Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Schizophrene Störungen bei Kindern und Jugendlichen Basiswissen 28.1.2016 Prof. Dr. Michael Kölch Schizophrenie: Langzeitverlauf Komplette Remission: Schübe mit Remission: Schübe, inkompl. Rem.: Chronisch-progredient: 10% 10% 15% 25% 32% 12% 30% 10% 5% 10% 5% 6% 24% Zeit (nach Ciompi et al. 1987) Symptomlevel Outcome von schizophrenen Störungen im Jugendalter n = 96, Alter ∅ 16 J., nach > 10 Jahren 83% weitere stationäre Aufnahme 74% aktuell psychiatrisch behandelt 57% sozial erheblich eingeschränkt 75% finanziell abhängig (Blanz et al., 2004) Fazit • Schwere psychische Erkrankung mit starken Auswirkungen auf das psychosoziale Funktionsniveau • Besonderheiten für Behandlung und Verlauf im Jugendalter Teil I: Geschichte Schizophrenie: Geschichte Bedeutung des Begriffs: schizo altgr. spalten phrenos altgr. Zwerchfell Gespaltener Verstand, gespaltenes Zwerchfell Altbekannt Kulturell unterschiedliche Zuschreibung: Besessenheit, Teufel, verhext Wahnsinn Irresein Schizophrenie: Geschichte Ab 18. Jahrhundert: Schizophrenie medizinisches Territorium Asylierung, gesundheytspolizeiliche Beaufsichtigung Klassische psychiatrische Erkrankung, die das Bild der Psychiatrie ausmachte: – lebenslang, – gemeingefährlich, – blöde, – besessen, – unheilbar etc. Erste Therapieversuche im 19 Jhdt.: z.B. Arbeitstherapie, „Hornscher Wassersack“ Ende 19./Beginn 20 Jhdts.: Aufstieg der Psychiatrie zur „Wissenschaft“ Kraepelin: 1899 „Dementia praecox“ vs. manisch-depressives Irresein Bleuler: 1911 Schizophrenie mit Grund- und akzessorischen Symptomen – Assoziationsstörung – Affektivitätsstörung – Ambivalenz (Gefühle) – Autismus Kurt Schneider (30iger Jahre 20.Jhdt.) Symptome 1. Rangs – Gedankenlautwerden, -beeinflußung, -ausbreitung – Leibliche Beeinflussungserlebnisse – Stimmenhören dialogisch – Wahnwahrnehmung Symptome 2. Rangs – Wahneinfall – Erlebte Gefühlsverarmung – Sonstige Sinnestäuschungen Teil II: Symptome und Klassifikation Symptome schizophrener Störungen Denkstörungen Affekte Halluzinationen Wahn Kernsymptome – grundlegende und charakteristische Störungen von Denken – Wahrnehmung – inadäquate oder verflachte Affekte Symptomatik: Einteilung Plus-Minus-Symptomatik und Typologie (Andreasen und Crow) Plus - Wahn - Halluzination - Denkstörungen Minus - Verarmung des Affekts - des Antriebs - des Denkens - der Sprache - Denkhemmungen - Sozialer Rückzug Typ I: akut, vornehmlich Plussymptome, spätes Auftreten Typ II: schleichend, vornehmlich Minussymptomatik, frühes Auftreten ICD-10: F2 F 20.0 Paranoide Schizophrenie F 20.1 Hebephrene F 20.2 Katatone F 20.3 Undifferenzierte Schizophrenes Residuum Schizophrenia simplex Schizotype Störung F21 F22.0 Wahnhafte Störung F23.0 Akute polymorphe psychotische Störung ohne Symptome einer Schizophrenie Weitere Schizoaffektive Störungen Affektive Psychose mit psychotischen Symptomen DSM-5 Neuerungen • Wahnstörung • Brief Psychotic Disorder (1- weniger als 31 Tage) • Schizophreniform Disorder (wie schizophrenic jedoch kürzer als 6 Monate) • Schizophrena – mind. 2 der Symptome müssen präsent sein (davon mind. 1 aus dem Bereich Wahn, Halluzination, desorganisierte Sprache/Inkohärenz) – keine Subtypen mehr • Katatonie (marked by motor immobility and stupor): “Specifier for schizophrenia and other psychotic conditions such as schizoaffective disorder. This specifier can also be used in other disorder areas such as bipolar disorders and major depressive disorder.” Beginn der Schizophrenie Alter in Jahren AS (adult schizophrenia) > 18 EOS (early onset schizophrenia) ≤ 18 VEOS (very early onset schizophrenia) ≤ 13 Häufigkeit Lebenszeitprävalenz (Regier et al., 1993) 1% EOS (Gillberg, 2001) 0,23% Transkulturell stabiles Phänomen Erkrankungsrisiko bei erkrankter Verwandschaft: – ein Elternteil ca 13% – Beide Eltern ca 46% – Digote Zwillinge ca 17% – Monogote Zwillinge ca 48% Teil III: Ätiologie und neurobiologische Faktoren Ursachen: historische Thesen Dopaminstoffwechsel? Vulnerabilitäts-Streß-Modell? Virusinfektion in der Schwangerschaft? Morphologische Anomalien: – Verminderung graue Substanz – Ventrikelräume erweitert, – Hippocampusvolumen ↓, – Temporallappen ↓ Konnektivitätsveränderungen Phospholipidveränderungen aber: hohes Risiko bei konkordanten Zwillingen und direkten Abkömmlingen: Vulnerabilitäts-Stress-Modell nur eingeschränkt für Pathogenese tauglich, wichtig aber für Therapie und Rückfallprophylaxe Das Three-Hit Modell • „Critical windows of vulnerability“ • Integriert verschiedene Modelle: – Prä-/perinatale Auffälligkeiten, Entwicklungsstörung (Weinberger) (Thompson und Levitt 2010) – Auffälligkeiten in Adoleszenz, gestörtes Pruning (Feinberg) (Paus et al. 2008) – neurodegenerative Prozesse („Dementia praecox“, Kraepelin) (Reichenberg 2010) (nach Keshavan 1999) Psychosoziale Risikofaktoren für schizophrene Psychose Großstadtumfeld (v. Os, 2005) Ethnische Minorität (Cantor-Graae & Selben, 2005) Kindliche Traumatisierung (Read et al., 2005) Canabis-Konsum (Henquet et al.,2005) ... gelten auch für subklinische Psychose! v. Os et al.,2010 Evidence for vulnerable subgroups and gene–environment interaction using proxy measures of genetic risk. JV Os et al. Nature 468, 203-212 (2010) Substanzabusus und Schizophrenie: aktueller Wissensstand – Können substanzinduzierte psychotische Störungen im Erkrankungsverlauf in Schizophrenien übergehen? – Wird die Exazerbation von Schizophrenien durch Substanzmissbrauch begünstigt (Vulnerabilitätsmodell)? Wissensstand Trotz vieler Studien keine eindeutige Antwort (Hambricht & Häfner 1996, Newman & Miller 1992, Poole & Brabbins 1996, Thornicroft 1990) Evident ist nur: – Ersterkrankungsalter Störungen schizophrener Formenkreis durch Substanzkonsum (Cannabis) signifikant herabgesetzt (Thomasius 2007) – Länger anhaltender Cannabiskonsum, insbesondere zwischen dem 14. und 19. Lebensjahr könnte eine eigenständige ätiologische Rolle in der Pathognese der Schizophrenie zukommen. (Arseneault et al. 2004) Substanzmissbrauch verschlechtert den Verlauf hinsichtlich • der Psychopathologie, • der kognitiven Funktionen, • der sozialen Integration, • der Rückfallwahrscheinlichkeit • und der Compliance Teil IV: Früherkennung Prodromalphase Bei ca. 75% der Betroffenen etwa 5-6 Jahre vor Erstmanifestation Erlebnisveränderungen und Verhaltensauffälligkeiten Die langfristigen sozialen Behinderungen manifestieren sich in der Prodromalphase (Jones et al. 1993; Häfner, 1995) Der in der Adoleszenz eintretende Verlust sozialer Fähigkeiten ist ein guter Verlaufs-Prädiktor (Haas und Sweeney, 1992; Häfner, 1995) Sogenannte Übergangsreihen (nach Klosterkötter) Stadium 1: Unspezifische Symptome – Schlafstörungen, Minderung der psychischen Belastbarkeit gegenüber Stressoren, erhöhte Beeindruckbarkeit durch alltägliche Ereignisse Stadium 2: Charakteristische Symptome – Gedankenblockade, Metamorphopsia, Wahrnehmungsveränderung am eigenen Gesicht, motorische Interferenz, etc. Stadium 3: Irritation – Depersonalisation, Störung der Diskriminierung von Vorstellungen und Wahrnehmungen, etc. Stadium 4: Psychose – Halluzinationen, Wahn, etc. Ultra High-Risk Kriterien in Studien (z.B. EPPIC-Studie, McGorry et al, 2002, Arch Gen Psychiat) UHR-Kriterien: • Attenuierte psychotische Symptome (z. B. Beziehungsideen, paranoide Ideen, bizarre Gedanken, schizotype Symptome) • Kurze intermittierende psychotische Symptome (BLIPS: brief limited intermittend psychotic symptoms; z. B. Halluzinationen, Wahnideen kürzer als 1 Woche) • Psychose oder schizotype Persönlichkeit bei erstgradigen Verwandten + Leistungsknick seit 1 Monat Verzögerter Behandlungsbeginn korreliert mit ► verzögerter und unvollständiger Remission der Symptomatik (Johnstone et al. 1986; Loebel et al. 1992; Birchwood & McMillan 1993; Mc Gorry et al. 1996; Loebel et al. 1996) ► längerer stationärer Behandlungsbedürftigkeit und höherem Rückfallrisiko (Helgason 1990) ► geringerer Compliance, höherer Belastung der Familie und höherem “Expressed Emotion”-Niveau (Stirling et al. 1991) ► einem erhöhten Depressions- und Suizidrisiko ► größerer Belastung der Arbeits- und Ausbildungssituation ► erhöhtem Substanzmissbrauch und delinquentem Verhalten ► deutlich höheren Behandlungskosten (McGorry & Edwards 1997) Erkrankungsalter und DUP Epidemiologische Kohorte von 663 ersterkrankten Patienten Median in Wochen 30 26,4 25 20 17,4 15 10 8,6 5 0 Adult-onset (≥ 19 Jahre; 22.9 Jahre) Adolescent-onset (≤ 18 Jahre; 16.9 Jahre) Early-onset (≤ 17 Jahre; 16.1 Jahre) (Schimmelmann, Lambert et al. Schizophrenia Research 2007) Übergangsraten bei UHR Kriterien It has been suggested that some symptoms may be more transient in early adolescence, whereas they may represent more stable risk markers when observed in adults (Gee & Cannon, 2011) Ultra High Risk: Indikation für präventive Pharmakotherapie? • EPPIC-Studie Melbourne • n = 59, Alter 14-30 J. • Kognitiv-behaviorale Therapie + Risperidon • Übergangsraten nach Kontrollen Intervention • PRIME-Studie • n = 60, Alter ∅ 18 Jahre • Olanzapin vs. Plazebo • keine signifikanten Unterschiede der Übergangsrate 6 Mo 36% 10% 12 Mo 36% 19% n. s. (McGorry et al, 2002, Arch Gen Psychiat McGlashan (2006) Am. J. Psychiat.) Fazit für die Klinik: Prodromale Symptome bei Erstmanifestationen • Störung von Konzentration und Aufmerksamkeit • Störung von Antrieb und Motivation • Schlafstörung • Angst • Sozialer Rückzug • Misstrauen • Leistungsknick in Schule/Beruf • Irritabilität Wichtig ist bei diesen Symptomen an die Möglichkeit der Schizophrenie zu denken und die Patienten weiterzubetreuen! (Yung und McGorry 1996, Resch et. al. 1998) „Klassische“ DD im Kindes- und Jugendalter Autismus Geistige Behinderung Zwangsstörungen Depressive Störungen mit akzessorischem Wahn Organisch bedingte Psychosen Drogeninduzierte Psychose Teil V Behandlung Behandlung Die (Erst-)Behandlung bei Vorliegen der Kriterien ist vorrangig medikamentös Alternativen sind historisch bekannt: - Zwangsbehandlungen mit Gewalt ohne Besserung des Zustandsbilds - Chronische Erkrankung mit Dauerasylierung Erst die Einführung der Neuroleptika in den 50iger Jahren des 20.Jhdts. erbrachte einen Fortschritt in der Therapie der schizophrenen Psychosen Langzeitbehandlung: Psychotherapeutisch/Soziotherapeutisch/Jugendhilfe Stratifizierung und Ziele der Behandlung • akut • Postakut • Langzeit Medikamentös: Medikamentös: Medikamentös: – Sedierung – Reizreduktion und ggfs. Abschirmung – Entängstigung – Rasche Besserung der kognitiven Funktionen – Besserung der Wahnsymptomatik – Steigerung der kognitiven Fähigkeiten und der Ausdauer/Konzentration Psychotherapeutisch – Rhythmisierung – Krankheitsverständnis Psychotherapeutisch – Depressive Symptomatik – Elternarbeit – Elternarbeit Soziotherapeutisch – Erlernen alltagstypischer Fertigkeiten, Hygiene – Aktivierung – Ausdaueraufbau Schule – Reintegration in Lernumfeld – Rückfallprophylaxe Psychotherapeutisch – Adherence – Erkennen von Risiko und Resilienzfaktoren – Umgang mit der Erkrankung und möglichen Defiziten Soziotherapeutisch – Ggfs. weiterhin Aktivierung Schule – Ggfs. Sonderbeschulung/ praktische Berufsbildung Medikamentöse Therapie: Antipsychotika/Neuroleptika Einteilung: Konventionelle Neuroleptika oder first generation antipsychotics Hochpotente NL: Haloperidol – Gegen wahnhafte Symptomatik und Denkstörungen Niedrigpotente NL: Chlorprothixen – initial sedierend Atypische Neuroleptika oder second generation antipsychotics: Olanzapin, Risperidon, Ziprasidon, Quetiapin, Aripiprazol etc. Akutbehandlung zusätzlich: Benzodiazepine Rationale für die Auswahl einer Substanz? • Wirksamkeit • Verträglichkeit und Nebenwirkungen • Monotherapeutische Option First generation antipsychotics (FGA) Haloperidol etc. Wirksamkeit ++ aber: Verträglichkeit und NW-Profil: Typische schwere NW: ExtraPyramidaleStörungen – Rigor, Tremor, Steifigkeit, Zugen-Schlundkrämpfe, Faszillieren, Akathisie – Extrem quälend für Patienten – Spätdyskinesien: irreversibel – Prolaktin ▲ Ansonsten: Kreislauf, GI-Trakt (Obstipation), Müdigkeit SG NL: – Gewichtszunahme – Kreislauf – Metabolisches Syndrom /Diabetes Second generation antipsychotics (SGA) Olanzapin, Risperidon, Quetiapin, Ziprasidon etc. Verträglichkeit und NW-Profil: + bis – (im Vergleich zu FGA) aber: Wirksamkeit Ø /+ Typische schwere NW: – Gewichtszunahme – Kreislauf – Metabolisches Syndrom /Diabetes – EPS Sonderfall Aripiprazol: „dritte“ Generation Zulassung für Minderjährige Name Indikation Alter in Jahren Aripiprazol Schizophrenie 15 Clozapin Schizophrenie 16 Sulpirid Schizophrenie 6 Haloperidol Schizophrenie 3 Medikamentöse Therapie Probleme: Mangelnde Krankheitseinsicht Medikamente mit hohem NW-Potential Generell schlechte Compliance/Adherence Gefahr des Absetzens durch Patienten Erneute Phase, späte medizinische Inanspruchnahme Lösungsversuch: Depotpräparate Therapie: Sozio- und Psychotherapie Psychoedukation: Erklärung der Erkrankung, der Symptome, Risikoanzeichen, auch um bei weiterem Schub frühzeitig Psychiater aufzusuchen Angehörige: Krankheitsverständnis, Schuldgefühle, Früherkennung von Symptomen Therapiegrundsatz: „Soviel Forderung wie möglich, soviel Schonung wie nötig“ Ergotherapie: Belastungserhöhung, Konzentration, Ausdauer Soziotherapie: Reintegration, Reha, EU-Berentung Psychotherapie der Schizophrenie Beziehungsaufbau, Beziehungskontinuität individuelle supportive Maßnahmen, stützende, ressourcenorientierte Psychotherapie psychoedukative Familienintervention Familienkonflikt Familientherapie Desorganisation Aufmerksamkeitsstörung produktive Symptome Minussymptome soziale Isolation Reorganisation Alltagsbewältigung symptomorientierte Intervention affektiv-kognitives Trainingsprogramm soziales Training Zusammenfassung ‼ schwere psychiatrische Erkrankung mit qualitativer Veränderung des Erlebens, Denkens und Fühlens, sowie der Konzentration und des Antriebs ‼ Symptomatik beginnt oft schleichend und uneindeutig in der Zuordenbarkeit ‼ „at risk“-Patienten besonders gefährdet ‼ Früherkennung für DUP wichtig, aber bisher nicht optimiert ‼ Medikamentöse Therapie die Grundlage für Besserung • SGA: derzeit Goldstandard in der Therapie, aber dennoch schwere NW möglich • FGA: EPS und Spätdyskinesien als NW ‼ Sorgfältiges Monitoring der Therapie notwendig ‼ Weitere Therapieelemente: • Kognitives Training • Psychoedukation • Soziotherapie ‼ Rezidivprophylaxe über mehrere Jahre, uU lebenslang Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Vielen Dank für die Aufmerksamkeit [email protected] -45-