BETRIEBSPRAXIS BERUFSBILD Mehr als Brillen verkaufen Das Berufsbild für Augenoptik und Optometrie nach den neuen Arbeitsrichtlinien Teil 4: Visusbestimmung – Tägliche Routine, ihre Möglichkeiten und Grenzen Die Arbeits- und Qualitätsrichtlinien (AQRL) im Bereich der Optometrie wurden neu definiert. Neben der Refraktions- und Korrektionsbestimmung wurden die Anamnese, die Funktionsprüfungen, die erweiterten (Funktions-) Prüfungen sowie die Beurteilung des vorderen und hinteren Augenabschnittes zeitgemäß spezifiziert und definiert. Teil vier beschreibt die Visusbestimmung. Diese wird in der augenoptischen/optometrischen Praxis täglich vielfach und routinemäßig durchgeführt. Dennoch ist sie nur ein Sehleistungsparameter unter vielen. Es lohnt über Möglichkeiten und Grenzen der Visusbestimmung nachzudenken. Definition Die Sehschärfe beschreibt die Fähigkeit eines Lebewesens durch das Sehorgan Zeichen, Muster und Konturen wahrnehmen zu können. Sie berücksichtigt verschiedene Aspekte und ist von sehr vielen Faktoren abhängig, z. B. vom Lebensalter, der Leuchtdichteverteilung auf der Netzhaut oder dem Netzhautort. Deshalb sind unterschiedliche Sehschärfen definiert, z. B. Kontrastsehschärfe, Gittersehschärfe, Noniussehschärfe etc. Unter der Sehschärfebestimmung in der optometrischen Praxis wird die monokulare und binokulare Bestimmung der zentralen Tagessehschärfe (Visus) verstanden. Dabei kommen Sehzeichen verschiedener Größen zum Einsatz und es wird das Auflösungsvermögen bestimmt. Dem Auflösungsvermögen liegt zugrunde, dass zwei Sehobjekte noch als ge- 52 DOZ 03 | 2011 trennt wahrgenommen werden. Der Visus ergibt sich hier als Kehrwert des Sehwinkels für die Strichstärke des Sehzeichens. Der Visus beschreibt einen konkreten Wert (Schwellenwert), feine Details eines Objektes wahrzunehmen, deren Erkennbarkeit vom Sehwinkel abhängt. Die Angabe des Visus erfolgt in Dezimalschreibweise, z. B. Visus 1,0 und ist einheitenlos. Ziel Die Visusbestimmung (Vsc und/oder Vcc habituell) wird nach der Anamnese, aber vor der eigentlichen optometrischen Untersuchung durchgeführt. (Vsc steht für Visus sine correctione und Vcc habituell = Visus cum correctione). Sie dient der Ermittlung der zentralen Tagessehschärfe in Ferne und Nähe zur Feststellung und Überprüfung der zentralen Sehleistung des Kunden/Patienten ohne und gegebenenfalls mit habitueller Korrektion. Dabei wird die maximal erreichbare Sehleistung bestimmt und im Anschluss geprüft, ob eine optische Korrektion eine Visusverbesserung ermöglicht. Wenn dies nicht der Fall ist, und die Visuswerte nicht altersgerecht sind, kann eine pathologisch reduzierte Sehschärfe vorliegen, die weiter abgeklärt werden muss. Verfahren Für die Visusbestimmung spielen folgende Aspekte eine Rolle: Visusbestimmung mit und ohne Korrektion Die Visusbestimmung ist das zentrale Verfahren zur Beurteilung des Sehver- mögens, d. h. der Sehschärfe beider Augen sowie der Einzelaugen. Hierbei wird jedoch nicht nur die Funktion der beiden Augen geprüft, sondern auch die Leistungsfähigkeit des visuellen Systems, da die Augen z. B. anatomisch voll funktionstüchtig sein können, jedoch die Weiterleitung der Reize in das Sehzentrum gestört sein kann. Im Rahmen der Visusbestimmung erfolgt zuerst die monokulare und dann die binokulare Bestimmung des Visus ohne Korrektion (Vsc) bzw. mit vorhandener/ habitueller Korrektion (Vcc habituell). Die Visusbestimmung sollte sowohl in der Ferne (i. d. R. im Prüfabstand 5 bis 6 m) als auch in der Nähe (i. d. R. in 40 cm) durchgeführt werden. Wichtig für die Bestimmung der Tagessehschärfe sind dabei eine hohe Hintergrundleuchtdichte und ein hoher Kontrast, d. h. schwarze Zeichen auf weißem Hintergrund. Die Visusbestimmung kann des Weiteren dazu eingesetzt werden, den Erfolg einer Sehhilfe zu prüfen, d. h. es erfolgt ein Vergleich des Visus ohne bzw. der vorhandenen Korrektion und mit der neuen Korrektion. Verwendung von Sehzeichen/Optotypen Für die Visusbestimmung werden Sehzeichen/Optotypen verwendet. Sie können einzeln oder zeilenweise dargeboten werden. Wird der Visus zeilenweise ermittelt, so gilt eine Zeile nach den ISONormen 8596 und 8587 (wie auch in der früher gültigen DIN 58220) erst dann als gelesen, wenn mindestens 60 Prozent der Optotypen erkannt wurden. Bei der optotypenweisen Darbietung empfiehlt sich ein Abbruchkriterium, welches i. d. R. bei zwei (erkannten) von fünf (dargebotenen) Sehzeichen angewendet wird. Empfehlenswert sind Sehzeichen nach DIN 8596 und 58220 bzw. logarithmisch abgestufte Optotypen mit gleicher Erkennbarkeit und gleicher Optotypenanzahl für jede Visusstufe. Damit kann die Ratewahrscheinlichkeit reduziert werden. Logarithmisch abgestufte Optotypen eignen sich im Besonderen für eine Visusbestimmung, weil sie der Empfindung des Auges am nächsten kommen (Weber-Fechner-Gesetz: Der Reiz muss sich in logarithmischen Abständen ändern, damit das Auge eine lineare Empfindung wahrnimmt). Das Standardsehzeichen ist der Landoltring aufgrund seiner normierten Abmaße (Verhältnis Höhe : Breite : Strichstärke = 5 : 5 : 1). In der täglichen Praxis werden zur Sehschärfebestimmung jedoch am häufigsten ausgewählte und normierte Buchstaben eingesetzt, da diese praxistauglicher sind und eine einfachere Kommunikation mit dem Kunden/ Patienten ermöglichen. Zahlen eignen sich aufgrund einer höheren Ratewahrscheinlichkeit (weniger Alternativen als beim Alphabet) nur bedingt. Zur Beurteilung der Sehqualität und bei Verdacht auf pathologische Einflüsse (z. B. bei Medientrübungen, Erkrankungen der Sehbahn) kann zusätzlich zur Bestimmung der Tagessehschärfe (hoher Kontrast) die Kontrastempfindlichkeit durch Darbietung von Sehzeichen bei reduziertem Kontrast durchgeführt werden. Hierfür bieten sich vor allem elektronische Sehzeichendarbietungen an. Angabe des Visus Es existieren verschiedene Möglichkeiten zur Angabe des Visus, z. B. der Dezimalvisus, der Snellen-Visus oder im englischsprachigen Raum der LogMARVisus. In der deutschen Augenoptik wird der Visus i. d. R. durch den Dezimalvisus angegeben. Dieser beruht auf dem Auflösungsvermögen und wird als Kehrwert des Sehwinkels angegeben. Visuswerte entsprechen bei Verwendung des Landoltrings dem Kehrwert der Lückenbreite in Winkelminuten, z. B. Lücke des Landoltrings 2‘ = Visus 0,5. Der maximale Visus entspricht demzufolge der kleinsten noch erkannten Lücke. Der Visus kann optotypenweise oder zeilenweise bestimmt und notiert werden. Die optotypenweise Dokumentation wird durch hochgestellte Ziffern angegeben. Wird z. B. die Zeile Visus 1,0 binokular mit zwei Fehlern gelesen, erfolgt die Angabe mit Vscbino = 0,8 –2. Gebräuchlich sind auch die Ermittlung der Fehler pro gelesener Zeile. Liest ein Kunde/Patient z. B. zwei Zeichen in der Visusstufe 0,8 nicht, erfolgt die Dokumentation mit Vcc 0,8 pp (p steht für partiell). Visusbestimmung bei Erwachsenen Die Visusbestimmung erfolgt i. d. R. mittels Landoltringen oder angeschlossenen Abb. 1: Streifenmuster zur preferential looking Bestimmung der Sehschärfe bei Kindern. Optotypen (s. DIN 8596 und 58220). In der Praxis bieten sich hierfür Optotypentafeln oder elektronische Geräte zur Darbietung von verschiedenen Optotypenarten und -größen an (s. Tab. 1). Visusbestimmung bei Kindern Bei Kindern kann die Visusbestimmung altersbedingt oder mangels Interesse erschwert sein. Die Visusbestimmung sollte daher je nach Alter mit adäquaten normierten kindgerechten Optotypen durchgeführt werden (s. Tab. 1). Bei Babies und Kleinkindern bietet sich das preferential looking Verfahren an. Hier wird die Sehschärfe anhand von Streifenmustern auf Grundlage des bevorzugten Sehens bestimmt (Abb. 1). Dabei werden Karten mit Gittern verschiedener Ortsfrequenzen in einem geringen Abstand (1 bis 3 m) dargeboten. Neben Definition Ziel Verfahren Dokumentation monokulare und binokulare Bestimmung der zentralen Tagessehschärfe Ermittlung der zentralen Tagessehschärfe zur Feststellung und Überprüfung der zentralen Sehleistung mit und ohne Korrektion monokulare und binokulare Bestimmung des Visus ohne Korrektion (Vsc) und ggf. Visus mit vorhandener/habitueller Korrektion (Vcc habituell) bei hoher Hintergrund-Leuchtdichte und hohem Kontrast sowohl in der Ferne als auch in der Nähe monokular: Vsc und Vcc binokular: Vsc und Vcc empfehlenswert sind Sehzeichen nach EN ISO 8596 (früher DIN 58220) bzw. logarithmisch abgestufte Optotypen mit gleicher Erkennbarkeit und gleicher Optotypenanzahl für jede Visusstufe 1.3.1 Visusbestimmung bei Erwachsenen Visusbestimmung mittels Landoltringen oder angeschlossenen Optotypen (s. EN ISO 8596, früher: DIN 58220) 1.3.2 Visusbestimmung bei Kindern Visusbestimmung je nach Alter mittels Streifenmustern, LEA-Sehzeichen oder anderen normierten kindgerechten Optotypen Tab.1: Definition, Ziel, Verfahren und Dokumentation der Visusbestimmung nach den neuen Arbeits- und Qualitätsrichtlinien für Augenoptik und Optometrie. DOZ 03 | 2011 53 BETRIEBSPRAXIS BERUFSBILD Abb. 2: LEA Symbole zur Visusbestimmung bei Kindern. den Streifenmustern können auch Karten mit verschiedenen Kinderbildern eingesetzt werden. Geprüft wird dabei, ob das Kind Blickbewegungen ausführt, in der Annahme, dass das Testobjekt die Aufmerksamkeit des Kindes erregt. Bei Vorschulkindern kann die Visusprüfung dann mittels Kindersymbolen erfolgen. Hier bieten sich vor allem die normierten (gleiche Erkennbarkeit und gleiche Ratewahrscheinlichkeit) und kindgerechten LEA-Sehzeichen an (Abb. 2). Visusbestimmung in der Nähe Im Gegensatz zur Bestimmung des Visus in der Ferne, der mittels Optotypen bestimmt wird, wird bei der Bestimmung des Visus in der Nähe i. d. R. der Lesevisus ermittelt (Abb. 3). Dies erfolgt mit Text-/Leseproben, die Fließtexte enthalten. Es sollte darauf geachtet werden, dass die Texte sinnfrei formuliert sind, so dass der Kunde/Patient die nächsten Worte nicht aus dem Textzusammenhang erschließen kann. Es ist außerdem auf eine serifenfreie Schriftart zu achten. Nahsehproben liegen üblicherweise in Papierversion vor. Damit sind eine hohe Auflösung bei entsprechenden Drucken und ein geeigneter Kontrast bei Tageslichtbeleuchtung gegeben. Hier stoßen moderne elektronische Displays und dafür entwickelte Nahsehtests oft an ihre Grenzen. Eine nicht ausreichende Displayauflösung erlaubt nicht die Darstellung hoher Visusstufen in Leseentfernung. Spiegelnde Oberflächen und überhöhte Kontraste verfälschen das Ergebnis. Verwendbarkeit der Ergebnisse Die Ergebnisse der Visusbestimmung erlauben eine Aussage über die Leistungsfähigkeit des visuellen Systems. Hierbei 54 DOZ 03 | 2011 sollte jedoch beachtet werden, dass der Visus nur einer von vielen Messgrößen des visuellen Systems ist. Durch die monokulare und binokulare Bestimmung können hier Hinweise auf Binokularstörungen gefunden werden, denn i. d. R. liegt der binokulare Visus über dem monokularen. Außerdem können reduzierte Ergebnisse des Visus trotz bestmöglicher optischer Korrektion auf eine pathologische Ursache hinweisen. Der Visus bildet die Basis für die Refraktions- und Korrektionsbestimmung. Darüberhinaus dient er als Vergleichswert für den Vcc mit neuer Korrektion und dient als Entscheidungsgrundlage, ob eine neue Korrektion überhaupt eine Verbesserung bringt Hier sollten jedoch auch die Grenzen der Visusbestimmung bedacht werden. Es sind neben dem Visus beispielsweise folgende Parameter für die Leistungsfähigkeit des visuellen Systems relevant: z Periphere Sehschärfe z Farb- und Kontrastsehen z Gesichtsfeld z Sehleistung bei Dämmerung/Nachts z Bewegungssehen z Binokularsehen z Lesevisus z Verzeichnungen und Verzerrungen z Beugung, Streuung, Trübungen z Prüfsituation – Alltag z Aufmerksamkeit z Buchstabenverwechslung (pb, nm usw.) z usw. Dokumentation Bei den Ergebnissen der Visusbestimmung ist es wichtig, sowohl den monokularen als auch den binokularen Visus mit und ohne Korrektion anzugeben (Vsc und Vcc). Dabei kann der Visus optotypenweise oder zeilenweise notiert werden (s. Angabe des Visus). Zudem empfiehlt sich die Angabe, welche Optotypen verwendet wurden, die Optotypentafel bzw. das Sehtestgerät und die Prüfentfernung. Zusammenfassung Die Visusbestimmung erfolgt monokular und binokular für die Ferne und Nähe. Ein Vergleich der Messwerte trägt zur Entscheidung bei, ob und welche optische Korrektion dem Kunden/Patienten ein besseres Sehen (definiert über die erzielte Visusverbesserung) ermöglicht. Eine nicht altersgerechte, reduzierte Sehleistung, trotz bestmöglicher optischer Korrektion, kann einen Hinweis auf pathologische Veränderungen geben. n Michaela Friedrich, Fachhochschule Jena Abb. 3: Visusbestimmung in der Nähe mit Leseprobe.