ERGEBNISSE DER MATHEMATIK UND IHRER GRENZGEBIETE HERAUSGEGEBEN VON DER SCHRIFTLEllUNO DES "ZENTRALBLATT FOR MATHEMATIK" DRiTTER BAND --------------4-------------MATHEMATISCHE GRUNDLAGENFORSCHUNG INTUITIO NISMUS .BEWEISTHEORIE VON A.HEYT1NG BERLIN VERLAG VON JULIUS SPRINGER 1934 AMS-Subject Classifications (1970) 02-02, 02055, 02EOS ISBN-13: 978-3-540-06298-1 DOl: 10.1007/978-3-642-65617-0 e-ISBN-13: 978-3-642-65617-0 Das Werk ist urheberrechtlich geschtitz!. Die dadurch begrtindeten Rechte, imbesondere die der Oberset;zung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ahnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwendung, vorbehalten. Bei Vervielfaltigungen ftir gewerbliche Zwecke ist gemaS § 54 UrhG eine Vergiltungan den Verlag zu'zahlen, dercn Hohc mit dem Verlag zu vereinbaren is!. ©Copyright 1934 by Julius Springer in Berlin Library of Congress Catalog Card Number n-10718 Inhaltsverzeichnis. Einlei~ng • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Selle 1 Erster Abscbnitt. Intuitionismus. § 1. Einleitung. Der EinfluB von PoiNCARi 3 § 2. Die franzOsischen Halbintuitionisten. . . 4 1. Endlicbe Definierbarkeit. . . . .. . . 4 5 2. Naturlicbe Zahlen. Zweite Zablklasse . 3. Das Kontinuum. Der Abzll.blbarkeitsbegriff. Funktionentbeorie S 4. BORELSCbe Mengen . . . . . 7 § 3. Die erste Theorie von WEYL. . . 9 § 4. Der Standpunkt von KAUFMANN . 9 11 § 5. Der BROUWERSCbe Intuitionismus . 1. Die matbematiscbe Intuition. Matbemr.tik und Spracbe. Mathematik und Logik . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . • . 11 2. Matbematiscbe Logik. Aussagenkalkul. Funktionenkalkul. 13 18 3. Das Kontinuum. Wahlfolgen. Zablenrecbnen 4. Beispiele. . . . . , . . . . . . . . . 20 S. Arithmetik und Algebra. Wurzelexistenz. Reiben. Differential- und Integralrechnung. Funktionentbeorie • ... . . . . . . . . . . 22 6. Mengenlehre. Ml!.Cbtigkeitstbeorie. Ordnungstbeorie. Woblorclnung 24 27 1. Punktspezies.Topolo'gie. Funktionenlebrt:. Geometrie.·. • . . . Zweiter Abscbnitt. Axiomatik und Beweistheorie. § 1. Die axiomatiscbe Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Wesen der Methode . . . . . . . . . . . . . • • . . . . • 29 2. Widerspruchsfreiheit. Vollstandigkeit. Gleicbwertige Axiomensysteme . . . . . . . ' . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3. Axiomatik der Mengenlehre. Mengentbeoretische Definition der natilrlichen Zahlen. Axiomatik der Arithmetik. 33 § 2. HILBERTS Beweistheorie . . . . .'. 3S 1. Friihere Arbeiten HILBERTS . . . 3S 2. Grundgedanken der Beweistheorie 37 3. Metamathematik • . . . . . . . 38 4. HILBERTS formales System. Aussagenkalkul. Funktionenkalkul. Die logische E-Funktion. Da5i Axiomensystem fUr die Analysis . . 40 S. Widerspruchsfreiheit. Der ACKERMANNsche Beweis. Der v. NEUMANNsche Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 6. Die Vollstandigkeitsfrage. Die Allzeichenregel . . . . 48 7. Axiome fur die Mengenlehre. Das Kontinuumproblem 49 8. Sinn und Tragweite der Beweistheorie ' . 51 9. Die neue Theorie HILBERTS . 52 § 3· Intuitionismus und Beweistheorie 53 IV [376 Inhaltsverzeichnis. Dritter Abschnitt. Andere Standpunkte. § i. Verschiedene Richtungen . . . § 2. MANNOURY • • • • • • • • • § 3. Der .. Empirismus" von PASCH Seite • 57 58 • 59 Vietter Abschnitt. Ma~hematik § i. § 2. § 3. § 4. und Naturwissenschaft. Einleitung .............. Formale Mathematik und Erfahrung . . . IntuitionistjSche Mathematik und Erfahrung Vergleichung der beschriebenen Standpunkte Nachwort • . • . . . Literaturverzeichnis . . . . 62 64 65 67 68 69 Einleitung. In den letzten Jahrzehntel! hat sich das Interesse an der Grundlegung der Mathematik immer gesteigert. Fanden frtiher die wenigen Forscher, die sich emsthaft mit dieser 'Frage beschaftigten, wenig Beachtung, heute ist die Teilnahme sowohl von mathematischer wie von philosophischer Seite fast allgemein. Zu diesem Umschwung hat sieher die CANToRSche Mengenlehre, die gleich nach ihrem Entstehen lebhafte Erorterungen tiber ihre Berechtigung hervorrief, den AnstoB gegeben, und besonders die bei riicksichtsloser Durchfiihrung ihrer Grundgedanken auftretenden Widerspriiche zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Doch ist die bisweUen noch geauBerte Behauptung, der Zweck -der Grundlagenforschung liege in der Beseitigung der Widersprtiche, verfehlt. In philosophischer und in mathematischer Richtung geht diese weit tiber eine solche Zielsetzung hinaus. Philosophisch untersucht man -das Wesen der mathematischen Erkenntnis, ihre Voraussetzungen und Endziele, ihr Verhaltnis zu anderen Wissensgebieten, insbesondere der Physik, und ihre Abgrenzung gegen diese dem lnhalt und der Methode nacho An diese philosophischen Erorterungen schlieBen sich umfangreiche mathematische Untersuchungen tiber den Aufbau der Mathematik aus den philosophisch gegebenen Voraussetzungen und tiber die Struktur der mathematischen Beweisftihrungen. Einzelne Teilgebiete dieser Untersuchungen entwickeln sich schon zu selbstandigen Disziplinen, die sich in ihren Methoden und Problemstellungen von der eigentlichen Grundlagenforschung unabhangig machen; ein Beispiel eines solchen neuen Zweiges der Mathematik, der sein Entstehen der Grundlagenforschung verdankt, ist die mathematischp. Logik. Allmahlich haben sich drei J.auptrichtungen gebildet, die je einer eigenen Auffassung tiber das Wesen der Mathematik entsprechen undo je zu verschieden gearteten mathematischen Untersuchungen geftihrt haben. Nach der logistischen Auffassung ist die Mathematik ein Zweig def Logik. Es entstanden so die mathematischen Probleme, erstens die Logik exakt aufzubauen, zweitens die Mathematik aus der Logik wirklich zu entwickeln. An diesen formalen Aufbau schlieBen sich dann die "metamathematischen" Untersuchungen an, in denen der formaie Apparat an sich, ohne Rticksicht auf seine inhaltliche Bedeutung, auf seine Struktur untersucht wird. Gerade diese metama:thematischen Untersuchungen fangen an, sich zu selbstandigen Disziplinen zu entwickeln. Ergebnisse der Mathematik. llI/4. Heyting. Einleitung. [378 ~ach jormalistisclzer Auffassung ist die cigentliche Mathematik rein formaler Art; es wird aber groBes Gewicht gelegt auf die metamathematische Betrachtung der formalen 1Iathematik, durch die insbesondere die Widerspruchsfreiheit (in einem speziellen, genau festzulegenden Sinn) des formalen Systems sichergestellt werden soIl. Nach intttitionistisclzer Auffassung hat die Mathematik inhaltliche Bedeutung und entsteht sie durch eine konstruktive Tatigkeit unseres Verstandes. Der wirkliche Aufbau der Mathematik auf dieser Grundlage ist ein gewaltiges Problem; es zeigt sich, daB nicht dem ganzen Bestand der klassischen Mathematik ein solcher inhaltlicher Sinn zugeschrieben werden kann. In diesem Referat behandle ich die mathematische Grundlagenforschung nach der intuitionistischen und der formalistischen Richtung. Es ist offenbar unmoglich, auf diesem Gebiet die philosophischen und die mathematischen Betrachtungen voneinander zu trennen. 1m Gegenteil bin ich bei der Begrenzung des Stoffes von der engen Verbindung der Philosophie mit der Mathematik ausgegangen. Nach der philosophischen Seite habe ich mich auf das fur das Verstandnis der mathematischen Probleme Notwendigste beschrankt; von den mathematischen Problemen behandle ich nur diejenigen, die noch deutlich mit der Antwort auf die Frage: "Was ist Mathematik?" zusammenhangen. Nickt behandelt sind erstens der logistische Aufbau der Mathematik, zu'eitens die Probleme der reinen Logik, wie das "Entscheidungsproblem", drittens die allgemeinen metamathematischen Untersuchungen, die ganz beliebige Kalkiile zum Gegenstand nehmen. Ein besonderes Referat hieruber ist fUr diese Sammlung geplant. Erster Abschni.tt. Intuitionismus. § 1. Einleitung. Der EinfluB von POINCAR£. Zu den Intuitionisten rechnen wir diejenigen Mathematiker, die den folgenden Grundsatzen zustimmen: 1. Mathematik hat nicht bloB formale, sondem auch inhaItliche Bedeutung. 2. Die mathematischen GegensUinde werden von dem denkenden Geist unmittelbar erfaBt; die mathematische Erkenntnis ist daher von der Erfahrung unabhangig. Als Vorlaufer der heutigen Intuitionisten kann POI~CARE betrachfet werden. In dem ersten seiner bekannten philosophischen Biicher [1] vertritt er die Meinung, daB die mathematische Induktion, d. h. der Beweis durch rekurrierendes Verfahren, sich uns mit Notwendigkeit aufzwingt, weil er nur eine Betatigung einer Eigenschaft unseres Verstandes ist. Spater [3J dehnt e~.·die inhalt1iche Beqeutung puf andere mathematische Begriffe aus: "Wenn man den mathematischen Gedimken auf eine leere Formel zuriickfiihrt, wird er sicher verstiimmeIt." Die Bestrebungen der Formalisten, die mathematische Induktion durch den Beweis ihrer Widerspruchsfreihelt zu recht:fFrtigen, IJekampfte er durch die Bemerkung, daB man bei diesem Beweis gezwungen sein wird, eben dieses Prinzip der vollstandigen Induktion oder ein gleichwertiges Prinzip zu benutzen. Fiir andere mathematische Gegenstande als natiirliche Zahlen laBt er aber den Widerspruchsfreiheitsbeweis als Existenzbeweis gelten. Die Gegenstande einer mathematischen Theorie existieren fUr ihn, wenn die Axiome der Theorie zu keinem Widerspruch fiihren konnen. Allerdings betrachtet er die Widerspruchsfreiheit der Lehre von den natiirlichen Zahlen als durch ihre intuitive Klarheit gewahrleistet; dadurch wurde es moglich, sie ffir andere Axiomensysteme, wie dasjenige der Geometrie, durch Berufung auf die Arithmetik zu beweisen, wie es von HILBERT in seinen ersten axiomatischen Arbeiten ausgefiihrt worden ist. Indem POINCARE die Notwendigkeit der Intuition und den intuitiven Charakter der elementaren Arithmetik behauptete, war er Vorlaufet der Intuitionisten; durch die Gleichsetzung von Existenz mit Widerspruchsfreiheit hat er die HILBERTsche Beweistheorie vorbereitet. So findet man die Spuren seiner Gedanken in verschiedenen Richtungen der modemen Grundlagenforschung wieder. Wichtig sind 1* 4=======================I=nt=I=lit=io=n=i=sn=1=u=s,====~===============[=3==80 auch seine Untersuchungen fiber den Zusammenhang der Mathematik, insbesondere der Geometrie, mit der Erfahrung (Abschnitt IV, § 1). Der zweite Grundsatz Hi.I3t zweierlei Auffassung zu. Man kann den mathematischen Gegenstanden eine Existenz an sich, d. h. unabhangig von unserem Denkcn, zuschreiben; auf ihre Existenz kann aber von uns nur geschlossen werden durch Konstruktion, wobei der an sich schon existierende Gegenstand von uns nachgebildet wird und erst dadurch fUr uns erkennbar wird. Wir wollen diese Auffassung als halbintuitionistisch bezeichnen. Einen Ansatz zu ihrer Durchfiihrung hat KRONECKER gemacht [1}; dieselbe Auffassung liegt im wesentlichen den Theorien der franzosischen sag. Realisten oder Empiristen (BOREL, LEBESGUE, BAIRE) und auch derjenigen des Wiener Philosophen F. KAUFl\IANN zugrunde . .Ahnliche Auffassungen sind u. a. von SKOLE!l1 [1J und von RICHARD [1J vertreten worden. Die zweite Moglichkeit wird von BROUWER vertreten, der den mathematisehen Gegenstanden jede von dem Denken unabhangige Existenz abspricht oder wenigstens die Uberzeugung einer solchen Existenz als mathematisehes Beweismittel fUr unberechtigt halt. § 2. Die franzosischen Halbintuitionisten. Uber die Gedanken der "Empiristen" liegt keine zusammenfassende Darstellung vor. Ihre vielen, oft in losem Zusammenhang gemaehten Bemerkungen widerspreehen sieh mehrmals; die Meinungen ihrer Anhanger bilden einen allmahliehen Ubergang von den "Idcalisten" wie HADAMARD zu den extremen "Realisten',' oder "Empiristen" wie BAIRE. Oft trifft uns ein stark opportunistiseher Einsehlag derart, daJ3 diejenigen Begriffe als zulassig betraehtet werden, die sich als nfitzlieh ffir die Entwicklung der Wissensehaft erweisen (z. B. LUSIN [1], S. 324; BOREL [1J, S. 144 oben). Am ausfUhrlichsten haben BOREL [1, 3J und LUSIN [1J ihre Gedanken auseinandergcsetzt. 1. Endliehe Definierbarkeit. Eine wiehtige Rolle spielt in der Kritik dieser Gelehrten der Begriff der endlichen Definierbarkeit. Die Existenz eines Gegenstandes wird nur dann als gesichert betraehtet, wenn er mittels einer endliehen Anzahl von \V6rtern de.finiert werden kann. Man solI hier nicht an irgendeine Form des Nominalismus denken'; es liegt wohl die Auffassung zugrunde, daB ein endlicher Dcnkvorgang sieh aueh spraehlich in endlicher Form manifestieren muB und umgekehrt, so daJ3 endliche Definierbarkeit niehts anderes bedcutet als endliehe Konstruierbarkeit. Die Kritik von BOREL wurde angeregt dureh die ZERlIlELOSehe Axiomatik der Mengenlehre, die er inhaltlieh auffaBte; sie riehtete sieh im Anfang vomehmlieh gegen das Auswahlaxiom ([1J, S. 147). Es glaubt wohl niemand an die Mogliehkeit, die "Auswahlmenge" in jedem Fall wirklieh herzustellen (FRXNKEL [5J, S. 81 f.); daher ist das Axiom, 381} § 2. Die franzosischen Halbintuitionisten. 5 inhaltlich verstanden, mit dem soeben beschriebenen Existenzbegriff unvertraglich. Diese Bemerkung gab den Mathematikern BOREL, HADAMARD, BAIRE und LEBESGUE Veranlassung, ihre sicher schon ofters miindlich ausgesprochenen Gedanken iiber diese und verwandte Fragen zu veroffentlichen; dabei zeichnete sich die "idealistische" Auffassung HADAMARDS gegen die "realistische" der iibrigen ab (BOREL [1]. S. 150 bis 160). LEBESGUE hat, in direkter Ankniipfung an diese Diskussion, vorgeschlagen, die Mathematik auf die "nennbaren" (nommable) Gegenstande zu beschran"ken; nennbar heiBt individuell charakterisierbar. Diese Forderung geht viel weniger weit als die der Konstruierbarkeit. 2. Nattirliche Zahlen. In Anlehnung an POINCARE betrachtet BOREL die Reihe der natiirlichen Zahlen als jedem Mathematiker in geniigender Klarheit gegeben, urn MiBverstandnisse unmoglich zu machen. In dieser Intuition der natiirlichen Zahlen ist die Beweismethode der vollstandigen Induktion, die von POINCARE als der spezifisch mathematische Denkvorgang hervorgehoben worden war, schon enthalten. Wiederholt hat BOREL betont, daB diese Intuition mehr enthalt als die einfache Bemerkung: "Nach jeder Zahl gibt es eine folgende"; dieses Mehr versucht er so in Worte zu fassen ([1], S. 145): "Das Verfahren, welches gestattet, durch Hinzufiigung einer Einheit aus einer Zahl die folgende zu bilden, kann bis ins Unendliche als in gewisser Hinsicht jedesrna} dasselbe betrachtet werden." E1' stellt dann die Aufgabe, naher zu untersuchen, inwieweit und von welchem Standpunkt aus diese Operation jedesmal als dieselbe erscheint. Diese Frage ist fUr ihn wichtig wegen ihrer Beziehung zu dem Problem der Existenz der zweiten CANTQRschen Zahlklasse. Zweite Zahlklasse. Wenn der Begriff der natiirlichen Zahl durch jene einfache Bemerkung erschopft ware, so konnte auch die Anwendung der zweiten Zahlklasse als fertiges Ganzes durch den Satz: "Zu jeder Fruge von abzahlbaren Ordnungszahlen gibt es eine groBere" gerechtfertigt werden. Die Sache liegt anders, wei! der Begriff der Zahlenreihe die Identitat der Nachfolgerelationen voraussetzt; etwas .Ahnliches gibt es ffir die zweite Zahlklasse nicht. Man kann gewisse ihrer Anfangssegmente durch Konstruktion herstellen, aber man kann keine Konstruktion angeben, die alle Zahlen der zweiten Zahlklasse durch intuitiv verstandliche Prozesse zu bilden gestattet. Deshalb lehnt BOREL alle Beweisfiihrungen, in denen die Gesamtheit der Zahlen der zweiten CANToRschen Klasse auftritt, abo 3. Kontinuum. Das Kontinuum betrachtet BOREL als durch die geometrische Intuition unmittelbar gegeben; seine wichtigste Eigenschaft ist die Homogenitat, die zur Folge hat, daB es unmoglich ist, einzelne Elemente des Kontinuums durch besondere Merkmale zu kennzeichnen. Das wird erst moglich, nachdem arithmetische Begriffe eingefiihtt sind, wobei sich alle bei der Begriindung der Arithmetik auf- 6 Intuitionismus. /382 tretenden Schwierigkeiten bemerkbar machen. Eine reelie Zahl ist erst definiert, wenn man sie mit beliebiger Genauigkeit durch rationale Zahlen approximieren kann; diejenigen Zahlen, fiIT welche das moglich ist, nennt BOREL berechenbar (calculable) ; sie sind die einzigen individueli definierbaren. Nun ist einerseits die Menge alier berechenbaren Zahlen abza.hlbar, weil sie einer Teilmenge der Menge alier endlichen Wortfolgen aquivalent ist; andererseits kommen in der Ma thema tik keine anderen als berechenbare Zahlen vor. Der Satz: "Das Kontinuum ist iiberabzahlbar" bedeutet also nichts mehr als die Behauptung, daB wir es durch abzahlbare Mengen niemals erschopfen werden; es ware sitmlos, zu behaupten, daB auBer den abzahlbar vielen bereehenbaren Zahlen noeh andere individueli angebbare Zahlen existieren. Aligemeiner behauptet BOREL ([1], S. 166), die abziihlbaren Mengen seien die einzigen wirklich vorkommenden; der Begriff der niehtabziihlbaren Menge sei rein negativ. Der Abzahlbarkeitsbegriff. Die Unterscheidung zwischen bereehenbaren und nichtbereehenbaren Zahlen entspricht iihnliehen Unterseheidungen auf anderen' Gebieten. So betrachtet BOREL neben den abziihlbaren die wirklich aufzahlbaren (effectivement enumerable) Mengen; fUr diese muB sieh das Abzahlungsgesetz. wirklieh angeben lassen. Eine unendliche Teilmenge einer wirklieh aufzahlbaren Menge ist abziihlbar, sie braucht aber nieht wirklieh aufzahlbar zu sein; z. B. ist die Menge aller berechenbaren Zahlen nieht wirklieh aufzahlbar. Hierin liegt BORELS Antwort auf die RICHARDsche Antinomie: Wenn sieh das Abzahlungsgesetz nieht wirklich angeben laBt, so ist das Diagonalverfahren auf die betreffende Menge nicht anwendbar ([1], S. 162). Funktionentheorie. Den Berechenbarkeitsbegriff hat BOREL auf Funktionen ausgedehnt. Eine Funktion heiBt bereehenbar, wenn ihr Wert fur jedes bereehenbare Argument eine bereehenbare Zahl ist. Wiehtig ist die Bemerkung, daB jede berechenbare Funktion auf der Menge der bereehenbaren Argumente stetig ist (vgl. den BROUWERschen Satz von der Stetigkeit jeder volien Funktion, unten in § 5, 7). Die niehtberechenbaren Funktionen werden nicht gerade ausgeschlossen, sondern der Wahrscheinlichkeitsreehnung untergeordnet; eine nichtbereehenbare Zahl ist nicht individueli definierbar und kann nur als durch den Zufall bestimmt gedacht werden. Eine genaue Umschreibung dessen, was aus der klassischen Mathematik von der empiristischen Kritik zerstort wird, ist niemals versucht worden; d\ejenigen im engeren Sinn klassischen Theorien, die nicht unmittelbat mit mengentheoretisehen Fragestellungen verknupft sind, werden ziemlich allgemein als gesichert betrachtet. VereinzelHindet man wesentlich radikalere Bemerkungen; so sagt LEBESGUE (BOREL [1], S. 156), da~ nichtr notwendig jede Menge entweder endlieh oder unendlieh ist, unli erwihnt BOREL einmal die Moglichkeit, daB fUr zwei reelie 383/. § 2. Die franzosischen Halbintuitionisten. 7 Zahlen die Entscheidung fiber ihre Gleichheit oder Ungleichheit nicht gelingen k6nnte, schiebt diese Schwierigkeit aber sofort wieder zur Seite (1. c., S. 220). Einige Forscher, wie KURATOWSKI, SIERPINSKI [1J und TARSKI haben den Begriff der Definierbarkeit an sich untersucht. Wir besprechen diese Arbeiten hier nicht, weil sie entweder sehr spezielle Beispiele behandeln oder den Begriff der Definierbarkeit auf ein vorher gegebenes formaThs System beziehen, wodurch jeder Zusammenhang mit dem Intuitionismus verlorengeht (TARSKI [2]~ 4. BORELSche Mengen. Am fruchtbarsten waren die Untersuchungen fiber Grundlagenfragen ffir die Theorie der Punktmengen und der reellen Funktionen. Zu der Theorie der BORELSchen M engen (von BOREL zuerst ensembles mesurables, spater ensembles bien de/inis, heute . in Frankreich nach LEBESGUE ensembles mesurables B genannt) ist BOREL durch seine Betrachtungen fiber die Grundlagen der Mengenlehre angeregt worden. Zu jeder linearen Punktmenge geh6rt eine Funktion, die in allen Punkten der Menge gleich 0, sonst gleich 1 ist; die Menge heil3e wohldefiniert, wenn die zugeh6rige Funktion berechenbar ist oder, was in diesem Fall dasselbe bedeutet, wenn sich fUr jeden berechenbaren J>unkt entscheiden Hil3t, ob er zur Menge geh6rt oder nicht. Die Funktion ist dann, wie oben bemerkt, auf der Menge der berechenbaren Zahlen, also auf einer dichten Menge, stetig, folglich auf dieser Menge konstant. Die wohldefinierte Menge umfal3t entweder keinen berechenbaren Punkt oder alle berechenbaren Punkte eines Intervalls. An den Endpunkten des Intervalls ergeben sich Schwierigkeiten, well es auch ffir einen berechenbaren Punkt unentscheidbar sein kann, auf we1che Seite der Grenze er fillt; daher ist eine aus abzahlbar vielen Intervallen aufgebaute wohldefinierte Menge nur bis auf eine h6chstens abzahlbare Menge bestimmt ([1], S.225). Von den aus Intervallen gebildeten Mengen ausgehend, erhalt man weitere BORELsche Mengen dur';::h Anwendung der beiden Operationen: 1. Bildung der Vereinigungsmenge von endlich oder abzahlbar vielen zueinander fremden Mengen; , 2. Bildung der Komplementarmenge einer Menge in bezug auf eine andere, in der sie als Teilmenge enthalten ist. Die so gebildeten BORELschen Mengen hat BOREL seiner Mal3theorie zugrunde gelegt. Auch in der Funktionentheorie hat er sich bemfiht, seine erkenntnistheoretischen Einsichten zu einer positiven Theorie zu verwerten. Vor Ausfiihrungen, die auf grol3te Allgemeinheit zielen, gibt er so1chen den Vorzug, die sich auf mit bestimmten Konstruktionsmitteln erreichbare Funktionen beschranken, sich dafUr aber auf jeden Einzelfall ohne Schwierigkeit anwenden lassen ([3], S.91-96). Als Beispiel einer so1chen Methode ist seine Integrationstheorie zu nennen ([1] ~ Note VI). 8 Intuitiontsmus. 1381 In der BORELschen Punktmengentheorie spielen die rationalen Punkte keine besondere Rolle. In der BAlREsehen Klassifikation der Funktionen aber, von DE LA VALLEE POUSSI.N auf Punktmengen fibertragen, werden in der soeben beschriebenen Konstruktion niu- die Intervalle mit rationalen Endpunkten zugrunde gelegt. Wenn auch die von BOREL bemerkten Schwierigkeiten an den Endpunkten hierdureh nieht behoben werden, so wird doeh wenigstens fUr. je zwei Intervalle die Frage naeh ihrer IdentiHit oder Verschiedenheit entscheidbar. Der so erhaltene Begriff der BORELSchen Menge umfaBt genau dieselben Mengen wie der vorige; die Intervalle mit irrationalen Endpunkten und die aus einem einzigen irrationalen Punkt bestehenden Mengen gehoren jetzt zu den BORELschen Mengen der zweiten Klasse und werden nicht mehr als einfach betrachtet. Der Begriff der BORELschen Menge ist allgemein genug, urn es a1s zweckmii.Big erseheinen zu lassen, die Analysis auf die Betraehtung solcher Mengen zu beschriinken. Dieser Gedanke wurde widerlegt v.on LUSIN (vgl. die in LUSIN [1] angegebene Literatur), welcher zeigte, daB die BORELschen Mengen im engeren Sinn, naeh Erweiterung auf mehrere Dimensionen, nieht invariant sind gegenfiber der orthogonalen Projektion auf einen Raurn mit geringerer Dimensionenzahl, selbst dann nieht, wenn die Projektionsrichtung parallel zu einer Koordinatenachse ·gew1ihlt wird. Aus den BORELSchen Mengen ergeben sich durch Projektion die analytisehen Mengen; .. die Komplementarmenge einer analytisehen Menge ist im allgemeipen nieht analytiseh; dureh Projektion einer solehen Komplementarmenge erhaIt man·ein~ Menge aus einer neuen Klasse usw.; .alle so entstehenden Mengen werden projektive Mengen· genannt. Doch hebt LUSIN, der die Theorie dieser Mengen zu einem groBen Tell selbst entwickelt und sie in [1] zusammengefaBt hat, in dieser DarstellUng nachdriicklich hervor, daB er die projektiven Mengen nieht als wohldefinierte Gegenstiinde betrachtet, well in allen bisher bekannten fiber die BORELsehen Mengen hinausgehenden Beispielen entweder die zweite Zahlklasse als Ganzes oder die Bildung der Komplementarmenge einer vorgegebenen Menge benutzt wird ([1], S.299). Auch die letztgenannte Methode -ist nach seiner Ansieht unzulassig, well sie die Menge aller reellen Zahlen als gegeben voraussetzt. Falls andererseits alle BORELsehen Mengen zulassig sind, so sind es auch alle projektiven. Es bleibt keine andere Folgerung fibrig a1s die, daB die BORELSche Kritik auch auf diesem Weg nieht zu einer b~auchbaren Abgrenzung des Sinnvollen in der Analysis gefiihrt hat. Durch die Anregung~ der empiristischen Kritik ist die Mathematik um viele schOne und wichtige Theorien bereichert worden; es ist hier nieht der Ort, darauf einzugehen. Sie hat die Grundlagenforschung gefordert, indem sie mit Recht darauf hinwies, daB die traditionelle Mathematik, nieht durchweg sinnvoll ist und indem sie in angemessener· , 386J § 4. Der Standpunkt von KAUFMANN. 9 Weise die· Konstruktivitatsforderung in den Vordergrund geschoben hat. DaB sie nieht zu einem befriedigenden Resultat gefUhrt hat, liegt zum Tell an ihrem Ausgangspunkt, zum Tell an ihr~r Methode. DaB sie die Konstruierbarkeit mit endlicher Definierbarkeit, mithin die Mathematik mit ihrer sprachlichen Begleitung verwechselt, ist wohl praktisch nieht sehr wichtig. Der Versuch, die Grundlagenprobleme durch lose zusammenhangende Einzelbemerkungen und von Fall zu Fall angebrachte Verbesserungen an dem Bestehenden zu lOsen, zeigt, daB sie sieh der Schwierigkeit und Tiefe" dieser Fragen nieht gentigend bewu8t war. " § 3. Die erste Theorie von WEYL. . 1918 hat WEYL eine Theorie aufgestellt, die mit derjenigen d~r Empiristen eng verwandt ist [1,2,3]. Er geht aus von der Bemerkung, daB der Begriff der berechenbaren Zahl nieht umfangsdefinit" ist, solange man die zugelassenen Konstruktionsmitter nicht angibt. Er versucht deshalb, die Analysis auf bestimmte vorher angegebene Konstruktionsmittel zu beschranken, und es gelingt ibm, so eine Mathematik aufzubauen, in der das CAUCHYSche Konvergenzprinzip und der Satz, daB eine stetige Funktion jeden Zwischenwert annimmt, gelten, dagegen nicht der Sa~, daB jede beschrankte Menge reeller Zahlen eirte obere Grenze besitzt. Wiehtig i~t seine Bemerkung tiber die Relativitat der Abza.hlbarkeit. Das WEYLsChe Zahlensystem ist im klassischen Sinn abzahlbar; die abzahlende Relation ist aber nieht mittels seiner Konstruktionsmittel herstellbar, so daB die Menge alIer Zahlen des Systems im System als nicht abzahlbar gelten muB. Es ist das die von SKOLEM [1J in allgemeinerem Zusammenhang untersuchte Erscheinung. WEYL hat spater diese Theorie aufgegeben, wei! er infolge der BROuWERschen Kritik die Anwendung des Satzes yom ausgeschlossenen Dritten auch innerhalb der konstruktiven Mathematik als unberechtigt erkannt hat. § 4. Der Standpunkt von KAUFMANN. In seinem Buch [1] hat KAUFMANN eine mit derjenigen der franzosischen Empiristen verwandte Auffassung ausfiihrlich phllosophisch begriindet und die wichtigsten mathematischen Konsequenzen systematisch untersucht. Eine der Hauptthesen,· auf die er seine Untersuchung grundet, formuliert er so: ,,]eder Erkenntnisakt geht auf einen unabhangig von diesem Akte bestehend gedachten Sachverhalt in der physischen oder psychischen (bzw. psychophysischen) Welt. Kein Sachverhalt ist denkbar, der prinzipiell unerkennbal; ware." Durch diesen Ausgangspunkt verriegelt er sich den Zugang zu dem BROUWERschen Intuitionismus, so daB die im weiteren Verlauf von ihm 10 Intuitionismus. - [386 gegen BROUWER gefiihrte Polemik ziemlich gegenstandslos ist. Die zweite HaupttheSe. die seinem Werk das intuitionistische Geprage gibt. besteht in der Verwerfung des Komprehensionsprinzips. nach dem diejenigen Gegenstmde, die eine Pestimmte Eigenschaft besitzen. zu einer Menge zusammengefa.6t werden konnen. Die Sitze der Logik werden in derselben Weise wie in den neueren logistischen Untersuchungen als Tautologien gedeutet. Die Logik sagt also nichts aus tiber .die Welt, sie 'setzt aber die Welt voraus. Die nattirlichen ~en werden aus dem ProzeB des Zablens hergeleitet durch Abstraktion von den gezablten Gegenstanden. Um das zeitliche Mome~t, das in dem ZiihlprozeB enthalten ist, auszuschalten, werden die Ordnungsbeziehungen als Unvertraglichkeitsbeziehungen gedeutetderart. daB das Vorliegen einer Zahl mit dem Nichtvorliegen jeder kleineren Zahl unvertraglich ist.Nun werden ,die natiirlichen Zahlen definiert als die E1emente der durch die folgenden Festsetzungen und ausschlie8lich durCh sie bestimmten Struktur: 1. Es gibt ein und nur ein Element, dem kein anderes vorangeht. 2. Zu jedem Element Z" gibt es ein und nur ein Element Zm' -dem Z" und aIle Z. vorangehendenElemente-und.keine anderen vorangehen. 3. Die durch 2. bestimmte Beziehung zwischen Z" und Zm ist unvemaglich mit der gleichen Beziehung zwischen einem anderen Element und Z~. '. Diese Festsetzungen ko~nen auch leicht ohne die Beziehung "vorangehen" durch Unvertragiichkeitsbeziehungeri ~m obigen Sinn formuliert werden. Sie entsprechen den ersten vier Axiomen von PEANO. Die Forden-mg, daB die Struktur der Zahlenreihe ,ausschlieBlich durch sie J>estimmt werqen solI, ist so zu·verstehen. da,B jede.Zahl mit- Hilfe der 1 und d~r Nachfolgebeziehung definierbar sein muB. Der Verfasser schlieBt hieraus. da.6 auch das letzte PEANosche Axiom, das die vollstandige In\luktion enthijlt, gelten muB;, doch wird aus seiner Argumentierung nicht klar, wie diese Folgerung ohne jede Anwendung der vollstlndigen Induktion zustailde komnien kann. AuCh sonst sind die Oberlegungen des, Verfassers -vom mathematischen' Statidpunkt manchmal wenig befriedigend, weilzu oft philosophische Erorterungen tiber. den Sinn der verwendeten Begriffe· an die Stelle exaktet mathematiscller Herleitung·treten. Besonders,deutlich ist.das. wo der Verfasser die Vollstiindigkeit seines Axiomensystems ftir die 'nattirlichen ,Zahlen aus dem ' Umstand folgert, daB es prinzipiell keine verschiedene Moglichkeit der ,; .. Bestimniung offen l a B t ; . Die ,'Ablehnungdes Kompr'ehensionsprinzips kann jetzt, auf eine positive Form gebracht werden. ·Eine unendliche Gesamtheit kann nUr in der Weise gegeben werden, da.6 man ihr Bildungsgesetz angibt,' d. h. ein Mittel,ihre Elemente nacheinanderzu konstruieren, wo "nacheinander" wie bei.der Zahlenreihe zeitlos Z11 vel,"stehen ist. DasWort