Der Eiweiß-macht-schlank

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E R NÄH R U N G S M E D IZ I N - K R ITISC H B ETR AC HTET
Der Eiweiß-macht-schlank-Irrtum
Proteine sind oligodynamisch.
Eiweiß macht schlank. Solche
und ähnliche Dogmen prägen
nachhaltig die öffentliche Meinung, auch jene von Fachleuten. Fragen wir nach den historischen Wurzeln dieser Zitate, finden wir uns in den 30iger und 40-iger Jahren des
vorigen Jahrhunderts wieder.
In einer Periode also, in der
die kalorisch-substantielle Ernährung für große Bevölkerungskreise existentielle Bedeutung hatte. Gelten diese
Prämissen heute noch?
Wohl eher nicht, wie folgender Artikel zeigen soll.
WIR ESSEN MEHR EIWEIß,
ALS UNS GUT TUT
Nahrungsproteine bestehen aus 22 unterschiedlichen Aminosäuren. Acht davon sind
essentiell, zwei gelten als semiessentiell. Die
restlichen zwölf Aminosäuren kann unser Körper (vorwiegend über Transaminierungen von
Fettsäuren) autark produzieren. Je nach Anteil
an den (semi)essentiellen Aminosäuren unterscheiden wir höher- und minderwertige Nahrungsproteine. Unser Eiweiß-Tagesbedarf liegt
bei etwa 0,8 -1 Gramm pro Kilogramm SollKörpergewicht. Somit bräuchten wir durchschnittlich etwa 60 bis 80 Gramm täglich. Tatsächlich hat sich der tägliche Proteinverbrauch
seit den 1960er Jahren sukzessive nach oben bewegt, sodass wir aktuell im Durchschnitt bereits
um 50% mehr Eiweiss konsumieren, als wir benötigten.
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MAG. NORBERT FUCHS
Diese Entwicklung zeigt an, wohin unsere Proteinreise geht: in einen Zustand der permanenten Proteinüberforderung. Welchen Einfluss auf
unsere Gesundheit hat nun diese Eiweiß-Überlastung?
PROTEINÜBERSCHUSS ERHÖHT DAS
RISIKO FÜR APOPLEX UND
HERZINFARKT
Der deutsche Internist und Ernährungsmediziner Prof. Dr. Lothar Wendt/Uniklinik Frankfurt
beschrieb bereits in den 1970-er Jahren den erhöhten Proteinkonsum als massiv unterschätzten Risikofaktor für die Entwicklung von Apoplex, Angina pectoris und Herzinfarkt. Die Begründung: überhöhter Eiweißkonsum erhöht
den Eiweißgehalt des Blutes (labordiagnostisch
erkennbar an hohen Hämatokrit-Werten) und
reduziert in der Folge die Fließfähigkeit des Blutes. Wendt beschrieb sehr schlüssig, wie im Laufe der Nachkriegs-Jahrzehnte die erhobenen
„Normwerte“ des Hämatokrites sukzessive nach
oben korrigiert wurden. Mittlerweile haben wir
uns auf Durchschnitts-Hämatokritwerte von bis
zu 50 % hinaufgegessen. Ebenso schlüssig begründete Wendt, dass Frauen aufgrund ihrer
menstruell bedingt niedrigeren HämatokritDurchschnittswerte entsprechend seltener
Schlaganfälle und Infarkte erlitten. Frauen aber
ziehen auch in der Apoplex- und Infarkt-Statistik überproportional schnell nach. Die Zukunft
wird uns die statistische Begründung für dieses
Phänomen liefern: den zunehmend freiwilligen
Verzicht auf natürlichen, biologischen Aderlass
(Menstruation) durch zeitgemäße Kontrazeption.
pen haben nicht nur die Eigenschaft, Wasser
und (vorübergehend) Stoffwechselsäuren zu
binden. Die Kohlenhydrat-Fraktionen des Bindegewebes bilden auch submikroskopische Tunnelstrukturen, die es Vitaminen und Spurenelementen erleichtern, in das Innere der Körperzellen (z.B. Muskulatur, Myokard) zu gelangen.
Proteinen (die ja aus OH-freien AminosäureKetten bestehen) fehlen diese Eigenschaften
völlig. Weiß man um die biochemische Rolle
von Vitaminen und Spurenelementen in der
intrazellulären Verwertung von Nahrungskalorien, so werden uns auch die fatalen Folgen einer Bindegewebs-Kompaktierung durch Eiweißüberforderung klar: Proteinüberschüsse
„verkleben“ das zellumgebende Gewebe. Sie behindern in der Folge die zelluläre Mikronährstoffzufuhr und provozieren damit einen Anstieg von Blutzucker, Harnsäure und Blutlipiden
(Metabolisches Syndrom).
PROTEINÜBERSCHUSS
PROVOZIERT RHEUMATISCHE ERKRANKUNGEN UND OSTEOPOROSE
Wird die alimentäre Protein-Überforderung auf
Dauer nicht eingestellt, entwickeln sich die
interstitiellen Proteinnetze zu regionalen Proteinklumpen, sogenannten Amyloiden, weiter.
Diese Amyloidbildung kann sich regional sehr
schmerzhaft als Bindegewebsrheuma oder gar
als Vorstufe von Sarkoidosen äußern. Diese
substantielle Überlastung mit Aminosäuren betrifft aber nicht nur das faserige Bindegewebe.
Sie belastet auch die basischen Pufferkapazitä-
ten der interstitiellen Flüssigkeit, die das Bindegewebe umströmt. Der Mangel an basischen
OH-Gruppen im Gewebe führt somit auf Dauer auch zu schmerzhaften Knorpel- und Knochenkorrosionen, zu Gelenksbeschwerden und
Osteoporose.
MODERATER EIWEISSKONSUM
ALS IMPULS FÜR METABOLISCHE
BALANCE
So essentiell eine ausreichende Proteinversorgung für unsere Gesundheit ist, so fatal wirkt sich
unkontrollierte Eiweisszufuhr auf unseren Stoffwechsel aus. Nicht nur Fleischgerichte, Fisch,
Hülsenfrüchte und Milchprodukte enthalten
hohe Anteile an Aminosäuren. Immer mehr Formuladiäten, Sportler- und Light-Produkte sind
reich an Proteinen und tragen damit zur zunehmend unkontrollierten Eiweisszufuhr bei. Die
Überforderung unseres Organismus mit alimentären „sauren Valenzen“ aber legt die pathophysiologische Basis für Koronare Herzkrankheit,
Hypertonie, Apoplex, Diabetes, Metabolisches
Syndrom sowie Knochen- und Gelenkserkrankungen. Ein Hinweis auf diese Zusammenhänge
im Beratungsgespräch würde dazu beitragen, unsere PatientInnen zur aktiven Mithilfe in der Behandlung ihrer Wohlstandserkrankungen zu animieren.
MAG. NORBERT FUCHS
MAG. NORBERT FUCHS
PROTEINÜBERSCHUSS PROVOZIERT
DIABETES UND METABOLISCHES
SYNDROM
Norbert Fuchs, Jahrgang 1955, studierte in Graz Pharmazie.
Seit 1990 beschäftigt sich der Autor vorwiegend mit angewandter Biochemie und ernährungsmedizinischer Forschung.
Norbert Fuchs ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der
Nährstoff-Akademie Salzburg, Autor zahlreicher Fachpublikationen und Fachbücher sowie Referent ernährungsmedizinischer Themen.
Unkontrollierter Eiweißkonsum bildet sich auf
Dauer in einem entsprechend überproportionalen Eiweißgehalt des interstitiellen Gewebes ab.
Der Proteinanteil des Bindegewebes steigt also
auf Kosten des Kohlenhydrat-Anteiles. Ein
Blick auf die Biochemie von Proteinen und
Kohlenhydraten zeigt, dass letztere eine Unzahl
von OH-Gruppen aufweisen. Diese OH-Grup-
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In der vorliegenden Themenreihe „Ernährungsmedizin – kritisch betrachtet“ versucht der Autor, Themen aus der Apothekenpraxis aus ernährungsmedizinischer Sicht kritisch und
unkonventionell zu hinterfragen.
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