995; Küppers ; Küppers 1996; Müller-Benedict 2000)
Diese Handlungsfelder der Versorgung können jeweils als Subsysteme der gesamtgesellschaftlichen
Teilsysteme “Wirtschaft”, “Gesellschaft” und “Politik” aufgefasst werden..
72
Kapitel 8: Ko-Evolution und reflexive Gestaltung
Diese beiden quer zueinander liegenden Ko-Evolutionsprozesse ergeben zusammen ein
Bild, das als „verschränkte Ko-Evolution“ bezeichnet werden kann (s. Abbildung 3).
Dabei handelt es sich um Kopplungsbeziehungen, in denen einzelne Elemente jeweils
gleichzeitig in verschiedene Ko-Evolutionszusammenhänge eingebunden sind und von
beiden Seiten beeinflusst werden.
Abbildung 3:
Verschränkte Ko-Evolution
Values
Knowledge
Institutions Technology
Ecology
Production
Consumption
Regulation
Es wird deutlich, dass ein als Ko-Evolution konzipierter Transformationsprozess nicht
auf ein bestimmtes Ziel hinstrebt, sondern aus vielfältigsten Richtungen und durch
komplexe Wechselwirkungen beeinflusst ist und damit prinzipiell richtungsoffen ist.
8.2.3
Mehrebenendynamik in sozial-ökologischen Systemen
Eine weitere Unterscheidung sind unterschiedliche Ebenen sozial-ökologischer Systeme. Wir schließen damit vor allem an die Differenzierung von „Nischen“, „Regimen“
und „Landschaft“ an, die in der sozialwissenschaftlichen Technik- und Innovationsforschung entstanden ist und ein zentrale konzeptionelle Bedeutung für die Theorie der
„technological transitions“ einnimmt (Geels 2002; Geels 2002; vgl. Kemp 1994; Kemp,
Rotmans 2001; Kemp, Schot, Hoogma 1998; Rip, Kemp 1998; Rotmans, Kemp, Asselt
2001).
Regime sind dabei die zentrale Beobachtungseinheit auf der Mesoebene. Der Regimebegriff bezeichnet eine spezifische Konfiguration von sozialen, technischen und ökologischen Elementen, die so miteinander verknüpft sind, dass sie gemeinsam eine gesellschaftliche Funktion erfüllen. In unserem Fall stellen also spezifische Konfigurationen
von Firmenstrukturen, Regulierungsinstitutionen, technischen Anlagen etc.. ein Regime
dar, dass die Funktion erfüllt, eine bestimmte Versorgungsleistung z.B. mit Strom zu
erbringen.
Innerhalb des Regimes bzw. auf der Mikroebene des Systemzusammenhanges stehen
Nischen im Fokus. Das sind lokale oder funktional begrenzte Anwendungskontexte für
institutionelle oder technologische Variationen, die von der dominanten RegimeKonfiguration Regimes abweichen, so z.B. die Nische für Einsparcontracting in Krankenhäusern oder die Nische für ökologische Lebensmittel. In der Nische können sich
komplementäre technologische und institutionelle Strukturen durch learning by doing
73
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
entwickeln, die das Potenzial besitzen, in das dominante Regime „einzubrechen“ und
seine Struktur zu verändern.
Auf der Makroebene sind Regime in eine sozio-technische Landschaft eingebettet, aus
der sich bestimmte Anforderungen an ihre Funktion ergeben. Entwicklungen auf der
Ebene der Landschaft sind zum Beispiel allgemeiner kultureller oder demographischer
Wandel, technologische Basisinnovationen wie Kommunikationstechnologien oder politisch-institutioneller Strukturwandel wie die Europäische Integration. Landschaftsstrukturen können bestimmte Regimeformation stützen oder Veränderungsdruck ausüben.
In der Theorie technologischer Transitionen sind Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Ebenen entscheidendfür Regimetransformationen. Regime ändern sich ,
wenn Anpassungsdruck durch Veränderungen auf der Landschaftsebene (z.B. globaler
Klimawandel) mit dynamischen Entwicklungen auf der Ebene sozio-technischer Nischen zusammen kommen. Dann können Nischen sich in entstehenden „Rissen“ im Regime entfalten und einen Prozess von Strukturanpassungen auslösen, bis sich eine neue
Konfiguration stabilisiert, in der die ehemaligen Nischen als integrale Bestandteile eines
veränderten Regimes fest etabliert sind. Dieser Prozess wird in mehreren Phasen unterschiedlich schnellen Wandel konzipiert und als „transition“ bezeichnet.7
7
Der Begriff der “transition” bezeichnet einen “Übergang”, d.h. ein dynamisches Muster, das von
einem stabilen Zustand über einen sich beschleunigenden and dann wieder abebbenden Wandlungsprozess in einen neuen stabilen Zustand führt (symbolisiert im Bild der S-Kurve). Der Begriff der
“Transformation” ist hingegen weiter und umfasst auch andere strukturelle Wandlungsmuster.
74
Kapitel 8: Ko-Evolution und reflexive Gestaltung
Abbildung 4:
Landscape
developments
Mehrebenendynamik als "technological transition" (Geels 2002)
Landscape developments
put pressure on regime,
which opens up on multiple
dimensions, creating windows
of opportunity for novelties
New ST-regime
influences landscape
Sociotechnical
regime
ST-regime is ‘dynamically stable’.
On different dimensions there
are ongoing processes.
New configuration breaks through, taking
advantage of ‘windows of opportunity’.
Adjustments occur in ST-regime.
Elements are gradually linked together,
and stabilise into a new ST-configuration
which is not (yet) dominant. Internal
momentum increases.
Technological
niches
Articulation processes with novelties on multiple dimensions (e.g.
Technology, user preferences, policies). Via co-construction different
elements are gradually linked together.
Time
Für die Konzipierung von Transformationsprozessen in Versorgungssystemen greifen
wir auf Konzepte der transition theory zurück, um Dynamiken zu erfassen, die sich aus
der Mehrebenenstruktur sozial-ökologischer Systeme ergeben. Wir erweitern den Ansatz aber neben den schon oben angeführten Aspekten, indem wir neben Transitionen
bzw. „regime shifts“ auch andere dynamische Muster untersuchen, so z.B. Veränderungsdynamiken, die sich aus der Interaktion verschiedener Regime ergeben oder
Transformationsprozesse, die nicht einem s-förmigen Übergang von einem stabilen Regime zu einem anderen führen, sondern z.B. zwischen zwei Zuständen oszillieren oder
nicht zu einer neuen Stabilisierung, sondern zum Zerfall eines Regimes führen (Konrad
et al. 2003).
8.3
Steuerung als reflexive Gestaltung
Mit der dargestellten Konzeption von Transformationsprozessen in sozial-ökologischen
Systemen lassen sich Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen von Steuerung
sowie zur Angemessenheit von Strategien zur Gestaltung von Transformationsprozessen anstellen. Zunächst einige stichwortartige Aussagen zum grundsätzlichen Verständnis von Steuerung, das wir dann weiter ausführen.
75
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
•
Steuerung wird verstanden als intendierte Beeinflussung
•
Steuerungsversuche finden dauernd statt
•
auf unterschiedlichen Ebenen, durch verschiedene Akteure mit unterschiedlichen
Zielen, Strategien und Ressourcen
•
Hat intendierte und unintendierte Folgen
•
Ist kontingent, d.h. Steuerungserfolg ist kontextabhängig
•
Ist endogen, d.h. selbst bedingt durch Transformation
•
Adäquate Steuerungsstrategien für Transformation sozial-ökologischer Systeme
berücksichtigen Zusammenhänge, Neben- und Langfristfolgen, setzen an verschiedenen Punkten an und lernen fortlaufend in Interaktion mit dem System (reflexive Gestaltung)
Die Konzeption von sozial-ökologische Systemen als komplexe Systeme, deren Dynamik rekursive Wirkungsbeziehungen, Selbstorganisation und (verschränkte) KoEvolutionsprozesse beinhaltet, macht einen Steuerungsbegriff im Sinne der umfassenden Kontrolle von Systemprozessen und einer zielgerichteten Hervorbringung von
Transformationsprozessen obsolet. Unter Steuerung verstehen wir deshalb nicht den
Erfolg von Kontrollversuchen, sondern lediglich den Versuch, Transformationsprozesse
zu beeinflussen. In dieser Form findet Steuerung alltäglich durch verschiedene Akteure,
mit unterschiedlichen Zielen und Handlungsmöglichkeiten statt. Diese verschiedenen
Steuerungsversuche interagieren miteinander und mit der eigendynamischen Entwicklung sozial-ökologischer Systeme. Steuerung hat deshalb im Zusammenhang komplexer
Systeme neben intendierten immer auch nicht intendierte und oft nicht einmal erwartete
Folgen. Daraus ergibt sich die zentrale Problematik von Steuerung unter Unsicherheit.
Einerseits besteht Gestaltungsbedarf, weil gesellschaftliche Ziele wie z.B. eine nachhaltige Entwicklung, nicht durch eigendynamische Transformationsprozesse realisiert werden. Andererseits besteht Ungewissheit darüber, ob mit Steuerungsversuchen tatsächlich die gewünschten Ziele erreicht werden können, oder ob unintendierte Folgen nicht
neue Probleme (sog. Probleme zweiter Ordnung) nach sich ziehen, die vielleicht
schwerwiegender sind als die ursprünglich adressierten (Böhret 1990; Dörner 1989;
Jahn, Wehling 1998).
Eine weitere wichtige Bedingung der Steuerung in sozial-ökologischen Systemen ist die
Tatsache, dass Steuerung nicht außerhalb der Systeme und der darin ablaufenden Transformationsprozesse stattfindet, sondern selbst ein Teil davon ist. Steuerungsakteure
werden in ihren Problemwahrnehmungen, Realitätskonzepten, normativen Zielsetzungen und Handlungskapazitäten selbst durch die Strukturen beeinflusst, die sie beobachten und beeinflussen wollen. Auch hier treten zirkuläre Wechselwirkungen auf. So können sich z.B. Steuerungsziele dadurch verändern, dass Transformationsprozesse erfolgreich beeinflusst werden.
Angesichts dieser Relativierung von Steuerungshandeln gegenüber der Eigendynamik
sozial-ökologischer Systementwicklungen sowie paradoxen Steuerungswirkungen stellt
76
Kapitel 8: Ko-Evolution und reflexive Gestaltung
sich die Frage, wie angemessene Steuerungsstrategien aussehen können. Eckpunkte
dafür haben wir unter dem Begriff „reflexiver Gestaltung“ entwickelt. Reflexivität bezieht sich dabei auf die systemische Einbettung des Denkens und Handelns von Steuerungsakteuren, d.h. dass Gestaltungsstrategien ihre eigenen Rückwirkungen integrieren
müssen. Den Begriff Gestaltung benutzen wir hier, um Missverständnissen in Bezug auf
die Kontrollierbarkeit von eigendynamischen Transformationsprozessen vorzubeugen.
8.4
Prozesselemente reflexiver Gestaltung
In der Entwicklung reflexiver Gestaltungsansätze gehen wir von drei Komponenten
einer idealtypischen Problembearbeitung aus: a) Systemanalyse mit dem Ziel, UrsacheWirkungszusammenhänge, Einflussfaktoren und zukünftige Entwicklungsszenarien
eines Problembereiches zu erfassen, b) Bewertung von Handlungsoptionen und alternativen Entwicklungsszenarien mit Blick auf Zieldefinitionen, c) Entwicklung und Umsetzung von Handlungsstrategien, um definierte Ziele zu erreichen.8
Aus der Gegenüberstellung der Anforderungen für die Problembearbeitung mit den spezifischen Eigenschaften sozial-ökologischer Transformationen lassen sich Kriterien für
angemessene Gestaltungsstrategien ableiten. Diese sind zunächst abstrakt formuliert,
d.h. sie beziehen sich auf die Prozessform, in der Strategieentwicklung und –umsetzung
betrieben werden soll, nicht auf konkrete Probleme, Steuerungsziele, Umsetzungsakteure o.ä.. Tabelle 2 gibt einen Überblick über diese Anforderungen an Gestaltungsprozesse. Diese werden im Anschluss jeweils in einem Absatz kurz erläutert.
Tabelle 2:
Ges taltungs
as pekt
S pezifis che
P robleme
nachhaltige
Trans formation
P rozes s kriterien
8
Prozesselemente reflexiver Gestaltung
P roblemidentifikation und –analys e
Zielformulierung
S trategieentwicklung u.
–ums etzung
Interaktion
s ozialer,
technis cher,
ökologis cher
E lemente
über mehrere
E benen
Uns icherheit
und Unwis s en
über Dynamik
und E ffekte von
Interventionen
P fadabhängigkeit von
Trans formation
(mit s tarken
Aus wirkungen)
Ziele beinhalten
Bewertungen,
s ind Teil von
Trans formation
E influs s kapazit
äten über viele
vers chiedene
Akteure verteilt
Integrierte
Wis s ens produktion
E xperimente &
Anpas s ungs fähigkeit von
S trategien und
Ins titutionen
Antizipation
langfris tiger
S ys temwirkungen
Iterative,
partizipative
B ewertung/
Zieldefinition
Interaktive
S trategieentwic klung d.
S takeholder
Vgl. dazu auch die Unterscheidung von Systemwissen, Zielwissen und Transformationswissen als
Element transdisziplinärer, problemorientierter Forschung bei Mogalle (2001)
77
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Integrierte Wissensproduktion
Die nachhaltige Gestaltung von Transformationsprozessen muss auf integrierten Konzepten vom Problemgegenstand basieren. Das betrifft sowohl wissenschaftliche Untersuchungen, die die Perspektiven relevanter Disziplinen verbinden müssen, wie die Einbeziehung praktischen Erfahrungswissens gesellschaftlicher Akteure in die Formulierung von Problemzusammenhängen und Abschätzung von Handlungsfolgen.
Experimente & Anpassungsfähigkeit von Strategien und Institutionen
Weil es unmöglich ist, sozial-ökologische Transformationsprozesse zu prognostizieren,
können optimale Problemlösungen nicht ex-ante definiert werden. Vor dem Hintergrund
von Unsicherheit muss jede Strategie als Hypothese über das Problem, Handlungsoptionen und deren mögliche Wirkungen aufgefasst werden. Steuerungsprozesse sollten
deshalb als Test dieser Hypothese ausgelegt werden. Das beinhaltet auf der einen Seite
systematisches Monitoring und Evaluation der Effekte, auf der anderen Seite bedeutet
es, dass Strategien und die mit ihnen verbundenen Strukturentscheidungen (für Institutionen, Technologien etc.) anpassungsfähig sein müssen, um auf Testresultate angemessen zu reagieren.
Antizipation langfristiger Systemwirkungen
In sozial-ökologischen Systemzusammenhängen können Ursache und Wirkung sehr
weit auseinander liegen. Die Folgen bestimmter Handlungen treten oft dort auf, wo sie
zuvor nicht vermutet wurden oder lange nachdem die Handlungen vollzogen wurden,
durch die sie ausgelöst wurden. Wenn Probleme zu eng definiert werden (z.B. nur ökonomische oder nur politische Aspekte beinhalten) oder zu kurze Zeithorizonte angesetzt
werden, dann ist es wahrscheinlich, dass wichtige Effekte unbeachtet bleiben. Eine besondere Klasse sind „lock-in“ Effekte, die entstehen, wenn bei bestimmten Entscheidungen unbeachtet bleibt, dass auch kleine „Weichenstellungen“ bestimmte Pfade zukünftiger Systementwicklung faktisch ausschließen können. Gestaltungsstrategien müssen daher damit einhergehen, auch indirekte und langfristige Folgen möglicher Handlungsoptionen (insbesondere im Hinblick auf Pfadabhängigkeiten) systematisch zu antizipieren, z.B. mit Hilfe von qualitativen explorativen Szenarien, in die Einschätzungen
aus unterschiedlichen Stakeholder-Perspektiven eingehen.
Iterative partizipative Bewertung/ Zieldefinition
Nachhaltigkeitsziele können nicht objektiv definiert werden – aus prinzipiellen wie aus
praktischen Gründen. Die Ermittlung der notwendigen Bedingungen für das langfristige
Überleben sozial-ökologischer Systeme beinhaltet subjektive Risikowahrnehmungen
und die Abwägung unterschiedlicher Werte. Dieses kann nicht durch wissenschaftliche
Methode, sondern nur im gesellschaftlichen Diskurs oder durch politische Entscheidungen geschehen. Hinzu kommt, dass Werte selbst ein konstitutiver Bestandteil sozialökologischer Systeme sind und sich ebenfalls wandeln können. Nachhaltigkeitsziele
bestehen deshalb immer aus ambivalenten und sich bewegenden Zielen. Das muss
durch partizipative Bewertungs- und Zielformulierungsprozesse berücksichtigt werden,
78
Kapitel 8: Ko-Evolution und reflexive Gestaltung
die zudem wiederholt durchgeführt werden müssen, um sich wandelnde gesellschaftliche Werte und Ziele angemessen abzubilden.
Interaktive Strategieentwicklung der Stakeholder
Transformationsprozesse sind das Ergebnis vieler verteilter Handlungen und Innovationsprozesse. Diese interagieren miteinander über die Grenze von institutionalisierten
Politikfeldern wie z.B. Umwelt- und Technologiepolitik und Handlungsfeldern wie
Produktion und Konsum . Ein breites Spektrum verschiedener Akteure ist beteiligt, die
jeweils eigene Interessen haben und über bestimmte Einflussressourcen verfügen, um
diese zu verfolgen. Öffentliche Akteure sind Akteure unter vielen anderen, allerdings
mit politischer Legitimität als besonderer Einflussressource ausgestattet. Um Transformationsprozesse zielgerichtet zu gestalten, müssen also sehr diverse Handlungsprozesse
mit Bezug auf kollektive strategische Ziele aufeinander abgestimmt werden, ohne dass
ein Akteur die Macht hätte, dies von zentraler Stelle durchzusetzen. Gestaltungsstrategien müssen daher in der Interaktion der Akteure, die maßgeblichen Einfluss auf den
Transformationsprozess besitzen, entwickelt werden. Nur so kann spezifisches Wissen
über Umsetzungsbedingungen integriert werden und die Unterstützung für kollektive
Strategien gesichert werden.
8.4.1
Umsetzung von reflexiven Gestaltungsstrategien
Mit der Formulierung von Kriterien für reflexive Gestaltungsstrategien ist für den praktischen Umgang mit der Steuerungsproblematik in komplexen Systemen noch wenig
erreicht.
Einerseits muss es darum gehen, die abstrakten Kriterien mit konkreten Verfahren und
Methoden zu unterlegen, damit sie überhaupt für empirische Untersuchungen oder
Handlungsempfehlungen operationalisierbar sind. Dabei kann an bestehenden Methoden in den Bereichen explorative Szenarioprozesse, Foresighting, Politikintegration,
Politikexperimente, Partizipation, transdisziplinäre Forschung, konstruktive Technikfolgenabschätzung, Transition Management etc. angeknüpft werden.
Andererseits stellt sich die entscheidende Frage, wie derartige Strategien im Kontext
praktischen Steuerungshandelns in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft umgesetzt werden können. Hier tauchen Fragen nach der Passung derartiger Strategien mit den gegenwärtigen Governancestrukturen in sozial-ökologischen Problembereichen wie Energie- und Wasserversorgung, Stadtentwicklung etc. auf.
Perspektivisch sind die konkreten Bedingungen und Dynamiken, unter denen Governance-Innovationen in Richtung reflexiver Gestaltungsprozesse erfolgen können, sowohl konzeptionell wie empirisch eingehender zu untersuchen. Dafür können wiederum
Elemente des oben ausgeführten Transformationskonzeptes, z.B. Wechselwirkungen
zwischen Interaktion und Struktur, Ko-Evolution und dynamische Beziehungen zwischen Regime-, Nischen- und Landschaftsebene, hilfreich sein. In diesem Bereich sind
für die folgenden Monate weitere Arbeiten geplant.
79
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
8.5
Literatur
Aida, S. 1985: The Science and Praxis of Complexity. Tokyo
Anderson, P.C. 1999: Complexity Theory and Organization Science. Organization Science (10) Heft 3, S. 216-232
Böhret, C. 1990: Folgen. Entwurf für eine aktive Politik gegen schleichende Katastrophen. Opladen
Byrne, D. 1998: Complexity Theory and the Social Sciences. An Introduction. London/
New York
Dörner, D. 1989: Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek bei Hamburg
Geels, F. 2002: Understanding Technological Transitions: A critical literature review
and a pragmatic conceptual synthesis. Beitrag zur Konferenz Twente
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Kapitel 8: Ko-Evolution und reflexive Gestaltung
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81
Kapitel 9: Akteur-Netzwerk-Theorie
9
Akteur-Netzwerk-Theorie
Karl-Werner Brand, Von der Agrarwende zur Konsumwende
9.1
(Steuerungstheoretische) Fragestellung und Ziel des Projekts
Die auf die ersten BSE-Fälle in Deutschland im November 2000 ausgelöste erregte öffentliche Debatte hatte – auf Bundesebene – die Umstrukturierung der Landwirtschaftspolitik zur Folge. Verbunden mit der Schaffung eines neuen Bundesministeriums für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft wurde das Prinzip des „vorsorgenden Verbraucherschutzes“ zum neuen, programmatischen Bezugspunkt nicht nur der
Verbraucher- sondern auch der Landwirtschaftspolitik erklärt.
Dieses Prinzip soll – neben neuen Strukturen und Methoden der Qualitätssicherung – im
wesentlichen durch eine „Agrarwende“ erreicht werden, die sich an einem neuen Leitbild der Landwirtschaft orientiert. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr das Prinzip
der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch agrarindustrielle Rationalisierung, sondern die Herstellung gesunder und vollwertiger Lebensmittel, die unter Schonung der
natürlichen Umwelt und im Rahmen einer artgerechten Tierhaltung erfolgt und zugleich
zur Pflege der Kulturlandschaft beiträgt. Das Motto der Agrarwende lautet „Klasse statt
Masse“. Eine Leitfunktion wird dabei dem ökologischen Landbau zugewiesen. Der
Marktanteil der Produkte aus ökologischem Landbau soll in zehn Jahren von derzeit ca.
3% auf ca. 20% steigen. Nun wird nicht nur die Möglichkeit der Ausweitung des ökologischen Landbaus in diesem Umfang bezweifelt; die Strategie „raus aus der ÖkoNische“ und die Erschließung neuer Vermarktungsformen über Supermärkte und Handelsketten hat auch strukturelle Rückwirkungen auf den Ökolandbau selbst. Die propagierte Agrarwende kann sich somit nicht in einer quantitativen Ausweitung des Ökolandbaus und des Marktanteils von Öko-Produkten erschöpfen. Gefordert sind differenziertere, regional spezifizierte Bewertungskriterien „nachhaltigen Konsums“.
Weitgehender Konsens besteht darüber, dass eine am Prinzip „Klasse statt Masse“ orientierte Agrarwende nicht nur gravierende Veränderungen in den Förderrichtlinien und
den bestehenden Produktionsstrukturen, sondern auch in den Erwartungshaltungen und
Ernährungsgewohnheiten der Verbraucher voraussetzt. Die Agrarwende kann nur dann
gelingen, wenn die verschiedenen Verbrauchergruppen bereit sind, die Kosten von arbeitsintensiveren, ökologisch verträglicheren Formen des Landbaus, den Aufwand für
artgerechte Tierhaltung, für bäuerliche Leistungen der Landschaftspflege sowie für
umfassendere und transparentere Formen der Qualitätssicherung zu honorieren. Das
setzt zumindest z.T. eine veränderte Einstellung zu Lebensmitteln und zur eigenen Ernährung voraus. Dass dies gelingt, ist alles andere als selbstverständlich. Zu viele
Trends – hin zu Convenience-Produkten, zum Außer-Haus-Konsum, zu exotischem und
modischem Konsum, zur „Globalisierung der Speisekammer“, zu immer tieferen Verarbeitungsgraden, immer raffinierteren Geschmackszusätzen usw. – wirken der ge-
83
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
wünschten und unter den Kriterien der Nachhaltigkeit gebotenen „Ernährungswende“
auf Seiten der Verbraucher entgegen.
Ein zentrales Ziel des Projekts ist es deshalb zu überprüfen, ob die an der Produzentenseite ansetzenden Maßnahmen der Agrarwende, die damit ausgelösten Veränderungen
des Angebots sowie die auf das Verbraucherverhalten zielenden begleitenden Beratungsangebote und politischen Öffentlichkeitskampagnen in der Tat zu den angestrebten
Veränderungen des Ernährungsverhaltens führen – oder warum nicht bzw. nicht so, wie
erhofft. Dabei soll das Zusammenwirken der einzelnen Glieder der Wertschöpfungsbzw. Akteurskette von den Landwirten über die Lebensmittelindustrie, den Handel und
die Verbraucherberatung bis hin zum Konsumenten und das Zusammenwirken der auf
all diesen Ebenen wirksamen Blockaden im Vordergrund stehen. Dem trägt die Struktur
des Verbundprojekts Rechnung. Es ist in fünf Module untergliedert, die sich an den
einzelnen Akteursgruppen orientieren. In den Q-Arbeitspaketen sollen dagegen verschiedene Vernetzungsdimensionen bearbeitet werden. Für die genannte Zielsetzung ist
insbesondere Q-AP 1 und 3 von Bedeutung:
•
Im Querschnitts-Arbeitspaket 1 geht es um den Versuch, die Vernetzung der verschiedenen Akteure der „Agrarwende“, ihre Versuche der Beeinflussung, Kontrolle
und Steuerung dieses Transformationsprozesses durch die Methodologie der Akteur-Netzwerk-Theorie zu entschlüsseln – und dadurch zugleich das sozialökologische Rahmenkonzept weiter zu entwickeln. ‚Weiterentwicklung’ deshalb,
weil die ANT ja programmatisch beansprucht, hybride Netzwerke, Bedingungs- und
Wirkungsgefüge zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten zu analysieren. Es liegt also nahe zu fragen, ob sich dieser Ansatz nicht in besonderer
Weise dazu eignet, den Anspruch des „sozial-ökologischen“ Rahmenkonzepts, materielle und symbolische Untersuchungsaspekte systematisch miteinander zu verknüpfen, einzulösen.
•
Im Querschnitts-Arbeitspaket 3 wird ein spezieller Vernetzungsaspekt verfolgt:
Ausgehend von der (vielleicht etwas gewagten) These, dass die intendierte Agrarwende nur dann Erfolg haben kann, wenn sich neue, symbolisch hoch verdichtete,
positiv bewertete Begriffe, Metaphern und Bilder einer „nachhaltigen“ Produktion,
Verarbeitung und Konsumption von Lebensmitteln bei den Akteuren entlang der
Kette durchsetzen, geht es hier um die Analyse solcher alltagsweltlichen Brückenkonzepte, die die Kommunikation zwischen den Akteursgruppen steuern.
9.2
Implizite Steuerungskonzepte des Verbundprojekts
Die Art des Projekts kommt einer klassischen Evaluation politischer Steuerungsprogramme sehr nahe, allerdings geht es hier nicht die Evaluation eines bestimmten Steuerungsinstruments, sondern um die Analyse und Bewertung eines Bündels verschiedener
Maßnahmen, die nur symbolisch durch die Metapher der „Agrarwende“ miteinander
84
Kapitel 9: Akteur-Netzwerk-Theorie
verknüpft sind. Unserem Verbundprojekt liegt trotzdem keine explizite Steuerungstheorie zugrunde. Das hat wesentlich damit zu tun, dass zwischen unserem Verbundprojekt
und der (bereits früher bewilligten) Hamburger Nachwuchsgruppe AgChange eine Arbeitsteilung derart besteht, dass diese die politischen Verhandlungsprozesse (im nationalen, europäischen und internationalen Rahmen) sowie die öffentlichen und akteurspezifischen Diskurse zur Agrarwende bzw. zur Restrukturierung der Landwirtschaft systematisch untersucht, wir uns dagegen auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Umsetzungsprozesse, auf die „kritischen“ Weichenstellungen und Blockaden fokussieren. Steht bei den Hamburgern ein verhandlungs- und diskurstheoretischer Steuerungsansatz Pate, so konnten wir die Frage, wie die unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteursgruppen das politische Programm der „Agrarwende“ wahrnehmen und darauf reagieren, von welchen Faktoren diese Reaktionsweisen geprägt sind und wie sich die verschiedenen Wahrnehmungen und Reaktionsweisen der einzelnen Akteursgruppe miteinander verknüpfen, zunächst als empirisch offene Frage behandeln, ohne bereits einen
bestimmten Steuerungsansatz zugrunde zu legen.
Aber natürlich fließen implizit auch bei uns diverse Steuerungskonzepte ein, die entweder im Rahmen der einzelnen Module (Produzenten, Verarbeitung und Handel, Konsumenten, Ernährungsberatung) oder zur Analyse ihrer Verknüpfung genutzt werden.
Zentral sind sicher drei: (a) differenzierungstheoretische, (b) diskurs- bzw. kommunikationstheoretische sowie (c) die Verknüpfung beider Steuerungskonzepte im Modell „dezentraler Leitbildsteuerung“
(a) Differenzierungstheoretische Steuerungskonzepte reflektieren die hohe Eigenkomplexität gesellschaftlicher Teilsysteme. Je größer die politische Regelungsdichte und je
komplexer die heterogenen Akteursgeflechte, die von den Regelungen betroffen sind,
desto größer ist auch die Abhängigkeit von der Kooperationsbereitschaft und von den
Blockademöglichkeiten dieser Akteure. Das führt zu einer „Entzauberung des Staates“
als zentraler Steuerungsinstanz der Gesellschaft (Willke 1987). Sowohl die Globalisierungs- als auch die Nachhaltigkeitsdebatte der neunziger Jahre beschleunigen den Abschied von hierarchischen Steuerungsmodellen. Damit verschärft sich aber zugleich das
Governance-Problem, das Problem der Steuerungs- oder Regulierungsfähigkeit moderner Gesellschaften.
Weitgehender Konsens besteht darin, dass Policy-Netzwerke und horizontale Verhandlungssystemen eine wachsende Bedeutung im Rahmen politischer Steuerung erlangt
haben (Scharpf, Mayntz u.a.). Hier ist das Augenmerk auf die Voraussetzungen gelingender oder misslingender Koordination heterogener Akteure zum Zweck der gesellschaftlichen Problemlösung gerichtet. Im Rahmen differenzierungstheoretischer Perspektiven wird dagegen stärker der Aspekt betont, dass sich politische Steuerungsintentionen üblicherweise an der Eigendynamik und der Binnenrationalität funktional ausdifferenzierter Handlungssysteme brechen. Politische Steuerungsinputs müssen sich, um
die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, in die Handlungslogik und die Binnenmotive der
85
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
beteiligten Akteure übersetzen lassen. Zentraler Gegenstand der Wirkungsforschung
wird damit die Analyse des Gelingens oder Misslingens derartiger ‘Übersetzungsprozesse'. In diesem Sinne ist auch im Fall der „Agrarwende“ zunächst von vorrangigem
Interesse, wie die Inputs einer Agrarwende-Politik von den verschiedenen Akteursgruppen gemäß ihrer Binnenrationalität wahrgenommen und verarbeitet werden. Wobei klar
ist, dass Marktakteure (Handelsunternehmen, Bauern/Bäuerinnen in ihrer Rolle als Betriebsführer) anderen ‚Binnenrationalitäten’ folgen als die Verbraucherberatung oder
die Konsumenten, deren Ernährungsverhalten von einem Mix ganz unterschiedlicher
Motive und Leitbilder geprägt ist. Dem gemäß können hier auch unterschiedliche Teiltheorien akteurspezifischen Verhaltens zum Einsatz kommen.
(b) Diskurs- oder kommunikationstheoretische Steuerungskonzepte rücken die Bedeutung kultureller Aspekte und öffentlicher Diskurse im politischen Steuerungsprozess in
den Vordergrund. Ins Blickfeld geraten dabei nicht nur institutionell verankerte Diskursformen, dominante Leitbilder, Narrationen, Mythen, Sprachbilder und Symbolisierungen. Thematisiert werden insbesondere auch die Prozesse der “sozialen Konstruktion” von Problemdeutungen in den symbolischen Definitionskämpfen politischer und
gesellschaftlicher Akteure, die Prozesse der Neurahmung von Problemen mithilfe neuer
„Diskurskoalitionen“ (Hajer 1995) und die daraus sich jeweils ergebenden neuen Handlungserfordernisse und Legitimationskriterien (wobei die selektive, massenmediale
Vermittlung dieser Definitionskämpfe und Rahmungsprozesse eine zentrale Rolle
spielt). Während in unserem Projekt die symbolischen Definitionskämpfe der agrar- und
ernährungspolitischen Debatte aber nicht näher untersucht werden (das macht bereits
die AgChange), stehen hier vor allem die ‚Übersetzungsprobleme’ zwischen den verschiedenen Binnenkulturen der einzelnen Akteursgruppen, die trennenden und integrierenden Rahmungen, Erzählungen, Leitbilder und Symbolisierungen im Vordergrund.
(c) Mit Blick auf die Optimierung des Zusammenhangs von Agrar- und Konsumwende
wird in diesem Kontext auch das Modell der „dezentralen Leitbildsteuerung“ verfolgt
(Brand 2002: 64 ff). Dieses Konzept wird bislang primär in Bezug auf lokale und regionale Nachhaltigkeitsprozesse diskutiert. Ihm liegt ein Steuerungsmodell zugrunde, das
nicht mehr von der Möglichkeit der rationalen Koordination und Planbarkeit des gesellschaftlichen Gesamtprozesses ausgeht. Lokale oder regionale Nachhaltigkeitsprozesse
werden vielmehr als „innovatorische Prozesse mit offenem Ausgang“ betrachtet, „in
deren Verlauf sich immer wieder neue Konstellationen von Akteuren, Problemen und
Lösungen ergeben“ (Fürst 2001). Diese Offenheit der Entwicklung – die dem „garbage
can“-Modell politischer Steuerung entspricht, demzufolge sich die verschiedenen, meist
getrennt verlaufenden Stränge von Akteursinteressen, Problemformulierungen, Entscheidungssituationen und Problemlösungen immer wieder eher zufällig, aufgrund nicht
planbarer Chancenkonstellationen treffen – soll allerdings durch „Leitbild-Steuerung“
in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. "Leitbilder bündeln die Ziele, Träume, Visionen und Hoffnungen von Menschen. ... (Sie) reduzieren für das Individuum und für
Sozietäten die Komplexität von Welt und strukturieren die Aktivitäten in einzelnen
86
Kapitel 9: Akteur-Netzwerk-Theorie
Handlungsfeldern" (de Haan et al. 1996, S. 293). Gerade unter Bedingungen hoch differenzierter, komplex vernetzter Handlungssysteme erfüllen Leitbilder somit eine Koordinationsfunktion, die anders kaum mehr geleistet werden kann.
Die für unser Projekt relevante empirische Frage ist, ob im Gefolge der Agrarwende
neue Konzepte einer nachhaltigen Landwirtschaft und Ernährung ein solches Leitbildpotential gewinnen (können). Folgt man der Forschung zur Rolle von Leitbildern in der
Technikgenese (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1993), so können Ideen, Visionen und
Konzepte nur dann die Rolle entwicklungssteuernder „Leitbilder“ übernehmen, wenn es
ihnen gelingt, gesellschaftliche Vorstellungen über machbare und wünschenswerte
Entwicklungen in symbolisch-sinnfälligen und emotional mobilisierungsfähigen Bildern
und Metaphern zu bündeln und damit auch die Bewertungskriterien der in den jeweiligen Handlungsnetzen miteinander verknüpften Akteure aufeinander abzustimmen. Die
bisherigen Untersuchungsergebnisse stimmen eher skeptisch in Bezug auf die Möglichkeit, solche neuen, emotional mobilisierenden Leitbilder einer „nachhaltigen Landwirtschaft und Ernährung“ schaffen zu können.
9.3
Transformation und Steuerung im Ansatz der Akteur-NetzwerkTheorie
Sind dies die impliziten Steuerungskonzepte des Verbundprojekts „Von der Agrar- zur
Konsumwende?“, so werden diese verschiedenen Konzepte durch das Theorieprogramm des ersten Querschnittspakets, durch die Akteur-Netzwerk-Theorie, selbst noch
einmal herausgefordert.
Die ANT, wie sie in prominenter Weise von Bruno Latour, Michel Callon, John Law
u.a. entwickelt wurde, verfolgt selbst keine explizite Transformations- oder Steuerungstheorie. Sie geht nur mit einem anderen Blick und mit einem anderen methodischen
Prinzip an die Analyse gesellschaftlicher Transformationsprozesse heran. Die zentrale
Idee liegt darin, „alle gesellschaftlichen Zusammenhänge als koevolutionäres Resultat
von Gesellschaft, Technik und Natur zu analysieren“ (Schulz-Schäffer 2000: 210) und
damit die sterile, für das moderne Denken und die Art ihrer Problemproduktion und
Problemlösung aber typische Unterscheidung von Gesellschaft und Natur, von Gesellschaft und Technik aufzubrechen.
“Menschen und Dinge sind ineinander verschränkt. Wir hängen von ihnen ab, sie wirken auf uns ein. Und bilden mit uns gemeinsame Kollektive. (...) Der Aids-Virus, die
Homosexuellen, die Virologen, die Medikamente bilden solch eine Assoziation von Menschen und Nicht-Menschlichem. Eine verlangsamende Straßenschwelle, Verkehrsplaner
und Autos: noch ein Kollektiv. Je weiter die Technik fortschreitet, desto mehr vermengen
sich Dinge und Menschen, die ein gemeinsames Schicksal teilen.“ (Interview mit B. Latour, Die Zeit, 30.11.2000)
Was weder „objektivistische“ Technik- und Naturwissenschaften noch deren „sozialkonstruktivistische“ Kritik in den Blick bekommen, sei der beständige Prozess der Ver-
87
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
knüpfung heterogener Komponenten, sozialer, natürlicher und technischer Faktoren, zu
hybriden Netzwerken.
„Solche Prozesse des Netzwerkbildens beruhen stets auf einer doppelten Innovation: der
Einrichtung oder Veränderung von Beziehungen zwischen den Komponenten des entstehenden Netzwerks und der Konstruktion und Veränderung des Netzwerks selbst. Im Prozess des Netzwerkbildens wird die Identität der Komponenten ebenso wie die Art der und
Weise ihrer wechselseitigen Verknüpfung zu einem möglichen Gegenstand der Neubestimmung oder Modifikation.“ (Schulz-Schäffer 2000: 188)
Die belebte und unbelebte Natur, technische Artefakte, rechtliche Normen, wissenschaftliche und alltagsweltliche Deutungen, Institutionen und soziale Akteure – alle
können in diesem Prozess des Netzwerkbildens zu aktiven „Aktanten“ werden, die auf
die Bestimmung der Relationen zwischen den beteiligten „Entitäten“ und damit auch
auf die Definition ihrer Identitäten, ihrer Interessen, Eigenschaften und Verhaltensweisen Einfluss nehmen. Die Aktivität der (erfolgreichen) Umdefinition der Identitäten und
Rollen einzelner Elemente im relationalen Beziehungsgefüge des Netzwerkes und damit
des Netzwerks selbst wird als „Übersetzung“ (translation) bezeichnet. Und jeder Aktant
kann als Teil des Netzwerks von diesem Prozess der „Übersetzung“ und Umdefinition
seinerseits betroffen sein.
Um die gängige Unterscheidung zwischen der sozialen, technischen und natürlichen
Sphäre zu unterlaufen, pflegt die ANT ein etwas irritierendes „symmetrisches Vokabular“, das die aus dem sozialen Handeln vertrauten anthropomorphen Begriffe auch auf
technische Artefakte, Tiere und Elemente der unbelebten Natur überträgt. In diesem
Sinne müssen zwischen allen potentiellen Akteuren eines Netzwerks „Verhandlungen“
geführt werden, damit diese die ihnen zugedachte Rolle im Netzwerk auch übernehmen
(mit den Kammmuscheln, dem automatischen Türschließer, dem sperrigen HotelSchlüsselanhänger etc. ...). Das wird als Prozess des „Enrolment“ bezeichnet. Wenn er
gelingt, wenn sich die Aktanten wechselseitig so verhalten, wie sie es voneinander erwarten („Konvergenz“) und wenn jedes Element fest in ein Bündel wechselseitiger Erwartungen eingebunden ist, dann erlangen Netzwerke – zumindest für einige Zeit – eine
gewisse Stabilität oder „Irreversibilität“ (Callon 1991: 144 ff; Schulz-Schäffer 2000:
199 ff)
Dieses Konzept lässt sich nicht nur als methodische Anleitung „to follow the actor“
verwenden, als Aufforderung, empirisch zu rekonstruieren, „wie es Aktanten gelungen
ist, durch geeignete Übersetzungen ein Netzwerk von Aktanten zusammenzubringen
und aufrechtzuerhalten“ oder wie in anderen Fällen der „Widerstand von Aktanten (...)
den Aufbau eines entsprechenden Netzwerks verhindert hat“ (Schulz-Schäffer 200:
199). Es lässt sich auch problemlos als gesellschaftliches Transformationskonzept begreifen, das zumindest Elemente einer gesellschaftlichen Steuerungstheorie enthält
(Netzwerkbildung, Übersetzung, Enrolment).
Als Methodologie macht die ANT wenig Probleme, sie auf den Gegenstandsbereich der
Agrar- und Ernährungswende zu beziehen. Nicht nur die Entwicklung von und der gesellschaftliche Umgang mit BSE, MKS, Nitrofen- oder Hormonskandalen lässt sich als
88
Kapitel 9: Akteur-Netzwerk-Theorie
typische Netzwerkbildung von menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten interpretieren; auch das komplexe Bedingungsgefüge der Agrarwende stellt einen idealen
Untersuchungsgegenstand der ANT dar (in agrarwissenschaftlichen Analysen ist der
ANT-Ansatz international überhaupt stark verankert). In der „Agrarwende“ vernetzen
sich eine Vielzahl von Entitäten oder Aktanten wie Bodenqualitäten, Mikroorganismen
und Schädlinge, Futtermittel, Rinder, Schweine und Geflügel, Beschaffenheit von Ställen, Geräte und Bearbeitungstechniken, logistische Systeme, Qualitätsvorgaben des
Handels und politisch regulierte Qualitätssicherungssysteme, Verbraucherwünsche und
Verbraucherängste, wirtschaftliche Interessen der beteiligten Akteure, Anliegen des
Natur- und Tierschutzes, öffentliche Skandaldiskurse usf. zu komplexen Bedingungsgefügen, die macht- und durchsetzungsorientierte Akteure – nicht nur die Akteure der
„Agrarwende“ sondern auch deren Opponenten – zu ihren Gunsten zu beeinflussen
bzw. zu verändern versuchen. Die empirische Analyse der Netzwerkbildung durch die
beteiligten heterogenen menschlichen und nicht-menschlichen „Akteure“, die Analyse
der Prozesse der „Übersetzung“ und des „Enrolment“, stellen sicher ein fruchtbares,
methodisch innovatives Prinzip der sozial-ökologischen Forschung dar (vgl. Folien zur
Modul 1,2 und 5).
Was das Transformationskonzept und die implizierten Elemente einer Steuerungstheorie betrifft, so fragt sich allerdings, ob die ANT nicht unterkomplex bleibt. Sozial- und
Politikwissenschaften haben eine Fülle von Einsichten und Theorien entwickelt, die
sich auf die Analyse von Verhandlungsprozessen und Netzwerkbildung, auf asymmetrische Machtbeziehungen und Ressourcenverteilung in Netzwerken, auf die Mechanismen der institutioneller Stabilisierung, auf Prozesse und Probleme der „Rollenübernahme“, auf die Bildung von Diskurskoalitionen und strategischen Allianzen beziehen.
Obwohl die Akteur-Netzwerk-Theorie ein anthropomorphes Vokabular zur Analyse der
hybriden Formen menschlich-naturaler Netzwerkbildung nutzt, greift sie (zumindest im
Falle von Latour und Callon) auf all diese Theoriebestände nicht zurück. Damit werden
Anschlussmöglichkeiten blockiert. Der Mechanismus der „Übersetzung“ und des „Enrolement“ werden mit der Attitüde des Neuen, Originären eingeführt, ohne deutlich zu
machen, was gegenüber den (in vieler Hinsicht weit elaborierteren) verhandlungs-, differenzierungs-, institutionen- und netzwerktheoretischen Ansätzen der Sozial- und Politikwissenschaften das wirklich Neue darstellt.
Mir scheint, dass gerade das anthropomorphe, den sozialwissenschaftlichen Diskurse
entlehnte, auf nicht-menschliche Entitäten und Aktanten nur ausgeweitete „symmetrische Vokabular“ die eigentlich Differenz verdeckt: Wenn die kritische Stoßrichtung der
ANT gegenüber dem modernen Dualismus zwischen den objektivistischen Konzepten
der Natur- und den kulturalistischen oder sozial-konstruktivistischen Konzepten der
Human- und Sozialwissenschaften berechtigt ist, dann müsste die ANT auch theoretisch
und methodologisch aufzeigen, welche Besonderheiten der Prozess der Netzwerkbildung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten gegenüber dem rein
sprachlich-symbolvermittelten Prozess sozialer Netzwerkbildung aufweist. Solange die
ANT ihre Methodologie in sozialen Kategorien der „Übersetzung“, der „Inskription“
und „Präskription“, des „Enrolement“ oder der „Rollen-Übernahme“ beschreibt, klingt
89
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
dies zwar provokant, soweit damit auch Kammmuscheln, Türöffner, Bazillen, das Ozonloch usw. gemeint sind, und es stimuliert eine Art Querdenken: wieviel Unterschied
besteht tatsächlich zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten in den NetzwerkKollektiven? Aber die ANT kann so ihr eigentliches, für die sozial-ökologische Forschung interessantes Potential nicht angemessen zur Geltung bringen. Die Herausforderung der ANT bleibt
abstrakt, unspezifisch, etwas nebulös. Nimmt man das Anliegen des ANT-Ansatzes ernst, so
wäre die spannende Frage, ob und inwieweit die im sozialen und politischen Kontext entwickelten Ansätze auch für den Kontext hybrider, sozial-naturaler Netzwerkbildung brauchbar sind
oder inwieweit sie modifiziert werden müssten. Im Gegensatz zum theoriestrategischen Programm Latours gälte es gerade die Differenz zu schärfen. Welche besonderen Merkmale weisen
Verhandlungs-, Übersetzungs-, Enrolement-Prozesse in hybriden Netzwerkstrukturen auf, wenn
wir sie nicht fein säuberlich in die unterschiedlichen Beobachtungs- und Beschreibungswelten
der sprachlich-symbolisch vermittelten, sozialen Netzwerkbildung auf der einen und der objektivierten, technisch-experimentellen Interaktion mit Natur auf der andern Seite trennen? Die
Beantwortung dieser Frage wäre eine für das SÖF-Programm durchaus sinnvolle Aufgabe, die
es erlauben würde, den Prozess der weitgehend unkontrollierten Entwicklung und Vermehrung
hybrider Struktur zu verstehen – und damit möglicherweise auch besser gegenzusteuern.
Wie sich diese kritische Fragen auch immer klären lassen: generell liegt der Fokus der ANT auf
einer erweiterten interaktionistischen Analyse von Netzwerkbildungsprozessen zwischen sozialen, technischen und natürlichen Faktoren, Entitäten oder Aktanten. Auch wenn dabei strukturelle – institutionelle, technische, stofflich-materielle – Restriktionen und Pfadabhängigkeiten
unterbelichtet bleiben, so könnte die ANT damit doch wertvolle Aufschlüsse über die Mechanismen sozial-ökologischer Transformationsprozesse liefern. Leider liefert die ANT dabei wenig Erkenntnisse in Bezug auf die Frage nach dem Transformations- oder Steuerungsziel. Anders als die sozial-ökologische Forschung liefert die ANT keine Einsichten in „sozialökologische Problemlagen“ und auch kaum Entscheidungskriterien, ob bestimmte Formen der
Netzwerkbildung „nachhaltiger“ sind als andere. Normative Kriterien gewinnt die ANT allein
aus ihrem anti-dualistischen Programm, aus ihrer Forderung nach einer „symmetrischen Repräsentation“ von menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten im Forschungsprozess wie in
der öffentlichen, politischen Debatte („Parlament der Dinge“). Ein radikalisiertes Prinzip der
Partizipation in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik soll eine neue Sensibilität für die Risiken und „Nebenfolgen“ (Ulrich Beck) neuer Hybridbildungen schaffen und deren unkontrollierte Vermehrung bremsen. Das trifft sich mit Hintergrundannahmen des Nachhaltigkeitsdiskurses.
Diese Zielvorstellung bleibt aber eigentümlich unbestimmt gegenüber den speziellen sozialökologischen Problemlagen, die sich aus den bestehenden Regulierungsformen gesellschaftlicher Naturverhältnisse (in den unterschiedlichen Dimensionen und Kontexten) ergeben. Der
Beitrag der ANT zur Frage der Entwicklung angemessener, problembezogener Steuerungsstrategien in Richtung „nachhaltiger Entwicklung“ bleibt damit doch sehr bescheiden. Mir scheint,
dass er etwas größer werden könnte, wenn die eben eingeklagte Präzisierung der Besonderheit
von Netzwerkbildungsprozessen in hybriden Strukturen gelänge.
90
Kapitel 9: Akteur-Netzwerk-Theorie
9.4
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91
Kapitel 10: Das Konzept Gesellschaftliche Naturverhältnisse
10
Das Konzept Gesellschaftliche Naturverhältnisse
Diana Hummel und Thomas Kluge, demons und netWORKS
Im folgenden Beitrag werden die zentralen Merkmale des am Institut für sozialökologische Forschung (ISOE) entwickelten Konzepts der gesellschaftlichen Naturverhältnisse skizziert und daran anschließend unser Verständnis von „Sozial-ökologische
Regulation“ und „Sozial-ökologische Transformation“ dargestellt.
10.1 Anwendungs- und Problemkontext: Fragestellung und Zielsetzung
der Projekte demons und netWORKS
Beide Projekte befassen sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten mit sozialökologischen Problemlagen in Versorgungssystemen. Im Verbundprojekt netWORKS
geht es um die sozial-ökologische Regulation netzgebundener Infrastruktursysteme am
Beispiel Wasser. Im Zentrum des Projekts demons1 steht demgegenüber die „Bevölkerungsproblematik“. Es werden Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen demographischen Entwicklungen (Bevölkerungswachstum, -schrumpfung, Migration, Urbanisierung), Bedürfnissen und Versorgungssystemen für Wasser und Ernährung kulturund historisch vergleichend analysiert. Unterschiedliche demographische Prozesse und
die auf sie bezogenen Problembeschreibungen bilden den Bezugspunkt, um das Zusammenwirken von demographischen, sozio-ökomischen und ökologischen Prozessen
als sozial-ökologische Problemstellung zu reformulieren. Fragestellungen sind: In welcher Weise hängen die von den Versorgungssystemen zu erbringenden Leistungen von
der Gesamtzahl der zu versorgenden Menschen, deren Bedürfnissen, sozialem Status,
dem Konsumverhalten und Lebensstilen ab? Inwiefern sind demographische Prozesse
für die krisenhafte Entwicklung und die Transformation dieser Versorgungssysteme
relevant? Welche Bedeutung kommt dabei der Größe, Verteilung und Struktur einer
Bevölkerung zu? Was bedeutet eine nachhaltige Versorgung angesichts der heterogenen
demographischen Entwicklungen in verschiedenen Weltregionen? Wie müssen Versorgungssysteme beschaffen sein, um adäquat auf demographische Veränderungen reagieren zu können?
Durch historische und aktuelle Fallstudien in ausgewählten Regionen wird die theoretische Arbeit unterfüttert und spezifiziert. Ziel ist es, ein konzeptionelles Modell der
komplexen Interaktionen und Wechselwirkungen von Versorgungssystemen und demographischen Entwicklungen zu entwickeln, das für unterschiedliche Bevölkerungsdynamiken und unterschiedliche soziale Kontexte angemessen ist. Um zu Aussagen über
das Netz der Wirkungszusammenhänge zu gelangen und um Ursachen für Regulations-
1
Die Nachwuchsforschungsgruppe ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem Institut für sozialökologische Forschung (ISOE) und der J.W.Goethe-Universität Frankfurt.
93
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
störungen zu erkennen, geht es darum, dynamische Größen zu identifizieren, die Prozesse verstärken oder schwächen (Hummel et al. 2003).
Ebenso wie im Projekt netWORKS ist „Steuerung“ in demons kein zentraler Begriff; im
Zentrum des Begriffsapparats stehen vielmehr die Begriffe „ Regulierung“, „Regulation“ und „Transformation“. Mit der interdisziplinären Spezifizierung dieser Begriffe
wird gegenüber dem Begriff der „Steuerung“ eine breitere Perspektive aufgenommen.
In diesem Kontext arbeiten wir mit / an dem Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Dessen wichtigste Charakteristika stellen wir im folgenden dar, um im Anschluss unser Verständnis von „sozial-ökologischer Regulation“ und „sozialökologischer Transformation“ zu explizieren.
10.2 Gesellschaftliche Naturverhältnisse als theoretisches Orientierungskonzept
Der Begriff „Gesellschaftliche Naturverhältnisse“ wird mittlerweile im Feld der sozialökologischen Forschung häufig verwendet, allerdings auf unterschiedlicher Art. Zwei
Verwendungsweisen lassen sich unterscheiden: Zum einen wird der Terminus gebraucht, um das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft zu bezeichnen und das
Relationale, die Interaktionen zwischen beidem hervorzuheben. In der zweiten Verwendungsweise bildet der Terminus eine Erkenntnisperspektive und ein theoretisches Orientierungskonzept (wie im Falle von demons), um die Beziehungen in ihrer empirisch
vorfindbaren Besonderheit zu begreifen und zu analysieren (Becker/ Jahn 2003). Als
gesellschaftliche Naturverhältnisse bezeichnen wir zunächst allgemein das Beziehungsgeflecht zwischen Individuen, Gesellschaft und Natur – historisch und kulturell variable
Beziehungen, welche Gesellschaften in unterschiedlichen Handlungsbereichen sowohl
zur „äußeren“ als auch zur „inneren“ Natur ihrer Individuen aufgebaut haben. Auf der
Ebene der empirischen Besonderheiten wird deutlich, dass Gesellschaft und Natur nicht
als Ganzheiten aufeinander bezogen sind, gesellschaftliche und natürliche Elemente
sind vielmehr in unterschiedlichen Handlungsbereichen auf verschiedene, je besondere
Weise dynamisch miteinander verknüpft. Daraus folgt notwendigerweise ein plurales
Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse (und nicht singulär „das Naturverhältnis“).
Zentrale Momente des Konzepts
Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse
Die im ISOE in den 80er Jahren formulierte These von der „Krise der gesellschaftlichen
Naturverhältnisse“ betont den gesellschaftlichen Charakter der „ökologischen Problematik“: Krisenhaft sind die politischen, ökonomischen, kulturellen und wissenschaftlich-technischen Formen der Gestaltung des Umgangs mit der natürlichen Umwelt
(Jahn 1990; ders. 1991).
Doppelseitige Kritik an Naturalismus und Kulturalismus
94
Kapitel 10: Das Konzept Gesellschaftliche Naturverhältnisse
Das Konzept geht von drei theoretischen Axiomen aus: erstens von der Vorstellung
eines unaufhebbaren Zusammenhangs von Natur und Gesellschaft, zweites von der Behauptung einer Differenz zwischen ihnen und drittens von der These der historischen
Konstitution dieser Differenz (vgl. Jahn / Wehling 1998). Epistemologisch halten wir
also an der Natur-Gesellschafts-Differenz fest – aber nicht im Sinne einer ontologischen Abgrenzung qualitativ verschiedener Realitätsbereiche, sondern als methodische
Unterscheidung zwischen verschiedenen Wissensobjekten, die theorie- und beobachtungsabhängig ist (vgl. ausführlich Becker / Jahn 2003). Mit anderen Worten.: Es geht
um Relationen und um Unterschiede, welche durch Unterscheidungen festgestellt werden.
Materielle und symbolische Dimension
Gesellschaftliche Naturverhältnisse werden sowohl in einer materiellen als auch symbolischen Dimension reguliert. Es handelt sich um stofflich-energetische Regulationsmuster innerhalb eines symbolischen Kontextes: gesellschaftliche Naturverhältnisse werden
geprägt vom Zusammenspiel sozialer, kultureller, ökonomischer, technischer und natürlicher Wirkungszusammenhänge und die sie strukturierenden Regulationen. Die stofflich-energetischen Regulationen sind mit vielfältigen kulturellen Symbolisierungen verknüpft und darüber wiederum in gesellschaftliche Kommunikation eingebunden (Becker / Jahn 2003:101). In diesem symbolischen Kontext wird die Bedeutung der verschiedenen Regulationsmuster sowie deren Abhängigkeit von gesellschaftlichen Normen und Machtstrukturen bestimmt.
Basale gesellschaftliche Naturverhältnisse
Es lassen sich eine Reihe basaler gesellschaftlicher Naturverhältnisse hervorheben, deren Regulation entscheidend ist für die Reproduktions- und Entwicklungsfähigkeit von
Gesellschaften und ihrer natürlichen Lebensbedingungen: Arbeit und Produktion, Ernährung, Sexualität und Fortpflanzung, Mobilität und Fortbewegung etc. Zugleich handelt es sich hier um Bereiche, deren Regulationsformen heute hochgradig gestört sind.
Die Perspektive basaler gesellschaftliche Naturverhältnisse eröffnet hier für die Beschreibung, Analyse und Entwicklung von Lösungsansätzen einen neuen, problemorientierten analytischen wie auch empirischen Zugang.
Regulation und Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse
Die Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse meint zum einen das Aufeinandertreffen heterogener sozialer Praktiken verschiedener Akteure in unterschiedlichen
Handlungsbereichen. Es kann dabei sowohl zum Konflikt als auch zur wechselseitigen
Stärkung unterschiedlicher Interessen, kultureller Deutungen, materieller Ressourcen
und struktureller Handlungsbedingungen kommen. Es finden Aushandlungsprozesse
statt, wobei dominante Akteure und hegemoniale Strukturen identifiziert werden können. Um das Zusammenwirken der Regulationsmuster darzustellen und verstehen zu
können, lassen sich zum anderen verschiedene Ebenen der Regulation unterscheiden
95
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
(vgl. Jahn / Wehling 1998:88; Hummel 2000:320): Auf der Mikroebene ist die Regulation eng verknüpft mit der Körperlichkeit der Menschen und kulturellen Formen der
Bedürfnisbefriedigung. Auf der Mesoebene prägen bestimmte Regulationsmuster die
Organisation von Versorgung und Technostrukturen . Auf der Makroebene verdichten
sich die Regulationsmuster gesellschaftlicher Reproduktion und sozialer Integration als
Produktions-, Eigentums- und Geschlechterverhältnisse. Auf jeder Ebene können Aussagen über spezifische Ausprägungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse formuliert
werden, mit denen ganz unterschiedliche Veränderungen der physischen und organischen Umwelt verknüpft sind. Die Regulationsmuster auf den verschiedenen Ebenen
müssen wiederum untereinander zusammenwirken. Solche „Regulation von Regulationen“ (Jahn/Wehling 1998: 88) können gelingen oder misslingen, wodurch Regulationsprobleme zweiter Ordnung entstehen.
Zusammengefasst: Die Analyse der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse geht
davon aus, dass es offen ist, ob und inwieweit Gesellschaften in der Lage sind, ihre Naturverhältnisse langfristig in einer nicht destruktiven Weise zu regulieren und dafür die
entsprechenden Regulationsmuster herauszubilden (vgl. Jahn/Wehling 1998: 89). In
diesem Sinne ist das Konzept deskriptiv und analytisch orientiert, umfasst jedoch auch
die normative Frage: was sind die Voraussetzungen für eine nachhaltige Gestaltung der
gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Diese normative Frage muss im Forschungsprozess explizit gemacht werden.
Im Falle des Projekts demons lässt sich dies formulieren als Frage nach den Bedingungen nachhaltiger Versorgung - und nicht einer „nachhaltigen Bevölkerungsentwicklung“ oder gar „Steuerung der Bevölkerungsentwicklung“ i.S. einer optimalen Abstimmung der Bevölkerungszahl auf das Produktivpotenzial eines Ökosystems (eine Vorstellung, die in Auseinandersetzungen um die Carrying Capacity vielfach anzutreffen
ist).
Anders als in humanökologischen Ansätzen wird die Bevölkerung / Population nicht als
reproduktives Substrat einer Gesellschaft aufgefasst. Fertilität und Mortalität als kreatürliche Bedingungen der Bevölkerungsentwicklung sind ebenso wie Migration (die
dritte demographische Variable) eingebunden in den Nexus verschiedener, historisch
und kulturell variabler gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Der theoretische Orientierungsrahmen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse ermöglicht damit sowohl quantitative als auch qualitative Zugänge: Ausgangspunkt im Projekt ist die Hypothese, dass
die Zahl der Menschen in einer konkreten Gesellschaft, demographische Schrumpfungsoder Wachstumsprozesse zu Regulationsproblemen der Versorgung führen können: Es
ist nicht unerheblich, wie viele Menschen sich ernähren, das Gesundheitssystem oder
andere Versorgungsstrukturen in Anspruch nehmen. Eine rein quantitative Perspektive
jedoch ist unzureichend und durch qualitative Aspekte wie die Bedeutung von biographischen Phasen, Lebensstilen, sozio-ökonomischen Situationen etc. zu ergänzen. Denn
die Bevölkerungszahl ist kein sinnvoller Indikator, um die Qualität der verschiedenen
96
Kapitel 10: Das Konzept Gesellschaftliche Naturverhältnisse
Regulationsformen der Versorgung zu beurteilen. Die Aufmerksamkeit im Projekt richtet sich daher nicht auf Fragen einer möglichen Bevölkerungssteuerung, sondern auf die
Regulationsformen der Versorgung und die Transformation von Versorgungssystemen2
als Merkmalen sozial-ökologischer Transformationen. Dabei bietet die demographische
Transformationstheorie (für einen Überblick siehe Szreter 1993) mögliche Anknüpfungspunkte zur Konkretisierung: Sie beschreibt die langfristige Veränderung demographischer Entwicklungsmuster und bietet die Möglichkeit, räumliche und zeitliche Variationen aufzunehmen. Am Beispiel der Versorgungssysteme kann so der Zusammenhang
von demographischen und sozio-ökologischen Transformationen expliziert werden.
Im Falle des Projekts netWORKS geht es spezifisch auch um die Frage der Anpassungsfähigkeit/Flexibilität von Wasserver- und Entsorgungsstrukturen: wie weit können konventionelle Systeme optimiert und angepasst werden, ab wann ist es ökonomisch und
ökologisch nachhaltiger bei Bedarfsänderungen (z. B. demografischer Wandel) auf alternative Systemstypen umzustellen.
10.3 Sozial-ökologische Regulation3
Der Begriff der Regulation verweist im Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse auf eine schwache Analogie zur ökonomischen Regulationstheorie, die sich gegen
die Vorstellung eines monolithischen Akteurs (das Kapital, der Staat etc.) richtet, und
geht vielmehr von einem Geflecht institutioneller Konfigurationen aus4. Zugleich ist
jedoch eine wesentliche Differenz zur Regulationsschule hervorzuheben, die Regulation
als phasenspezifische Stabilisierung widersprüchlicher kapitalistischer Vergesellschaftung in Form spezifischer Akkumulationsregime und Regulationsweisen betrachtet. Der
Ansatz konzentriert sich damit stark auf den Nachweis von Stabilität; ein großes Problem bleibt dann jedoch, Wandel zu erklären.
Ein Begriff der Steuerung, der eine direkte Ursache-Wirkungsrelation unterstellt, ist zur
Erklärung von Umbrüchen und Transformationen ebenfalls unzureichend. Der Begriff
der sozial-ökologischen Regulation bietet ein analytisches Instrument, um gesellschaftliche Naturverhältnisse im Übergang zu begreifen und neue Regulationsformen zu analysieren. Er umreißt Kontexte, in welchen bestimmte Entwicklungslinien möglich sind.
Dies bedeutet z.B. mehr als die Abfederung ungewollter Nebenfolgen im Sinne einer
aufgeklärten Governance-Konstruktion. Weiterführender für die Analyse sozialökologischer Problemlagen ist es u.E. daher, Governance vom rein politikwissenschaft-
2
3
4
Zum Konzept der Versorgungssysteme siehe Hummel et al. 2003; Becker/Schramm 2001
Die folgenden Ausführungen zum Begriffsverständnis sind als erster Zugang zu betrachten; sie haben
daher zum Teil noch einen eher kursorischen und vorläufigen Charakter.
Christoph Görg behandelt in seiner Habilitation aus soziologischer Sicht die „Regulation der Naturverhältnisse“. Nach seinem Verständnis sind deren Gegenstand „phasenspezifische Stabilisierungen
der Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung“ (Görg2003: 119)
97
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
lichen Diskurs zu lösen und auf sozial-ökologische Transformationen (s.u.) zu beziehen.
Diese Bewegung wird im Begriff „sozial-ökologische Regulation“ möglich.
„Sozial-ökologische Regulation“ bezieht sich auf Regulierungsprobleme in komplexen
Natur-Gesellschafts-Verflechtungen, im Falle von demons Wirkungszusammenhänge
von Bevölkerungsdynamik und Versorgungssystemen; im Falle von netWORKS umfasst die Regulierung sowohl naturale Aspekte (z. B. Regulierung des Grundwasserleiters) wie auch gesellschaftlich institutionelle Aspekte der Bedarfssteuerung, der Wahl
des Systemtyps zur Ver- und Entsorgung, der Verteilung etc. Dieses Verständnis von
Regulation geht über eine sozialwissenschaftliche Konzeptualisierung hinaus, weil es
auch die physisch-materiellen Aspekte mit einbezieht. Bei den in den beiden Projekten
zu bearbeitenden Gegenständen ist ein solcher Begriff einem fachgebundenen, z.B. politikwissenschaftlichen oder ökonomischen Begriff vorzuziehen.
Erläutern lässt sich dies am Beispiel der zu regulierenden Versorgungssysteme: Versorgungssysteme wie die Wasser- und Nahrungsversorgung enthalten sowohl natürliche
und gesellschaftliche als auch technische Elemente; sie sind außerdem extern sowohl
mit zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen (Ökonomie, Politik, Lebenswelt) und mit
natürlichen Systemen (Hydrogeologie, Ökosystemen) verkoppelt. Zweck der Versorgungssysteme für Wasser und Ernährung ist es, den Bedarf der Bevölkerung eines Gebietes mit Wasser und Nahrungsmitteln ausreichender Menge und Qualität zu sichern.
Damit dieser Zweck erfüllt wird, müssen solche Systeme über effektive technische,
hydrologische, ökonomische, politische und ökologische Regulationsmechanismen verfügen. Für das Begreifen und die Analyse der zur unmittelbaren Zweckerfüllung von
Versorgungssystemen notwendigen Regulierungen sowie der als Nebenfolgen (Probleme zweiter Ordnung) auftretenden komplexen sozial-ökologischen Problemlagen (i.S.
von Regulationsstörungen) kann deshalb nicht einfach auf ein einzelwissenschaftlich
vorgeprägtes Begriffsverständnis zurück gegriffen werden.
10.4 Sozial-ökologische Transformation
„Sozial-ökologische Transformation“ wird in den Projekten als analytischer Begriff
verwendet; auf allgemeiner Ebene beschreibt er die Veränderungen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse – d.h. der Formen und Praktiken, in mit denen Gesellschaften
ihr Verhältnis zur Natur in unterschiedlichen Handlungsbereichen regulieren. Als sozial-ökologische Transformationen betrachten wir Prozesse, die Strukturveränderungen
beinhalten, und in welchen bestehende Beziehungsmuster zwischen Natur und Gesellschaft aufgebrochen werden. Soziale und ökologische Prozesse werden in neuer Weise
aufeinander bezogen, die neue Regulationsregimes erforderlich machen. Wir gehen dabei nicht von einfachen Kausalzusammenhängen und linearen Entwicklungen aus, sondern von komplexen Wirkungsgeflechten mit Rückkoppelungseffekten. Hinsichtlich
dieser Makroentwicklungen lässt sich an den Ansatz der Global Scenario Group (GSG)
(Raskin et al. 2002) anschließen: Die GSG kennzeichnen die gegenwärtig stattfindenen
98
Kapitel 10: Das Konzept Gesellschaftliche Naturverhältnisse
Transformationsprozesse als einen Übergang in die „planetarische Phase“5 der Gesellschaften auf der Erde. In diesem Ansatz werden die Bedingungen der Genese rezenter
Entwicklungen rekonstruiert und darauf aufbauend die Möglichkeitsbedingungen zukünftiger Entwicklungen bestimmt. Das Konzept des Übergangs (Transition) beinhaltet
eine sehr spezifische Entwicklungsvorstellung: Der Ausgang des derzeitigen Übergangs
ist noch offen, begrenzt und geformt von gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen.
Solche Übergangsphasen sind von Strukturbrüchen, Krisen und Turbulenzen geprägt.
Die gesellschaftliche Entwicklung kann sich in unterschiedliche Pfade gabeln, je nachdem, wie soziale und ökologische Konflikte gelöst und welche grundlegenden Strukturentscheidungen getroffen werden. Dieses zukunftsoffene, und zugleich entscheidungsabhängige Bild von Veränderungen ist ein völlig anderes als das einer deterministischen, linearen Entwicklungsvorstellung.
10.5 Verhältnis beider Begriffe zueinander
Der Begriff der sozial-ökologischen Regulation steht in engem Zusammenhang zum
Begriff der sozial-ökologischen Transformation. Veränderungen der Regulierungsformen in einzelnen Bereichen (z.B. Veränderungen der ökonomischen Regulierung durch
Privatisierung) können zu Veränderungen in anderen Sektoren führen. Darauf wird wiederum mit spezifischen Regulierungen reagiert, die neue Folgeprobleme auslösen. So
kann es zu einer Problemspirale kommen, welche das gesamte Geflecht der Beziehungen der Elemente (technische, ökologische, soziale) dynamisiert, die im System der
Wasserversorgung auf andere Weise miteinander verkoppelt sind als im System der
Nahrungsversorgung. Diese Form- und Strukturveränderungen bezeichnen wir als sozial-ökologische Transformationen.
10.6 Literatur
Becker, E.; Jahn, Th. (2003): Umrisse einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse. In: Böhme, G./ Mainzei, A. (Hg.): Kritische Theorie der
Technik und Natur. München, 91-112
Becker, E. / Schramm, E. (2001): Zur Modellierbarkeit sozial-ökologischer Transformationen. Zentrale Ergebnisse einer Sondierungsstudie. Frankfurt a.M.
Görg, Ch. (2003): Regulation der Naturverhältnisse. Zu einer kritischen Theorie der
ökologischen Krise. Münster
Hummel, D. et al. (2003): Die Versorgung der Bevölkerung – Wirkungszusammenhänge von demographischen Entwicklungen, Bedürfnissen und Versor5
„Planetarisch“ rekurriert im Unterschied zu eher sozialwissenschaftlich konnotierten Begriffen wie
Weltgesellschaft“ oder „Globalgesellschaft“ auf die gleichzeitige Bedeutung der materialen, ökologischen Seite der Transformationen.
99
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
gungssystemen. Forschungskonzept. demons working paper 1. Frankfurt
a.M.
Jahn, Th. (1990): Das Problemverständnis sozial-ökologischer Forschung. Umrisse einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse. In: Becker,
E. (Hg.): Jahrbuch für sozial-ökologische Forschung. Frankfurt am Main,
15-41
Jahn, Th. (1991): Krise als gesellschaftliche Erfahrungsform. Umrisse eines sozialökologischen Gesellschaftskonzepts. Frankfurt a.M.
Jahn, Th.; Wehling, P. (1998): Gesellschaftliche Naturverhältnisse – Konturen eines
theoretischen Konzepts. In: Brand, K.-W.: Soziologie und Natur. Theoretische Perspektiven. Opladen, 75-93
Raskin, P. et al. (2002): Great Transition. The Promise and Lure of the Times Ahead.
Boston
Szreter, S. (1993): The Idea of Demographic Transition and the Study of Fertility
Change: A Critical Intellectual History. In: Population and Development
Review19, Nr. 4, 659-700
100
Kapitel 11: Komplexität und Komplexe Adaptive Systeme – Ansätze de Santa Fe Instituts
11
Komplexität und Komplexe Adaptive Systeme – Ansätze des
Santa Fe Instituts
Karin Berkhoff, Britta Kastens und Jens Newig, PartizipA
Konzepte wie Komplexität, Selbstorganisation, Chaos und Adaptivität wurden zunächst
in den Naturwissenschaften entwickelt, werden aber zunehmend auch auf sozialwissenschaftliche Fragestellungen angewendet (vgl. FEINDT/BORNHOLDT 1996, S. 11 ff.).
So kann das Verständnis eines sozial-ökologischen Zusammenhanges als System, dessen Elemente interagieren und Handlungen ausführen, zu neuen Einsichten betreffend
die Steuerung und Steuerbarkeit solcher Zusammenhänge führen. Ausgehend von einer
Definition des Begriffes „Komplexität“ und einer Vorstellung der Eigenschaften komplexer adaptiver Systeme wird im Folgenden auf die Möglichkeiten der Steuerung innerhalb komplexer Systeme eingegangen.
11.1 Definition des Begriffes „Komplexität“
Der Begriff der Komplexität wird in der Wissenschaft in vielfältiger Weise verwendet
und definiert (REITSMA 2003, S. 13; PRIGOGINE 1979; HAKEN 1988), der nachfolgende Beitrag bezieht sich auf das Komplexitätsverständnis des Santa Fe Institute, New
Mexico (USA), welches weltweit eines der führenden Institute in der Erforschung komplexer Systeme darstellt.
Komplexität ist ein Zustand zwischen Ordnung und Unordnung (Entropie) (EDMONDS
1999; LANGE/NEWIG/WOLFF 1998), welcher eine große Strukturvielfalt besitzt (s.
Abbildung 5).
101
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Abbildung 5:
Grafische Darstellung des Zusammenhanges zwischen Komplexität
und Entropie (eigene Darstellung, nach EDMONDS 1999)
Komplexität
max. Strukturvielfalt
Entropie
In diesem Sinne werden komplexe Systeme definiert als
„…systems with many different parts which, by a rather mysterious process of selforganization, become more ordered (…) than systems which operate in approximate
thermodynamic equilibrium with their surroundings.” (COWAN 1994, S. 1)
Charakteristische Eigenschaften komplexer Systeme sind also die Existenz vieler, heterogener Einheiten, die Dynamik des Systems, der Prozess spontaner Selbstorganisation
und emergentes Verhalten. Emergenz (von lat. „emergere“, auftauchen) wird verstanden
als die Entstehung einer neuen Seinsebene durch Kombinationen/Kompositionen einzelner Elemente des Systems. Diese Seinsebene stellt eine gänzlich neue Wirklichkeit
dar, die über eigene Gesetze verfügt, welche nicht aus den Eigenschaften der Einzelelemente abgeleitet werden können („Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“).
Bei der Zusammenfügung von Elementen kann es zu ontologischen Sprüngen kommen
(ESSER 1999, S. 404), d.h. es findet keine kontinuierliche Entwicklung des Systems
statt, sondern ein abrupter Wechsel von einem Systemzustand in den nächsten. Dies
geschieht zum Beispiel beim Übergang von Wassermolekülen vom flüssigen in den
gasförmigen Zustand.
Den o.g. Zustand großer Strukturvielfalt kann man am Beispiel der Zugabe kalter Milch
in eine Tasse Kaffee anschaulich darstellen:
Der Ausgangspunkt der Situation ist die komplette Ordnung; Milch und Kaffe befinden
sich in unterschiedlichen Gefäßen. Gibt man nun die kalte Milch in den Kaffee, kommt
es durch das thermodynamische Gefälle zwischen dem warmen Kaffee und der kalten
Milch zu spontaner Selbstorganisation und einer großen Strukturvielfalt in der Kaffee-
102
Kapitel 11: Komplexität und Komplexe Adaptive Systeme – Ansätze de Santa Fe Instituts
tasse s. Abbildung 6). Der abgebildete Zustand entspricht einer hohen Strukturvielfalt
im Sinne der Abbildung 5.
Abbildung 6: Strukturelle Vielfalt in einer Kaffeetasse
Je mehr sich Milch und Kaffee durch Diffusion dem thermodynamischen Gleichgewicht
nähern, desto weniger Ordnung ist im Kaffee erkennbar, bis hin zu einer völligen Vermischung der beiden Komponenten – ein Zustand, der zwar durch hohe Unordnung
(Entropie), aber durch geringe Komplexität gekennzeichnet ist, weil in der homogenen
Mischung beider Komponenten keinerlei „sinnvolle“ Strukturen mehr erkennbar sind.
11.2 Komplexe adaptive Systeme
Ein Forschungsschwerpunkt des Santa Fe Institute sind komplexe adaptive Systeme
(Complex Adaptive Systems, CAS), dies sind
„Systeme, die Informationen über ihre Umwelt und ihre eigene Wechselwirkung mit
dieser Umwelt sammeln, Regelmäßigkeiten in diesen Informationen erkennen, die sie
zu einem Schema oder Modell verdichten und in der realen Welt gemäß diesem Schema
handeln.
Es gibt jeweils mehrere konkurrierende Schemata, und die Folgen von Handlungen in
der realen Welt wirken auf die Konkurrenz dieser Schemata zurück.“ (KÖHLER 2001)1
CAS verfügen, über die Eigenschaften komplexer Systeme hinausgehend, über die Fähigkeit zur Adaption. Durch diese Lernfähigkeit ist eine Anpassung an die Umwelt
möglich.
1
Vgl. auch Gell-Mann (1994, S. 25ff.)
103
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Die nachfolgende Abbildung zeigt schematisch die Funktionsweise eines CAS.
Abbildung 7:
Funktionsweise eines Komplexen Adaptiven Systems (nach Kappelhoff
(1999) und Gell-Mann (1994, S. 25 ff.)
Anpassungsdruck
der realen Welt
Verwendung des Schemas
in der realen Welt
Verdichtung erkannter
Regelmäßigkeiten zu einem
Schema
Abgrenzung von Regelmäßigkeiten gegenüber
Zufälligkeiten
Abbild der Umwelt
Die Grundvoraussetzung für das Agieren eines CAS ist dessen Abbild von seiner Umwelt, welches den Aktionsraum definiert. Da das System in der Lage ist, Regelmäßigkeiten im System gegenüber Zufälligkeiten abzugrenzen, werden aus den erkannten
Regelmäßigkeiten Schemata konstruiert. Diese können variieren und werden in der
Umwelt angewendet und auf ihre Eignung hin überprüft. Bei der Anwendung der
Schemata in der Umwelt werden diese dem Anpassungsdruck der realen Welt ausgesetzt. Die dabei gewonnen Erfahrungen beeinflussen durch einen Rückkopplungseffekt
die vorhandenen Schemata.
Es sind jeweils mehrere konkurrierende Schemata vorhanden; das bei der Verwendung
in der realen Welt erfolgreichste Schema wird vom System eingesetzt.
104
Kapitel 11: Komplexität und Komplexe Adaptive Systeme – Ansätze de Santa Fe Instituts
11.2.1
Insektenkolonien als komplexe adaptive Systeme
Beispiele für CAS sind Insektenkolonien. Eine Insektenkolonie stellt eine integrierte
Einheit dar. Sie ist einerseits in der Lage, eine hohe Anzahl von Informationen weiterzuleiten, andererseits kann sie Entscheidungen über Allokationen der Einzeltiere zu
treffen, die bestimmte Aufgaben und Funktionen erfüllen sollen. Die Aktivitäten tausender individueller Insekten werden koordiniert, ohne die Flexibilität und Elastizität
des Gesamtsystems und seines Schemas zu verlieren (WILSON & HÖLLDOBLER
1988, zitiert nach BONABEAU 1998, S. 437).
Folgende Eigenschaften von Insektenkolonien kennzeichnen diese als CAS:
- Individualität der Einzelelemente
- Interaktionen zwischen diesen Elementen
- Selbstorganisation
- Kontinuierliche Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen ohne die Existenz einer zentralen Einheit mit Kontrollfunktion
(BONABEAU 1998, S. 437f.)
11.2.2
Fehlermöglichkeiten von komplexen adaptiven Systemen
Fehlermöglichkeiten innerhalb des Funktionskreises eines CAS können in Verhaltensfehler und Systemfehler unterschieden werden.
Verhaltensfehler treten auf, wenn in zufälligen Strukturen fälschlicherweise Regelmäßigkeiten erkannt werden. Der gegensätzliche Fall ist ebenfalls möglich, dann werden
bestehende Regelmäßigkeiten nicht erkannt, sondern als zufälliges Verhalten interpretiert.
Systemfehler ergeben sich durch einen Mangel an Sensitivität in der adaptiven Struktur.
D.h. entweder existiert im System kein Sensor für einen bestimmten Reiz, oder die Sensitivität eines existierenden Sensors ist nicht ausreichend für die Wahrnehmung des
Reizes.
11.3 Steuerung und Transformation komplexer adaptiver Systeme
Welche Bezüge bietet der Komplexitätsansatz des Santa Fe Instituts zu gesellschaftlicher Steuerung und Transformation?
CAS und Steuerung scheinen zunächst unvereinbar. Begründet ist dies durch den intentionalen Aspekt des Steuerungsbegriffs. Durch „Steuerung soll die autonome Dynamik
[des Systems; d. Verf.] gezielt verändert werden, sei es, dass eine bestimmte Struktur
entgegen bestehenden Veränderungstendenzen bewahrt, ein spontaner Wandlungsprozess umgelenkt oder auch eine aus sich heraus stabile Struktur verändert werden soll“
(MAYNTZ 1987, S. 94). Durch die Fähigkeit der CAS zur Selbstorganisation – oder
deutlicher: zur Selbststeuerung – ist die externe, intentionale Steuerbarkeit dieser Sys-
105
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
teme eingeschränkt. Steuerungseinflüsse von außen werden von den CAS zwar verarbeitet, das Ergebnis des Einflusses ist jedoch nicht prognostizierbar. Die Steuerung
kann demzufolge als Aktivierung des CAS verstanden werden, welche einen Prozess
mit unbekanntem oder zumindest unsicherem Ergebnis anstößt.
Dieser steuerungspessimistischen Sicht stehen Aspekte entgegen, die CAS als besonders günstig für Steuerung erscheinen lassen. So lässt sich die Fähigkeit von CAS zur
(spontanen) Selbstorganisation ausnutzen. Damit entfallen die detaillierte Planung und
permanente Feinsteuerung durch die Steuerungsinstanz. Vielmehr kann es genügen,
Anreize oder Rahmenbedingungen zu setzen, um die selbstorganisatorischen Fähigkeiten für Entwicklungsprozesse zu nutzen bzw. anzustoßen – allerdings oft um den Preis
eines nicht genau steuerbaren Prozesses bzw. Ergebnisses.
Es wird deutlich, dass die Verbindung von CAS und Steuerung zwei Komponenten hat.
Zum einen die mangelnde Planbarkeit der Systemprozesse und die damit verbundene
Steuerungsskeptik und zum anderen ein Steuerungshoffen, indem das positive Entwicklungspotential der Selbstorganisation genutzt wird.
Der Transformationsbegriff lässt sich mit dem Ansatz der CAS nur schwer fassen, zumindest dann, wenn damit mittel- bis langfristige, strukturelle und intendierte gesellschaftliche Veränderungen gemeint sind. Denn eine hervorstechende Eigenschaft der
CAS ist ja gerade, dass sie sich nicht in einer gerichteten Weise entwickeln, sondern
sich situativ an sich verändernde Rahmenbedingungen anpassen bzw. spontaner Selbstorganisation folgen. Anknüpfungspunkte gibt es in Bezug zum Emergenzphänomen der
CAS, welchem die Veränderungsprozesse hin zu einer neuen Seinsebene zugeordnet
werden könnten. Tatsächliche Entwicklungslinien von CAS sind jedoch schwer mit der
Transformation im Sinne der obigen Definition zu verbinden. Es lassen sich im kleinen
Rahmen dennoch Phänomene von CAS innerhalb eines Transformationsprozesses vermuten. Diese treten als kleinere oder mittlere Emergenzprozesse im Zusammenhang mit
den übergeordneten Entwicklungsprozessen der Transformation auf.
11.4 Literatur
Einführende Literatur zu Komplexität:
COWAN et al. [Hrsg.] (1994): Complexity – Metaphors, Models and Reality. Oxford
University Press. New York.
COWAN, G.A. (1994): Conference opening remarks. In: COWAN et al. [Hrsg.] (1994),
S. 1-5.
EDMONDS, B. (1999): What is complexity? –The philosophy of complexity per se
with application to some examples in evolution. In: Heylighen, F. &
Aerts, D. (Hrsg.): The Evolution of Complexity. Kluwer, Dordrecht.
ESSER, H. (1999): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Campus. Frankfurt/M., New
York.
106
Kapitel 11: Komplexität und Komplexe Adaptive Systeme – Ansätze de Santa Fe Instituts
FEINDT, P.-H., BORNHOLDT, S. (1996): Komplexe adaptive Systeme – neue Perspektiven in den Natur- und Sozialwissenschaften?; in: dies (Hg.): Komplexe adaptive Systeme. (= Forum für interdisziplinäre Forschung, Bd.
15), S. 9-36.
GELL-MANN, M. (1994): Complex Adaptive Systems. In: COWAN et al. [Hrsg.]
(1994), S. 17-28.
Vertiefende Literatur:
BONABEAU, E. (1998): Social Insect colonies as complex adaptive Systems. In:
Ecosystems, 1998, H. 5, S. 437-443.
HAKEN, H. (1988): Information and Self-organization: Macroscopic Approach to
Complex Systems. Berlin, Heidelberg: Springer.
KAPPELHOFF, P. (1999): Emergenz und Konstitution: Von der Mikro-MakroTransformation zur (Küppers )->(Küppers )-Koevolution. Vortrag auf
der Herbsttagung der DGS-Sektion „Modellbildung und Simulation".
Heidelberg, Oktober 1999. Vortragsfolien.
KÖHLER, B. (2001): Vom Einfachen zum Komplexen. Wesentliche Gedanken aus dem
Buch von Murray Gell-Mann: Das Quark und der Jaguar. In:
http://home.t-online.de/home/Bertram.Koehler/Rahmen/vom.htm
(03.11.03)
LANGE, H., NEWIG, J. & WOLF, F. (1998): Comparison of complexity measures for
time series from ecosystem research. Bayreuther Forum Ökologie 52, S.
99-116.
MAYNTZ, R. (1987): Politische Steuerung und gesellschaftliche Steuerungsprobleme –
Anmerkungen zu einem theoretischen Paradigma. In: Jahrbuch Staatsund Verwaltungswissenschaft, B.1, 1987, S. 89-110.
PRIGOGINE, I. (1979): From Being to Becoming - Time and Complexity in Physical
Sciences.
REITSMA, Femke (2003): Critical Review - A response to simplifying complexity. In:
Geoforum 34, S. 13-16.
WILSON, E.O.; HÖLLDOBLER, B. (1988): Dense heterarchies and mass communications as the basis of organization in ant colonies. In: Trends in Ecology
and Evolution 3 (3) (1988), S. 65-68. Zitiert nach BONABEAU, E.
(1998) S. 437
107
Kapitel 12: Verzeichnis der Autoren und Projekte
12
Verzeichnis der AutorInnen und Projekte
Dierk Bauknecht, Öko-Institut e.V.:
„Integrierte Mikrosysteme der Versorgung“
[email protected]
Karin Berkhoff, Universität Osnabrück:
„PartizipA“
[email protected]
Karl Werner Brand, MPS - Forschung zu nachhaltiger Entwicklung; Münchner Projektgruppe für Sozialforschung e.V.:
„Von der Agrar- zur Konsumwende?“
[email protected]
Achim Brunnengräber, FU Berlin, FB Politik- und Sozialwissenschaften:
„Global Governance und Klimawandel“
[email protected]
Bernd, Hirschl, Institut für ökologische Wirtschaftsforschung:
„Global Governance und Klimawandel“
[email protected]
Maik Hosang, Internationales Hochschulinstitut Zittau:
„Identität und Differenz“
[email protected]
Diana Hummel, Institut für Sozial-ökologische Forschung (ISOE):
„Die Versorgung der Bevölkerung (Demons)“
[email protected]
Britta Kastens, Universität Osnabrück:
„PartizipA“
[email protected]
Jochen Monstadt, Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS):
„netWORKS“
[email protected]
Jens Newig, Universität Osnabrück:
„PartizipA“
[email protected]
109
Sozial-Ökologische Forschung: QAG Steuerung und Transformation
Benjamin Nölting, Zentrum für Technik und Gesellschaft (ZTG) der TU Berlin:
„Regionaler Wohlstand neu betrachtet“
[email protected]
Delia Schindler, Universität Hamburg, Institut für Geographie, Abteilung Wirtschaftsgeographie:
„Nachhaltige Entwicklung zwischen Durchsatz und Symbolik“
[email protected]
Jan-Peter Voß, Öko-Institut e.V.:
„Transformation and Innovation in Power Systems“ und „Integrierte Mikrosysteme der
Versorgung“
[email protected]
Markus Wissen, FU Berlin, FB Politik- und Sozialwissenschaften:
„Agrobiodiversität entwickeln“
[email protected]
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