Früherkennung und Frühintervention schizophrener Störungen

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Früherkennung und Frühintervention
schizophrener Störungen
Martin Hambrecht1, Joachim Klosterkötter1, Heinz Häfner2
Zusammenfassung
Früher Beginn und häufige Chronizität machen
schizophrene Störungen zu Erkrankungen mit
erheblicher individueller und sozialmedizinischer Tragweite. Der Nachweis mehrjähriger
unerkannter Frühverläufe führte weltweit zu
Früherkennungs- und Frühbehandlungsinitiativen. Neben psychosenahen Prodromalsymptomen sind vom Betroffenen selbst erkennbare
Defizite in Denken und Wahrnehmen besonders psychoseprädiktiv. Durch die Kombination
von Psychopathologie und neurobiologischen
Verfahren wird eine Verbesserung der Vorhersagequalität angestrebt. Im psychosefernen
und im psychosenahen Frühverlauf sind unterschiedliche Interventionsstrategien indiziert
(Psychotherapie beziehungsweise Pharmakotherapie). Die falschpositive Zuweisung zu einer Behandlung und andere ethische Bedenken
sind den Risiken einer verzögerten Behandlung
gegenüberzustellen.
Schlüsselwörter: Schizophrenie, Krankheitsfrüherkennung, Prävention, psychische Störung, Diagnosestellung
Summary
Early Detection and Intervention of Schizophrenic Disorders
Onset early in life and high rates of chronicity
result in severe individual and economic consequences of schizophrenic disorders. The empirical evidence of the long undetected early
course of the illness triggered early detection
and early intervention activities world-wide.
Beside (pre-)psychotic prodromal symptoms
deficits of thinking and perception recognized
by the subject himself were found to be highly
predictive of psychosis. The combination of
psychopathology and neurobiological methods
is expected to improve predictive validity. Different strategies of intervention are indicated
in early and in late prodromal stages (psychotherapy and/or pharmacotherapy). False positives and other ethical concerns must be set
against the risks of delayed intervention.
Key words: schizophrenia, early diagnosis,
prevention, psychiatric disorder, diagnosis
S
chizophrene Psychosen sind mit
einer Inzidenz von 15 bis 20 Neuerkrankungen pro 100 000 Einwohner pro Jahr und mit einer Lebenszeitprävalenz von circa einem Prozent auf
den ersten Blick keine sehr häufigen
Erkrankungen. Diese Krankheitsformen werden jedoch aufgrund des frühen Ersterkrankungsalters (in der Regel 18 bis 35 Jahre) und aufgrund eines
chronischen Verlaufs bei mindestens einem Drittel der Erkrankten besonders
bedeutsam. Die „Kosten“ für Patient
und Familie sind beträchtlich: Etwa
zehn Prozent der Betroffenen suizidieren sich in den ersten Jahren der Erkrankung. Mindestens ein Drittel der
Betroffenen kann nicht für den eigenen
Unterhalt sorgen, und zwei Drittel der
betreuenden Angehörigen sind selbst
psychisch stark beeinträchtigt. Die
finanziellen Aufwendungen durch die
Solidargemeinschaft sind ebenfalls erheblich. Jährlich werden in Deutschland über drei Milliarden Euro für die
Versorgung von Menschen mit Schizophrenie aufgebracht.
Angesichts des oftmals ungünstigen,
chronischen Verlaufs der Erkrankung
und ihren gravierenden Folgen werden
zunehmend Präventionsmöglichkeiten
für schizophrene Störungen diskutiert
(11). Die Psychiatrie vollzieht damit
Entwicklungen nach, wie sie beispielsweise in der Inneren Medizin für die
Früherkennung von bösartigen Neubildungen oder den Bluthochdruck schon
vor Jahren etabliert wurden.
Möchte man Prävention planen, sollte man selbstverständlich auf den Beginn der Erkrankung blicken. Eine ausgezeichnete phänomenologische Beschreibung des Krankheitsbeginns lie-
1 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (Direktor: Prof.
Dr. med. Joachim Klosterkötter) der Universität zu Köln
2 Arbeitsgruppe Schizophrenieforschung (Leiter: Prof.
Dr. med. Dr. phil. Dres. h. c. Heinz Häfner), Zentralinstitut
für Seelische Gesundheit , Mannheim
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ferte Klaus Conrad in seiner Monographie „Die beginnende Schizophrenie“.
Aus der Untersuchung junger Soldaten
leitete Conrad ein Stadienmodell der
beginnenden Erkrankung ab. Nachdem
zunächst ein „Lampenfieber“ (Trema)
mit initialer Depressivität, Ängsten und
Schulderleben in einer Wahnstimmung
mit dem Eindruck der existenziell bedrohlichen Umweltveränderung kulminiert, schließt sich in der „Apophänie“
das wahnhafte Bewusstwerden der Bedeutung dieser Veränderungserlebnisse
an, welches schließlich in der „Apokalypse“ in psychotisches Verhalten, etwa
in Form katatoner Symptome, mündet.
Aufgrund der spezifischen Zeitumstände und der Tatsache, dass Conrad nur
Männer untersuchte, können seine Ergebnisse allerdings nicht ohne Weiteres
generalisiert werden.
Ein systematisch methodisches Vorgehen kennzeichnete die „ABC-Schizophrenie-Studie“ von Häfner und Mitarbeitern vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim (3–5).
Bei dieser umfassendsten retrospektiven Studie zum Frühverlauf schizophrener Erkrankungen wurde ein Instrument zur reliablen Erfassung des
zeitlichen Ablaufs von Beginn und
Frühverlauf der Erkrankung entwickelt
(IRAOS) und zur repräsentativen Erhebung einer großen bevölkerungsbezogenen Stichprobe erster schizophrener Episoden eingesetzt.
In Übereinstimmung mit zwischenzeitlich einem halben Dutzend weiterer
internationaler Studien zum Frühverlauf
von Schizophrenie gelang der Nachweis, dass dem ersten Behandlungskontakt unter den gegenwärtigen Versorgungsbedingungen mindestens ein Jahr
psychotische Symptome und im Mittel
fünf Jahre nichtpsychotische Prodromalsymptome vorausgehen (Grafik).
Der soziale Abstieg vieler an Schizophrenie erkrankter Patienten beginnt
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Grafik
Früher Verlauf einer schizophrenen Psychose nach der ABC-Studie. (Aus Häfner H, Gattaz WF
[eds.]: Search for the causes of schizophrenia. Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1995.
Vol. III: 53. Mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags).
nicht erst als Folge der ersten psychotischen Episode, sondern beginnt bereits
vor dem ersten psychotischen Symptom. Zum Zeitpunkt der ersten Frühsymptome unterscheiden sich schizophren Erkrankte noch nicht von gesunden Kontrollen aus der Bevölkerung.
Zum Zeitpunkt der Erstaufnahme sind
sie jedoch in den meisten sozialen Rollen deutlich zurückgefallen, haben seltener eigenes Einkommen, eine Partnerschaft, eigene Wohnung, Schul- oder
Berufsausbildung (14).
Die Dauer der unbehandelten Psychose erwies sich in mehreren Studien
als Prädiktor eines ungünstigen weiteren Verlaufs der Krankheit. Diese Korrelation erfordert eine Verkürzung der
Leidensstrecken. Ob die Verkürzung
der unbehandelten Erkrankung durch
Frühintervention nicht nur die erste
psychotische Episode mildern oder verkürzen sondern auch den weiteren Verlauf günstig beeinflussen kann, wird inzwischen in kontrollierten Studien untersucht.
Vor dem Hintergrund der hohen
sozialmedizinischen Bedeutung schizophrener Erkrankungen, ihrer langen unbehandelten Frühverlaufsstrecke
und der Assoziation der Frühverlaufsdauer mit den Folgen der Erkrankung
haben sich seit Anfang der 90er-Jahre
weltweit Zentren zur Früherkennung
und Frühbehandlung von Psychosen
etabliert.
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Diese Zentren realisieren folgende
Schritte:
> Schulung der lokalen Fachöffentlichkeit über Seminare, Newsletter und
Früherkennungsnetzwerke mit Nerven-, Psychotherapie- und Hausarztpraxen, Beratungsstellen, Ambulanzen
et cetera
> Aufklärung und Sensibilisierung
für Frühsymptome bei Risikopersonen
und deren Umgebung (Infomaterial
über die Netzwerkpartner und durch
die Medien)
> Screening-Verfahren (Checklisten
für Ratsuchende)
> Systematische Diagnostik zur Risikoabschätzung
> Frühintervention (sofern indiziert)
Früherkennung
Der Übergang in eine schizophrene
Psychose kann heute nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden: Die häufigsten Prodromalsymptome sind unspezifisch oder schon
psychosenah. Die spezifischeren Prodromalsymptome sind dagegen vergleichsweise seltener.
Als früheste Krankheitsanzeichen
erinnern schizophren Erkrankte am
häufigsten Nervosität, Depressivität,
Ängste, Energielosigkeit, Selbstzweifel,
Leistungseinbruch und sozialen Rückzug. Diese Symptomliste deckt sich
weitgehend mit den Ergebnissen einer
Repräsentativbefragung unter Studierenden in Deutschland. Dort äußerten
27 Prozent der Studierenden psychische
Probleme und dabei am häufigsten jene
Symptome, die Schizophreniekranke
als früheste Anzeichen nennen. Die ersten Symptome für eine psychotische
Entwicklung sind also häufig unspezifisch und können deshalb nicht zu einer
Vorhersage herangezogen werden.
Auch die im weitverbreiteten Diagnosemanual DSM-III-R genannten
Prodromalsymptome für Schizophrenie
(unter anderem absonderliches Verhalten, Denken oder Erscheinungsbild, abgestumpfter, verflachter oder inadäquater Affekt) besitzen eine so geringe diagnostische Spezifität und Sensitivität,
dass sie in bis zu 30 Prozent der Fälle zu
falschpositiven und in bis zu 23 Prozent
der Fälle zu falschnegativen diagnostischen Zuordnungen führen (7).
Ein alternativer Ansatz besteht darin, Zustände eines erhöhten Risikos für
den Übergang in eine Psychose zu definieren (16): Bei einer ersten Risikogruppe ist bei einem erstgradigen Angehörigen bereits eine Psychose bekannt. Familienstudien haben sehr gut
belegt, dass mit zunehmender genetischer Übereinstimmung von Familienangehörigen auch die Konkordanzrate
für Schizophrenie steigt – bei eineiigen
Zwillingen bis auf 50 Prozent. Bei anderen Verwandten ersten Grades liegen
die Konkordanzraten allerdings unter
zehn Prozent, sodass für die Feststellung eines Psychoserisikos als zusätzliche Bedingung ein deutlicher Leistungsknick zu beobachten sein muss.
Eine zweite Risikogruppe bilden
Personen mit milden psychotischen
Symptomen, beispielsweise wiederkehrende Beziehungsideen und Misstrauen
ohne Wahncharakter. Eine dritte Risikogruppe weist selbstständig remittierte psychotische Symptome von kurzer
Dauer auf, beispielsweise für wenige
Stunden akustische Halluzinationen
oder Verfolgungswahn, die aber nicht
durch Drogenkonsum hervorgerufen
wurden.
Bei diesen drei Risikogruppen kam
es in 40 Prozent der Fälle innerhalb von
sechs Monaten zum Übergang in eine
manifeste Psychose (16). Demnach lässt
sich – selbst wenn bereits sehr psycho PP
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senahe Symptome ausgewählt werden –
keine 100-prozentige Treffsicherheit erreichen.
In der ersten längerfristigen prospektiven Studie zum Frühverlauf,
dem „CER-Schizophrenie-Projekt“ (10),
wurden Patienten, die man überwiegend aus Facharztpraxen zur Abklärung eines Psychoseverdachts Universitätspolikliniken zugewiesen hatte,
durchschnittlich 9,6 Jahre nach der
initialen Erfassung der Prodromalsymptomatik nachuntersucht. Dabei stellten sich auch unter Verwendung der besonders subtil differenzierenden Basissymptomenskala (2) die 66 dort berücksichtigten Prodromalsymptome in ihrer
Gesamtheit wieder als zu unspezifisch
heraus. Bei der Auswertung auf der
Ebene der Subsyndrome und Einzelsymptome fand sich dann aber doch
eine Gruppe mit überraschend hoher
psychoseprädiktiver Treffsicherheit von
70 bis 90 Prozent. Für diese selbst erlebten kognitiven Defizite (unter anderem
Gedankeninterferenzen, Perseverieren
von Gedanken, Gedankendrängen, gestörte Diskrimination von Vorstellung
und Wahrnehmung, Störungen der
Textkasten
Untersuchungsebenen für die
Früherkennung
> Psychopathologie: bes. Basissymptome,
Verlaufsdynamik
> Familienanamnese
> Geburtskomplikationen
> Lebensereignisse, psychosoziales Umfeld,
Leistungsniveau
> Bildgebende Verfahren: Gehirnvolumetrie,
evtl. funktionelles MRT
> Neurophysiologie: zum Beispiel evozierte
Potenziale
> Neuropsychologie: Arbeitsgedächtnis,
Aufmerksamkeitsleistung
rezeptiven Sprache, Derealisationserleben, optische und akustische Wahrnehmungsstörungen) lagen auch die einzelnen Raten an falschpositiven Vorhersagen niedriger (< 10 Prozent) als für
die Prodromalsymptomatik generell
(21 Prozent). Allerdings schlossen sie
mit falschnegativen Vorhersagen zwischen 26 und 37 Prozent die spätere
Psychoseentwicklung nicht so gut aus,
wie dies der Fall war, wenn man das
Vorliegen von mindestens einem aller
66 Prodromalsymptome zur Berech PP
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nungsgrundlage machte und dann auf
nur circa ein Prozent falschnegativer
Vorhersagen kam. Außerdem waren
die hochprädiktiven kognitiven Einzelsymptome jeweils nur von knapp einem
Drittel der Patienten schon zu Beginn
der Verlaufsbeobachtung geboten worden. Alleine hierauf lässt sich also eine
breit angelegte Früherkennung nicht
stützen, sonst würden zu viele Schizophrenieentwicklungen übersehen.
Früherkennungsprogramm
Auf zwei Ebenen wird die frühe Erkennung (Diagnose) und Vorhersage der
Psychose (Stadium des Frühverlaufs)
angestrebt: mittels eines 17-Item-Screening-Instruments, der aus den Ergebnissen der Mannheimer und Kölner
Studien entwickelten „Checkliste“, und
eines 110 Items umfassenden Interviews (ERIRAOS) zur weiteren Risikoabklärung. Da die häufigsten psychopathologischen Symptome im Frühstadium aber zu unspezifisch und die
prädiktiven entweder relativ selten
oder schon sehr psychosenah sind, empfiehlt sich eine Bewertung in Kombination mit anderen Informationsquellen.
Von einer genetischen Belastung oder
von Geburtskomplikationen sind allerdings weniger als zehn Prozent der an
einer Schizophrenie Erkrankten betroffen. Auch bildgebende Verfahren (zum
Beispiel kraniales CT oder MRT) sind
für sich allein nicht ausreichend aussagekräftig.
Neurophysiologische und neuropsychologische Verfahren zeigten bei
Menschen mit manifester Schizophrenie Störungen der Informationsverarbeitung von der Reizaufnahme bis hin
zu komplexen kognitiven Leistungen.
Diese Ergebnisse führen gemeinsam
mit der Kenntnis des subjektiven Erlebens präpsychotischer Zustände betroffener Personen, die sich als „reizoffen“,
„überflutet“ oder „überstimuliert“ erleben, zum Konzept der Schizophrenie
als einer „Filterstörung“ beziehungsweise Störung der Informationsverarbeitung.
Von der Kombination mehrerer Untersuchungsebenen (Textkasten) kann
eine Optimierung der Prädiktion erwartet werden.
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Frühintervention
Die Frühintervention bei Risikopersonen stützt sich auf das VulnerabilitätsStress-Bewältigungs-Modell der Schizophrenie, nach dem aus einer Interaktion zwischen protektiven und pathogenen Faktoren Symptome schizophrener
Erkrankungen entstehen. Demnach
sollte Prävention durch die Erhöhung
der Vulnerabilitätsschwelle, durch Reduktion von Stress und Stressreaktivität
und durch den Aufbau protektiver Ressourcen möglich sein. Dafür stehen aus
der Rezidivprophylaxe schizophrener
Störungen wirksame Verfahren zur Verfügung:
> auf der biologischen Ebene: Neuroleptika, dazu gegebenenfalls Antidepressiva und Anxiolytika; Vermeidung
psychotroper Substanzen;
> auf der psychologischen Ebene:
psychoedukative und kognitiv verhaltenstherapeutische Verfahren, Stressmanagement, Problemlösetraining;
> auf der sozialen Ebene: familienbezogene Interventionen.
Verfahren der Frühintervention leiten sich im Grunde von der Rezidivprophylaxe ab. Sie sind wirksam und sollten miteinander kombiniert werden.
Allerdings hat sich auch schon bei der
Rezidivprophylaxe das Problem mangelnder Mitarbeit bei den Patienten gezeigt. Außerdem fehlen bisher Studien
zum Vergleich von Ersterkrankungen
und Rezidiven, sodass trotz der Analogie ein eigenständiger Wirkungsnachweis der Frühintervention zu fordern
ist. Frühinterventionsmaßnahmen müssen sich an die Höhe des Erkrankungsrisikos anpassen (zum Beispiel aktiveres Vorgehen bei bekannter schizophrener Erkrankung in der Familie). Sie
müssen aber auch das Stadium der Erkrankung berücksichtigen und zum
Beispiel aktiver vorgehen, wenn bereits
einmal psychotische Symptome aufgetreten sind. Sie müssen die Erwartungen, Präferenzen und aktuelle Symptome des Patienten berücksichtigen –
nicht zuletzt, um so auch dessen Mitarbeit in der Behandlung zu sichern.
Aktuell werden weltweit Frühinterventionsstrategien evaluiert. Eine australische Pilotstudie konnte die Übergangswahrscheinlichkeit in eine schizophrene Psychose durch eine Kombinati-
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on von Psycho-, Sozio- und Pharmakotherapie (atypisches Neuroleptikum in
niedriger Dosis) binnen zwölf Monaten
von 40 Prozent auf zehn Prozent reduzieren, sofern die beteiligten Patienten
alle therapeutischen Schritte konsequent anwendeten (13).
Deutsche Früherkennungszentren,
die im Kompetenznetz Schizophrenie
zusammengeschlossen sind, gehen symptomorientiert vor und formulieren eine positive Zielsetzung. So heißt das
Therapieprogramm „Selbstvertrauen
und Kontakt“, weil sich diese Themen
als zentrale und häufig wiederkehrende
Probleme prodromaler Patienten herausgestellt haben. In einem pragmatischen Vorgehen werden gemeinsam mit
dem Patienten die Module einer psychologischen Intervention ausgewählt
und Medikamente nur nach strenger Indikation gegeben.
Aus klinischen, insbesondere aber
auch aus ethischen Gesichtspunkten,
wurden zwei Stadien des Frühverlaufs
beziehungsweise zwei Risikogruppen
definiert. Für ein frühes Prodromalstadium sprechen prädiktive Basissymptome oder ein Leistungseinbruch bei vorhandenem genetischem oder perinatalem Risiko. Diese Patienten nehmen an
einer psychologischen Frühintervention teil . Für ein spätes Prodromalstadium sprechen psychosenahe Symptome,
das heißt kurzdauernde spontan remittierte oder abgeschwächte psychotische
Symptome. Davon betroffenen Patienten wird eine pharmakologische Intervention angeboten.
Das psychologische Behandlungsprogramm für das psychoseferne Stadium
(6) kombiniert Einzeltherapie, in deren
Mittelpunkt Psychoedukation und individuelle Problembereiche stehen (25
Stunden), manualisierte Kleingruppentherapie (16 Sitzungen), bei dem angenehme Aktivitäten aufgebaut und soziale
Kompetenz- und Problemlösefertigkeiten trainiert werden sowie ein kognitives
Training am Computer (16 Sitzungen)
und Familienberatung (3 Sitzungen). Bei
psychosenahen Patienten kommen niedrig dosierte atypische Neuroleptika zum
Einsatz. Wichtig ist, nicht nur die positiven Wirkungen auf die Symptomatik und
den präventiven Effekt, sondern auch die
möglichen Nebenwirkungen der Substanzen zu beachten.
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Resümee
Die Aussichten für präventive Maßnahmen sind günstig. Hierfür spricht das
lange Prodromalstadium schizophrener
Erkrankungen, in dem ausreichend Zeit
für eine Intervention bleibt. Außerdem
lässt die Kombination von Untersuchungsebenen erwarten, dass sich die
Vorhersagequalität verbessern wird.
Ferner ist aus der Rezidivprophylaxe
bekannt, welche Verfahren effektiv und
wie anzuwenden sind (pharmakologisch, psychologisch, sozial). Nicht zuletzt müsste das Interesse bei Öffentlichkeit und Kostenträgern hoch sein,
wenn man erwartet, dass durch effektive
Prävention die erheblichen gesellschaftlichen Belastungen durch dieses Krankheitsbild gemindert werden können.
Allerdings stellen sich eine Reihe von
ethischen Fragen bei der Früherkennung
einer gegenwärtig noch vorurteilsbeladenen und im Einzelfall gravierenden
Erkrankung wie einer schizophrenen
Psychose. Häufig werden Fragen nach
der Stigmatisierung durch Früherkennungsmaßnahmen gestellt oder es wird
das Problem aufgeworfen, dass man
durch eine frühzeitige Diagnostik die
Betroffenen erst zu Patienten mache.
Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die
gegenwärtigen Prädiktionsinstrumente
noch immer eine Reihe falschpositiver
Vorhersagen liefern und dass die eingesetzten Therapieformen, insbesondere
Medikamente, unerwünschte Nebenwirkungen haben könnten, die den positiven Effekt der Behandlung gegebenenfalls ins Negative umkehren.
In der Diskussion ethischer Implikationen ist allerdings auch darauf hinzuweisen, dass Patienten und Angehörige
die Hilfe eines Früherkennungszentrums selbst aufsuchen, da sie unter einem hohen Leidensdruck stehen beziehungsweise tatsächlich schwerwiegende
und belastende Symptome haben. Bei
Diagnostik, Aufklärung und Therapie
wird ein adäquater, ruhiger Rahmen geschaffen, in dem gegenwärtig aufgrund
der Finanzierung durch Forschungsmittel auch genügend Zeit für Gespräche
bleibt. Die Behandlungsvorschläge werden immer auf die individuellen Beschwerden zugeschnitten. Im Vordergrund stehen übende, supportive psychologische Interventionen, die letztlich
auch dann günstig wirken, wenn in der
Folge keine Psychose auftritt. Medikamente werden nur nach strenger Indikationsstellung gegeben, wobei grundsätzlich atypische Neuroleptika in niedriger
Dosierung eingesetzt werden, die in
aller Regel vergleichsweise nebenwirkungsarm sind und insbesondere keine
gefährlichen oder subjektiv belastenden
Begleiterscheinungen aufweisen.
Fazit für die Praxis
Diese ethischen Bedenken mahnen zur
Vorsicht. Eine differenzierte Früherkennungsdiagnostik wird spezialisierten
Zentren vorbehalten bleiben. Hausärzte, Pädiater und andere Nicht-Psychiater
sollten immer dann hellhörig werden,
wenn Jugendliche und junge Erwachsene sich unerwartet und ohne erkennbare
Ursache zurückziehen oder einen Leistungseinbruch erleiden. Auffällig sind
in jedem Fall Klagen über bis dahin unbekannte Denk- und Konzentrationsstörungen ohne äußeren Anlass. Besteht
zudem eine positive Familienanamnese,
sollten nicht erst psychotische Symptome abgewartet werden, bevor eine Zuweisung zum Facharzt erfolgt. Andererseits sollte dessen Diagnostik nicht
schon vorher durch voreilige Gabe von
Neuroleptika erschwert werden.
Diese Publikation wurde im Rahmen des Kompetenznetzes Schizophrenie mit Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung erstellt (Kennzeichen:
01 GI 993x). Die ABC-Schizophrenie-Studie wurde durch
die Deutsche Forschungsgemeinschaft seit 1987 im
SFB 258 und wird seither im Einzelverfahren gefördert.
Die CER-Schizophrenie-Studie wurde vom Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT)
von 1989–1990, von der Norwegischen Saugstad Foundation von 1993–1995 und durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft von 1995–1995 gefördert.
Manuskript eingereicht: 12. 2. 2002, revidierte Fassung
angenommen: 19. 6. 2002
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 2936–2940 [Heft 44]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr.med. Dr.phil. Martin Hambrecht
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Evang. Krankenhaus Elisabethenstift gGmbH
Landgraf-Georg-Straße 100, 64287 Darmstadt
E-Mail:
[email protected]
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