Gesundes Leiden F- oder Z-Diagnosen Prof. Dr. Michael Linden Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Charité Universitätsmedizin Berlin und Abt. Verhaltenstherapie und Psychosomatik am Rehabilitationszentrum Seehof der Deutschen Rentenversicherung Bund, Teltow/Berlin Was ist krank? Was ist schön? Wandel gesellschaftlich tolerierter/erwünschter Verhaltens- und Ausdrucksformen Soziale Ängste in der Bevölkerung öffentliche Rede 16 Rede vor Gruppe 14 vollen Raum betreten 12 fremde Toilette Schreiben unter Beob. 10 % 8 Essen unter Beob. Angst vor Blamage 6 Reden mit Autoritäten 4 Augenkontakt 2 Besuch einer Party Warenumtausch 0 Stein et al: Arch. Gen. Psychiat. 200,57,10461052 Fremden vorgestellt weren Höhe Krankenstand / Absentismus und Betriebsklimaindex 0,35 0,3 0,25 0,2 Korr. Koeff. 0,15 0,1 0,05 0 All Ko ge lle ge me n in Vo Or Inf ga o rm rge nis se ati ati tzt on on e Drupp M., Dtsch Ärzteblatt 2004, 101, 1570-1574 „Psycho-Couch-Potato“ Resilienzdefizit Lebenszufriedenheit (1-5) 5 4,5 4 3,5 Investmentselekt. Niedrig 3 2,5 Investmentselekt. Hoch 2 1,5 1 0,5 0 -2 2 Körperliche Risiken Staudinger, Freund, Linden, Maas 1999 Posttraumatische Störungen (z.B. PTSD) Psychologische Verarbeitung: Konditionierungsprozess Stressor: Psychopathologie: lebensbedrohendes Ereignis, d.h. unbedingter angstauslösender Stimulus Angst, Intrusionen Vulnerabilität-Resilienz: - Ängstliche Persönlichkeit - erhöhte Konditionierbarkeit Marksburg bei Braubach Laienkonzept: Überforderung bzw. Stress > burn out Jederman weiß: Druck führt zu Stress, Stress führt zu Erschöpfung und burn out und macht krank • Problem 1: Stress wird ex post facto beschrieben und hat damit keinen Erklärungswert. Ein Stressor kann alles sein: Beförderung, Weiterbeschäftigung, Kündigung. • Problem 2: „Burn out“ ist ein Symptom und kann alles Mögliche bedeuten. • Problem 3: Externale Kausalattributionen verstellen Blick auf das eigentliche Problem und führen zu inadäquaten Reaktionen Argumente gegen Diagnosen • Antike, Märchen Geheimwissen um Namen ist Macht • A. Meyer 1907 Klassifikation verhindert Verstehen der Kranken • Menninger 1948 fehlende Individualität • Szasz 1960 Metapher als politisches Machtinstrument • Albee 1970 Etkettierung des Patienten wie ein Objekt, Betonung des Negativen • Rosenhan 1973 Negative Etikette bewirkt negative Reaktionen • Spitzer RL 1978 Idiosynkratie des Diagnostikers statt Objektivität und Reliabilität • Psychologisch-Therapeutische Aspekte - Unterminierung von Selbsthilfepotential - Pathologisierung von Alltäglichkeiten - Problemverschärfung Diagnosebedürfnisse Disease Mongering Interessengeleitete Erfindung von Krankheiten (z.B. Hypertonie = systolisch > 120 mm Hg für alle Menschen) Disease Malingering Interessengeleitete Beschwerdenaggravierung (z.B. Arbeitskonflikte) Diagnostic Furor Fast jeder Arzt hat eine Lieblingsdiagnose und es gehört für ihn Überwindung dazu, sie nicht zu stellen Marcel Proust (1871-1922) Medizinische Notwendigkeit Krankheitserklärung, Krankheitsvorhersage, Behandlungserlaubnis, Therapiesteuerung, Kommunikation mit Anderen, Vergütung Allgemeindefinition von Krankheit Krankheit im Allgemeinen bezeichnet • einen bestimmbaren Zustand • eine unwillentlich gestörte Lebensfunktion • Situationsinadäquatheit • mit einer Zeitdimension – Beginn und Verlauf – • Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit • Leiden • Teilhabestörungen Diagnosen sind hypothetische Konstrukte z.B. Bipolare Depression; Appendizitis • können nicht beobachtet sondern nur erschlossen werden • dienen der Prognose Krankheitskriterien • • • • • • • • • • statistische Norm (Minderwuchs) subjektives Leiden (Hühnerauge) zukünftiges Leiden (Hypertonie) Lebensverkürzung (Hypercholesterinämie) subjektive Definitionen (Vitiligo) soziale Normen (Pädophilie) soziale Konsequenzen (Demenz) Prozesstheorie (Pilzbefall) Funktionseinschränkung (Kurzsichtigkeit) u.a. M.I.N.I. International Neuropsychiatric Interview, Episode einer Major Depression A1: Fühlten Sie sich in den letzten 2 Wochen beinahe jeden Tag und fast während des ganzen Tages traurig, niedergeschlagen oder deprimiert? NEIN / JA 1 A2: Hatten Sie in den letzten 2 Wochen fast ständig das Gefühl, zu nichts mehr Lust zu haben und das Interesse und die Freude an Dingen verloren zu haben, die Ihnen gewöhnlich Freude machen? WURDEN A1 ODER A2 BEJAHT? falls JA A3: A3: Wenn Sie sich in dieser Zeit deprimiert fühlten/ ohne Interesse an irgendetwas, haben Sie dann folgendes festgestellt: a Hat sich Ihr Appetit auffallend verändert oder haben Sie unbeabsichtigt erheblich an Gewicht zuoder abgenommen (bei +/-5% ja ankreuzen)? b Hatten Sie fast jede Nacht Schlafprobleme? c Haben Sie langsamer gesprochen oder sich langsamer bewegt als gewöhnlich, oder waren Sie im Gegenteil unruhig und hatten ständig den Drang sich zu bewegen? d Haben Sie sich (fast die ganze Zeit) müde und energielos gefühlt? e Fühlten Sie sich wertlos, schuldig? f Hatten Sie Schwierigkeiten sich zu konzentrieren und Entscheidungen zu treffen? g Hatten Sie mehrmals trübe Gedanken, z.B. daß es besser wäre, Sie wären tot, oder haben Sie daran gedacht, sich etwas anzutun? Gab es unter A3 mindestens 3 positive Antworten (oder 4, wenn A1 oder A2 mit nein beantwortet wurden)? JA EPISODE einer MAJOR DEPRESSION akut Leserbrief zu Gensichen J, Linden M: Gesundes Leiden – die ,Z-Diagnosen‘“ Deutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 10 | 8. März 2013 Fast witzig in Zeiten evidenzbasierter Medizin sehnen sie sich nach „dem Experten“ zurück, der im Sinne „Eminenzbasierter Medizin der 1940er bis 70er“ alle Klarheiten in der Diagnostik beseitigt, an dem man sich zu orientieren hat . Die Autoren verschweigen, dass jedoch Reliabilität die Voraussetzung für Validität ist. Natürlich kann der psychopathologische Befund reliabel zum Beispiel mit AMDP gestellt werden, ist jedoch sehr trainingsaufwendig Dr. Robert Mestel Forschungspsychologe & Psychotherapeut an der privaten Psychosomatischen Reha-Klinik Helios, Bad Grönenbach [email protected] Reliabilität (Kappa-Koeffizienten) von Diagnosen gemäß standardisierter Algorithmen in den Feldstudien zu ICD und DSM (International Center for Clinical Excellence, ICCE, 2012) Diagnosis DSM-5 DSM4 ICD-10 DSM-3 Major Depressive Disorder .32 .59 .53 .80 Generalized Anxiety Disorder .20 .65 .30 .72 15 Patienten mit „majorer depressiver Episode“ nach MINI Depression 1 leichte akt. Depr. Episode 1 Dysthymie 1 bipolar remittiert 1 depr. Episode remittiert Angststörung 1 GAD 1 Agoraphobie Reaktive Störungen 1 Anpassungsstörung 1 PTED Hirnorganische Störung 2 HOPS 1 Migraine accompangniee 1 Pharmanebenwirkung ohne 3 gesund schlechte, gedrückte oder depressive Stimmung? • • • • • • • • depressiv bedrückt verstimmt lustlos niedergeschlagen traurig interesselos freudlos • • • • • • • • ‚null bock‘ genervt frustriert verzweifelt verärgert mißmutig verbittert usw Überschätzung der Morbidität durch subjektive Klagen (Depressive Episode) SCL-90 Algorithmus MINI Interview - + - 37% 63% + 6% 94% HAMA unter Berücksichtigung somatischer Multimorbidität im Alter (BASE) Tagesschwankungen mangelnde Krankheitseinsicht Gewichtsverlust Hypochondrie Genitale Beschw. Gastroent. Beschw. Somat. Angst Psych. Angst Agitation Hemmung Arbeitsinteresse Früherwachen Durchschlafstörungen Einschlafstörungen Suizidaliät 0 20 40 60 80 100 % psychiatr. erhobener Symptome durch Internist infrage gestellt Schuld Depr. Verstimmung Negative Ereignisse und Belastungen im menschlichen Leben Ereignis Häufigkeit Todesfall in der Familie 100 % aller Menschen Scheidung 43 % aller Ehen Eheprobleme 100 % aller Paare Probleme mit den Kindern 43 % Eltern Schwerere Unfälle 10 % aller Menschen Schwere Krankheit 100 % aller Menschen Arbeitslosigkeit 8 % der Erwerbstätigen Anstrengende Arbeit 15 % der Erwerbstätigen Arbeitsunterforderung 5 % aller Erwerbstätigen Opfer von Kriminalität 8% aller Menschen Z-Klassifikation nach ICD-10 Probleme mit Bezug auf Z 55 die Ausbildung (z.B. unzulängliche schulische Leistung) Z 56 die Berufstätigkeit (z.B. Arbeitsplatzverlust) Z 57 Berufliche Exposition gegenüber Risikofaktoren (z.B. Lärm) Z 58 die kommunale Umwelt (z.B. Lärm) Z 59 die Wohnverhältnisse (z.B. Unstimmigkeit mit Nachbarn) Z 60 die soziale Umgebung (z.B. soziale Ausgrenzung) Z 61 negative Kindheitserlebnisse (z.B. Veränderung der Familienstruktur) Z 62 die Erziehung (z.B. Überprotektion) Z 63 den engeren Familienkreis (z.B. Tod eines Familienangehörigen) Z 64 bestimmte psychosoziale Umstände (z.B. Schwangerschaft) Z 65 andere psychosoziale Umstände (z.B. Verurteilung) Z 72 die Lebensführung (z.B. Mangel an körperlicher Bewegung) Z 73 Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung (z.B. Burn-Out, Akzentuierung von Persönlichkeitszügen) Z 74 Pflegebedürftigkeit (z.B. eingeschränkte Mobilität) Z-Klassifikation nach ICD-10 Z 56 Probleme mit Bezug auf die Berufstätigkeit – Z 56.0 Arbeitslosigkeit – Z 56.1 Arbeitsplatzwechsel – Z56.2 drohender Arbeitsplatzverlust – Z 56.2 belastende Einteilung der Arbeitszeit – Z 56.4 Unstimmigkeit mit Vorgesetzten oder Kollegen – Z 56.5 nicht zusagende Arbeit – Z 56.7 andere physische oder psychische Belastung Z56.5: Psych. Belastung durch schwierige Arbeitsbedingungen Persönlicher Hintergrund: • 50 jähriger Pat., seit 20 J stabil verheiratet, 2 pubertierende Söhne (12 und 17 J), Frau Lehrerin, für die Kinder zu Hause • Promovierter Physiker, an der Uni in Forschung und Lehre tätig • Bisherige Biographie sehr geradlinig, Abschlüsse immer im oberen ¼ in Regelzeit abgelegt • Ausweitung der beruflichen Aufgaben in den letzten Jahren bei gleichzeitiger Mittelkürzung: mehr Vorlesungen, fast doppelte Anzahl von Studenten, weitere Geräte zu betreuen, völlige Umstellung der Forschungsarbeit und Drittmittelbeschaffung, Stellenkürzungen, sinkende Qualität der Kollegen durch vermehrte Besetzung mit studentischen Hilfskräften • Einfache Anfahrtszeit: 80 min Z56.5: Psych. Belastung durch schwierige Arbeitsbedingungen Zuweisungsweg: • Auf eigenes Betreiben mit Unterstützung des HA • Zunächst Ablehnung des Rehaantrags durch die Rentenversicherung, da bislang keine AU-Zeiten • Bewilligung nach Einlegung eines Widerspruchs gegen den Ablehnungsbescheid durch den Pat. mit Druck durch die Ehefrau, die sich um ihren Mann sorgt, weil er so viel arbeitet und klagt • Eigener Leidensdruck: innere Anspannung und Gereiztheit, Schlafstörungen wegen Grübeleien über die Arbeit („to-do-Listen rauf und runter“), Konzentrationsschwäche mit Häufung von Flüchtigkeitsfehlern, Libidoverlust und Verlust an Freude an Hobbys, kaum noch Pflege von Freundschaften, nachlassender Erholungseffekt von Wochenenden und Urlauben, insgesamt ein Gefühl von „nur für andere funktionieren“, berufliches und privates Überforderungsgefühl • Vergeblicher Versuch einer ambulanten Psychotherapie Z56.5: Psych. Belastung durch schwierige Arbeitsbedingungen Psychopathologischer Befund: • Keine kognitiven Einschränkungen, in der Testung weit überdurchschnittlich: IQ 135 • Im Kontakt zurückhaltend, ausgesucht höflich, zuvorkommend • Affekt im unteren Normbereich mit hochsensibler Modulation und Anpassung an das Gegenüber, Emotionen aus dem aggressiven Spektrum (Ärger, Wut, Verachtung, Verdruss etc) stark tabuisiert • Antrieb gut entwickelt, der Pat. arbeitet eine lange Liste der Berliner Sehenswürdigkeiten ab • Seit der Jugend Höhenangst, verminderte Unsicherheitstoleranz (genaues Recherchieren des Urlaubsortes), leicht soziophobisch: schlaflose Nacht vor ersten Vorlesung im Semester, vorausschauendes Planen im Alltag • Vegetativ hyperreagibel: Asthma bronchiale, art. Hypertonus Z56.5: Psych. Belastung durch schwierige Arbeitsbedingungen Warum Z und nicht F? • DD: Generalisierte Angststörung? Persönlichkeitsstörung? • Faktische Auslastung einer hochnormalen Leistungsgrenze: 50-55 Wochenarbeitsstunden, Fahrzeiten, Haus- und Gartenpflege, Erziehungsarbeit Cave F! • „Institutionelle Erkrankung“ durch Aufnahme in eine Rehaklinik mit bleibender Diagnose. • Pathologisierung und Stigmatisierung einer leistungsfähigen und leistungsbereiten Primärpersönlichkeit. • Unterminierung der Selbstwirksamkeitserwartung und Selbsthilfepotentials. Z56.5: Psych. Belastung durch schwierige Arbeitsbedingungen Und was nun? a) Vorbeugung einer pathologischen Komplizierung der Situation wegen Angst beider Ehepartner vor viel Arbeit und ihren Folgen b) Herausarbeitung der Freiheitsgrade und Selbststärkungsmöglichkeiten, die ein Wissenschaftler hat • Restauration des Selbstbildes und Selbstwertgefühls • Herausarbeiten punktueller Competenzdefizite bei insgesamt hoher sozialer Kompetenz: Ablehnung zusätzlicher Aufgaben, Delegation, Einforderung eigener Freiräume beruflich und privat • Reframing: Selbstpflege zum Erhalt der Leistungsfähigkeit als Pflicht gegenüber Familie und Kollegen • Empfehlung für Coaching Anforderungsfit Umfrage Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, N=17.562 Arbeitsstunden pro Jahr in Europa (Eurostat, nur Vollzeitbeschäftigte 2011) Diagnostisches und therapeutisches Defizit bei psychischen Störungen behandlungs- in hausärztlicher bedürftige Depressionen Behandlung ca. 4 Mio. 2,4 - 2,8 Mio. 60-70% Optimierungsspielraum als Depression diagnostiziert 1,2 - 1,4 Mio. 30-35% suffizient behandelt nach 3 Mo. compliant 240 - 360 Tausend 100- 160 Tausend 6-9% 2,5-4% Antistigmaaktivitäten (EAAD, European Alliance Against Depression) Entwicklung AU-Tage Die Entwicklung der AU-Tage aufgrund psychischer Diagnosen bedeutet keine „Kostenexplosion“! 200 100 190 90 180 80 170 70 160 60 150 50 140 40 130 30 120 20 110 10 0 100 1995 2000 2005 2010 1995 2000 2005 2010 Die scheinbar dramatische Entwicklung häufigerer Krankschreibungen aufgrund psychischer Störungen (links) entspricht der Vergrößerung des Anteils an allen AU-Tagen (rechts; aktuell ca. 10-15%) Frühberentungen auf Grund psychischer und somatischer Erkrankungen