Biodiversität von Kulturpflanzen

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ProSpecieRara Deutschland
Biodiversität von Kulturpflanzen
Über die Entstehung und heutige Bedeutung
der Kulturpflanzenvielfalt
Einführung in die Biodiversität von Kulturpflanzen
Inhalt:
Einführung in die Biodiversität von Kulturpflanzen
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Ursprung und Entwicklung der Kulturpflanzen
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Herkunft und Geschichte unserer Kulturpflanzen
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Kurze Geschichte der Kulturpflanzenvielfalt in Mitteleuropa
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Verlust der Vielfalt – Bedeutung der Agrobiodiversität heute
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Urbane Gärten und die Nutzung der Kulturpflanzenvielfalt
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Impressum
Herausgeber:
ProSpecieRara Deutschland, gemeinnützige GmbH
Kaiser-Joseph-Str. 250, 79098 Freiburg, Tel. 07 61 59 3 9 00 07
E-Mail: [email protected] | Internet: www.prospecierara.de
Text: Jörgen Beckmann
Gestaltung: Dieter Reinke
Entstehungsjahr: 2014
Die Biologische Vielfalt bei Kulturpflanzen, als ein Teil der sog. Agrobiodiversität, ist das Ergebnis einer langjährigen Entwicklung bei der unter dem steten Einfluss des Menschen aus Wildpflanzen Kulturpflanzen entstanden. Grundsätzlich gilt: alle heutigen Kulturpflanzen stammen
von wilden Ursprungsarten ab. Seit der Erfindung des Ackerbaus waren es Bauern und Bäuerinnen, die ihr Saatgut verbesserten, pflegten und mit ihren Nachbarn tauschten. Der Zeitraum der
Entstehung von Kulturpflanzen war von 8.000 bis 2.000 v. Chr. , seitdem ist das Saatgut. ein
steter Begleiter des Menschen gewesen. Der Mensch und die Kulturpflanzen haben eine lange
gemeinsame Geschichte der Entwicklung. Über tausende Generationen hinweg veränderten sich
die Sorten und passten sich immer wieder neu an veränderte Umwelten und Anbaubedingungen
an. Das Saatgut von Kulturpflanzen stellt ein kulturelles Erbe von unschätzbarem Wert dar.
Biodiversität übersetzt als die „Vielfalt des Lebendigen“ umfasst im Agrarbereich die gesamte
Vielfalt der genutzten Lebensformen: Agrobiodiversität reicht von der Zucht über die Haltung
oder den Anbau.; es beinhaltet die Vielfalt von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen in der
Verarbeitung und Vermarktung, die die Grundlagen unserer Ernährung bilden.
Der Verlust der Vielfalt
Mit der Einführung von Hochleistungssorten im 20. Jahrhundert ging ein enormer Anteil des
vorhandenen Genmaterials innerhalb weniger Jahrzehnte verloren, weil die alten Landsorten
nicht mehr angebaut wurden und in Vergessenheit geraten sind. Der Verlust ehemals wirtschaftlich bedeutender Sorten wird auch als Generosion bezeichnet. Qualifizierte Schätzungen der
Verluste an traditionellen Landsorten im praktischen Anbau, wie z.B. der WHO, liegen bei 90%
für Industriestaaten wie Deutschland. Besonders betroffen sind einjährige landwirtschaftliche
Kulturpflanzen. Obstarten und -sorten stellen dagegen eine der wenigen Ausnahmen dar, deren
Verluste relativ gering blieben.
Der Verlust von Biodiversität wurde in den 1980er Jahren international intensiv diskutiert und
fand 1992 schließlich Eingang in die Verhandlungen der Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio (UNCED). Mit der dort unterzeichneten Konvention über die biologische Vielfalt
(CBD) wurde die Nutzung der biologischen Vielfalt erstmalig als globales Problemfeld konstituiert. Biologische Vielfalt umfasst hiernach die Vielfalt der Gene, die Vielfalt der Arten und die
Vielfalt der Ökosysteme.
Eine Ursache für diesen Verlust der biologischen Vielfalt bei Kulturpflanzen liegt in der weltweit agierenden Züchtungsindustrie, die heute weitgehend den Saatgut-Markt bestimmt. In
aufwendigen biotechnologischen Verfahren werden seit den 1950er Jahren sog. HochleistungsAgrobiodiversität:
Unter Agrobiodiversität versteht man die Vielfalt der durch den Menschen genutzten
und nutzbaren Lebewesen: der Kultur- und Forstpflanzen einschließlich ihrer Wild-formen, der Nutztiere, der nutzbaren Wildtiere, der Fische und anderer aquatischer Lebewesen sowie der für die Lebensmitteltechnologie nutzbaren Mikroorganismen.
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wurde kompensiert durch immer raffiniertere Verarbeitungsschritte, welche eine falsche
Vielfalt an Farben, Formen und Geschmäckern kreieren. Dass der Verlust an genetischer
Vielfalt auf den Äckern und bei den Tieren auch etwas mit Fehlernährung und Übergewicht
zu tun haben könnte, ist eine nicht von der Hand zu weisende Hypothese.“ Urs Niggli,
Agrarökologe (2010)
sorten gezüchtet. Die Hybridzüchtung entwickelte sich als geeignetes Verfahren um Ertrag und
Homogenität bei den Kulturpflanzen zu steigern. Hybride entstehen aus der Kreuzung künstlich
erzeugter Inzuchtlinien. Kreuzt man zwei reinerbige Elternlinien, entstehen in der nächsten Generation sog. Hybride. Diese Sorten weisen einheitliche Formen, große Früchte und hohe Erträge
auf und bieten im Hinblick auf Anbau- und Ernteverhalten Vorteile durch z.B. gleiche Halmhöhe
oder Reifezeit.
Zwar ist der Nachbau von Hybridsaatgut möglich, aber wegen des Verlustes der besonderen
produktiven Eigenschaften sowie der stattfindenden Aufspaltung in unterschiedliche Pflanzentypen von meist kleiner Gestalt ökonomisch uninteressant. Heute beherrschen die Hybrid-Sorten, deren Ertragspotenzial weit über dem von traditionellen Sorten liegt, den weltweiten Saatgut-Markt. Die Samen von Hybridsorten sehen rein äußerlich genauso aus wie diejenigen von
samenfesten Sorten. Samenfeste Kulturpflanzen können Jahr für Jahr nachgebaut und weiterentwickelt werden. Sie tragen mit ihrem Entwicklungspotenzial zur Erhöhung der Biodiversität bei.
Hybridsorten dagegen sind Endprodukte einer Züchtungstechnik, welche die Pflanze aus dem
Evolutionsstrom herausnimmt und ihre Entwicklungsfähigkeit unterbindet. Die Ausbreitung der
Hybridsorten führt folglich zu einem weiteren Verlust der biologischen Vielfalt der Kultursorten.
Die wesentliche Ursache für den Verlust der Biologischen Vielfalt bei Nutzpflanzen liegt jedoch
in den großen Veränderungen in der europäischen Landwirtschaft im 20. Jahrhundert, hierbei
spielt die Industrialisierung verbunden mit einer starken Rationalisierung der Produktion eine entscheidende Rolle. Heute werden Sorten angebaut, die nicht länger an die Anbauregion bzw. den
Standort angepasst sind, was nur durch den Einsatz von Chemikalien in Form von Düngern und
Pflanzenschutzmitteln möglich ist. Die Landwirtschaft ist so zum Hauptverursacher des Artenund Sortensterbens geworden. Dabei wird neben der Pestizid- und Nitratbelastung von Boden
und Grundwasser auch die Landschaftszerstörung durch Flächenintensivierung (Flurbereinigung,
Umwandlung von Grün- in Ackerland) als Grund genannt.
Ein weiterer Aspekt der Biodiversität betrifft den Rückgang der genetischen Vielfalt bei den
Getreide- und Gemüsearten. Im Verlauf der Geschichte haben die Menschen ungefähr 7000
Pflanzenarten kultiviert. Davon sind heute noch 120 für die Landwirtschaft von Bedeutung, aber
nur 30 Arten liefern weltweit 95 % aller unserer Lebensmittel. Diese Konzentration der Agrarproduktion auf wenige Kulturen betrifft bei Getreide: Weizen, Mais, Gerste, Roggen, Hafer, Reis
und bei Gemüse: Kartoffeln, Soja, Tomaten, Bohnen, Süßkartoffeln. Durch diese Konzentration
auf nur wenige Arten werden die Bedingungen für eine Rationalisierung der landwirtschaftlichen
Produktion gefördert.
„Die industrialisierte Landwirtschaft, die Verarbeitungsindustrie und der Handel haben diese genetische Vielfalt drastisch reduziert. Dieser Verlust an Vielfalt auf den Äckern
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Die heute dominierende Form der Landwirtschaft passt sich immer mehr den Gesetzen und
der Logik der industriellen Produktion an; deren Fähigkeit und Bereitschaft mit Diversität umzugehen, sie zu nutzen und so am Leben zu erhalten, ist stark eingeschränkt. Die marktwirtschaftlichen Zwänge und die Nachfrage nach großen Mengen homogener und preisgünstiger Rohstoffe
in gleichbleibender Qualität führen zu einer Konzentration auf die einträglichsten landwirtschaftlichen Produkte und zu einer Standardisierung von Produkten und Produktionsverfahren – und
damit unmittelbar zu einem weiteren Verlust der Agrobiodiversität.
Die Bedeutung der Vielfalt von Kulturpflanzen
Die Bedeutung der biologischen Vielfalt bei Nutzpflanzen besteht in der Anpassungsfähigkeit
an verschiedene geographische, klimatische, aber auch wirtschaftliche und kulturelle Bedingungen. Schon heute verursacht der Verlust von Agrobiodiversität konkrete Probleme und birgt weitere Risiken für die Zukunft. Durch diese Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen, stellt Agrobiodiversität eine der Grundlagen der Welternährungssicherheit dar. Für viele
Das Potential der Vielfalt wird noch nicht ausgeschöpft
Weltweit gibt es über
350.000 Pflanzenarten
› Über 50.000 davon sind
essbar, etwa 7000 davon
werden angebaut oder
gesammelt.
Nur 30 davon stellen
95 % der Nahrungs­
energie dar.
› Den größten Teil über­
nehmen die Getreide
› Weizen, Mais und Reis
alleine 60%.
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Menschen, vor allem in kleinbäuerlichen Strukturen, bildet sie neben dem Zugang zu Wasser und
fruchtbarem Boden daher die Existenzgrundlage.
„Agrargenetische Ressourcen sind von fundamentaler Bedeutung für unsere Anpassungsfähigkeit an Klimaveränderung – das heißt, sie sind ein Schlüssel zur Problembewältigung. Pflanzen und Tiere, die bisher keinen ökonomischen Nutzen brachten, jedoch
besser mit Umweltveränderungen zurecht kommen, werden an Bedeutung gewinnen.
...Nur die Fähigkeit einer Pflanze mit Umweltveränderungen wie Hitze, Trockenheit oder
Bodenversalzung zurechtzukommen, erlaubt es uns, die Folgen von Umweltveränderungen
zu bewältigen. Diese Fähigkeit ist Ausdruck genetischer Vielfalt.” Johannes Kotschi, Agrarwissenschaftler (2007)
Ursprung und Entwicklung der Kulturpflanzen
Als vor mehr als zehntausend Jahren unsere Vorfahren vom Jäger- und Sammlerleben zum sesshaften Dasein übergingen, begannen sie neben der Haltung und Pflege von Haustieren auch damit, wildwachsende Pflanzen für Nahrungszwecke auszuwählen und anzubauen. Die Menschen
entdeckten das Geheimnis der Vermehrung der Pflanzen von einer Generation auf die nächste
durch den Samen. Durch Auswahl der jeweils geeignetsten Pflanzen erreichte man eine stetige
Verbesserung der Nahrungseigenschaften, sowie eine allmähliche Anpassung an den jeweiligen
Standort mit seinen besonderen Boden- und Klimaverhältnissen.
Neben den sich immer mehr von der Wildform unterscheidenden neuen Varianten der entstehenden Kulturpflanzen existierten aber die ursprünglichen Formen weiter. Sie haben sich in
ihrer Urform bis heute unverändert erhalten. Trotz des zeitlichen Abstands von Jahrtausenden
haben Wild- und Kulturform eine enge genetische Verwandtschaft bewahrt und sind nach wie
vor miteinander kreuzungsfähig.
mestikation („an das Haus anpassen“) bezeichnet. Ein wesentliches Merkmal der Kulturpflanzen
ist, dass sie nach bestimmten Anbauverfahren vom Menschen gepflegt und kultiviert werden,
d.h. in Kultur genommen wurden. Das Besondere an den Kulturpflanzen ist aber nicht alleine die
Kultivierung, weil auch Wildpflanzen kultiviert werden - beispielsweise Heilkräuter wie Johanneskraut, Salbei usw.. Das Besondere an den Kulturpflanzen ist, dass der Mensch bei der Vermehrung dieser Pflanzen drastisch eingreift. Für den zukünftigen Anbau wählt er gezielt Saatgut von
Pflanzen aus, die nach seinen Vorstellungen beschaffen sind, dagegen werden andere Pflanzen
nicht weitervermehrt.
Durch den Prozess der Selektion und Züchtung entstehen Kulturpflanzen, die sich in den äußeren Merkmalen deutlich von den mit ihnen verwandten Wildpflanzen unterscheiden. Je nach der
Vorherrschaft an Wildpflanzen in den jeweiligen Regionen unterschied sich das Arten- und Sortenspektrum der von den Bauern bearbeiteten Kulturen von Anfang an mehr oder weniger stark.
Beginn von Ackerbau und Viehzucht: die Neolitische Revolution
Der Übergang vom Wildbeutertum zu Pflanzenanbau und Viehhaltung markiert den Beginn
der Jungsteinzeit, dem so genannten Neolithikum. Im Vorderen Orient begannen vor mehr als
12.000 Jahren viele Nomaden sesshaft zu werden und läuteten damit eine kulturgeschichtliche
Wende ein, die auch als Neolithische Revolution bezeichnet wird. Die menschliche Lebensweise
veränderte sich radikal: sie lebten fortan als Bauern in Familiengehöften, zähmten wilde Tiere
und veredelten Wildpflanzen. Mit der Erwärmung am Ende der letzten Eiszeit nahmen die Niederschläge rasch zu. Die zunehmende Feuchtigkeit veränderte die Vegetation und so gediehen
anspruchsvollere Wildgetreide und Hülsenfrüchte. Bereits in diesem Zeitraum entstanden unter
dem Einfluss des Menschen aus Wildpflanzen erste Kulturpflanzen, wie z.B. Einkorn und Emmer.
Auch Wildformen von Gerste und Roggen sowie von Erbse, Linse, Wicke sind im Vorderen Orient
beheimatet.
Nicht nur in den Steppenlandschaften des Nahen Ostens, im sog. „fruchtbaren Halbmond“,
sondern auch in Mittel- und Südamerika sowie in anderen Gebieten der Erde begannen die
Menschen vor etwa 12.000 Jahren bestimmte Pflanzen systematisch anzubauen. Den Menschen
Was unterscheidet eine Wildpflanze von einer Kulturpflanze?
Während Wildpflanzen das Ergebnis andauernder evolutionärer Anpassungen der Pflanzen an die wechselnden Umweltbedingungen sind, haben sich die Kulturpflanzen unter dem
Einfluss des Menschen durch Auslese und Anbau unter verschiedenen Standortbedingungen
entwickelt. Das Faszinierende an der Evolution der Kulturpflanzen liegt in der erdgeschichtlich
kurzen Zeit, in der diese stattgefunden hat - sie begann „erst” vor rund 10.000 Jahren mit der
Entwicklung des Ackerbaus. Vergleicht man hierzu die riesigen Zeiträume, in der die biologische
Evolution der Pflanzen stattfand, so sind die Einflüsse des Menschen auf die Entwicklung von
Kulturpflanzen in einem relativ kleinen Zeitfenster viel gravierender.
Diese Veränderungen der Wildpflanzen und die Entwicklung zu Kulturpflanzen wird als Do-
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Vielfalt bei Weizen: Einkorn und Emmer sowie Weizen-Hochleistungssorte
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gelang es damals die Wuchsleistungen der in Kultur genommenen Arten aufgrund der besseren
Pflege und Wachstums-bedingungen zu steigern.
Über den Prozess der Inkulturnahme von Wildpflanzen gibt es nur Vermutungen und Hypothesen darüber, über welches Wissen die Menschen in der vorchristlichen Zeit verfügten, um die
Selektionen vornehmen zu können. Bewusst oder unbewusst veränderte der Mensch Wildpflanzen so, dass sie für ihn nützlicher wurden.
„Es darf nicht übersehen werden, dass der Sprung von der Wildform zu primitivsten
Kulturforum ein sehr großer ist. Hier klafft in den meisten Fällen eine Lücke, während der
Übergang der primitiven Kulturform zu ihren höchsten Gliedern ein schrittweiser ist.“ E.
Schiemann, Kulturpflanzenforscherin (1881 - 1972)
Neue Eigenschaften von Kulturpflanzen
Wir gehen heute davon aus, dass die vielfältigen Landsorten durch das Jahrtausende alte Prinzip der Auslese sowie durch unterschiedliche Bewirtschaftungsformen und –methoden entstanden, die optimal an ihren Standort und die dort herrschenden Umweltbedingungen angepasst waren. Damit die neuen Spielformen der Pflanzen dauerhaft erhalten bleiben, müssen bzw. mussten
sie sich unter den gegebenen Lebensbedingungen durchsetzen können – sonst sterben sie bald
wieder ab oder können sich nicht ausreichend vermehren.
Bei der Ausbildung neuer Eigenschaften spielt der Mensch die entscheidende Rolle, er wählte
unter den „Neulingen“ aus, baute diese gezielt an, pflegte und vermehrte sie. Unter diesen neuen Formen waren vermutlich jene Veränderungen besonders interessant, die für Wildpflanzen
ungünstig sind. In dem der Mensch für die ohne Pflege nicht überlebensfähigen Pflanzen eine
Nische schuf, hat er die Vielfalt an neuen Formen beträchtlich erhöht.
Welche Merkmale kennzeichnen Kulturpflanzen? Für viele Kulturarten ist der Verlust von
Verbreitungseinrichtungen ihrer Samen charakteristisch, denn dadurch lassen sich die Samen rationeller und ohne Verluste ernten. Hier nun einige Beispiele für neu angezüchtete Eigenschaften:
• Ährenspindel: Bei Wildweizen und Wildgersten zerbricht bei der Reife die Ährenspindel, die einzelnen Ährchen mit den Samen fallen zu Boden und werden so verbreitet.
Im Verlauf der Kulturwerdung sind Pflanzen entstanden deren Ähren intakt bleiben.
• Von Wassermelone und Kürbis oder auch bei der Mandel wurden Pflanzen in Kultur
genommen, deren Früchte ihre Bitterkeit verloren hatten - wobei die Bitterkeit in der
Natur eben dazu dient, die Früchte vor dem vorzeitigen Gefressenwerden zu bewahren.
• Kulturpflanzen bei denen der Mensch an großen Speicherorganen interessiert ist,
wie bei den Rüben und den Wurzeln der Karotte. Die kleinen, farblosen Wurzeln der
Wild-Karotte haben nur wenig Ähnlichkeit mit den Wurzeln von Kultur-Karotten.
Ursprungszentren
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Abb: Genzentren der Kulturpflanzen, (aus: Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter e.V. )
Übersicht (Nr.): Die aus den Genzentren stammenden Kulturpflanzen
Abb. Wild-Einkorn (li) und Kultur-Einkorn (re)
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1. Nordamerika: Sonnenblume, Teparybohne, Erdbeere
2. Mittelamerika: Mais, Tomate, Sievabohne, Feuerbohne, Baumwolle, Avocado, Papaya,
Maniok, Süßkartoffel, gewöhnliche Bohne
3. Hochland von Südamerika: Kartoffel, Erdnuss, Limabohne, gewöhnliche Bohne, Baumwolle
4. Niederung von Südamerika: Yamswurzel, Ananas, Maniok, Süßkartoffel, Baumwolle,
Tomate, Tabak, Kakao, Gummi, Paprika, Chinarinde
5. Europa: Hafer, Zuckerrübe, Kohl, Weinrebe, Olive, Gräser, Klee, Hopfen, Salat, Lupine,
Senf
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6. A
frika: Afrikanischer Reis, Sorghum, Hirse, Yamswurzel, Wassermelone, Kuherbse,
Kaffee, Gräser, Weizen, Gerste, Ölpalme, Rizinus.
7. N
aher Osten: Weizen, Gerste, Zwiebel, Erbse, Linse, Kichererbse, Feige, Dattel, Lein,
Birne, Granatapfel, Weinrebe, Olive, Apfel
8. Z
entralasien: Hirse, Buchweizen, Luzerne, Hanf, Kolbenhirse, Weinrebe,
Trockenbohne, Möhre
9. Indien: Erbse, Aubergine, Baumwolle, Sesam, Zuckerrohr, Mango
10. China: Sojabohne, Kohl, Zwiebel, Pfirsich, Kolbenhirse
11. Südostasien: Reis, Banane, Zitrusfrüchte, Yamswurzel, Taro, Tee, Gewürze
12. Südpazifik: Zuckerrohr, Kokosnuss, Brotfruchtbaum
Genzentren nach Vavilov
In mehreren Gebieten der Erde sind Wildpflanzen zu finden, die als Vorläufer unserer Kulturpflanzen gelten und es gibt Regionen, in denen die Vielfalt einzelner Kulturpflanzen besonders
hoch ist. Der Russe Nikolai Iwanowitsch Vavilov (1887 – 1943) war ein bedeutender Biologe,
der die Theorie von den geografischen Entstehungszentren der Kulturpflanzen begründete. Auf
seinen zahlreichen Forschungsreisen von 1920 ­1940 machte Vavilov in aller Welt geographische Studien zum Aufkommen der Kulturpflanzen und ihrer Entstehungsformen. Dabei fand er
heraus, dass bestimmte geographische Regionen durch eine außerordentliche Mannigfaltigkeit
gerade solcher Arten gekennzeichnet sind, die als Wildformen von Kulturpflanzen anzusehen
sind. Diese Regionen bezeichnete Vavilov als Genzentren bzw. Mannigfaltigkeitszentren.
Auffällig an der Lage der Gentzenren auf der Erde ist, dass sie alle sich mehr in den wärmeren
Regionen der Erde befinden, dort wo die klimatischen Bedingungen für das Pflanzenwachstum
günstiger sind. Er später haben sich diese Kulturpflanzen mehr oder weniger über die ganze Erde
ausgebreitet.
Herkunft und Geschichte unserer Kulturpflanzen
Der größte Teil der heute bedeutenden Kulturpflanzen wurden ursprünglich in anderen Gebieten der Erde domestiziert als sie heute genutzt werden. D.h., die in den jeweiligen Ursprungsländern entwickelten Kulturpflanzen verblieben nicht ausschließlich dort. Eine Voraussetzung
für die Verbreitung von Kulturpflanzen ist, dass diese für ihre neuen Anbaugebiete geeignet sind,
außerdem entwickelten sich im neuen Anbaugebiet oft neue und für diesen Standort besser
geeignete Typen. Es geschah immer wieder, dass der Mensch absichtlich oder unabsichtlich Kulturpflanzen in neue Gebiete brachte und dabei geographische Barrieren überschritt, wie z.B.
Meere oder Gebirge. Dadurch konnten sich plötzlich zuvor isolierte Formen oder Arten kreuzen
und neue Pflanzentypen entstehen.
Archäologische Funde erlauben in vielen Fällen Rückschlüsse auf den Zeitpunkt der Inkulturnahme von Wildpflanzen. Einkorn wurde nachweislich bereits 7.600 v. Chr. im Ursprungsgebiet
von Euphrat und Tigris kultiviert (im heutigen Irak). Einkorn und Emmer zählen neben Gerste zu
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den ältesten Getreidearten, deren Ursprungsgebiete im Vordere Orient liegen. Hervorzuheben ist
die Rolle des Saatguts in den damaligen Kulturen, denn es hatte stets einen hohen Stellenwert als
Kulturgut, u.a. wurde das Saatgut zur Beigabe in den Gräbern verwendet.
Viele Kulturpflanzen entstanden, indem der Mensch direkt Wildpflanzen in Kultur nahm. Manche Kulturpflanzen nahmen indes einen „Umweg”: Sie waren zuerst Unkräuter in Kulturpflanzenbeständen und wurden erst später selbst zu Kulturpflanzen. Sie werden daher als sekundäre
Kulturpflanzen bezeichnet, ein Beispiel hierfür ist der Roggen: Der Roggen war im südwestlichen Asien ein häufiges Unkraut in Gersten- und Weizenfeldern. In Regionen, die klimatisch für
Gerste und Weizen nicht mehr so günstig sind, war der Unkrautroggen diesen Kulturgetreiden
überlegen und auch in besonders kalten, besonders nassen oder trockenen Jahren konnte er sich
stärker durchsetzen, so dass er einen Großteil des Feldbestandes ausmachte. Schließlich wurde
der Roggen auch selbst gezielt als Getreide angebaut.
Seit es Menschen gibt, gehören neben dem Getreide die Gemüsepflanzen zur lebenswichtigen
Nahrung. Jäger und Sammler suchten von jeher wildwachsende Kräuter und Wurzeln als geschätzte Kost. Zur gleichen Zeit wie die ersten Getreidearten waren auch vorher wild gesammelte
Hülsenfrüchte wie Erbsen, Linsen und Kichererbsen zu Kulturpflanzen domestiziert worden.
Hülsenfrüchte sind proteinreich und ergänzen das Stärke haltige Getreide daher für die Ernährung sehr günstig.
Die Geschichte vieler heutiger Gemüsearten reicht bis weit in die Vergangenheit. Bereits in
der Jungsteinzeit (4500 bis 1800 v. Chr.) finden sich erste Spuren von Möhre, Petersilie, Gurke,
Feldsalat, Pastinake, Erbse, Linse und Kohlrabi. Die ursprünglich wild wachsenden Pflanzen kultivierte man als Nahrungs- und Heilmittel zunächst in Gärten, später auch auf dem Feld.
In der Zeit nach Christi Geburt dehnten die Römer ihr Reich auf Mitteleuropa aus. Sie brachten
Kulturpflanzen des Mittelmeerraums wie Zwiebel, Salat und verschiedene Gewürze mit nach
Mitteleuropa. Auch Walnüsse, Wein und mehrere Obstarten verdanken wir den Römern. Trotz
der immer größeren Kulturpflanzenvielfalt dürfen wir nicht vergessen, dass in der Ernährung
der Menschen schon damals Milch und Milchprodukte (Butter und Käse) eine wichtige Rolle
spielten.
Viele der noch heute verwendeten und angebauten Nutzpflanzen sind durch bewußte Zuchtwahl durch den Menschen in ihrer heutigen Form entstanden, die sich in wesentlichen Merkmalen von ihren Stammformen unterscheiden. Ein anschauliches Beispiel hierfür sind die Kopfkohl-Sorten. Zwar wurde der Wildkohl (Brassica oleracea) bereits im alten Rom verzehrt, doch
treten die Kopfkohl-Sorten erst im 12. Jahrhundert und der Wirsing sogar erst im 16. Jahrhundert
auf. Auch die anderen Fruchtformen wie Blumenkohl, Rosenkohl oder Brokkoli unterscheiden
sich in erheblichem Maße von ihrem Vorläufer. Der Rosenkohl wurde erstmals 1821 beschrieben,
nachdem er in der Gegend um Brüssel gezüchtet worden war.
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Übersicht:
Herkunft der in Deutschland zum Anbau geeigneten Gemüsearten
Erbse Östliches Mittelmeergebiet, Vorderasien
Linse Vorderasien
Ackerbohne
Afghanistan und Mittelasien
Karotte
Afghanistan, Pakistan + Mittelmeerraum
Gurken Indien
Mangold
Mittelmeergebiet und Vorderasien
Kohl Vorderasien
PastinakenMittelmeerraum
Grüne Bohnen Süd- und Mittelamerika
Kürbis
Süd- und Mittelamerika
Tomate
Süd- und Mittelamerika, Karibik
Kartoffel
Süd- und Mittelamerika
Winterzwiebel Sibirien, Ostasien
ZichorieMittelmeerraum
„Seit dem Neolithikum werden Sorten und Rassen entwickelt, die den geografischen
und klimatischen Bedingungen der jeweiligen Regionen entsprechen, ebenso wie den Konsumgewohnheiten und Austauschformen. Dieses Gewebe aus den Naturvorgaben, dem Geschmack, der Sprache, den religiösen Vorstellungen, den Ritualen, der Ästhetik, dem Geben und Nehmen, das wir Kultur nennen, ist die Grundlage der Biodiversität. Das, was wir
bislang menschheitsgeschichtlich unter Vielfalt der Arten, Sorten und Rassen verstehen,
ist an die Geschichte ihres Werdeprozesses gebunden, an diesen unglaublich vielfältigen,
kulturell unterschiedlich vermittelten Austauschprozess von Mensch und Natur.“ Veronika
Bennholdt-Thomsen, Ethnologin (2005)
Kurze Geschichte der Kulturpflanzenvielfalt
in Mitteleuropa
Vor- und Frühgeschichte
In der Jungsteinzeit (ca. 4500 bis 1800 v. Chr.) waren den Funden zufolge bei uns in
Mitteleuropa Emmer, Einkorn und Gerste die wichtigsten Getreidearten.
Seltener wurde Nacktweizen und Rispenhirse kultiviert. Als Eiweißlieferanten standen Erbse
und Linse zu Verfügung, unter den Ölfrüchten wurde Lein, vereinzelt Schlafmohn kultiviert,
Rübsen und Leindotter wurden aus Wildsammlung genutzt.
In der Bronzezeit (ca. 1800 – 800 v. Chr.) kamen Ackerbohne und Dinkel als neue Kulturpflanzen hinzu. Roggen und Hafer (Flug- und Saathafer) wurde als Unkraut eingeschleppt und
entwickelte sich in weiterer Folge zur Kulturpflanze.
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Römerzeit
Die Römische Kaiserzeit (ca. 0 – 400 n. Chr.) brachte eine große Anzahl von neuen Gartenpflanzen nach Mitteleuropa: Amarant, Mangold und Rote Rübe, Portulak, Gartenmelde, (Blatt)
Sellerie, Römischer Sauerampfer, Melone; weiter Färbepflanzen (Färber-Resede) und schließlich
der Saathafer.
Aus der Zeit der Völkerwanderung (ca. 400-600 n. Chr.) existieren nur wenige archäologische
Funde. Ebenso wenig gibt es schriftliche Aufzeichnungen, die Auskünfte über die Veränderungen
im Kulturartenspektrum geben.
Mittelalter
Früh- und Hochmittelalter (ca. 800 – 1300): Die wichtigsten Quellen über den Gartenbau
im Hochmittelalter sind die Hofgüterordnung „Capitulare de villis“ von Karl dem Großen aus
dem Jahre 812, der Klosterplan von St. Gallen (zwischen 816 und 830) und das Gartengedicht
„Hortulus“ des Abt Walahfried Strabo (nach 842). In allen drei Dokumenten ist der Einfluss der
antiken Schriftsteller, die Landwirtschaft und Gartenbau behandelten, klar erkennbar. Es ist daher
umstritten, inwieweit die Dokumente von der Praxis zeugen und die genannten Pflanzen tatsächlich alle bekannt waren und kultiviert wurden.
Da besonders in der Schrift Walahfried Strabos eigene Erfahrungen erkennbar sind, darf man
annehmen, dass diese mittelalterlichen Quellen zumindest teilweise von der damaligen Gartenkultur und den verwendeten Pflanzen zeugen. Dazu zählen neben den bereits eingeführten
Kulturarten Kohl, Karotten, Pastinak, Kohlrabi, Zwiebel, Knoblauch, Lauch, Rettich, Salat,
Endivie, Melonen, Augenbohne, sowie Kräuter wie Schnittlauch, Petersilie, Kerbel, Bohnenkraut, Dill, Kümmel, Koriander, Thymian, Minze, Fenchel, Kresse, Senf und Anis. Roggen wird
im Mittelalter zu einer Hauptgetreideart, Krapp wird als Färbepflanze eingeführt, auch Spinat und
Spargel werden bereits, jedoch selten, kultiviert.
Im Hoch- und Spätmittelalter (ca. 1300 – 1500) kommen Buchweizen und Gemüseampfer als
neue Kulturarten hinzu. In dieser Zeit war die Speiserübe – damals war immer von Rüben die
Rede - ein wichtiges Nahrungsmittel, bis sie von der Kartoffel verdrängt wurde.
Frühe Neuzeit (ca. 1500 – 1600)
Das Zeitalter der Entdeckungen brachte viele neue und wichtige Kulturarten durch die Eroberung Amerikas und den einsetzenden regen Handel. Aus Amerika: Mais, Bohnen der Gattung
Phaseolus, Kürbisarten, Tomate, Kartoffel, Erdbeerspinat, Paprika, Sonnenblume. Sowohl die Tomate als auch die Kartoffel waren zunächst nur Kuriositäten in den Gärten und setzten sich erst
später als Nahrungspflanzen durch.
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Außerdem geben schriftliche Überlieferungen, die seit der Erfindung und Einführung des
Buchdrucks (um 1440) häufiger vorliegen, einen guten Einblick in die genutzten Kulturarten.
Gartenbücher und Kräuterbücher, oft mit Abbildungen versehen, beschreiben „altbekannte“ und
neue Gemüse wie Mangold, Weißrüben, Spinat, Spargel, Winterheckenzwiebel, Kopfsalat, Zuckerwurz, Haferwurzel, Bleich- und Knollensellerie, Kichererbse, Radies, Zichorie.
Gurken sind vermutlich erst am Ende des Mittelalters nach Mitteleuropa gekommen. Sie wurden nicht durch die Römer verbreitet, sondern wahrscheinlich durch die Slawen nach Mitteleuropa gebracht. Gartenmelde und Amarant waren zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend durch
den Spinat verdrängt worden.
tung. Im erwerbsmäßigen Gemüsebau geht die Tendenz in Richtung weniger Arten - die für den
intensiven und industriellen Gemüsebau angepassten Hybrid-Sorten setzen sich durch.
17. und 18. Jahrhundert
Im 17. Jahrhundert finden wir erste Darstellungen gelber und roter Karottensorten. Im 18.
Jahrhundert wird die orange „Karotin-Karotte“ in den Niederlanden entwickelt und findet bald
europaweite Verbreitung. Feuerbohne, Schwarzwurzel und Feldsalat setzen sich als Gartenpflanzen durch. Ölraps kommt als neue Ackerkultur hinzu. Die Kartoffel erlangt den Durchbruch zur
weit verbreiteten Ackerpflanze, die bald eine Grundnahrungspflanze für die Versorgung der rasch
wachsenden und zunehmend verstädterten Bevölkerung wird.
19. Jahrhundert
In diesem Jahrhundert setzt die professionelle Pflanzenzüchtung ein, sie bringt große
Veränderungen im Bereich der Entwicklung neuer Kultursorten mit sich – dazu noch mehr im
nächsten Kapitel. Mit der Zuckerrübe entsteht eine neue Kulturpflanze. Die Tomate setzt sich ab
1860 als Nutzpflanze durch, die Spargelerbse kommt hinzu. Regional verdrängt wurden bereits
Pastinake und Zuckerwurzel durch die Kartoffel und die Haferwurz durch die Schwarzwurzel. Faser- und Färbepflanzen verschwinden zunehmend aus dem Anbau und werden von
künstlichen Farbstoffen und importierter Ware ersetzt.
20. Jahrhundert
In Folge der beiden Weltkriege und durch die Intensivierung der Landwirtschaft verändert
sich das Kulturartenspektrum stark. Einige neue Nutzungstypen kommen hinzu: Die Zucchini
setzt sich aus Italien kommend durch, ebenso der Brokkoli. Aus (Süd-) Ostasien sind vor allem
die Formen von Brassica rapa Chinakohl, Japankohl und Pak Choi zu nennen. Paprika und Auberginen bereichern das Gemüseangebot.
Die Landwirtschaft wird zugunsten weniger dominanter Kulturarten umstrukturiert. Getreide
wie Weizen, Gerste und Mais dominieren. Hafer und Roggen haben nur noch regional Bedeu-
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Abb.: Veränderungen der Anzahl von Gemüsearten und landwirtschaftlichen Kulturarten in Mitteleuropa.
Es wurden nur Nahrungspflanzen, nicht aber Kräuter, Färbe- und Faserpflanzen berücksichtigt; bei einigen Arten
wurden Nutzungstypen, nicht botanische Arten gezählt (z.B. wurden Wirsing und Kohlrabi, obwohl zur selben Art gehörend,
als zwei Kulturen gewertet). Quelle: Monika Enigl, Beate Koller, Kulturpflanzenvielfalt, Arche Noah, 2003: 17
Verlust der Vielfalt – Bedeutung der Agrobiodiversität
Die Biodiversität ist heute nicht nur in Wildflora und -fauna gefährdet, sondern immer mehr
auch bei der für unsere Ernährung direkt nutzbaren Vielfalt der landwirtschaftlichen Nutzformen.
Durch die heute betriebene Hochzucht der Nutztiere und Kulturpflanzen hat die Vielfalt der Rassen und Sorten gelitten. Was den neuen Normen – beim Rind z.B. mehr Fleisch und Milch, beim
Schwein mehr Schinken als Speck - nicht gerecht wurde, verlor an züchterischem Wert, wurde
fallengelassen und verschwand. Manche Rassen sind schon ausgestorben, von anderen finden
sich nur noch wenige Exemplare. Heute werden die Sorten nach Kriterien gezüchtet und selektiert, wie der gleichzeitigen Abreife der Pflanzen, Haltbarkeit der Früchte bei langen Transporten
oder Uniformität für den Großhandel. Der Geschmack bleibt dabei oft auf der Strecke!
Auch wenn viele der alten Sorten nach heutigen Maßstäben unbefriedigende Erträge bringen,
besitzen sie Qualitäten wie hohe Fruchtbarkeit, Robustheit und Resistenzen gegen Kälte und
Krankheiten, die in einem anderen wirtschaftlichen Umfeld von Bedeutung sein können. Die
traditionellen Sorten wurden in generationenlanger Zuchtarbeit sowohl an die Bedürfnisse der
Menschen als auch an die besonderen Bedingungen ihrer Umwelt angepasst. Sie sind nicht nur
genetisch interessant, sondern stellen auch ein wertvolles und erhaltenswertes Kulturgut dar.
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Saatzucht, Produktion und Handel wirken standardisierend
Der Verlust von Agrobiodiversität ist ein schleichendes Problem: Ställe, Weiden und Felder sind
in den letzten Jahrzehnten immer monotoner geworden. Im Zuge der Modernisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft im 20. Jahrhundert wurde der Fokus auf die Produktivität
und Homogenität der modernen Sorten gelegt und die alten Landsorten verschwanden mehr und
mehr. In der industrialisierten Landwirtschaft ist der vor- und nachgelagerte Bereich der landwirtschaftlichen Produktion ökonomisch immer bedeutender geworden. Dies gilt auch für die
Saatgutzüchtung, die von einer Gesetzgebung flankiert wird, welche die Ausbreitung der Hochleistungssorten fördert. Die staatlich definierten wertbestimmenden Eigenschaften sind nicht nur
stark ertragsorientiert, sondern geben bestimmte eng gefasste Zuchtziele vor. Die Zulassungs- und
Sortenschutzkriterien der Homogenität und Beständigkeit fordern und fördern die Vereinheitlichung züchterischer Produkte. Die Diversität zu unterstützen war bislang kein gleichwertiges
Ziel. Die meisten alten Sorten erfüllen die strenge Anforderung nach Homogenität nicht. Einen
Ausweg bietet die sogenannte Erhaltungssorten-Richtlinie, die aber nur den Handel von Kleinstmengen erlaubt und eine Anmeldung der nur lokal gehandelten Sorten lohnt oft nicht.
Der kommerzielle Saatgutmarkt hat sich innerhalb der letzten 20 Jahre weltweit extrem konzentriert, so dass heute eine Handvoll Unternehmen die globale Produktion beherrscht. Dieses
Oligopol ist das Resultat unzähliger Übernahmen und Fusionen. Die Top-10 der Saatgutkonzerne
beherrscht 75 % des globalen Saatgutmarktes. Dominiert wird dieses Geschäft von Firmen aus
der Chemiebranche, deren Saatgut-Angebot auf eine industrialisierte, Chemie gestützte Landwirtschaft zuge-schnitten ist. Ebenso ist das System der Handelsklassen und der industriellen
Qualitätsstandards ein Ausdruck für den Homogenisierungsprozess der pflanzlichen Produkte.
Auch hier fallen die „krummen Dinger“ der traditionellen Sorten häufig aus dem vorgegebenen
Raster. Aus all diesen Gründen hat sich das Spektrum genutzter Kulturpflanzen stark verkleinert
und das vermehrbare Saatgut droht vom Markt zu verschwinden.
Wie sehr sich das Sortenspektrum im Verlauf des 20. Jahrhunderts eingeengt hat, zeigt das
Beispiel des Weizens: Gab es zu Beginn des Jahrhunderts noch rund 1.000 Weizensorten in
Deutschland, die an Klima und Boden angepasst waren, sind es am Ende nur noch 30 Sorten.
Heutzutage angebauter Hochleistungsweizen benötigt viel Wasser. Wegen der schwereren Ähren
war es notwendig kürzere Stengel zu züchten; die Bodennähe fördert jedoch Pilzbefall, weshalb
zusätzlicher Chemieeinsatz notwendig ist. Traditionelle Sorten sind besser an lokale Bedingungen
angepasst als hochgezüchtete und auf Grund der natürlichen Resistenzen oft toleranter gegenüber Krankheiten und Schädlingen.
Ein weiterer Faktor, der zur Einengung des Sortenspektrums führte, liegt in den tiefgreifenden sozialen Veränderungen in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten, in deren Folge
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sich unsere Koch- und Essgewohnheiten gravierend verändert haben. Mit Fastfood und Fertiggerichten hat die Nahrungsmittelindustrie darauf reagiert. Neben dem Handel bestimmt sie heute
weitgehend die Anforderungen an die landwirtschaftlichen Produkte - oft auf Kosten der Geschmacksqualität, wahrscheinlich auch auf Kosten von Vitalität und Gesundheit. Das Angebot
bei Obst und Gemüse ist auf wenige Sorten reduziert. Der Verbraucher scheint nur noch drei
Kartoffel-„Sorten” zu kennen: mehlig, vorwiegend fest und fest kochende. Dass es weltweit über
2.000 verschiedene Kartoffelsorten mit unterschiedlichsten Eigenschaften gibt - in Deutschland
sind immerhin 160 davon für den Anbau amtlich registriert - ist beim Einkaufen kaum zu merken. Das gilt für die anderen Gemüsearten natürlich ebenso. Wie bereits erwähnt, bilden nur
wenige Pflanzen- und Haustierarten die Grundlage unserer Ernährung: Zwölf Pflanzenarten und
fünf domestizierte Landtierarten stellen heute 70 Prozent der gesamten Nahrungsmittelversorgung bereit.
“Der Begriff Agrobiodiversität impliziert: Wenn Agrobiodiversität nicht gelebt wird,
existiert sie nicht. Was nicht verarbeitet, gekauft, gegessen oder anderweitig genutzt wird,
trägt nicht zur Vielfalt von Nutzpflanzen und -tieren bei und ist letztlich vom Aussterben
bedroht.” Projektgruppe „Agrobiodiversität entwickeln“ (2004)
Erhaltung der Vielfalt durch Saatgut-Initiativen und Genbanken
Um gefährdete Nutzpflanzen-Sorten mindestens in kleinen Beständen erhalten zu können,
musste rechtzeitig gehandelt werden. Es waren Pflanzenzüchter, die bereits vor 100 Jahren auf
die Gefahren des Sortenverlustes aufmerksam machten und wissenschaftliche Begründungen für
die Etablierung von sogenannten Genbanken entwickelten; Einrichtungen, die der Erhaltung
von Kulturpflanzensortimenten und verwandten Wildarten dienen. Die größte Saatgutbank in
Deutschland befindet sich in Gatersleben. Dort werden rund 150.000 Proben aufbewahrt und
regelmäßig ausgebracht, um die Keimfähigkeit der Samen zu erhalten.
Seit den 1980er Jahren arbeiten dem Verlust an pflanzengenetischen Ressourcen neben Genbanken auch kleine Saatgut-Initiativen entgegen, die versuchen das Spektrum der angebauten
Arten und genetisch unterschiedlicher Sorten, die an die regionalen Bedingungen angepasst sind,
zu erhalten, sie evtl. züchterisch weiterzuentwickeln und in die Nutzung zu führen. Die Arbeit
der Saatgut-Initiativen besteht im Wesentlichen darin, alte und selten gewordene Nutzpflanzen
zu finden, zu vermehren, selber weiterzuentwickeln oder Patenschaften für derartige Sorten zu
vergeben – wie es von ProSpecieRara gemacht wird.
Zur Erhaltung der Vielfalt der pflanzengenetischen Ressourcen von Kulturpflanzen werden
heute zwei Strategien verfolgt:
• Bei der ex-situ Erhaltung wird das genetische Material als Saatgut außerhalb ihres natürlichen Lebensraumes in sog. Genbanken erhalten.
• Bei der in-situ Erhaltung wird es durch Nutzung innerhalb ihres natürlichen Lebensraumes gesichert und den natürlichen Anbau-bedingungen ausgesetzt (on-farm Methode).
Diese sog. „on-farm-Erhaltung“ ist das jüngste Konzept und umfasst den Anbau und die Nutzung von Pflanzensorten. Die on-farm-Erhaltung führt durch die intensive Beschäftigung mit ein15
zelnen Kulturpflanzenarten dazu, dass ein Bezug zwischen Standort und Anbauform hergestellt
wird. Durch die on-farm Erhaltung wird eine dauerhafte Anpassung an die regionalen, z.T. in
Veränderung befindlichen Umweltbedingungen und an Bewirtschaftungs- oder Nutzungsformen
der Kultursorten gewährleistet. In Zeiten des Klimawandels werden wir wieder auf die alten
Sorten zurückgreifen müssen und das zu Recht: Mit ihrem weitaus breiteren Genpool können
sie sich viel besser auf Wetterextreme wie Dürre und Überschwemmungen einstellen als die
gängigen Hochertragssorten.
“Bei der Rückbesinnung auf alte Kultursorten ist es das Ziel, regionale gärtnerische Kulturleistungen und Traditionen wieder aufzunehmen. Denn regionale, charakteristische und
kulturell interessante Sorten besitzen eine eigene Attraktivität. Allerdings ist das Angebot
alter Sorten mit ihrem weiten Spektrum an Kochqualitäten und Aussehen nur dann sinnvoll
und erfolgreich, wenn das Publikum die neuen Impulse auch in ihr Konsumverhalten aufnimmt und letztendlich auch in der Küche umsetzt und ausnutzt.” Heiko C. Becker et al.
“Konzepte des On-farm-Managements pflanzengenetischer Ressourcen” (2000)
Die Wiedereiführung der Sortenvielfalt bei Tomaten
An der Entwicklung des Tomatensortimentes in den zurückliegenden 20 Jahren lässt sich beispielhaft belegen, wie die on-farm-Erhaltung einer weiteren Verengung des Sortenspektrums entgegen gewirkt hat. In den 1980er Jahren gab es auf dem Markt nur noch wenige und sehr
ähnliche Sorten mit roten, runden und einheitlich schmeckenden Früchten. Der Initiative einiger
Nicht-Staatlicher-Organisationen (NRO) und engagierter Privatpersonen ist es zu verdanken, dass
in den 1990er Jahren farblich und geschmacklich stark abweichende Sorten aus den Genbanken
vermehrt wurden und in den Umlauf kamen. Größere Pflanzenzuchtunternehmen haben erkannt, dass sie das Interesse und den Bedarf des Hobbybereiches offenbar gewaltig unterschätzt
hatten und nahmen daraufhin einige der mittlerweile schätzungsweise 1.000 im Umlauf befindlichen Sorten und Herkünfte wieder in ihr Sortiment auf. Sowohl geschmacklich als auch ästhetisch haben alte Tomatensorten einiges zu bieten. Weiße, gelbe, orangefarbene, violette, braune
und gestreifte Sorten in unterschiedlichen Formen und mit unterscheidbaren Aromen können
mittlerweile wieder im Handel bezogen werden. Ein Beispiel sind die „Kleinen Weißleinchen“,
sie haben nicht zu wenig Sonne abbekommen, sondern sind tatsächlich cremeweiß. Ähnliches
gilt auch für die Salattomate „Weißer Pfirsich“, die ihren Namen einem leichten Samtpelz verdankt. Auch bei der Sorte „Green Zebra“ sagt der Name schon was sie auszeichnet: durch die
gelblich-grüne Streifung der Schale erinnert die Frucht an einen geschrumpften Zierkürbis.
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Samenfeste Sorten:
Samenfest sind Sorten dann, wenn aus ihrem Samen wieder Pflanzen wachsen, die die
gleichen Eigenschaften und dieselbe Gestalt wie ihre Mutterpflanzen haben. Das bedeutet,
die Sorten können natürlich durch Wind und Insekten vermehrt und so erhalten werden.
Indem sie in der Lage sind fruchtbare Samen zu bilden, stehen samenfeste Sorten in
einem evolutionären Strom. Insofern sind sie das Bindeglied der Kulturpflanzenentwicklung
aus der Vergangenheit in die Zukunft.
Samenfeste Sorten tragen eine breite genetische Variabilität, so können sie auf Umweltveränderungen reagieren und sich im Laufe von Vegetationsperioden weiter entwickeln.
Samenfeste Sorten sind für die bäuerliche Erhaltung (on-farm) sowie für die Weiterzüchtung
bestens geeignet.
Diese Erfolgsgeschichte bei anderen Kulturpflanzenarten fortzuschreiben und damit beispielgebend für die wirtschaftliche Nutzung der Vielfalt zu sein. ist ein erklärtes Ziel von ProSpecieRara
Deutschland. ProSpecieRara hat sich als Ziel gesetzt, die Vielfalt der regionalen Kulturpflanzen in
ihren mannigfaltigen Sorten und Linien lebendig zu erhalten und zu fördern, um der weltweiten
Gen-Erosion und dem Verschwinden der genetischen Vielfalt bei Kulturpflanzen aktiv entgegenzuwirken.
Derzeit erleben die alten Sorten sowie die Hausgärten eine Renaissance. Urban Gardening ist
„in“ und lila Kartoffeln oder bunter Mais gelten als chic. Immer mehr Menschen wollen wieder
Obst und Gemüse essen, das schmackhaft ist, eine zarte Haut hat oder, wenn sie es selbst anbauen, ein langes Erntefenster besitzt. Mit der Nutzung vielfältiger, traditioneller Sorten können
viele Menschen im Selbstversorgungsanbau dieser allmählichen Sortenreduzierung etwas entgegensetzen.
Urbane Gärten und die Nutzung der Kulturpflanzenvielfalt
In den letzten Jahrzehnten haben sich die Menschen immer mehr von der Landwirtschaft
entfernt und dabei auch den Bezug zu ihren Lebensmitteln verloren. Heute ändern sich die Beziehungen zwischen der Stadt, dem Land und unserer Nahrung, weil die Menschen wieder den
Bezug suchen zu dem, was sie essen. Aus diesem Grund liegt Gärtnern in all seinen Formen im
Trend wie seit Generationen nicht mehr.
“Ackern mitten in der Stadt“ ist plötzlich das Thema. Wir erleben gerade eine wahre Renaissance der Selbstversorgung, und zwar weltweit. Urban Gardening war von Beginn an ein internationales Phänomen. In Ländern des Südens der Erde ist der mobile Gemüseanbau in den
Slums und an den Rändern der Megastädte zu einer notwendigen Überlebensstrategie geworden. Im heute weitestgehend de-industrialisierten und in der Folge an Einwohnern dramatisch
geschrumpften Detroit ersetzt die urbane Landwirtschaft Arbeitsplätze und besetzt die leer gewordenen Räume der untergegangenen Autoindustrie. Auf Kuba gehört die städtische Landwirtschaft zum politischen Programm: Die Maßnahme startete 1991 in Havanna mit dem ersten
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öffentlichen Acker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als die Versorgung mit Erdöl
zusammenbrach. Heute werden auf Grund von Ressourcenknappheit ca 60% des Gemüses in der
Hauptstadt Havana selber angebaut, mangels Devisen für chemischen Dünger und Pestizide mit
starkem ökologischem Schwerpunkt.
Was ist urbanes Gärtnern?
Das Wort „städtisches Gärtnern“ macht deutlich, dass es sich nicht um Ziergärten oder Parks in
den Städten handelt, sondern um den Gemüseanbau zur Selbstversorgung. Es geht um die meist
kleinräumige, landwirtschaftliche Nutzung von städtischen Flächen - genutzt werden der eigene
Balkon, ein Flachdach, eine Wand oder eine Brachfläche. Vom Duft der Erde und Humus verführt, zieht es die Großstädter reihenweise in Gärten, auf Balkone, in die grünen Hinterhöfe. Das
gemeinschaftliche Buddeln in der Erde lässt nicht nur Gemüse, sondern auch Gemeinschaftssinn
und soziale Beziehungen wachsen. Hier werden Erfahrungen, Samen und Pflanzen getauscht
und beim gemeinschaftlichen Kochen und Essen wird auch die Ernte genossen.
Das urbane Gärtnern wird in unterschiedlichen Konzepten verwirklicht: Gemeinschaftsgärten, Interkulturelle Gärten, Intergenerationale Gärten, Guerilla Gardening, Balkongärten, Essbare
Stadt, solidarische Landwirtschaft ... mit all diesen Begriffen wird eine neue städtische Gartenbewegung beschrieben, die seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts weltweit mehr und mehr an
Bedeutung gewinnt.
Vieldeutige Slogans wie etwa „Keine Pflanze ist illegal!“ oder „Widerstand ist fruchtbar“, welche die grünen Stadtinseln häufig flankieren, machen zudem klar: Der Garten als ein rein privates
Refugium war gestern. “Eine andere Welt ist pflanzbar“ – das ist die Überzeugung vieler, die sich
in den Städten für Gartenprojekte engagieren. Damit verbunden ist die Kritik daran, wie unsere
Lebensmittel heute produziert werden.
Geschichte der städtischen Gärten
Ohne die heute vorhandene Logistik war es notwendig dicht am Konsumenten zu produzieren. Im Zuge der Industrialisierung und der Nutzung fossiler Energieressourcen konnte sich die
Stadt zunehmend vom Umland emanzipieren. Mit dem gewachsenen Transportpotential, der
Rationalisierung der Nahrungsmittelproduktion und nicht zuletzt der Konkurrenz ökonomisch attraktiverer Flächennutzungen wurde die Landwirtschaft zunehmend aus dem modernen urbanen
Raum gedrängt. Diese räumliche Differenzierung wurde als Reaktion auf Krisen (Armut, Kriege)
teilweise aufgegeben. Die Frage einer nachhaltigen Nahrungsmittelversorgung der kurzen Wege
in einer post-fossilen Gesellschaft hat dem Thema seit kurzem neuen Auftrieb gegeben – mit
hohem sozialem Mehrwert.
Angesichts des Versiegens des Erdöls und der Notwendigkeit zur Verminderung von CO2-Emmissionen ist es ein neuer Trend, die industrielle Nahrungsmittelproduktion mehr und mehr
infrage zu stellen. Nur Biowaren zu kaufen, das reicht vielen Menschen nicht mehr. Auch der
Kampf gegen den Klimawandel ist ein Aspekt des urbanen Gärtnerns. Lokale Nahrungsmittelherstellung und ortsnaher Konsum ist eine der Möglichkeiten, Transportwege und somit den Ausstoß von Kohlendioxid zu verringern. Dafür wird mit saisonalen und regionalen Qualitäten experimentiert. Es geht um die Förderung der regionalen, ökologischen und nachhaltigen Ernährung.
Urbanes Gärtnern ist der Ausgangspunkt einer Suche nach dem „besseren Leben“ in der Stadt
und einer Versorgung mit Lebensmitteln, die nicht nur auf der Ausbeutung von Tieren, Böden
und Menschen in der sog. Dritten Welt beruht, sondern auch hier bei uns gehen wir mit diesen
Ressourcen recht schonungslos um. Die Bedeutung der urbanen landwirtschaftlichen Produktion
liegt in der Erfahrung und Einübung einer Vorgehensweise, die nicht auf Verwertung, sondern
auf Versorgung ausgerichtet ist.
Gärtnern heißt: mit dem Lebendigen umgehen
Umweltpsychologen haben herausgefunden, dass Menschen die unterschiedliche Vielfalt der
Tier- und Pflanzenarten in ihrer Umwelt durchaus wahrnehmen – selbst wenn sie die Arten nicht
einzeln mit Namen aufrufen können. Eine Studie aus dem englischen Sheffield hat sogar gezeigt,
dass es einen engen positiven Zusammenhang gibt zwischen dem Wohlbefinden der Besucher
einer Parkanlage und der hier ausgebildeten biologischen Vielfalt.
“Menschen ohne Naturerfahrungen drohen seelisch zu verkümmern. Das Glück, das
Menschen empfinden, wenn sie in Berührung mit Natur sind, ist Ausdruck davon, dass wir
uns aufgehoben und getragen fühlen im Lebendigen in uns. ... der Verlust der Natur im
Alltag der Stadt, aber auch der Verlust der Artenvielfalt bedeutet mehr als eine klimatische
Katastrophe.“ Christa Müller, „Urban Gardening“ (2011)
Gartenarbeit kann uns seelisch stärken, denn Erde umgraben, Samen hineinlegen, Blumen und
Gemüse pflanzen, das tut nicht nur dem Körper gut, sondern auch der Seele. Der Umgang mit
Rechen, Gießkanne und Spaten bringt uns ins Gleichgewicht - nichts baut Stress besser ab als das
Wühlen in der Erde.
Urbanes Gärtnern entwickelt ganz neue Formen des Anbaus von Gemüse, auch aus prak18
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tischen Gründen: Wegen der oft schlechten Böden in den Städten, aber auch um den Anbau
mobil zu halten, werden zum Beispiel Kartoffeln in Kisten und Säcken mit fruchtbarem Humus
angebaut. Oder es werden mit Hilfe von transportablen Hochbeeten ungenutzte städtische Brachflächen in kürzester Zeit in einen ökologischen Nutzgarten verwandelt.
Gerade für den mobilen Anbau hat der Berliner Prinzessinnengarten eine Vorreiterrolle: Die
Pflanzen befinden sich in recycelten Bäckerkisten, Tetra Paks und Reissäcken, sodass der Garten
jederzeit mobil ist - “Nomadisch Grün” heißt diese Institution. Ein weiteres Ziel vom Prinzessinnengarten ist es, durch die Kultivierung alter und seltener Sorten die biologische Vielfalt zu
fördern. Außerdem treffen in dem Garten verschiedene Generationen und Nationalitäten aufeinander. Migranten halten gerne an ihre jeweiligen heimatlichen Esskulturen fest und bringen
deshalb oft eine Vielfalt von traditionellen Sorten aus den jeweiligen Herkunftsländern mit (u.a.
verschiedene Bohnensorten, grünen Koriander, Kichererbsen) – vieles davon gedeiht auch in
Stadtgärten!
Urbane Gärten und Agrobiodiversität
Angesichts der Monopolisierung des Saatguts weltweit sollte beim Umsetzen von alternativen
Bewirtschaftungs-Modellen, wie es in den urbanen Gärten passiert, die Nutzung von „nachhaltigem“ Saatgut berücksichtigt werden. Das alte Bauernprivileg, ein Teil des geernteten Saatguts für
die eigene Aussaat zu verwenden, ist nur mit traditionellen Sorten möglich. Dieses Nachbaurecht
ist eine Voraussetzung für die Unabhängigkeit von der privatisierten Saatgutindustrie und entscheidend für die eigene Ernährungssouveränität.
Menschen, die in der Stadt gärtnern haben oft ein politisches, ökologisches oder kulinarisches
Interesse an der Sortenvielfalt. Sie bepflanzen häufig sehr kleine Flächen mit einer Fülle an unterschiedlichen Arten und Sorten. Sie erleben, dass Kulturpflanzen auch ganz anders aussehen
und schmecken können als jene Früchte im Supermarkt, die für die Erfordernisse des Marktes
entwickelt wurden. In den Städten treffen Menschen aus verschiedenen Kulturen auf engem
Raum aufeinander. Gerade die Migranten bringen eine Vielfalt von traditionellen Sorten aus den
jeweiligen Herkunftsländern mit.
Die Erhaltung und die Vermehrung von lokal angepasstem Saat- und Pflanzgut können folglich
zu einem wichtigen Anliegen des urbanen Gärtnerns werden. Es bietet die Möglichkeit, sich mit
selbst gezüchteten Sorten zu identifizieren, ihren Geschmack zu lieben, sie zu tauschten und
das Wissen über diese Sorten weiterzugeben. Hierbei kann verloren gegangenes Wissen wieder
belebt und es können neue Fertigkeiten erlernt werden.
Die Pflege des Saatgutes erfordert handwerkliches Können sowie botanisches Wissen, Erfahrung und das Bewusstsein, mit der Erhaltung und Weiterentwicklung der Kulturpflanzen in ihrer
Vielfalt eine tragfähige Basis für die Zukunft zu schaffen. Die Natur in ihrer Vielfalt zurück in die
Stadt zu bringen und diese zu Orten des gemeinschaftlichen Lebens, der Selbstversorgung und
der Begegnung zu machen, ist eine der Herausforderungen unserer Zeit. “Ackern mitten in der
Stadt“ zeigt auf, wie dies gehen kann.
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Quellen:
agrobiodiversität - Agrobiodiversität entwickeln: Handlungsstrategien und Impulse für eine
nachhaltige Tier-und Pflanzenzucht. Projektgruppe „Agrobiodiversität entwickeln“ (Hrsg.; 2004):
online: http://www.agrobiodiversitaet.net/download/Agro-Broschuere.pdf
Agrobiodiversität – landwirtschaftliche Vielfalt in Gefahr. BUKO Agrar Dossier 27, 2007. Hrsg.
BUKO Agrar Koordination, Hamburg
Becker, Marggraf u.a. (2000): Darstellung und Analyse von Konzepten des On-farm-Managements pflanzengenetischer Ressourcen unter besonderer Berücksichtigung der ökonomischen
Rahmenbedingungen in Deutschland, Studie für das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Georg-August-Universität Göttingen
Enigl, M., Koller, B. (2003): Kulturpflanzenvielfalt – Entstehung & Gefährdung, Fallbeispiele
aus Österreich. Arche Noah Eigenverlag, Schiltern
Gemüse Inkognito - vergessene Kulturpflanzen vergangener Jahrhunderte. Arche Noah Begleitbroschüre (2002), Schiltern
Hammer, K., Hondelmann, W., Plarre, W. (1997): Von der Wild-(Nutzpflanze) zur Kulturpflanze. In: Odenbach, W. (Hrsg.; 1997): Biologische Grundlagen der Pflanzenzüchtung. Parey Buchverlag, Berlin.
Hammer, K. (1998): Agrobiodiversität und pflanzengenetische Ressourcen – Herausforderung
und Lösungsansatz. Schriften zu Genetischen Ressourcen. Schriftenreihe des Informationszentrum für Genetische Ressourcen, Zentralstelle für Agrardokumentation und – information, Bonn
Uerpmann, H-P. (2007): Von Wildbeutern zu Ackerbauern – Die Neolithische Revolution der
menschlichen Subsistenz. Mitteilungen der Gesellschaft für Urgeschichte — 16 (2007) 55. Online: http://www.urgeschichte.uni-tuebingen.de/fileadmin/downloads/GfU/2007/055-074_
GFU_Mitteilung16_mail.pdf
Ursprung & Verwandlung - das Rätsel der Kulturwerdung unserer Nutzpflanzen am Beispiel
von Weizen, Karotten, Rübe & Mangold, Zwetsche & Pflaume. Arche Noah Begleitbroschüre
(2002), Schiltern
ProSpecieRara
Die Schweizer Stiftung ProSpecieRara setzt sich seit 1982 dafür ein, dass bedrohte Nutztierrassen und Kulturpflanzen überleben und nicht der Uniformierung und Industrialisierung in der
Landwirtschaft zum Opfer fallen. Seit dem Jahr 2011 ist ProSpecieRara als gemeinnützige Gesellschaft auch in Deutschland tätig, um hiesige Kulturpflanzen zu erhalten.
ProSpecieRara Deutschland
, gemeinnützige GmbH
, Kaiser-Joseph-Str. 250, 79098 Freiburg
Tel. 0761 593 900-07, E-Mail: [email protected]; Internet: www.prospecierara.de
Spendenkonto: Sparkasse Freiburg-Nördl. Breisgau, IBAN DE64 6805 0101 0013 0483 03
Im Rahmen des Projektes „Förderung der biologischen Vielfalt in urbanen Gärten in Freiburg“
wurde die vorliegende Broschüre erarbeitet. Das Projekt wurde durch die Stiftung Naturschutzfonds Baden-Württemberg aus Mitteln der Glückspirale gefördert.
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Die Vielfalt der Kulturpflanzen und der Pflanzensorten
ist unsere Lebensversicherung.
Sie ist die Basis, die unsere Ernährung
auch in der Zukunft sicherstellt.
Gemeinnützige Gesellschaft
für die kulturhistorische und
genetische Vielfalt von Pflanzen
und Tieren in Deutschland
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