Neurowissenschaftliche Grundlagen

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Neurowissenschaftliche Grundlagen
Der menschliche Organismus entwickelt sich vom ersten Augenblick seiner
Entstehung an in aktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt.
Die nach rechts gebogene Doppellinie ist das Symbol für den sich entwickelnden
Organismus (0), der aktiv auf die Umwelt (U) einwirkt (Pfeil).
Der Organismus besitzt ein genetisches Programm (g), das die Vorgabe für die
generelle Richtung dieser Auseinandersetzung enthält. Die Realisierung dieses
Programms erfolgt in der aktiven Auseinandersetzung mit den vorhandenen
Umweltbedingungen. Diesen Vorgang bezeichnet man als epigenetisch (e).
Der bei der Befruchtung der Eizelle von den Eltern vererbte genetische Code
enthält die Ordnungsprinzipien für die Entwicklung des Organismus. In seinen
Proteinstrukturen (Eiweiß-strukturen) ist das "Selbst" (Se) des Organismus
vorgegeben. Es entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt
zum "Ich" der Persönlichkeit. In den selbstorganisierenden Prozessen des Gehirns
bildet sich durch die aktiven Handlungen (H) die "mentale Repräsentation"
(mR), die Vorstellung von uns selbst und unserer Umwelt.
Die Einwirkungen der Umwelt auf den Organismus sind im Gegensatz zu dem
genetischen Programm zufallsbedingt.
Da das genetische Programm sich im Laufe einer langen Evolution entwickelt hat,
sind seine Ordnungsprinzipien mit einer großen Schwankungsbreite (Variationsbreite)
auf die Überwindung der zu erwartenden Umweltereignisse durch angepasste
Handlungen eingestellt.
Die aktive Auseinandersetzung des Organismus mit der Umwelt erfolgt durch
biologische Vorgänge der "Selbsterhaltung" sowie durch den "Kampf im sozialen
Feld".
Durch immunologische Abwehrvorgänge werden Fremdproteine (N-Se = NichtSelbst), z. B. Krankheitserreger, abgewehrt oder zerstört.
Gegen schädliche physikalische (ph) und chemische (ch) Einwirkungen ist
der Organismus durch angeborene Abwehrvorgänge geschützt.
Durch aktive Handlungen (H) im sozialen Feld versorgt der Organismus sich mit
der erforderlichen Nahrung (N), verschafft sich über Rezeptoren (R)
physikalisch-chemisch kodierte Informationen (ph-ch) und erwirbt über
soziale Kontakte und Kommunikationen (soz) vielfältige Voraussetzungen für die
Entwicklung seiner individuellen Persönlichkeit.
In der aktiven Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt entsteht so
ein individuelles selbstorganisierendes Organismus-Umwelt-System. In
aktiver Auseinandersetzung mit seinem Körper und seiner Umwelt bildet der
Organismus in seinem Gehirn eine "innere Repräsentation", einen nur ihm
zugänglichen "Lebensraum" aus. Auf der Ebene der mentalen Repräsentation
(mR) nehmen wir unsere Befindlichkeit wahr, bilden wir die Vorstellung von
unserem Körperschema und entwickeln wir das Ich-Bewußtsein.
Auf dieser Ebene wägen wir unsere Handlungsmöglichkeiten ab und treffen die
aktuellen Entscheidungen über die Ausführung der Handlungen, die wir zum
Erreichen unserer Zielstellungen durchführen müssen. Dabei spielen emotionale
Komponenten eine wichtige Rolle. Voraussetzung ist die ständige Zufuhr
multisensorischer Informationen über unsere Rezeptoren (R)
IN UNSERER "INNEREN WELT" SIND ALLE ERFAHRUNGEN GESPEICHERT,
DIE WIR IM LAUFE UNSERES LEBENS MIT UNS SELBST UND MIT UNSERER
UM-WELT GEMACHT HABEN. DIESE MENTALE REPRÄSENTATION UMFASST
UNBEWUSSTE UND BEWUSSTE VORGÄNGE.
Das materielle Substrat für die mentale Repräsentation, für die gedanklichen
Vorstellungen, Überlegungen und Handlungsentscheidungen ist das neuronale
Netzwerk des Gehirns. Die funktionell entscheidenden Bauelemente des Gehirns sind
die Nervenzellen.
Die Nervenzelle besteht aus einem Zellkörper,
unten, klein, dreieckförmig, und einer Vielzahl von
Nervenzellfortsätzen. Die meisten dieser Fortsätze dienen der Zufuhr von
Informationen, die über eine Vielzahl von Synapsen aufgenommen und dem
Nervenzellkörper zugeleitet werden. Die Nervenzelle gibt die verarbeiteten
Informationen über einen abführenden Nervenzellfortsatz, das Axon, in Form
von elektrischen Impulsen weiter. In der Abbildung geht das Axon vom
Nervenzellkörper senkrecht nach unten ab. Im genetischen Programm des
menschlichen Gehirns sind etwa 200 Milliarden derartiger Nervenzellen
vorgesehen, von denen jede etwa
30 000 synaptische Verbindungen entwickelt.
Abbildung: Vester, F.: Denken, Lernen, Vergessen. Deutscher Taschenbuch Verlag München 1978.
Die Bildung der Nervenzellen erfolgt durch Zellteilung. Ihre Entwicklung in der
Hirnrinde wird durch die Abbildungen Ziffer 1 bis 4 wiedergegeben. Im frühen
Embryonalstadium (1) bilden sich die Nervenzellen nach dem vorgegebenen
Programm als isolierte Einzelzellen. Im Laufe der Embryonalzeit nehmen sie
über die Verzweigungen ihrer Fortsätze mit anderen Nervenzellen vielfältige
synaptische Verbindungen auf (2). Vom zweiten Embryonalmonat an bilden sich
zunehmend selbstorganisierende funktionelle Systeme, die die ersten
motorischen und sensorischen Elementarfunktionen sichern. Beim Neugeborenen hat
sich bereits ein weitverzweigtes neuronales Netzwerk gebildet (3), das die
Entwicklung immer komplizierterer selbstorganisierender motorischer und
multisensorischer Funktionssysteme sichert, wie Saugen, Schreien,
Kontaktsuche durch Blicken und Festklammern, Ziffer 4 zeigt die stärkere
neuronale Vernetzung im 3.-4. Lebensjahr.
Abbildung: Vester, F.: Denken, Lernen, Vergessen. Deutscher
Taschenbuch Verlag München 1978. Mit freundlicher Genehmigung des
Verlages
Die Ultraschallaufnahme eines 10 Wochen alten Embryos zeigt, dass er schon
in diesem Entwicklungsstadium aktiv seine Hände zum Mund führt. Das
selbstorganisierende System für diese komplizierte (motorische und
multisensorische) Handlung ist somit zu diesem Zeitpunkt bereits ausgebildet
und wird vielfältig geübt und trainiert.
Da das genetische Programm zwar die Generallinie der Entwicklung, aber
nicht das Schicksal der einzelnen Nervenzelle vorgibt, gilt bei der
Entwicklung der selbstorganisierenden Funktionssysteme eine
entscheidende Regel:
Nur diejenigen Nervenzellen überleben, die in eine Funktion einbezogen
werden. Nervenzellen, die nicht genutzt werden, sterben ab.
DIE IMMER WIEDERHOLTE NUTZUNG IN WECHSELNDEN PROGRAMMEN
IST VORAUSSETZUNG FÜR DAS ÜBERLEBEN DER NERVENZELLEN.
Somit kommt dem Zufall, ob eine funktionelle Verbindung gebildet und genutzt wird
oder nicht, bei diesem genetisch-epigenetischen Reifungsprozeß
entscheidende Bedeutung zu. Im Ergebnis gehen von den 200 Milliarden
genetisch angelegten Nervenzellen etwa 100 Milliarden, d. h. etwa die Hälfte,
zugrunde. Dies bedeutet, dass der heranreifende Organismus über eine große
Variationsbreite der Entwicklung und eine Reserve verfügt, die erforderlichenfalls
eingesetzt werden kann.
Nach der Geburt teilen sich die Nervenzellen nicht mehr.
Die neuen funktionellen Verknüpfungen innerhalb des neuronalen Netzwerkes
erfolgen nunmehr über die Neubildung von Nervenzellfortsätzen und ihre
synaptischen Verbindungen. Für ihre Erhaltung gilt jedoch die gleiche Grundregel
((projizieren und lesen))
ENTSCHEIDEND FÜR DIE ERHALTUNG UND ENTWICKLUNG DER SICH
IMMER KOMPLIZIERTER ENTWICKELNDEN SELBSTORGANISIERENDEN
FUNKTIONELLEN SYSTEME IST IHRE NUTZUNG.
Ein Mechanismus, der die ständige variable Nutzung der verschiedenen
funktionellen Netzwerkverschaltungen sichert, ist der REM-Schlaf. In ihm
werden die selbstorganisierenden Systeme im Gehirn in wechselnden funktionellen
Verschaltungen immer neu spontan aktiviert, ohne dass auf die Umwelt
gerichtete gezielte Handlungen ausgeführt werden. Im REM-Schlaf sehen wir ein
aktiviertes EEG, rasche Augenbewegungen (rapid eye movements = REM), einzelne
Muskelzuckung und wir erleben das Auftreten von Träumen.
Bei Neugeborenen macht diese aktive Phase 50 % des Gesamtschlafes aus. Bis
zum Ende des 2. Lebensjahrzehnts sinkt ihr Anteil auf 20 % ab. Dieser
Selbstbekräftigungsmechanismus des Gehirns bleibt auch beim Erwachsenen
bis zum Lebensende bestehen.
Die funktionellen Verschaltungen innerhalb dieses neuronalen Netzwerkes
sichern die Existenz und die vielfältigen Handlungsmöglichkeiten der
menschlichen Persönlichkeit.
Voraussetzung dafür ist das ständig wiederholte Aufrufen und Wiederholen
variierter Handlungsprogramme.
Beim Kind geschieht das im Spiel, beim Erwachsenen im vielfältigen bewussten
und unbewussten Handeln.
Bei Schädigung der Hirnfunktionen und Einschränkung der spontanen
Handlungsfähigkeit ist eine immer wiederholte vielfältige gezielte multisensorische
Reizzufuhr Voraussetzung für das Erhaltenbleiben und die
Wiederherstellung der erforderlichen selbstorganisierenden Verschaltungen.
Auch wenn die Reize nicht zum Bewusstsein kommen und keine sofortigen
Reaktionen auslösen, sind sie zur Erhaltung, d. h. zur Nutzung der vorhandenen
Verschaltungen im neuronalen Netzwerk wichtig.
Für den geschädigten Menschen ist der sozial gefärbte unmittelbare Kontakt
von besonderer Bedeutung, da er die höchstorganisierten selbstorganisierenden
funktionellen Systeme anspricht und erhält.
Zusammengefasst: DGKP Franz KITZLER
Praxisbegleiter Basale Stimulation® in der Pflege
Literatur:
Pickenhain, L.: Basale Stimulation Neurowissenschaftliche Grundlagen.
Verlag selbstbestimmtes leben,
Düsseldorf 1998
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