01 VL WS 0405 Grundlagen + Klassifikation

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Klinische Psychologie I
WS 04/05
Allgemeine Grundlagen
klinischer Psychologie
Klassifikation psychischer
Störungen
18.10.2004
Prof. Dr. Renate de Jong-Meyer
Veranstaltungsüberblick I
18.10.04
Allg. Grundlagen der klinischen Psychologie
Klassifikation psychischer Störungen
25.10.04
Allg. Aspekte klinisch-psychologischer Diagnostik
-Operationale Diagnostik
-Funktionale Bedingungsanalyse
01.11.04
Allerheiligen
08.11.04
Aufgaben, Methoden und Ergebnisse der epidemiologischen
Forschung
15.11.04
Psychobiologische Aspekte
22.11.04
Lerntheoretische und kognitive Modelle
29.11.04
Sozialpsychologische Aspekte
Veranstaltungsüberblick II
06.12.04
Emotionsregulation und motivationale Aspekte
13.12.04
Fragestellungen und Ergebnisse der Psychotherapieforschung
20.12.04
Überblick über die Psychopharmakologie
10.01.05
Psychologische Strategien I: Klärung
17.01.05
Psychologische Strategien II:
Durchbrechen von Vermeidungszyklen
24.01.05
Psychologische Strategien III:
Erwerben von Kompetenzen und Förderung von Ressourcen
01.02.05
Psychologische Strategien IV:
Veränderungen der Informationsaufnahme und -verarbeitung
Klinische Psychologie
• Klinische Psychologie ist diejenige Teildisziplin
der Psychologie, die sich mit psychischen
Störungen und den psychischen Aspekten
somatischer Störungen/ Krankheiten befasst.
• Dazu gehören u.a. die Bereiche
–
–
–
–
–
Ätiologie/ Bedingungsanalyse
Klassifikation
Diagnostik
Epidemiologie
Intervention (Prävention, Psychotherapie,
Rehabilitation, Gesundheitsversorgung, Evaluation)
Definition „Psychische Störung“
•
•
•
•
Symptome oder Symptommuster (Syndrome)
im Erleben, Denken oder Handeln einer Person,
die
von der „Norm“ abweichen
zu einer Beeinträchtigung der beruflichen
Leistungsfähigkeit und/oder sozialen
Aktivitäten/Beziehungen führen
durch ausgeprägtes Leiden durch die
Symptomatik gekennzeichnet sind
bei den Betroffenen (oder Bezugspersonen) ein
Änderungsbedürfnis hervorrufen
Hauptaufgabenbereiche der
klinischen Psychologie I
1. Die Beschreibung und Klassifikation dieser
Störungen (einschließlich der Entwicklung
diagnostischer Instrumente und
Vorgehensweisen).
2. Die Erforschung ihrer Ätiologie, d.h. ihrer
prädisponierenden, auslösenden und
aufrechterhaltenden Bedingungen (z.B. durch
experimentelle psychophysiologische
Grundlagenforschung, epidemiologische
Forschung, life-event-Forschung).
Hauptaufgabenbereiche der
klinischen Psychologie II
3. Die Entwicklung und Evaluation klinischpsychologischer Interventionsmethoden zur
a. (primären) Prävention und Beratung
b. Psychotherapie
c. Rehabilitation
Grundannahmen I
•
Die Verursachung psychischer Störungen wird
multikausal erklärt.
•
Die Entstehungsbedingungen sind von den
Aufrechterhaltungsbedingungen zu
unterscheiden.
•
Der soziale Kontext ist bei Entstehung und
Aufrechterhaltung fast immer mit zu
berücksichtigen.
Grundannahmen II
•
Normales und gestörtes Verhalten und Erleben
unterliegt weitgehend ähnlichen
Veränderungsbedingungen.
•
Übergänge zwischen normalem und gestörtem
Verhalten sind oft fließend. Die Unterschiede
bestehen z.B. in der Häufigkeit, der Intensität
oder der Situationsangemessenheit.
Konsequenzen unterschiedlicher
Normalitäts-Konzepte
•
Statistische Norm
–
•
Idealnorm
–
•
abnorm ist das Abweichende
Subjektive Norm
–
•
abnorm ist das Verwerfliche
Sozialnorm
–
•
abnorm ist das Ungewöhnliche
abnorm ist das Unpassende
Funktionale Norm
–
abnorm ist das Schädliche
Ebenen des allgemeinen Krankheitsmodells
Krankheitsfolgen
Krankenrolle und Einschränkungen
normalen Rollenverhaltens
Kranksein
Beschwerden, Symptome und Befunde
Krankheit
Pathologische Veränderungen
(Defekt) in der Person
Krankheitsursachen
Biologische, psychologische,
soziologische Ursachen
Verschiedene Krankheitsmodelle
• Medizinisches Krankheitsmodell
• (Lern-)Psychologisches Krankheitsmodell
• Sozialwissenschaftliches Störungsmodell
• Humanistisches Störungsmodell
• Differentielle Modelle
Nachbargebiete der
Klinischen Psychologie
•
Verhaltensmedizin (behavioral medicine)
•
Medizinische Psychologie
•
Klinische Neuropsychologie
•
Gesundheitspsychologie (health psychology)
•
Public Health (dt. Gesundheitswissenschaften)
•
Psychiatrie
Klassifikation
psychischer Störungen:
Prinzipien von DSM-IV und ICD-10
Historischer Rückblick
• Summerische / ägyptische Literatur
Erste Beschreibung verschiedener Störungsbilder, z.B.
Melancholie, Hysterie.
• Griechenland
Bekannte Kategorien waren z.B. Senilität, Alkoholismus, Manie,
Melancholie, Paranoia.
• Mittelalter
Klassifikation versch. Dämonen, die für das Auftreten
psychischer Krankheiten verantwortlich gemacht wurden.
• Renaissance
Aufgreifen der antiken Klassifikation.
Historischer Rückblick
• Philippe Pinel (1745-1826)
Beginn der formalen Klassifikation psychischer Störungen nach
dem Vorbild der Biologie; Unterscheidung zwischen
- Melancholie
- Manie (mit und ohne Delirium)
- Demenz
- Idiotie
• Emil Kraepelin (1856-1926)
Rückführung psychischer Störungen auf somatische Ursachen.
Klassifikation der Störungen erfolgt anhand der Symptome.
Klassifikation psychischer Störungen
• Symptomatologisch
Klassifikation erfolgt auf der Grundlage einzelner Symptome.
• Syndromatologisch
Klassifikation erfolgt anhand von Syndromen, d.h. Gruppen
gemeinsam auftretender Symptome, ohne die
Berücksichtigung von Entstehungsbedingungen.
• Nosologisch
Klassifikation erfolgt anhand der Krankheitslehre (Nosologie).
Neben der Symptomatik werden auch der Verlauf, das
Ansprechen auf Behandlungsmethoden, Ätiologie und
Pathogenese erfasst.
Kategoriale versus dimensionale Klassifikation
• Kategoriale Klassifikation
Gruppierung der interessierenden Merkmale und die Einordnung
dieser in ein System von Kategorien.
Verwendete Kriterien:
- Es muss sich um sinnvolle Gruppierungen handeln.
- Zwischen den Kategorien müssen hinreichend qualitative
Unterschiede bestehen.
- Es dürfen keine Überlappungen auftreten.
• Dimensionale Klassifikation
Störungen werden auf zu Grunde liegenden Dimensionen eingetragen;
es werden dabei v.a. quantitative Unterschiede festgehalten, da sich
qualitative Unterschiede in der Wahl der Dimension ausdrücken.
Bei einer Diagnose wird die Ausprägung des Merkmals auf einer oder
mehreren Dimensionen festgestellt.
Für und Wider die kategoriale Diagnostik
Pro
Contra
- bessere Kommunikation
durch klar definierte
Nomenklatur
- Etikettierung / Labeling
- sinnvolle
Informationsreduktion
- Verwechslung von Deskription
und Erklärung möglich
- ökonomische
Informationsvermittlung
- häufiges gemeinsames Auftreten bestimmter klinischer
Symptome
- Handlungsanleitung für das
praktische Vorgehen
- Wissensakkumulation
- Informationsverlust
- Reifikation künstlicher
Einheiten möglich
- Verschleierung zu Grunde
liegender Dimensionen
Ursachen für mangelnde Reliabilität
und Validität der DSM-III Vorläufer
• Bei den klassifizierenden Merkmalen
– Es kann zu unterschiedlichen Schilderungen der Störung
durch den Patienten kommen.
– Es kann zu tatsächlichen Veränderungen zwischen den
verschiedenen Anamnese-Zeitpunkten kommen.
• Bei den klassifizierenden Personen
– Bestätigungsdiagnostik nach schneller Hypothesenbildung
– Vernachlässigung der Komorbidität psychischer Störungen
Ursachen für mangelnde Reliabilität
und Validität der DSM-III Vorläufer
• Bei den Klassifikationssystemen
– mangelnde/fehlende Operationalisierungen der
diagnostischen Kategorien
– ungenaue Beschreibung der Dauer, Schwere und anderer
assoziierter Verhaltensmerkmale von Syndromen
– Fehlen zuverlässiger Zuordnungsregeln auf der
Syndromebene
– Auftreten von Überschneidungen bei den diagnostischen
Kriterien
– Vermischung verschiedener Klassifikationsgesichtspunkte in
unzulässiger Weise
– unsystematische Verwendung verschiedener theoretischer
Orientierungen
– fehlende Entscheidungshilfen, ab wann eine Störung vorliegt
– fehlende Anwendungsregeln für das Gesamtsystem
Ziele des DSM-III und seiner Nachfolger
1. Brauchbarkeit für Therapie und Administration unter
verschiedenen klinischen Bedingungen
2. Hinreichende Reliabilität
3. Annehmbarkeit für Praktiker und Forscher
verschiedener theoretischer Orientierungen
4. Verzicht auf unbewiesene theoretische Annahmen
5. Konsens über zuvor widersprüchlich verwendete
Begriffe
6. Verzicht auf überlebte Begriffe (z.B. Neurose)
7. Übereinstimmung mit Forschungsergebnissen zur
Validität diagnostischer Kategorien
8. Brauchbarkeit für die Kennzeichnung von Probanden in
Forschungsstudien
Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
Merkmale des DSM-III und seiner Nachfolger
1.
Deskriptiver Ansatz (weitgehend atheoretisch): Störungsdefinition
durch klinische Merkmale
2.
Darstellung klinischer Merkmale auf möglichst niedrigem Niveau von
Schlussfolgerungen
3.
Gliederung von Störungen ohne bekannte Ätiologie aufgrund
gemeinsamer klinischer Merkmale
4.
Moderne Konzept psychischer „Störungen“ (keine Diskontinuität)
5.
Klassifikation von Störungen, nicht von Individuen
6.
Einführung spezifischer inhaltlicher und zeitlicher Diagnosekriterien
(Operationalisierung)
7.
Betonung offen erfassbarer Verhaltensweisen
8.
Detaillierte und systematische Beschreibung der einzelnen
diagnostischen Kategorien
9.
Konzept multipler Diagnosen statt Störungshierarchie (Komorbidität
zugelassen)
10. Konzept der Multiaxialität
Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
Multiaxionale Klassifikation des DSM-IV
Achse I:
Klinische Störungen u. andere relevante
Probleme
Notierung aller klinischen Syndrome und Störungen
einschließlich der spezifischen
Entwicklungsstörungen
Achse II:
Persönlichkeitsstörungen u. geistige
Behinderungen
Betrachtung der langfristigen Störungen, die evtl.
von Störungen auf Achse I verdeckt werden.
Achse III:
Körperliche Störungen u. Zustände
Notierung aller bestehenden körperlichen
Störungen oder Zustände, die für das Verständnis
oder die Behandlung des Patienten/der Patientin
wichtig sind.
Multiaxiale Klassifikation des DSM-IV
Achse IV: Psychosoziale u. umgebungsbedingte
Probleme
Erfassung aller psychosozialen und Umweltprobleme,
die für die Diagnose, Behandlung und Prognose
psychischer Störungen von Bedeutung sein können.
Achse V: Globale Erfassung des Funktionsniveaus
Die soziale Anpassung soll hinsichtlich der drei
Bereiche „soziale Beziehungen“, „Leistung im Beruf“
und „Nutzung der Freizeit“ auf einem hypothetischen
Kontinuum von psychischer Gesundheit – Krankheit
eingeschätzt werden („Global Assessment of
Functioning“-Skala (GAF)).
ICD-10 & DSM-IV im Vergleich
ICD-10
DSM-IV
F 0 Organische, einschließlich
symptomatischer psychischer
Störungen
Delir; Demenz; amnestische und
andere kognitive Störungen
F 1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope
Substanzen
Störungen im Zusammenhang mit
psychotropen Substanzen
F 2 Schizophrenie, schizotype u.
wahnhafte Störungen
Schizophrenie u. andere psychotische
Störungen
F 3 Affektive Störungen
Affektive Störungen
F 4 Neurotische Belastungs- u.
somatoforme Störungen
Angststörungen; somatoforme
Störungen; dissoziative Störungen;
Anpassungsstörungen
F 5 Verhaltensauffälligkeiten mit
körperlichen Störungen u.
Faktoren
Essstörungen; Schlafstörungen;
sexuelle u. Geschlechtsidentitätsstörungen (auch F 6)
Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
ICD-10 & DSM-IV im Vergleich
ICD-10
F 6 Persönlichkeits- u. Verhaltensstörungen
DSM-IV
Persönlichkeitsstörungen,
vorgetäuschte Störungen, Störungen
der Impulskontrolle, nicht andernorts
klassifiziert
F 7 Intelligenzminderung
F 8 Entwicklungsstörungen
F 9 Verhaltens- u. emotionale
Störungen mit Beginn in der
Kindheit & Jugend
Störungen, die gewöhnlich zuerst im
Kleinkindalter, in der Kindheit oder in
der Adoleszenz diagnostiziert werden.
Psychische Störungen aufgrund eines
medizinischen Krankheitsfaktors
Andere klinisch relevante Probleme
Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
ICD-10 & DSM-IV im Vergleich
Gegenüberstellung am Beispiel der Angststörungen
ICD-10
DSM-IV
F40.00: Agoraphobie ohne Panikstörung
300.22: Agoraphobie ohne Panikstörung
F40.01: Agoraphobie mit Panikstörung
300.21: Panikstörung mit
Agoraphobie
F40.1:
Soziale Phobien
300.23: Soziale Phobien
F40.2:
Spezifische Phobien
300.29: Spezifische Phobien
F41.0:
Panikstörung
300.01: Panikstörung ohne
Agoraphobie
F41.1:
Generalisierte
Angststörung
300.02: Generalisierte
Angststörung
ICD-10 & DSM-IV im Vergleich
Gegenüberstellung am Beispiel der Angststörungen
ICD-10
DSM-IV
F40.9: Nicht näher bezeichnete
phobische Störung
F41.9: Nicht näher bezeichnete
Angststörung
300.00: Nicht näher bezeichnete
Angststörung
F42.0: Zwangsstörung
300.30: Zwangsstörung
F43.0: Akute Belastungsstörung
308.30: Akute Belastungsstörung
F43.1: Posttraumatische
Belastungsstörung
309.81: Posttraumatische
Belastungsstörung
ICD-10 & DSM-IV im Vergleich
Gegenüberstellung am Beispiel der Angststörungen
ICD-10
DSM-IV
F06.4: Angststörung aufgr.
eines medizinischen
Krankheitsfaktors
293.89: Angststörung aufgr.
eines medizinischen
Krankheitsfaktors
F1x.8: Substanzinduzierte
Angststörung
---:
Substanzinduzierte
Angststörung
Entscheidungsbäume im DSM-IV
Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
Literaturhinweise:
Margraf, J. (2000). Klassifikation psychischer Störungen. In
Margraf, J. (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie (2.
Auflage, Band 1, S. 125-144). Berlin: Springer
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