Biologische Evolution auf dem experimentellen - Bionik TU

Werbung
Vorlesung Bionik I im Winter 00/01 - Ingo Rechenberg, TU Berlin
Biologische Evolution auf dem
experimentellen Prüfstand
___________________________________________________________________
Der nicht endende Disput um DARWINs Theorie
Sie stritten sich beim Wein herum,
Was das nun wieder wäre;
Das mit dem DARWIN wär’ gar zu dumm
Und wider die menschliche Ehre.
Diese Verse WILHELM BUSCHs umreißen das zwiespältige Gefühl, das
jedweder empfindet, der über das Wunder der „Menschwerdung“ sinniert,
und der dann gesagt bekommt, dass hier Zufall am Werke sein. Weil
DARWINs Evolutionstheorie scheinbar so primitiv ist, glaubt sich die
„Krone“ der Schöpfung in ihrer Würde verletzt. Und der Disput hält an:
Der evolutionsforschende Biologe wird von den Beweisen geradezu erdrückt, die Paläontologie, Genetik und Molekularbiologie zur Tatsache
der Evolution liefern. Er „glaubt“ deshalb an die synthetische Evolutionstheorie, während der analytisch denkende Mathematiker und
Physiker die Methode einfach für zu dumm hält.
Tatsächlich würde die Grundfeste der Bionik wanken, sollte die
biologische Evolution stümperhaft arbeiten. Ich wundere mich, weshalb
nach Erscheinen von DARWINs „Entstehung der Arten“ 1859 kein Praktiker daran gegangen ist, die These auszuprobieren. Statt zu behaupten, dass z. B. eine Augenlinse schwerlich durch Zufall entstehen könne,
hätte ein Physiker – die Formeln der geometrischen Optik im Kopf – es
mit Würfel, Bleistift und Papier einfach mal ausprobieren können.
Im Herbst 1963 habe ich mit Würfel, Bleistift und Papier Evolution
betrieben, und zwar an einem Sechseck. Es galt, die Positionen der Ecken
2
eines Sechsecks auf einem Kreis zu mutieren und nach der jeweils
größten Fläche der Figur zu selektieren. Und als das funktionierte wurde damit begonnen, DARWINs These im Windkanal auszuprobieren. Am
Anfang war das Nachahmungsschema noch wenig evolutionsbiologisch:
Ein Elter erzeugte einen mutierten Nachkommen. Bei Erfolg wurde der
Nachkomme, bei Misserfolg der Elter zum Ausgangspunkt für die
nächste Mutation. (Schema der (1 + 1)-ES). In der Folge wurde die
Evolution immer genauer nachgebildet. My Eltern erzeugten Lambda
Nachkommen (Schema der ( µ, λ )-ES). Jeweils Rho Eltern tauschten ihre
Variableneinstellungen wechselseitig aus (Schema der (µ /ρ, λ)-ES). Mechanismen der Population, Art und Gattung sowie das Phänomen der
Isolation führten schließlich zum Entwurf geschachtelter, sich am Problem selbstverbessernder Evolutionsstrategien, der zur Zeit leistungsfähigsten Nachahmungsstufe der biologischen Evolution.
Evolution einer Zickzackplatte
Die Evolutionsstrategie fand zaghafte Anerkennung, als das folgende
Experiment erfolgreich durchgeführt werden konnte: Entsprechend dem
Bild 2-1 wurden 6 Flächenstreifen an ihren Längskanten gelenkig miteinander verbunden. Die Gelenke konnten einzeln verstellt und nach
jeweils zwei Grad Winkeländerung eingerastet werden. Bei 51 Einraststufen für jedes Gelenk besaß die Fünfgelenkplatte 515 = 245 025 251
mögliche Einstellformen.
Bild 2-1:
Windkanalaufbau für das
erste evolutionsstrategische
Experiment mit der
Gelenkplatte.
3
Zu Beginn des Experiments wurde die Gelenkplatte zu einer zufälligen Zickzackform gefaltet. Anfangs- und Endpunkt der Platte befanden sich mechanisch geführt stets auf einer Linie parallel zum Luftstrom. Gesucht war die Form geringsten Strömungswiderstands. Natürlich kennt man die Lösung im Voraus: Minimalen Widerstand besitzt
unter der gegebenen Randbedingung die gestreckte ebene Platte.
Das Experimentum crucis wurde im Sommer 1964 durchgeführt.
Es galt herauszufinden, ob die ebene Optimalform mit der Evolutionsstrategie gefunden wird, und wenn ja, wie viele Mutationsschritte dafür
benötigt werden. Skeptiker des Instituts hatten prophezeit, dass wegen
der 515 Einstellmöglichkeiten der Versuch zig Jahre dauern würde, weil
Millionen von Plattenformen realisiert werden müssten. Das Bild 2-2
zeigt den Versuchsablauf. Unter dem Diagramm ist die mit dem Fortlauf
des Experiments jeweils gültige Bestform der Platte gezeigt.
Bild 2-2:
Minimierung des
Widerstands einer
Gelenkplatte mit der
Evolutionsstrategie.
Nach 320 Generationen (Mutationen) hat die Platte eine fast ebene
Form erreicht. Die exakt ebene und die leicht gewellte Platte besaßen
messtechnisch keinen Widerstandsunterschied mehr. Bemerkenswert
ist, dass zwischen Mutation 80 und 180 keine nennenswerte Verminderung des Widerstands auftrat. In den Einbuchtungen der S-förmigen
Platte nisten sich zwei gegenläufig drehende Totwasserwirbel ein. Mög-
4
licherweise entsteht hier ein lokales Widerstandsminimum. Die Versuche wurden wiederholt, wobei nun ohne Stagnation die ebene Plattenform nach durchschnittlich 200 Mutationen erreicht wurde. — Doch
Kritiker waren von der primitiven Optimalform (jeder kennt doch die
Lösung) nicht überzeugt. Ein Affe, so sagte jemand, würde die Lösung
instinktiv einstellen. Deshalb wurde eine Randbedingung des Versuchs
geändert. Der Windkanal neigt sich und ändert so die Strömungsrichtung. In der Biologie wäre das eine Umweltänderung.
Ände ru ng de r Umwelt
In Wahrheit wurde die Platte samt Verstellschlitten gedreht. Die
Strömung reißt an der 14 Grad angestellten Platte unter starker Wirbelbildung ab. Die Evolution geht weiter und findet eine S-Form der Platte
als Lösung kleinsten Widerstands (Bild 2-3). Eine praktische Verwendung der Lösung kenne ich nicht. Aber die Form stellt eine Herausforderung dar, mittels moderner CFD-Methoden (Computational Fluid
Dynamics) verifiziert zu werden.
Bild 2-3:
Widerstandsminimierung der Gelenkplatte
bei veränderter
Umwelt.
5
Evolution eines Rohrkrümmers
Für die Praxis relevant ist die nächste Optimierungsaufgabe. Gesucht ist
die Form einer Rohrumlenkung mit minimalen Strömungsverlusten.
Bild 2-4 zeigt zwei Experimentieraufbauten zur Lösung dieses Problems
mit der Evolutionsstrategie. Bei der linken Vorrichtung aus dem Jahre
1965 wird ein Plastikschlauch in einer geraden Anlaufrohrstrecke geführt,
im Umlaufbogen durch 6 verschiebbare Stangen gehalten und schließlich
in einem geraden Rohr weitergeführt. Zwei identische Stecken (vom selben
Druckkessel gespeist) erlauben die akkurate Messung der Qualitätsdifferenz zwischen Nachkomme und Elter. Es überlebt die Krümmerform
mit der höheren Strömungsgeschwindigkeit am Ende der Auslaufstrecke.
Bild 2-4: Manuelles und maschinelles ES-Experiment.
Das rechte Bild zeigt eine moderne Version des Evolutionsexperiments. Ein evolutionsstrategisch gesteuerter Industrieroboter stellt die
Mutationen ein. Der äußere Spiraldrahtschlauch führt im Inneren
einen glatten Moosgummischlauch. Die Rohrumlenkung beträgt diesmal 180 Grad. Der Experimentalaufbau diente einer Machbarkeitsstudie. Es galt, einen Ansaugkrümmer für eine bekannte Automobilfirma
zu optimieren.
Beide Experimentieraufbauten werden mit Pressluft betrieben. Die
Strömung ist vollturbulent (Re = 68 000). Das Experiment beginnt mit
einer Viertel- respektive Halbkreisform des Krümmers. Das Bild 2-5 zeigt
die sich ergebenden Optimalformen. Ein Strömungstechniker würde diese
6
Formen wohl kaum voraussagen. Wir sehen uns den optimalen 90-Grad
Krümmer an. Während beim Viertelkreiskrümmer die Umlenkung mit
einem plötzlichen Krümmungssprung beginnt, ist beim evolutionierten
Krümmer eine von der Geraden an stetig zunehmende Krümmung vorhanden. Und am Auslauf des Krümmers tritt deutlich eine kleine Krümmungsumkehr auf, deren Bedeutung unklar ist. Was überrascht: An der
180 Grad Umlenkung wiederholen sich die Formdetails der 90-Grad
Umlenkung. Verglichen mit ihrer kreisförmigen Ausgangsform besitzen
beide Endformen einen 2% geringeren Energieverlust. Interessiert man
sich nur für den umlenkbedingten Verlust, ist der Reibungswiderstand
des gestreckt gedachten Rohres zu eliminieren. Die Optimalkrümmer
wiesen dann einen um 10% reduzierten Umlenkverlust auf. Es sind experimentelle Gründe, dass die Länge des Krümmers L groß gegenüber dem
Durchmesser D gewählt wurde (L / D = 31). Die Optimalformen sind
deshalb bestenfalls für eine Pipeline geeignet. — Es wäre wiederum
eine Herausforderung für den Strömungstheoretiker, mittels CFD die
Optimalformen nachzurechnen.
Bild 2-5: Optimalform eines 90-Grad (a) und 180-Grad (b) Krümmers.
Evolution einer Heißwasserdampfdüse
Für ein spektakuläres Evolutionsexperiment wurde der Dampfkessel im
Kraftwerk der TU Berlin zweckentfremdet. Es galt, für eine industrielle
Anwendung eine Heißwasserdampfdüse zu optimieren: Überhitztes Wasser verdampft teilweise im engsten Querschnitt einer Düse. Der expandierende Dampf bildet dann das Treibmittel für die verbleibende Flüs-
7
sigkeit. Das Nebeneinander von Dampf und Flüssigkeit führt zu äußerst
komplexen Strömungsvorgängen innerhalb der Düse. Optimierungsziel ist
es, den Strömungsimpuls in der Düse zu maximieren.
Nach einer Idee von H.-P. SCHWEFEL wurde für die evolutionsstrategische Optimierung die Düsenform aus Segmenten zusammengesetzt.
Es standen 330 Segmente mit passend abgestuften konischen Innenbohrungen zur Verfügung. Damit lassen sich mehr als 1060 verschiedene
Düsenformen ohne Sprünge in der Kontur zusammensetzen (Bild 2-6).
Bild 2-6:
Segmentierte
Heißwasserdampfdüse.
Mit den Segmenten wurde als Ausgangsform eine rechnerisch ausgelegte LAVALdüse mit einem besonders langen konvergenten Einlauf
aufgebaut. Der Austausch der Segmente nach den Experimentierregeln
einer (1+1)-Evolutionsstrategie liefert eine unerwartete Bestform der
Düse. Das Bild 2-7 zeigt die Startform, sämtliche erfolgreichen Zwischenformen und die Endform der Zweiphasendüse.
Das sehr aufwendige Experiment wurde nach 400 Generationen
(Mutationen) beendet. Der Wirkungsgrad der Düse konnte von 55%
(Startform 0) auf nahezu 80% (Endform 45) gesteigert werden. Die
Kammern erregen natürlich die Aufmerksamkeit des Strömungstechnikers. Vergleichende Experimente mit Glasdüsen der Form 0 und 45
ergaben: Die stromaufwärts liegenden Wirbelkammern bringen heiße
Kernströmung an die kühle Wand des Düseneinlaufs und vermeiden so
einen Siedeverzug des Wassers im Düsenhals. Und die stromab liegende Wirbelkammer verhindert eine Entmischung von Dampf und
Flüssigkeit im divergenten Düsenteil.
8
Bild 2-7:
SCHWEFEL’s Evolutionsexperiment mit
einer Heißwasserdampfdüse.
Evolution einer vogelähnlichen Flügelaufspreizung
Winglets (Flügelohren) sind der „letzte Schrei“ im Flugzeugbau. Es ist
der Sog auf der Flügeloberseite, der Strömung um das Ende eines Tragflügels herumzieht und so einen Randwirbel erzeugt. Flügelohren sollen
die Wirbelenergie abmindern. Demselben Zweck dienen auch die von der
biologischen Evolution erfundenen aufgespreizten Flügelenden von Adler,
Storch und Krähe. Klassisch denkende Bioniker würden darangehen, die
Multiwinglets des Vogels am Flugzeug nachzubilden. Das genaue Kopieren der Geometrie der aufgespreizten Schwungfedern in Flugstellung
ist problematisch. Der Neo-Bioniker nimmt deshalb das verstandene
biologische Prinzip als Startpunkt für ein evolutionsstrategisches Experiment unter den gegebenen technischen Randbedingungen. Das Bild 2-8
zeigt den Verlauf einer solchen neobionischen Nach-Evolution.
Das Experiment beginnt mit einer aufgespaltenen aber planaren
Flügelkonfiguration. Biegsame Bleistreifen an den Wurzeln der Endflügelchen machen das System mutierbar. Anstellwinkel und Staffelwinkel
der Flügelchen können in einer speziellen Lehre manuell präzise eingestellt werden. Ein evolutionsstrategisches Computerprogramm druckt die
Daten von 12 variierten Spreizflügelkonfigurationen aus, die eingestellt
9
Bild 2-8:
27 Generationen künstliche
Evolution eines Spreizflügels
im Windkanal.
und im Windkanal vermessen werden. Die 4 Nachkommen-Nummern mit
den kleinsten Messwerten „Widerstand/Auftrieb“ werden als Eltern der
neuen Generation in den Computer eingetippt, und das Programm einer
(4/4, 12)-ES druckt 12 neu rekombinierte und mutierte Nachkommen aus.
Das Verhältnis Widerstand/Auftrieb gibt den Gleitwinkel eines Flugzeugs oder Vogels an. Verglichen mit einem nicht geschlitzten Tragflügel
von gleichem Grundriss besitzt der optimierte Spreizflügel einen 10,8%
flacheren Gleitwinkel. Aber der Randwirbel des Windkanalflügels ist
wegen der geringen Streckung von 1:4 besonders stark. Bei einem Verkehrsflugzeug könnte vielleicht 5% Verbesserung herauskommen. Mit
dem Experiment konnte die Evolvierbarkeit eines Multiwinglet-Systems unter Beweis gestellt werden.
Evolution einer Augenlinse
Skeptiker in punkto DARWINs Evolutionstheorie weisen auf das Problem der Entstehung des Auges hin: Ein 5%-Auge sei funktionslos und
ohne Sinn. Es müssen viele, präzise aufeinander abgestimmte Mutationen schlagartig zusammentreffen, damit etwas entsteht, was als Auge
funktioniert. DARWIN schreibt: “Wenn gezeigt werden könnte, dass irgend-
10
ein komplexes Organ existierte, das unmöglich aus unzähligen aufeinanderfolgenden geringfügigen Modifikationen gebildet worden sein könnte,
so würde meine ganze Theorie restlos zusammenbrechen”. Tatsächlich
erfolgt die Augen-Evolution auf dem Weg der kleinen Schritte:
1
2
3
4
Zusammenballen von lichtempfindlichen Zellen.
Eindellen der Pigmentschicht zu einer Grube.
Ausfüllen der Grube mit einer gallertigen Masse .
Ausformen der Gallertmasse zum Lichtkonzentrator.
Flachauge, Becherauge, Grubenauge, Linsenauge: Das sind Evolutionsstufen, die auch heute noch als Überbleibsel an archaischen Organismen zu finden sind. Das Bild 2-9 zeigt einen deformierbaren
Glaskörper mit den Dicken dk (k = 1, 2, ... n) als Objekt der Evolution.
Bild 2-9:
Deformierbarer Glaskörper
als Evolutionsobjekt.
Die Strahlen eines parallelen Lichtbündels werden beim Durchqueren dieses Glaskörpers verschieden stark gebrochen. Durch richtiges
Einstellen der Dicken dk soll erreicht werden, dass sämtliche Strahlen
in einem Punkt F zusammentreffen (Eigenschaft der Sammellinse). Die
Abweichung von diesem Zielzustand kann durch Bildung der Summe
Σ qk2 gemessen werden. Es ergibt sich das Optimierungsproblem
Strahlenstreuung =
∑q
2
k
→ Min .
Die Sammellinse ist ausgeformt, wenn die Strahlenstreuung den
Wert Null erreicht. Ein Lebewesen, dessen Augengallerte die Lichtstrahlen etwas mehr bündelt, würde den sich nähernden Schatten eines Räubers eher detektieren als sein Norm-Artgenosse. Evolutives Fortschreiten
vom 1% Auge zum 100% Auge ist möglich.
Für die mathematische Formulierung des Problems wurde der
veränderbare Glaskörper mit dem Brechungsindex ε aus Prismen der
11
Höhe h zusammengesetzt. Die Basisdicken dk der Prismen bilden die
Variablen der Polygonlinse. Die Randdicke d0 werde vorgegeben. Lichtstrahlen, die auf die Mitten (h / 2) der Prismen fallen werden als repräsentativ angesehen. Der Weg jedes Lichtstrahls lässt sich nach den Gesetzen der geometrischen Optik berechnen. Die Auftreffpunkte der n
Lichtstrahlen in der Bildebene liefern die Strahlenstreuung: Aus der
Skizze lässt sich die Qualitätsfunktion direkt ablesen:
)
n
Q=
∑[ R − h2 − h (k − 1) − hb (ε − 1) (d
k =1
k
2
− dk −1 )] → Min .
Im Bild 2-10 sehen wir die Entwicklung von der Fensterscheibe
zum Brennglas, durchgeführt mit einer (1, 10)-ES. Die neben den Generationszahlen stehenden geklammerten Zahlen geben die Werte der
Strahlenstreuung an.
Bild 2-10:
Von der Fensterscheibe
zum Brennglas.
12
Es sei festgehalten, dass die verwendete Optimierungsgleichung
nur für sehr dünne Linsen gilt. Wer mit der Evolutionsstrategie ein
farbkorrigiertes, viellinsiges Super-Teleobjektiv entwickeln möchte, muss
es mit der geometrischen Optik genauer nehmen. So dürfen sin α und
tan α nicht mehr gleich α gesetzt werden. Und der Lichtstrahl muss im
Glas exakt verfolgt werden, um seinen Austrittspunkt zu bestimmen.
Evolution einer Fernsehverkabelung
Kabelfernsehen kommt nach SCHILDA. Auf dem Marktplatz endet das
senderseitige Hauptkabel. Nun müssen die Haushalte daran angeschlossen werden. Der Bürgerrat beauftragt den Geometer der Stadt,
einen Verkabelungsplan minimaler Gesamtlänge auszuarbeiten. Dieser
hat gelernt, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die
Gerade ist. Strikt nach dieser Regel entwirft der Geometer von SCHILDA
seinen Verkabelungsplan (Bild 2-11a).
Bild 2-11a:
Fernsehverkabelung der
Häuser von SCHILDA.
Der Evolutionsstratege glaubt, mit Hilfe seiner Technik eine bessere Lösung entwickeln zu können. Er entwirft eine variationsfähige
Verbindungsgeometrie. Das Verbindungsnetz wird aus Dreierverzweigungen zusammengesetzt. Die Knoten der Verbindungsstruktur sind
x-y-verschieblich. Das Minimierungsproblem lautet:
Q =
∑
∆ xi2 − ∆ yi2 → Min .
alle Streckenenden
Die Evolutionsstrategie entwirrt das Knäuel der auf dem Marktplatz
übereinander liegenden Knoten. Das mit einer (1, 10) -ES gefundene
13
Minimalnetz benötigt 40% weniger Kabellänge als die Lösung des Geometers von SCHILDA (Bild 2-11b).
Bild 2-11b:
Evolutionsstrategische
Minimalverkabelung
von SCHILDA.
Es sei darauf aufmerksam gemacht, dass die Form der Minimallösung von der gewählten Netztopologie abhängt. Die Reihenfolge, in der
die Häuser „mathematisch“ verkabelt werden, ist im Verlauf der Optimierung nicht veränderbar. Wer das globale Optimum sucht, muss die
ES-Optimierung für andere Verknüpfungs-Topologien wiederholen. Auch
die Natur tut sich schwer, wenn es um das Optimieren einer Topologie
geht. Vom Diktat einer vorhandenen Struktur ist schwer wegzukommen.
Die Grundform des Skeletts der Fische hat sich im Verlauf der LandtierWerdung nicht verändert. Die Evolution hat die biologische Tragstruktur nie neu entworfen, sondern lediglich modifiziert.
ES-Konstruktion einer Fachwerkbrücke
Ein Fachwerk besteht aus Stäben, die an den Knotenpunkten gelenkig
miteinander verbunden sind. HOLGER EGGERT, der das folgende Beispiel programmiert hat, legt ein ebenes, statisch bestimmtes Fachwerk
zugrunde. Die Stabkräfte werden nach dem RITTERschen Schnitt-Verfahren berechnet. Es gilt, die Stabquerschnitte so auszulegen, daß
• für Zugstäbe eine zulässige Spannung gerade nicht überschritten wird,
• für Druckstäbe ein Euler-Knicken des Stabes gerade vermieden wird.
Sind die Stäbe nach diesen Regeln dimensioniert, lässt sich das Gewicht
der Konstruktion bestimmen. Gesucht ist die Lösung minimalen
Gewichts. Die Aufgabe ähnelt dem Verkabelungsproblem: Wieder sind
verschiebliche x-y-Koordinaten (Knotenpositionen) die Variablen des
14
Systems. Und wiederum legt die getroffene Knoten-Nummerierung eine
unabänderliche Verbindungsstruktur fest.
Die zwei Auflagerknoten bestimmen die Spannweite der Brücke.
Die Fahrbahn (Untergurt) ist in 11 Knotenpunkte unterteilt. Damit die
Fahrbahn eben bleibt, dürfen diese Knoten nur in x-Richtung verschoben
werden. Die 10 Obergurtknoten der Brücke sind dagegen in x- und y-Richtung verschieblich. Das Problem wird demnach durch 31 Variablen beschrieben. Die Belastung der Brücke ergibt sich durch die Fahrzeuge
auf der Fahrbahn. Der Statiker verteilt die Last gleichmäßig auf die
Untergurtknoten. Das Eigengewicht der Konstruktion wird vernachlässigt. In dem im Bild 2-12 dargestellten Computerlauf wurde eine
(10/10, 100)-gliedrige Evolutionsstrategie angewendet. Unter den aufgeführten Generationszahlen stehen (in Klammern) die Gewichte der
Konstruktionen.
Bild 2-12:
Evolutionsstrategische
Entwicklung einer
Bogenbrücke.
15
ES-Optimierung einer Rumpfspindel
Wie sieht ein Stromlinien-Drehkörper minimalen Widerstands aus?
WILLIAM E. PINEBROOK hat dieses Problem mit einer klassischen
(1 + 1)-gliedrigen Evolutionsstrategie mit 1/5-Erfolgsregel∗ behandelt.
Gegeben sind Stirnflächenkreis und Länge des Spindelkörpers. Für jede
evolutionsstrategisch erzeugte Variante wird im ersten Rechengang die
Druckverteilung ermittelt. Im zweiten Rechengang wird unter Berücksichtigung der Druckverteilung die Entwicklung der wandnahen reibenden Strömungsschicht verfolgt. PINEBROOK nimmt realistisch an, dass
trotz stabilisierenden Druckabfalls die Strömung bereits bei 3% der
Lauflänge turbulent wird. Die Grenzschichtrechnung liefert über die
Impulsverlustdicke den Reibungswiderstand des Spindelkörpers. Ferner
resultiert aus der Verdrängungswirkung der Grenzschicht eine veränderte Druckverteilung. Die Druckverteilung der Potentialströmung mit
der resultierenden Kraft Null in Strömungsrichtung wird verändert. Es
entsteht zusätzlich ein Druckwiderstand. Beide Widerstände ergeben
den Gesamtwiderstand, den es zu minimieren gilt. Das Bild 2-13 zeigt
die Entwicklung der Rumpfformen, angefangen von der „LuftschiffForm“ bis hin zur „Delfin-Spindel“.
Bild 2-13:
2400 Generationen der
Evolution einer Rumpfspindel
minimalen Widerstands.
∗
Regel zur Steuerung der Mutationsschrittweite. Sind unter 5 Mutanten mehr als eine
Erfolgreiche, so wird die Schrittweite vergrößert; umgekehrt wird sie verkleinert.
16
Zum Ergebnis möchte ich bemerken: Oberfläche erzeugt Reibung.
Somit wird die Optimierung dahin tendieren, die Körperoberfläche zu minimieren. Die Lösung allein dieses Problems erhielte man, wenn man
einen Stab mittig durch eine Kreisscheibe (gleich Stirnfläche) steckt und
das Gebilde in eine Seifenlauge taucht. Die sich bildende Haut umspannt
das Konstrukt mit minimaler Oberfläche. Doch die Seifenhautform hätte
am Hauptspant einen strömungsungünstigen Knick. In der evolutionsstrategischen Widerstandsminimierung wird dieser Konturknick beseitigt. Aber es gilt noch mehr zu bedenken. Solange der Körper sich aufdickt,
wird die Grenzschicht durch Beschleunigung dünn gehalten, und das
bedeutet große Reibung. Sollte demnach eine Reibungsgrenzschicht vorn
wenig beschleunigt werden um schneller dick zu werden (schlankes
Körpervorderteil)? Auch das wäre nicht richtig; denn dicke Grenzschichten
verfälschen die potentialtheoretische Druckverteilung, die ja den
Druckwiderstand Null hätte. — Dieser Exkurs in strömungstechnische
Details zeigt, welch komplexe Kompromissfindung die Lösung dieses
Optimierungsproblems ausmacht.
THORSTEN LUTZ (1997) hat den für die Praxis so wichtigen Fall
behandelt, bei gegebenem Volumen die Form eines Rumpfkörpers mit
kleinstem Strömungswiderstand zu finden. Für kleine REYNOLDSzahlen
(kleine Körperabmessung, kleine Geschwindigkeit) findet er evolutionsstrategisch die erwartete Form der Laminarspindel. Die Strömung wird
bis zu einer Lauflänge von ca. 70% beschleunigt, wodurch eine reibungsarme Laminarströmung stabilisiert wird (Bild 2-14a).
Bild 2-14:
Evolution von Luftschiffkörpern
minimalen Widerstands bei
verschiedenen REYNOLDSzahlen.
17
Steigt die REYNOLDSzahl, muss, um weiterhin Laminarströmung
aufrecht zu erhalten, die Strömung (durch Verdrängung) stärker beschleunigt werden. Die Optimalform wird dicker (Bild 14b). Erreicht die
REYNOLDSzahl schließlich den Wert eines großen Luftschiffs, muss zur
Grenzschichtstabilisierung die Strömung so stark beschleunigt werden,
dass nur noch eine kurze Lauflänge übrig bleibt. Der optimale Luftschiffkörper bekommt eine ungewöhnlich spitze Form (Bild 2-14c).
Eine spitze Form kostet Volumen. Deshalb wird bei moderaten REYNOLDSzahlen die Rumpfspindel vorn mit Volumen aufgefüllt. Steigt dann
die Konturdicke bis zum Maximum zu flach an, kann der Umschlagpunkt
laminar/turbulent abrupt vom Dickenmaximum nach vorn springen
(Strömungsbeschleunigung zu schwach!). Eine typische ES-Optimierung
der Luftschiffkörper endet deshalb mit starken Widerstandsausreißern.
Evolution einer Steinflugbahn
Im Jahre 1744 glaubte der französische Gelehrte PIERRE-LOUIS MOREAU
DE MAUPERTUIS einen allumfassenden Weltenplan gefunden zu haben.
Danach soll die Natur stets mit größter Sparsamkeit verfahren. Bei
einem Stein, der von einem Punkt a zu einem Punkt b fliegt, drückt sich
das Sparsamkeitsprinzip wie folgt aus:
b
∫ mvds → Min .
a
LEIBNIZ und EULER äußerten vor MAUPERTIUS bereits ähnliche
Gedanken. Das Minimierungsproblem, das die Natur bei jedem Steinwurf löst, sollte sich auch mit der Evolutionsstrategie behandeln lassen.
Wir binden das Energie-Erhaltungsprinzip im Schwerefeld in das
Wirkungsintegral ein und erhalten:
b
∫m
2 (E0 − m g y ) /m ds → Min .
a
Zur numerischen Lösung der Aufgabe mit der Evolutionsstrategie
wird die Bahnkurve des Steins durch einen Polygonzug approximiert. Die
x- und y-Werte der 10 Stützpunkte des Bahnpolygons ergeben 20 Vari-
18
ablen. Durch Verschieblichkeit der x-Koordinaten wird dafür gesorgt, daß
auch schleifenförmige Bahnen erzeugt werden können. Aber eine Äquidistanz der x-Achsen-Stützstellen wird belohnt. Das Bild 2-15 zeigt, wie
eine (1, 10) -ES eine physikalisch unmögliche Schleifenflugbahn in die bekannte Wurfparabel umformt.
Bild 2-15:
Steinflugbahnen ES-Minimierung des
Wirkungsintegrals.
Es sei daran erinnert, dass die Physik zahlreiche Extremalprinzipien
kennt, nach denen sich die Natur richtet:
1. Prinzip von TORRICELLI, nach welchem der Schwerpunkt eines beweglichen Systems im Schwerefeld die tiefste Lage annimmt.
2. Prinzip der minimalen potentiellen Energie eines elastostatischen
Systems im Gleichgewicht.
3. Prinzip von FERMAT, bei welchem ein Lichtstrahl stets den Weg
minimaler Zeit wählt.
4. Prinzip des kleinsten Zwanges von GAUß, bei dem die Abweichung der
erzwungenen von der ungehinderten Bewegung zum Minimum wird.
5. Prinzip von HERTZ, nach welchem eine Bewegung mit minimaler
Bahnkrümmung erfolgt (Prinzip der geradesten Bahn).
6. Prinzip von HAMILTON, bei dem das Zeitintegral über die LAGRANGEFunktion ein Minimum, Maximum oder Sattelwert annimmt.
Geht man davon aus, dass sich die Arbeitsgeschwindigkeit zukünftiger
Rechner weiter erhöht, könnte man viele komplexe Probleme in den Na-
19
turwissenschaften durch eine evolutionsstrategische Lösung des entsprechenden Extremalprinzips angehen. Dem HAMILTONschen-Prinzip
kommt dabei eine Vorzugsrolle zu. Es lässt sich nämlich für klassische
(mechanische, thermodynamische, elektrodynamische und chemische)
Systeme genauso anwenden wie für quantenphysikalische Vorgänge.
Das größte kleine Sechseck nach GRAHAM
Was ist die größte Fläche, die ein Sechseck annehmen kann, wenn keine
zwei Ecken einen größeren Abstand als Eins voneinander haben dürfen?
RONALD R. GRAHAM (1975) hat gezeigt, dass dies eine Figur ist, die der
Silhouette eines Diamanten ähnelt (Bild 2-17). Dabei ist die Fläche
A = 0,674981... eine algebraische Zahl vom Grad 10, die der Gleichung
4096 A10 − 8192 A 9 − 3008 A 8 − 30848 A 7 + 21056 A 6 + 146496 A 5
− 221360 A 4 + 1232 A 3 + 144464 A 2 − 78488 A + 11993 = 0
genügt. Im Vergleich: Die Fläche eines regelmäßigen Sechsecks beträgt
3 3 / 8 = 0,64959... Es ist eine Herausforderung für den Evolutionsstrategen, auch wenn das Ganze eher Denksport ist, das Problem nun für
Polygone mit anderen Eckenzahlen zu lösen. Die Aufgabe lautet: Der
Flächeninhalt eines Polygons ist unter der Nebenbedingung zu maximieren, dass keine zwei Ecken einen Abstand > 1 voneinander haben.
Diese Forderung lässt sich erfüllen, indem nach der Mutation das
Polygon normiert wird, so dass die größte Eckendistanz = 1 ist. Bild 2-16
zeigt neben dem GRAHAMschen Hexagon das größte kleine Oktagon und
das größte kleine Dekagon. Für eine ungerade Eckenzahl ist das größte
kleine Polygon stets ein reguläres Polygon.
Bild 2-16: Das größte kleine Hexagon, Oktagon und Dekagon.
20
Evolution eines magischen Quadrats
Ein magisches Quadrat ist eine spezielle Zahlenstruktur. Ganze Zahlen
sind zu einer quadratischen Matrix angeordnet. Die Zahlen sollen so
gesetzt werden, dass alle Spalten, alle Zeilen und die beiden Diagonalen
die gleiche Summe S ergeben. Die Größe S heißt magische Summe.
Etwa 4000 Jahre alt ist das „Chinesische Quadrat“, in welchem die
Zahlen 1 bis 9 zu einer 3 mal 3 Matrix mit der magischen Summe 15
angeordnet sind. Und ALBRECHT DÜRER hat in seinem Kupferstich
Melancholie ein magisches Quadrat aus 4 mal 4 Feldern dargestellt, das
unter Verwendung der Zahlen 1 bis 16 die magische Summe 34 aufweist. Es ist üblich, von einem magischen Quadrat zu fordern, dass es
mit aufeinanderfolgenden natürlichen Zahlen gebildet wird.
Um ein magisches Quadrat evolutionsstrategisch zu entwickeln,
muss eine Qualitätsfunktion Q konstruiert werden. Denn liegen zwei
unterschiedliche Quadrate A und B vor, muss entschieden werden können, ob A besser als B ist, B besser als A ist, oder A so gut wie B ist. Eine
Funktion, die diese Entscheidung zulässt, lautet für ein 3×3 Quadrat:
Q = (n1 + n2 + n3 − 15)2 + (n4 + n5 + n6 − 15)2 + (n7 + n8 + n9 − 15)2
+ (n1 + n4 + n7 − 15)2 + (n2 + n5 + n8 − 15)2 + (n3 + n6 + n9 − 15)2
+ (n1 + n5 + n9 − 15)2 + (n3 + n5 + n7 − 15)2 → Min
Die 9 Zellen werden zufällig mit den Zahlen von 1 bis 9 gefüllt. Um
bei Mutationen nun keine dieser Zahlen zu verlieren, wurde die folgende
Mutationsregel konstruiert:
• Suche zufällig eine Zahl aus dem Quadrat heraus.
• Mutiere diese Zahl virtuell um einen kleinen Betrag.
• Suche die Zahl im Quadrat, die gleich der Abgeänderten ist.
• Vertausche die Zahlen in den zwei Zellen.
Für ein kleines 3×3 Quadrat ist die beste Mutationsschrittweite
die kleinste Mutationsschrittweite (± 1). MICHAEL HERDY (1998) hat mit
der Evolutionsstrategie magische Quadrate der Ordnung 100 ×100 geschaffen und dabei erfolgreich eine mutative Schrittweitenregelung angewandt. Diese Regelung bewirkt, dass zu Beginn der Optimierung mit
21
einer größeren Mutationsschrittweite als ± 1 mutiert wird. HERDY fordert
zusätzlich, dass sein Quadrat ein Unterquadrat mit den Zahlen fortlaufend von 1 bis 9 enthält. Damit wird dem Einwand begegnet, dass es ja
deterministische Algorithmen gibt, die ein reguläres magisches Quadrat
erzeugen.
Im Bild 2-17 zeige ich ein Magisches Quadrat, das auf der Jahrtausend-Abschlussvorlesung Evolutionsstrategie I präsentiert wurde.
Das 21×21 Quadrat hat die Zeilen- Spalten- und Diagonalensumme von
2000. Zusätzlich wird im Inneren des Millennium-Quadrats noch die
Jahreszahl 2000 sichtbar reproduziert. Es handelt sich hier um ein unechtes magisches Quadrat, d. h. Zahlen dürfen sich wiederholen. Es
wurde eine geschachtelte [1, 4(1, 30)100]-ES angewendet. Einen deterministischen Algorithmus zur Lösung diese Aufgabe kenne ich nicht. So
lassen sich auch magische Quadrate erzeugen, die ein Geburtstagsdatum enthalten oder eine Scheckkartennummer „verbergen“. Der Evolutionsstrategie bereiten solche Sonderwünsche keine Probleme.
1
Bild 2-17:
Millennium-Quadrat
für das 21ste Jahrtausend mit 21×21 Feldern
und der Magischen
Summe 2000.
Herunterladen