Anforderungen an visuelle Sicherheitsmarkierungen an transparenten Flächen unter Berücksichtigung physiologischer Grundlagen Mag. Aaron Banovics, 1.2.2013; 2.2.2013 Das vorliegende Dokument dient als Planungsgrundlage zur Implementierung von visuellen Sicherheitsmarkierungen an Glasflächen und ähnlich transparenten, und daher für Menschen mit Sehbehinderung schwer wahrnehmbaren Flächen. Die hierin enthaltenen physiologischen Empfehlungen Grundlagen des werden Sehens unter sowie Berücksichtigung der der voraussichtlichen Umgebungsbedingungen der angebrachten Sicherheitsmarkierungen abgegeben. 1 Berechnungsgrundlagen Ein wichtiges Maß für die Dimensionierung von kontrastierenden Sicherheitsmarkierungen ist der Visus des menschlichen Auges, genauer gesagt die anguläre Sehschärfe. Die anguläre Sehschärfe erfordert 1.) die Lokalisierung einer Markierung und 2.) die Diskriminierung dieser Markierung von ihrer Umgebung. Die Fähigkeit zur Diskriminierung wird durch zwei Faktoren beeinflusst: Die flächige Ausdehnung, also die Größe der Markierung und der Kontrast der Markierung unter Berücksichtigung der absoluten Helligkeit. Beispiel: Unter einem Türspalt hell in einem dunkeln Raum durchscheinendes Licht kann besser wahrgenommen werden, als ein großes weißes Blatt Papier, das auf selbiger Tür im Dunkeln aufgeklebt ist. Der dünne Lichtspalt besitzt zwar eine kleine Ausdehnung, aber einen hohen Kontrast und eine hohe absolute Helligkeit, was die Wahrnehmung gegenüber dem Blatt Papier begünstigt. Leider können Sicherheitsmarkierungen in der gängigen passiven, also ausschließlich reflektierenden und, ggf. fluoreszierenden Ausführung keine hohen absoluten Helligkeiten erzielen, da sie auf das Umgebungslicht, mitunter nicht selten weniger als 100lx angewiesen sind. Es ist daher ein höchstmöglicher Relativkontrast bei angemessener Ausdehnung der Sicherheitsmarkierungen anzustreben. Ein normalsichtiger Mensch hat im Zentrum des Gesichtsfeldes eine anguläre Sehschärfe von ca. 1 Winkelminute (1’) Sein Visus beträgt damit definitionsgemäß 1,0. Ein Mensch mit einer hochgradigen Sehschädigung und einer Sehschärfe von 10 Winkelminuten (10’) hat einen Visus von 0,1. Der Visus wird berechnet durch: Visus = 1’ individuelle Sehschärfe in Winkelminuten Eine Sehschärfe von 1’ entspricht der Fähigkeit, auf eine Distanz von 10m waagrechte Struktur mit einer Höhe von 3mm auszumachen. Dies ist aber nur unter Idealbedingungen, d.h. hohe absolute Beleuchtungsstärke und hoher Kontrast der Struktur zum Hintergrund möglich! 2 Für die weiteren Berechnungen mit Visus, Entfernung und Strukturbreite wird der Visus der Einfachheit halber ins Bogenmaß (Radiant) umgewandelt. Für die Umrechnung gilt folgende Formel: Visus(rad) = 2 (Visus 21600) Die folgende Tabelle zeigt dabei einige Visus-Werte und deren Umrechnung ins Bogenmaß: Visus Visus(rad) 1,0 0,00029 0,5 0,00058 0,3 0,00097 0,1 0,0029 0,05 0,00582 0,01 0,02909 Liegt der Visus im Bogenmaß vor, so fällt es leicht, bei einer gegebenen Entfernung auf die minimale Strukturgröße (Breite oder Länge) zu schließen. Die Formel dazu lautet: Diskriminanzgröße d = Entfernung s Visus(rad) Das Beispiel auf der vorhergehenden Seite, bei dem eine normalsichtige Person auf 10m Entfernung 3mm breite Strukturen ausmacht, kann also folgendermaßen nachgerechnet werden: d = 10 0,00029 d = 0,0029m = 2,9mm Zusammenfassung: Die anguläre Sehschärfe bestimmt das Winkelmaß, ab dem das menschliche Auge eine Struktur von ihrem Hintergrund unterscheiden und als eigenständiges Element ausmachen kann. Die Größe dieser Struktur hängt vom Kontrast mit dem Hintergrund, von der absoluten Helligkeit und vom Betrachtungsabstand ab. Unter Idealbedingungen, wie sie beim Augenarzt zur Bestimmung der Sehschärfe vorliegen (d.h. guter Kontrast und hohe 3 Beleuchtungsstärke) kann ein mathematischer Bezug zwischen Visus und Strukturgröße in Abhängigkeit vom Betrachtungsabstand hergestellt werden. 4 Physiologische Grundlagen Das menschliche Auge lässt sich stark vereinfacht wie eine Digitalkamera vorstellen: Hornhaut und Linse bilden das Objektiv, welches auf der Netzhaut eine reelle, auf dem Kopf stehende Abbildung der Außenwelt projiziert. Die Netzhaut lässt sich daher als Bildsensor der Digitalkamera interpretieren. Der Öffnungswinkel des Objektivs (die „Brennweite“) beträgt in der Horizontalen etwa 100°. Verfügt ein Mensch über zwei gesunde Augen, so ergänzen sie sich zu einem Gesichtsfeld von etwa 180° horizontaler und 130° vertikaler Ausdehnung. Während jedoch die hier als Analogie bemühte Digitalkamera über den gesamten Abbildungsbereich ein Bild mit nahezu konstanter, ortsunabhängiger Auflösung liefert, besitzt die menschliche Netzhaut in ihrem Zentrum, der Fovea, das größte Auflösungsvermögen Auf dieses bezieht sich auch der im vorigen Kapitel als 1,0 definierte Visus. Abseits des zentralen Gesichtsfeldes sinkt das Auflösungsvermögen des gesunden Auges rapide ab, sodass in den Randbereichen der Wahrnehmung kaum noch Strukturerkennung möglich ist. Folgende Grafik (Hunziker 2006) zeigt den Zusammenhang zwischen Visus und horizontalem Gesichtsfeld: (Anm. der Blinde Fleck ist ein Punkt an dem die gebündelten Nerven als Sehnerv zum Gehirn geführt werden. An dieser Stelle ist daher keine Wahrnehmung möglich) Die Grafik zeigt, dass bereits am gesunden Auge jenseits von +/- 30° die Sehschärfe unter einen Visus von 0,1 - entspricht 0,0029rad - abfällt! 5 Mit dem Blick auf Sehbehinderung lassen sich zahlreiche medizinische Befunde benennen, unter denen ein Visusabfall unter 0,1 viel näher beim Gesichtsfeldzentrum liegt: degenerative Netzhauterkrankungen, grüner Star, Netzhauttraumata etc. Darüber hinaus lassen sich zahlreiche Erkrankungen benennen, bei welchen das zentrale Blickfeld mit der hohen Sehschärfe nicht zur Verfügung steht, sodass Betroffene nur in den Randbereichen mit Visuswerten um oder unter 0,1 sehen können. (Verschiedene Formen von Makuladegeneration) Durch das binokulare Sehen wird der rapide Abfall des peripheren Sehvermögens abgeschwächt. Personen, die auf einem Auge blind sind, verfügen daher ebenfalls über eine besonders schwache periphere Sinneswahrnehmung. Ferner ist anzumerken, dass auch diese Visusbestimmungen unter Idealbedingungen, d.h. hoher Kontrast und hohe Beleuchtungsstärke durchgeführt wurde. Insbesondere zur rapiden Abnahme der Sehschärfe bei geringeren Beleuchtungsstärken (unter Berücksichtigung eventueller Augenerkrankungen wie Nachtblindheit) liegen noch kaum Forschungsergebnisse vor, dass der Faktor Beleuchtungsstärke oftmals stark unterschätzt wird. Die DIN Norm berücksichtigt diesen Umstand zumindest rudimentär, indem ein SehschärfeKorrekturfaktor für die empfohlene Schriftgröße in Bezug zu einer Referenzleuchtdichte von 100cd/m² angeführt wird. (vgl DIN 32975) Die dortigen Korrekturkurven berücksichtigen jedoch keine der hier genannten möglichen Augenerkrankungen und fallen daher zu flach aus. Zusammenfassung: Die klassische optometrischee Visusbestimmung stellt auf den engen Bereich des schärfsten Sehens ab. Dieser ist daher als Referenzgrundlage für die Wahrnehmung im Raum nicht geeignet. Abseits dieses engen Bereichs fällt selbst der Visus gesunder Augen rasch auf Werte von unter 0,1 ab. Die Planung sicherheitsrelevanter visueller Markierungen muss sich daher an Visuswerten deutlich unter 0,1 orientieren. Auch muss berücksichtigt werden, dass die Lichtbedingungen, unter denen der Visus optometrisch ermittelt wird, in der Regel deutlich besser sind als die Lichtbedingungen, unter denen die Sicherheitsmarkierungen vorgefunden werden. Die ophthalmologische Visusbestimmung erfolgt i.d.R. bei einer Beleuchtungsstärke von 240 Lux im sonst abgedunkelten Raum bei einem Kontrast von 0,8. 6 Anforderungen an die optische Gestaltung von Sicherheitsmarkierungen an transparenten Flächen. Aus den vorigen beiden Kapiteln lassen sich zur konkreten Gestaltung der Sicherheitsmarkierungen folgende Erfordernisse ableiten: Bestmögliche Sichtbarkeit durch höchstmöglichen Umgebungskontrast Da transparente oder halbtransparente Flächen ihre Farbe sowie ihre Helligkeit in Abhängigkeit vom dahinter liegenden Raum ändern können, müssen zwei, besser sogar drei zueinander kontrastierende Farbflächen aufgebracht werden. z.B. Weiß - Schwarz oder WeißSchwarz-Weiß. Bei hell beleuchtetem Hintergrund kann der Kontrast des weißen Streifens zum Hintergrund zu gering ausfallen, während bei nicht beleuchtetem Hintergrund einer volltransparenten Fläche der schwarze Streifen unsichtbar wird. Beide Streifen müssen daher als jeweils getrennte Diskriminanzmerkmale aufgefasst werden, eine Zusammenfassung beider Streifen zu einem Merkmal ist aus oben genannten Gründen unzulässig! Bestmögliche Sichtbarkeit durch angemessene Größenausdehnung Es ist davon auszugehen, dass Sicherheitsmarkierungen zunächst nicht im Punkt des schärfsten Sehens wahrgenommen werden, sofern ein solcher überhaupt vorhanden ist. Es erscheint daher argumentativ nicht vertretbar, den Visus zur Berechnung der sicherheitsrelevanten Streifenbreite über 0,05 anzusetzen. Dieser sollte sich vielmehr am unteren Ende der peripheren Wahrnehmungskapazität von 0,01 orientieren. Als Mittelwert wird daher ein peripherer Visus von 0,025 angenommen. Eine sicherheitsrelevante Markierung sollte ab einer Mindestenfernung von 5 Metern eindeutig erkannt werden. Eine Erkennbarkeit ab einer Entfernung von 10 Metern würde zudem weitere Raumorientierungsfunktionen ermöglichen. Eine visusbestimmte Erkennbarkeit unter 5 Metern kann bedeuten, Personen mit Blickfeldeinschränkung (welche 7 die Sicherheitsmarkierung dann ggf. nicht mehr sehen können) zu gefährden. Berechnung für Distanzen unter 5m erscheint auch aus der Sicht Eine von wahrnehmungskonkurrierenden Personenströmen nicht sinnvoll. Soll eine visusbestimmte Breitenberechnung unter 5m erfolgen, so muss aufgrund der Sicherheitsfunktion der Markierung auf jeden Fall ein peripherer Visus von 0,01 angenommen werden! Für die Entfernungen 5m und 10m lassen sich unter Idealbedingungen daher folgende Streifenbreiten errechnen: d5 = 5,8cm d10 = 11,6cm Eine Sicherheitsmarkierung besteht also aus einem 6cm breiten weißen, und einem 6cm breiten schwarzen Streifen, weist also eine Mindestbreite von 12cm auf. Eine Sicherheitsmarkierung mit Orientierungsfunktion besteht aus einem 12cm breiten weißen, und einem 12cm breiten schwarzen Streifen, weist also eine Mindestbreite von 24cm auf. Diese Werte sollten mit Berücksichtung der Visuskorrektur bei weniger optimalen Beleuchtungsbedingungen als absolute Mindeststandards angesehen werden und ggf. nach oben korrigiert werden. Rückfragehinweis: Mag. Aaron Banovics / [email protected] / +43 699 124 24 74 0 / Verein Blickkontakt 8 Quellennachweise DIN 32975:2009-12: Gestaltung visueller Informationen im öffentlichen Raum zur barrierefreien Nutzung Hunziker, Hans-Werner 2006. Im Auge des Lesers: foveale und periphere Wahrnehmung vom Buchstabieren zur Lesefreude. Transmedia Verlag: Köln. 9