01 VL WS 0607 Grundlagen + Klassifikation Endversion

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Klinische Psychologie I
WS 2006/07
Allgemeine Grundlagen klinischer
Psychologie
Klassifikation psychischer
Störungen
24.10.2006
Prof. Dr. Renate de Jong-Meyer
Veranstaltungsüberblick I
24.10.06
Allg. Grundlagen der klinischen Psychologie
Klassifikation psychischer Störungen
31.10.06
Allg. Aspekte klinisch-psychologischer Diagnostik
-Operationale Diagnostik
-Funktionale Bedingungsanalyse
07.11.06
Gastvortrag Dr. L. Kraus
„Korrelation und Kausalität in den Erklärungen von Substanzkonsum
und Suchtverhalten“
14.11.06
Aufgaben, Methoden und Ergebnisse der epidemiologischen
Forschung
21.11.06
Psychobiologische Aspekte
28.11.06
Emotionsregulation und motivationale Aspekte
05.12.06
Lerntheoretische und kognitive Modelle
1
Veranstaltungsüberblick II
12.12.06
Sozialpsychologische Aspekte
19.12.06
Überblick über die Psychopharmakologie
09.01.07
Psychologische Strategien I: Klärung
16.01.07
Psychologische Strategien II:
Veränderung der Informationsaufnahme und –verarbeitung
23.01.07
Psychologische Strategien III:
Durchbrechen von Vermeidungszyklen
30.01.07
Psychologische Strategien IV:
Erwerben von Kompetenzen und Förderung von Ressourcen
06.02.07
Ergebnisse der Psychotherapieforschung in ausgewählten
Störungsbereichen und Empfehlungen zu evidenzbasierter
Psychotherapie
Klinische Psychologie
• Klinische Psychologie ist diejenige Teildisziplin der
Psychologie, die sich mit psychischen Störungen und
den psychischen Aspekten somatischer Störungen/
Krankheiten befasst.
• Dazu gehören u.a. die Bereiche
–
–
–
–
–
Ätiologie/ Bedingungsanalyse
Klassifikation
Diagnostik
Epidemiologie
Intervention (Prävention, Psychotherapie, Rehabilitation,
Gesundheitsversorgung, Evaluation)
2
Definition „Psychische Störung“
Symptome oder Symptommuster (Syndrome) im
Erleben, Denken oder Handeln einer Person, die
•
von der „Norm“ abweichen
•
zu einer Beeinträchtigung der beruflichen
Leistungsfähigkeit und/oder sozialen
Aktivitäten/Beziehungen führen
•
durch ausgeprägtes Leiden durch die Symptomatik
gekennzeichnet sind
•
bei den Betroffenen (oder Bezugspersonen) ein
Änderungsbedürfnis hervorrufen
Hauptaufgabenbereiche der
klinischen Psychologie I
1. Die Beschreibung und Klassifikation dieser Störungen
(einschließlich der Entwicklung diagnostischer
Instrumente und Vorgehensweisen).
2. Die Erforschung ihrer Ätiologie, d.h. ihrer
prädisponierenden, auslösenden und
aufrechterhaltenden Bedingungen (z.B. durch
experimentelle psychophysiologische
Grundlagenforschung, epidemiologische Forschung,
life-event-Forschung).
3
Hauptaufgabenbereiche der
klinischen Psychologie II
3. Die Entwicklung und Evaluation klinischpsychologischer Interventionsmethoden zur
a. (primären) Prävention und Beratung
b. Psychotherapie
c. Rehabilitation
Grundannahmen
•
Die Verursachung psychischer Störungen wird multikausal
erklärt.
•
Die Entstehungsbedingungen sind von den Aufrechterhaltungsbedingungen zu unterscheiden.
•
Der soziale Kontext ist bei Entstehung und Aufrechterhaltung fast immer mit zu berücksichtigen.
•
Normales und gestörtes Verhalten und Erleben unterliegt
weitgehend ähnlichen Veränderungsbedingungen.
•
Übergänge zwischen normalem und gestörtem Verhalten
sind oft fließend. Die Unterschiede bestehen z.B. in der
Häufigkeit, der Intensität oder der Situationsangemessenheit.
4
Konsequenzen unterschiedlicher
Normalitäts-Konzepte
•
Statistische Norm: Abnorm ist das Ungewöhnliche
•
Idealnorm: Abnorm ist das Verwerfliche
•
Sozialnorm: Abnorm ist das Abweichende
•
Subjektive Norm: Abnorm ist das Unpassende
•
Funktionale Norm: Abnorm ist das Schädliche
Ebenen des allgemeinen Krankheitsmodells
Krankheitsfolgen
Krankenrolle und Einschränkungen
normalen Rollenverhaltens
Kranksein
Beschwerden, Symptome und Befunde
Krankheit
Pathologische Veränderungen
(Defekt) in der Person
Krankheitsursachen
Biologische, psychologische,
soziologische Ursachen
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Verschiedene Krankheitsmodelle
•
Medizinisches Krankheitsmodell
•
(Lern-)Psychologisches Krankheitsmodell
•
Sozialwissenschaftliches Störungsmodell
•
Humanistisches Störungsmodell
•
Differentielle Modelle
Nachbargebiete der Klinischen Psychologie
•
Verhaltensmedizin (behavioral medicine)
•
Medizinische Psychologie
•
Klinische Neuropsychologie
•
Gesundheitspsychologie (health psychology)
•
Public Health (dt. Gesundheitswissenschaften)
•
Psychiatrie
6
Klassifikation
psychischer Störungen:
Prinzipien von DSM-IV und ICD-10
Historischer Rückblick
• Sumerische / ägyptische Literatur
Erste Beschreibung verschiedener Störungsbilder, z.B. Melancholie,
Hysterie.
• Griechenland
Bekannte Kategorien waren z.B. Senilität, Alkoholismus, Manie,
Melancholie, Paranoia.
• Mittelalter
Klassifikation versch. Dämonen, die für das Auftreten psychischer
Krankheiten verantwortlich gemacht wurden.
• Renaissance
Aufgreifen der antiken Klassifikation.
7
Historischer Rückblick
• Philippe Pinel (1745-1826)
Beginn der formalen Klassifikation psychischer Störungen nach dem
Vorbild der Biologie; Unterscheidung zwischen
- Melancholie
- Manie (mit und ohne Delirium)
- Demenz
- Idiotie
• Emil Kraepelin (1856-1926)
Rückführung psychischer Störungen auf somatische Ursachen.
Klassifikation der Störungen erfolgt anhand der Symptome.
Klassifikation psychischer Störungen
• Symptomatologisch
Klassifikation erfolgt auf der Grundlage einzelner Symptome.
• Syndromatologisch
Klassifikation erfolgt anhand von Syndromen, d.h. Gruppen gemeinsam
auftretender Symptome, ohne die Berücksichtigung von
Entstehungsbedingungen.
• Nosologisch
Klassifikation erfolgt anhand der Krankheitslehre (Nosologie). Neben der
Symptomatik werden auch der Verlauf, das Ansprechen auf
Behandlungsmethoden, Ätiologie und Pathogenese erfasst.
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Kategoriale versus dimensionale Klassifikation
• Kategoriale Klassifikation
Gruppierung der interessierenden Merkmale und die Einordnung dieser
in ein System von Kategorien.
Verwendete Kriterien:
- Es muss sich um sinnvolle Gruppierungen handeln.
- Zwischen den Kategorien müssen hinreichend qualitative
Unterschiede bestehen.
- Es dürfen keine Überlappungen auftreten.
• Dimensionale Klassifikation
Störungen werden auf zu Grunde liegenden Dimensionen eingetragen;
es werden dabei v.a. quantitative Unterschiede festgehalten, da sich
qualitative Unterschiede in der Wahl der Dimension ausdrücken.
Bei einer Diagnose wird die Ausprägung des Merkmals auf einer oder
mehreren Dimensionen festgestellt.
Für und Wider die kategoriale Diagnostik
Pro
Contra
- bessere Kommunikation
durch klar definierte
Nomenklatur
- Etikettierung / Labeling
- sinnvolle
Informationsreduktion
- Verwechslung von Deskription
und Erklärung möglich
- ökonomische
Informationsvermittlung
- häufiges gemeinsames Auftreten bestimmter klinischer
Symptome
- Informationsverlust
- Reifikation künstlicher
Einheiten möglich
- Verschleierung zu Grunde
liegender Dimensionen
- Handlungsanleitung für das
praktische Vorgehen
- Wissensakkumulation
9
Ursachen für mangelnde Reliabilität
und Validität der DSM-III Vorläufer
• Bei den klassifizierenden Merkmalen
– Es kann zu unterschiedlichen Schilderungen der Störung durch den
Patienten kommen.
– Es kann zu tatsächlichen Veränderungen zwischen den
verschiedenen Anamnese-Zeitpunkten kommen.
• Bei den klassifizierenden Personen
– Bestätigungsdiagnostik nach schneller Hypothesenbildung
– Vernachlässigung der Komorbidität psychischer Störungen
Ursachen für mangelnde Reliabilität
und Validität der DSM-III Vorläufer
• Bei den Klassifikationssystemen
– mangelnde/fehlende Operationalisierungen der diagnostischen
Kategorien
– ungenaue Beschreibung der Dauer, Schwere und anderer
assoziierter Verhaltensmerkmale von Syndromen
– Fehlen zuverlässiger Zuordnungsregeln auf der Syndromebene
– Auftreten von Überschneidungen bei den diagnostischen Kriterien
– Vermischung verschiedener Klassifikationsgesichtspunkte in
unzulässiger Weise
– unsystematische Verwendung verschiedener theoretischer
Orientierungen
– fehlende Entscheidungshilfen, ab wann eine Störung vorliegt
– fehlende Anwendungsregeln für das Gesamtsystem
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Ziele des DSM-III und seiner Nachfolger
1.
Brauchbarkeit für Therapie und Administration unter verschiedenen
klinischen Bedingungen
2.
Hinreichende Reliabilität
3.
Annehmbarkeit für Praktiker und Forscher verschiedener theoretischer
Orientierungen
4.
Verzicht auf unbewiesene theoretische Annahmen
5.
Konsens über zuvor widersprüchlich verwendete Begriffe
6.
Verzicht auf überlebte Begriffe (z.B. Neurose)
7.
Übereinstimmung mit Forschungsergebnissen zur Validität
diagnostischer Kategorien
8.
Brauchbarkeit für die Kennzeichnung von Probanden in
Forschungsstudien
Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
Merkmale des DSM-III und seiner Nachfolger
1.
Deskriptiver Ansatz (weitgehend atheoretisch): Störungsdefinition
durch klinische Merkmale
2.
Darstellung klinischer Merkmale auf möglichst niedrigem Niveau von
Schlussfolgerungen
Gliederung von Störungen ohne bekannte Ätiologie aufgrund
gemeinsamer klinischer Merkmale
Moderne Konzept psychischer „Störungen“ (keine Diskontinuität)
Klassifikation von Störungen, nicht von Individuen
Einführung spezifischer inhaltlicher und zeitlicher Diagnosekriterien
(Operationalisierung)
Betonung offen erfassbarer Verhaltensweisen
Detaillierte und systematische Beschreibung der einzelnen
diagnostischen Kategorien
Konzept multipler Diagnosen statt Störungshierarchie (Komorbidität
zugelassen)
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10. Konzept der Multiaxialität
Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
11
Multiaxionale Klassifikation des DSM-IV
Achse I:
Klinische Störungen u. andere relevante
Probleme
Notierung aller klinischen Syndrome und Störungen
einschließlich der spezifischen Entwicklungsstörungen
Achse II:
Persönlichkeitsstörungen u. geistige
Behinderungen
Betrachtung der langfristigen Störungen, die evtl. von
Störungen auf Achse I verdeckt werden.
Achse III:
Körperliche Störungen u. Zustände
Notierung aller bestehenden körperlichen Störungen oder
Zustände, die für das Verständnis oder die Behandlung
des Patienten/der Patientin wichtig sind.
Multiaxiale Klassifikation des DSM-IV
Achse IV: Psychosoziale u. umgebungsbedingte Probleme
Erfassung aller psychosozialen und Umweltprobleme, die für
die Diagnose, Behandlung und Prognose psychischer
Störungen von Bedeutung sein können.
Achse V:
Globale Erfassung des Funktionsniveaus
Die soziale Anpassung soll hinsichtlich der drei Bereiche
„soziale Beziehungen“, „Leistung im Beruf“ und „Nutzung der
Freizeit“ auf einem hypothetischen Kontinuum von
psychischer Gesundheit – Krankheit eingeschätzt werden
(„Global Assessment of Functioning“-Skala (GAF)).
12
ICD-10 & DSM-IV im Vergleich
ICD-10
DSM-IV
F 0 Organische, einschließlich
symptomatischer psychischer
Störungen
Delir; Demenz; amnestische und andere
kognitive Störungen
F 1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope
Substanzen
Störungen im Zusammenhang mit
psychotropen Substanzen
F 2 Schizophrenie, schizotype u.
wahnhafte Störungen
Schizophrenie u. andere psychotische
Störungen
F 3 Affektive Störungen
Affektive Störungen
F 4 Neurotische Belastungs - u.
somatoforme Störungen
Angststörungen; somatoforme Störungen;
dissoziative Störungen;
Anpassungsstörungen
F 5 Verhaltensauffälligkeiten mit
körperlichen Störungen u.
Faktoren
Essstörungen; Schlafstörungen; sexuelle u.
Geschlechtsidentitäts störungen (auch F 6)
Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
ICD-10 & DSM-IV im Vergleich
ICD-10
F 6 Persönlichkeits- u. Verhaltens störungen
DSM-IV
Persönlichkeitsstörungen, vorgetäuschte
Störungen, Störungen der Impulskontrolle,
nicht andernorts klassifiziert
F 7 Intelligenzminderung
F 8 Entwicklungsstörungen
F 9 Verhaltens - u. emotionale
Störungen mit Beginn in der
Kindheit & Jugend
Störungen, die gewöhnlich zuerst im
Kleinkindalter, in der Kindheit oder in der
Adoleszenz diagnostiziert werden.
Psychische Störungen aufgrund eines
medizinischen Krankheitsfaktors
Andere klinisch relevante Probleme
Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
13
ICD-10 & DSM-IV im Vergleich
Gegenüberstellung am Beispiel der Angststörungen
ICD-10
DSM-IV
F40.00: Agoraphobie ohne Panikstörung
300.22: Agoraphobie ohne Panikstörung
F40.01: Agoraphobie mit Panikstörung
300.21: Panikstörung mit Agoraphobie
F40.1:
Soziale Phobien
300.23: Soziale Phobien
F40.2:
Spezifische Phobien
300.29: Spezifische Phobien
F41.0:
Panikstörung
300.01: Panikstörung ohne
Agoraphobie
F41.1:
Generalisierte Angststörung
300.02: Generalisierte Angststörung
ICD-10 & DSM-IV im Vergleich
Gegenüberstellung am Beispiel der Angststörungen
ICD-10
F40.9:
DSM-IV
Nicht näher bezeichnete
phobische Störung
Nicht näher bezeichnete
Angststörung
300.00: Nicht näher bezeichnete
Angststörung
F42.0:
Zwangsstörung
300.30: Zwangsstörung
F43.0:
Akute Belastungsstörung
308.30: Akute Belastungsstörung
F43.1:
Posttraumatische
Belastungsstörung
309.81: Posttraumatische
Belastungsstörung
F41.9:
14
ICD-10 & DSM-IV im Vergleich
Gegenüberstellung am Beispiel der Angststörungen
ICD-10
DSM-IV
F06.4:
Angststörung aufgr. eines
medizinischen
Krankheitsfaktors
293.89: Angststörung aufgr. eines
medizinischen
Krankheitsfaktors
F1x.8:
Substanzinduzierte
Angststörung
---:
Substanzinduzierte
Angststörung
Entscheidungsbäume im DSM-IV
Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
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Literaturhinweis:
Margraf, J. (2000). Klassifikation psychischer Störungen. In J.
Margraf (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie (2.
Auflage, Band 1, S. 125-144). Berlin: Springer.
Wittchen, H.U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie und
Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Daraus die Kapitel 1 („Was ist Klinische Psychologie?“) und
2 (Diagnostische Klassifikation psychischer Störungen).
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