Psychologische Barrieren bei der Insulininjektion Béla Bartus Klinikum Stuttgart Olgahospital Welche Personengruppen sind betroffen? • Erwachsene mit Diabetes • Partner und Angehörige • Kinder und Jugendliche mit Diabetes • Eltern, Angehörige, Betreuer Definition der Spritzen-Angst • „nicht in der Lage zu sein, die Gabe einer Injektion ohne übermäßiger psychischer und physiologischer Anspannung, Irritation und Unwohlsein auszuhalten“ Nach Cox D, Mohr DC 2003; Hamilton JG 1995 Folgen der Spritzen-Angst • ...wird diese psycho-physiologische Anspannung nicht gesenkt, kann sich daraus ein dauerhaftes Vermeidungsverhalten oder eine Spritzenphobie entwickeln. Nach Cox D., Mohr DC 2003; Hamilton JG 1995 Medizinische Folgen von Injektionsängsten bei Diabetes mellitus Verordnete Dosis Injektionsangst Klinisch wirksame Dosis ? Injektion-Schulung Injektions-Gerät Injektions-Angst Angst Angst kann in ihrer einfachen Ausprägung (als Gefühl des Unwohlseins) bis hin zu ihre klinischen Erscheinungen (als Phobie / Panik) die subkutane Injektion von Insulin ungünstig beeinflussen. Folge von Angststörungen: Vermeidung Betroffene meiden Situationen, in denen phobische Ängste auftreten: Fliegen nicht bei Flugphobie, Verpassen Examen bei Prüfungsangst, Gehen nicht in den Keller bei Spinnenphobie Vermeiden Arzt, wenn sie an einer Spritzenphobie leiden Vermeidung ist funktional (reguliert Emotionen) Nadel-Phobie Definition nach DSM IV • Definiert als unangemessene Angst, die durch spezifische Auslöser (hier: Nadel, Kanüle, Katheter, Spritze usw.) hervorgerufen wird • Bereits die Vorstellung des kritischen Objektes kann Erwartungsangst auslösen • Als Folge wird der Kontakt mit den Objekten vermieden, was einen angstsenkenden Effekt hat Was ist Injektionsangst? Definition von Nadel/Injektionsphobie SpritzenResistenz SpritzenAngst SpritzenPhobie Was ist Injektionsangst? Definition von Nadel/Injektionsphobie SpritzenResistenz SpritzenAngst SpritzenPhobie Häufigkeit der Injektionsangst • Die Prävalenz der Injektions- • Etwa 22% haben eine milde Form der Spritzenbzw. Nadelphobie wird in Nadel-Angst*, die es ihnen der Allgemeinbevölkerung erschwert, sich mit einer auf 7-9% * geschätzt Injektionen zu behandeln *The prevalence of injection phobia: (Agras, Sylvester, & Oliveau,1969; Bienvenu & Eaton, 1998, *Wright et al. 2009). Häufigkeit der Nadelphobie • Betrifft ca. 8-10% der Bevölkerung1 • Über 80% die an einer Nadel-Phobie leiden, haben einen nahen Verwandten mit Nadel-Phobie1 • Ca. 1/3 aller Patienten mit Typ-1 Diabetes berichteten Phasen von milder bis schwerer Injektions-Angst2 1)Hamilton 1995 2)Follansbee 1998 Häufigkeit von Injektionsängsten Stichprobe von 400 Personen (Alter 25 Jahre): • 21,7 % gaben an, sich vor Injektionen zu fürchten • 8,2 % zeigten unverhältnismäßig große Angst vor Injektionen Fear of injections in young adults: prevalence and associations (Nir et al. Am J Trop Med Hyg. 2003) Injektionsangst und Auswirkung auf die Diabetesbehandlung • Injektionsängste gehen mit zunehmender Meidung von Insulininjektionen und Blutzucker-Tests einher (Zambanini A. et al. 1999; Mollema E. et al. 2001) • Injektionsängste haben negative Auswirkungen auf die Stoffwechsellage von Patienten mit Diabetes mellitus: Folge sind höhere HbA1c-Werte (Bienvenu OJ et al. 1998) Kindes- und Jugendalter • In der Kindheit gibt es Übergänge zwischen Entwicklungsphasen, in denen die allgemeine Ängstlichkeit ansteigt • Daraus ergibt sich eine höhere Vulnerabilität für Spritzenangst • Ängste und z.T. massive Abwehrreaktionen gegen Injektionen bei Kindern zu Beginn der Erkrankung sind meist keine Spritzenphobien sondern Anpassungsstörungen an den Diabetes und seiner Behandlung Differenzierung der Spritzenangst bei Kindern • Trotzverhalten (entwicklungsbedingt, reaktiv) • Erziehung (Elternverhalten, Erziehungsstil) Umgang mit Injektionen Kindergartenund Vorschul kinder Irritation/Bedrohung durch die Nadel und den Schmerz (Angstreaktionen) Abwehr bei Früh- und Spätinjektionen Bestrafungsphantasien Wechselnde Phasen von starker und geringer Injektionsangst Schulkinder Selbstinjektion möglich (Feinmotorik) Zögerliches Wechseln der Injektionsstellen. Hemmung vor Spritzen im Bauchbereich Episoden von Spritzenangst und Verweigerung Kleinkinder Jugendliche Selbständige Dosisanpassung Ungenauigkeiten durch innere / äußere Ablenkung Zeitmangel Soziale Spritzhemmung. Manipulation der Substanzdosis Idiopathische Injektionsphobie Belastung durch ICT (12-16 Jahre) (Multizentrische Studie n=840 MAD, 2004)* Schmerz Neugier anderer Kanülenwechsel Dosisanpassung Diabet verbergen Sich outen Späte Injektion 0 *Danne T, Lange K et al. (2004) 1 2 Belastung 3 4 Zusammenfassung • Injektionsängste können als unangenehm bis hin als irrationale Bedrohung erlebt werden • Folgen für die Diabeteseinstellung sind evident • Häufigkeit schwer einschätzbar: Phobien 3 bis 7% klinische relevante Ängste 10 – 20% • Bei Kindern und Jugendlichen oft entwicklungsbedingt Wie entstehen Injektionsängste? Erworbener (konditionierter, gelernter) Anteil Kulturell geprägter Anteil Stammesgeschichtlicher Anteil Stammesgeschichtlicher Anteil (Die Bereitschafts-Hypothese der Phobie) Die Evolution hat das Erlernen von solchen assoziativen Verknüpfungen begünstigt, die sich für das Überleben als nützlich herausgestellt haben Seligman, 1971 Kulturell vermittelter Anteil der Spritzenangst • • • • Erzählungen Darstellungen Berichte und Erfahrungen anderer Personen Symbole Kollektives Bewusstsein Erst geben wir mal was gegen den Schmerz…. Kulturelle Lerngeschichte • Die Spritze symbolisiert einerseits medizinische Hilfe und Linderung aber sie steht auch für Angst, Krankheit und Schmerzen • Besonders Kinder sind mit der Differenzierung dieser „Doppelbotschaft“ häufig überfordert Eigene Erfahrungen, Lerngeschichte und Konditionierung von Injektinsangst Lernprozesse beim Erwerb von Vermeidungsverhalten Chronifizierung von Vermeidungsreaktionen Vorstellungen über subkutane Injektionen Zusammenfassung • Determinierte Bereitschaft zum Erwerb von Injektionsangst • Kulturelle Prägung/Verstärkung von Injektionsangst • Vererbung und soziales Lernen begünstigt Injektionsangst • Konkrete Erfahrungen und traumatische Ereignisse Strukturiertes und abgestuftes Vorgehen bei Spritzenängstlichkeit: Diagnostik und Beratung • Vorgeschichte: Ausführliche Anamnese zu Spritzenangst und allgemeine Ängstlichkeit auch in der Familie • Gegenwärtiger Umgang mit Spritze/Nadel: Exploration des aktuellen Verhaltens, der Einstellung und Emotionalität • Verhaltensbeobachtung: Reaktion auf Nadel, Spritze in echt oder ggf. auf Bilder Injektions-Angst Punkte (0-100 IA) 1. Betrachten der verpackten Spritze 2. Spritze auspacken 3. Spritzstelle aussuchen 4. Schutzkappe von Nadel entfernen 5. Insulin aufziehen 6. Spritze injektionsbereit halten 7. Sich der Spritzstelle zuwenden 8. Nadel berührt Haut 9. Nadel durchdringt Haut 10.Stempel drücken 11.Nadel in Hautfalte halten 12. Nadel herausziehen IA-Punkte Physiologische Angstsymptome bei (erwarteten/vorgestellten) Injektionen, Punktionen, Katheterlegen Herzklopfen, Herzrasen oder unregelmäßiger Herzschlag Schwitzen, Zittern oder Beben Mundtrockenheit Atemnot Erstickungsgefühl, Enge im Hals Schmerzen, Druck oder Enge in der Brust Übelkeit oder Bauchbeschwerden Schwindel Ohnmachts- oder Benommenheitsgefühle Gefühle, dass Dinge unwirklich sind (wie im Traum) oder dass man „nicht mehr richtig da“ ist Angst, die Kontrolle zu verlieren, „durchzudrehen“ oder ohnmächtig zu werden Todesangst Hitzewallungen oder Kälteschauer Taubheits- oder Kribbelgefühle Wegrennimpulse Indirekte Zeichen von Injektionsangst und beginnender Nadelphobie Häufiges Vergessen oder Auslassen von Injektionen Hinauszögern der Injektionszeit Widerwilliges Wechseln der Injektionsstellen Auffällige (Lipohypertrophie) Injektionsstellen Versteckt und möglichst ohne Beobachtung spritzen Angespanntes, zwanghaftes Verhalten bei der Injektion Kein ausreichend tiefer Einstich in das subkutane Gewebe Zu schnelles herausziehen der Injektionsnadel 5-Dimensionen der Spritzenangst 1. Generelle Spritzenangst mit übermäßige Angst vor Einstich und (erwartetem) Schmerzen 2. Angst vor körperlichen Verletzungen durch die Spritze (Hautkratzer, Nadel bricht ab) 3. Angst, durch die Spritze eine ansteckende Krankheit zu bekommen oder krank zu werden 4. Angst vor der Wirkung der gespritzten Substanz 5. Kontrollverlust-Angst Fragebogen für Patienten, Angehörige Subkutane Körperfettverteilung bei Patienten untersuchen • Enorme interindividuelle Variabilität • Geschlechtsunterschiede in der subkutanen Fettverteilung • Altersunterschiede (Kinder, Jugendliche Erwachsene, ältere Menschen) • Ungünstige Anatomie der subkutanen Fettverteilung kann zu schmerzhaften Injektionen führen Zusammenfassung • Einstellung zur Injektion / Punktion erheben und verstehen • Grad der Ängstlichkeit objektivieren • Auslöser für Angstreaktionen differenzieren • Schmerzempfinden und Schmerzmanagement erfragen • Anatomisch und psychologisch optimale Injektionsstellen Auf Angstprobleme differenziert eingehen • Entspannungsübungen wie Muskelrelaxation, Autogenes Training, Imagination etc. • Verhaltenstrainings, lokale Entspannung und kognitive Desensibilisierung • Verhaltenstherapie und systematische Desensibilisierung Das 4-Phasen Prinzip der Insulininjektion unter Muskelentspannung 1 Injektion vorbereiten auf Stuhl mit Lehne sitzen Regelmäßig atmen 2 Bein strecken Fußspitze anziehen Oberschenkel anspannen 3 4 Spannung halten 5‐7 Sek. Vor Einstich einatmen Beim Einstich ausatmen Bein senken Fuß aufsetzen zügig (10‐20 Sek.) injizieren Insulininjektion unter Muskelentspannung Insulininjektion unter Thermostimulation • Kälte- bzw. Wärmekompresse auf Spritzstelle legen • Ca. 10-20 Sekunden Einwirkung • Zügig injizieren Sensorische Komponente Lokalisation, Dauer, Intensität Affektive Komponente Unangenehme Empfindungen Spritze Vegetative Komponente Blutdruckanstieg, Schweißausbruch Motorische Komponente Fluchtreflex–Muskelverspannungen Psychomotorische Komponente Mimik, Lautäußerungen Kognitiver Aspekt Betreuungsoptionen bei Injektionsängsten • Kognitive Verhaltensberatung Welche Befürchtungen hat Patient? Realistische oder überzogene Vorstellungen? • Schrittweise Desensibilisierung zunächst in sensu (in der Vorstellung) dann in vivo (konkret) • Ständige Rückmeldung keine Konfrontation keine Überrumpelung Kognitive Verhaltensberatung • Irrationale bzw. übertriebene Vorstellungen des Patienten erkennen, empathisch aufgreifen, alternative Vorstellungen präsentieren und überzeugend vermitteln Behandlungsversuche Kognitive Schmerzbewertung in der Beratung • • • • Gefahr? Schädigung? Bedeutung einschätzbar? Schmerz oder Verursachung kontrollierbar? Freiwilligkeit, Vorbereitung, Zwang? Einfach auf die Stühle im Wartezimmer stellen... Häufigkeit und Stärke der Spritzen-Angst Merkmale der Injektion Frequenz der Injektionsgabe Folgen der Injektion Strukturierung der Injektionssituation Einbeziehung Ablenkung Unterstützung bei Injektionsängsten durch Belohnung und Verstärkerpläne Welches Verhalten soll belohnt werden? Welche Verstärker als Belohnung? Kontingenz (Auftreten) der Belohnung Angstmindernde Wirkung von stress-reduzierten Injektionen (BD-10 ml Luer-Lok) randomisierte, kontrollierte Studie (Kettwich et al 2006) Signifikanter Rückgang der Spritzenangst bei Stress-reduzierten Injektionen 60 PatientenAngaben zu Herkömmliche Injektionen Stress-reduzierte Injektionen P Wert Abnahme der Punkte in % Abneigung 5.88±3.61 1.21±1.64 P<.001 79% Furcht 4.68±2.8 2.19±2.8 P<.001 53% Angst 4.54±3.68 2.21±2.84 P<.001 51% „Dekoration“ der Spritzen ist eine neurophysiologsche Intervention Auch solche Gehirnareale werden stimuliert, die nicht mit Angst assoziiert sind (Kettwich et al. 2006) Angststörung - Zwangstörung • Aus Zwang mach Ritual (Kinder) • Aus Zwang mach Ablauf (Erwachsene) Senkung der Injektionsangst • Mir hilft es, wenn ich mich vor der Spritze entspanne. Ich atme ruhig und versuche mir etwas schönes vorzustellen. Wenn ich mich entspanne, sind auch meine Muskeln entspannt und dann tut es nicht so weh. Beim Spritzen denke ich an rauschende Waldbäche, das Insulin fließt dann schneller und es dauert nicht so lange • …davon erzählen, dass die Angst da ist, Mit Hilfe entspannen (nicht die Muskeln anspannen, dann tuts weh), am besten noch einen dritten dabei haben und unterhalten. Dann dürfte es nicht mehr zu merken sein. Erschwerte Behandlung von Injektionsängsten und – Phobien bei • • • • • • • Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen Wahrnehmungsstörungen Hyperkinetischen Störungen Emotionalen Störungen Störungen sozialer Funktionen Impulskontrollstörungen Psychotischen- und Persönlichkeitsstörungen Eine Wartestunde bei Bartus Abgespielt am 22.07.09 • Also meine Uhr sagt 13.59 Uhr, noch eine Minute bis der Horrortrip beginnt (denkste). Ich kann mir denken was jetzt kommt ?! • Was nun? • Was soll ich machen? Jetzt warte ich schon eine Halbe Stunde! • Ich werde ihn mal anpiepsen lassen! Die Krankenschwester ! • Bist Du der Benedict? • Wenn ja, dann soll ich Dir ausrichten, dass Herr Bartus in weniger als 10 Minuten kommt (wenn die wüßte, der kommt frühestens in einer Halben Stunde). 34,5 Minuten später • Bartus:Ich war schon um 11.00 Uhr auf dem Weg vom Aufzug bis hierher, aber ich bin halt nicht so schnell (wer hätte das gedacht?). • Wo du jetzt gerade schoneinmal da bist, können wir ja über Dein Lieblingsthema reden. SPRITZEN • Ach wie ich mich freue ! • Jetzt kommt die Trockenübung! • Und dies war der Rest der übrigblieb! • Schade! Diabetes & Psychologie e.V. www.diabetes-psychologie.de Ätiologie der Nadel-Phobie Genetische Disposition zum vasovagalen Schock in Kombination mit konkreten, spezifischen und negativen Nadel-Erfahrungen..führt zum raschen Erlernen und Verfestigung einer aktiven Vermeidungshaltung gegenüber dem Angst-Objekt Desensibilisierung aus Patientensicht Auf Injektionsängstlichkeit einfühlsam eingehen • • • Betreuung durch Bezugsperson Ausführliches Vorgespräch mit empathischem Verständnis für die Angst Ritualisierung der Injektionsgabe und ihrer räumlich-psychischen Bedingungen Paradoxe Wirkung von Belohnung Was ist Schmerz? • Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktuellen oder potentiellen Gewebsschädigungen verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“ International Association for the Study of Pain (IASP) Zusammenfassung • Lokale Entspannungsverfahren frühzeitig einsetzen • Verstärkerpläne individuell ausarbeiten • Kognitive Überzeugungen überzeugend verändern • Desensibilisierung schrittweise vornehmen • Kreative Ansätze und Humor in der Beratung nutzen Spritzenangstmessung • Visual Analogue Aversion Scale (VAS) • Visual Analogue Fear Scale (VAFS) • Visual Analogue Anxiety Scale (VAAS) • Nadel-Phobie bei Punktwerten ≥ 5 keine Angst Sehr viel Angst Ergebnisse • Bei Patienten mit Nadel Phobie (Angstwerte ≥ 5) nahmen die Angstwerte bei Stress-reduzierten Injektionen um bis zu 81% ab • 95% der Patienten bevorzugten die Stress-reduzierte Injektionen