M E D I Z I N AKTUELL Michaela Jaksch-Angerer Sabine Hofmann Matthias Friedrich Bauer Klaus Gempel Bert Obermaier-Kusser Ingrid Paetzke Klaus-Dieter Gerbitz Mitochondriale Erkrankungen Biochemisch-molekularbiologische Diagnostik von Defekten der Atmungskette ZUSAMMENFASSUNG Die Kenntnisse über mitochondriale (mt) Erkrankungen waren bis vor kurzem weitgehend auf solche eingeschränkt, die durch Mutationen der mtDNA entstehen. Defekte der mitochondrialen DNA machen aber nur einen geringen Teil dieses Formenkreises aus. Wie sich aus Familienstudien ableiten läßt, dürfte die Mehrzahl der Fälle chromosomalen Ursprunges sein; die entsprechenden Gendefekte sind aber bisher weitgehend unbekannt. Es ist abzusehen, daß die weltweit unternommenen Anstrengungen zur Aufklärung von Genen und Gendefekten diese Situation in den nächsten Jahren grundle- gend ändern werden. Der folgende Übersichtsartikel beschreibt die diagnostischen Entwicklungen. Eine Änderung der Klassifikation mitochondrialer Erkrankungen ist notwendig, da auch Defekte in mitochondrialen Proteinen, die nicht unmittelbar in den Apparat der oxidativen Energiegewinnung involviert sind, zu typischen mitochondrialen Erkrankungen führen können, wie das Beispiel der Friedreich-Ataxie zeigt. Schlüsselwörter: Mitochondriale Erkrankung, Taubheit, Muskelschwäche, Diabetes mellitus, Atmungskette Mitochondrial Disorders: Biochemical and Molecular Biological Diagnostics Our present knowledge on inherited mitochondrial (mt) disorders is largely restricted to a heterogenous group of respiratory chain (RC) deficiencies caused by mtDNA defects. The mtDNA defects, however, comprise only a relatively small proportion of all RC deficiencies; the majority of these disorders is known from pedigree studies to be of nuclear origin but the gene defects are largely unknown. Due to worldwide sequencing and disease- mapping strategies the situation is about to change. The present review focuses on diagnostic guidelines. We further stress the necessity to re-examine the traditional classification of such disorders since defects in nuclear encoded mitochondrial proteins that are not directly linked to the energy producing system can present as typical mt disorders (for instance Friedreich ataxia) as well. Key words: Mitochondrial disorder, deafness, myopathy, diabetes mellitus, respiratory chain D ie schnelle Zunahme unserer Kenntnisse über das menschliche Erbgut durch die Vielzahl neu entdeckter Gendefekte und deren Zuordnung zu zellulären Kompartimenten und Organellen eröffnet neue Einsichten in die Entstehungsmechanismen menschlicher Erkrankungen, bedingt aber auch ein Überdenken althergebrachter nosologischer Einteilungen beziehungsweise neue Definitionen. Das Mitochondrium mit seinen krankheitsverursachenden Fehlfunktionen ist hierfür ein eindrucksvolles Beispiel. Mitochondrien sind als die ATP-produzierenden Kraftwerke von zentraler Bedeutung für die meisten Leistungen nahezu aller Zellen des Organismus. Genetisch, strukturell und biochemisch sind sie einzigartig ausgestattet: Ihr struktureller und funktioneller Besatz von geschätzt zirka 1 000 Proteinen wird durch zwei verschiedene Genome, die chromosomale und die mitochondria- le DNA (mtDNA) kodiert (14). Letztere kodiert einige wenige, aber funktionell wichtige Eiweißuntereinheiten der Atmungsketten-Komplexe; die überwiegende Zahl der mitochondrialen Struktur- und Funktionsproteine wird hingegen durch die nukleäre DNA kodiert, an zytoplasmatischen Ribosomen translatiert und über einen komplizierten Mechanismus in das Mitochondrium transportiert (10). Strukturell sind Mitochondrien durch eine Doppelmembran gekennzeichnet, die die Organelle in vier kommunizierende Funktionsräume (Außenmembran, Intermembranraum, Innenmembran, Matrix) unterteilt, und so das Zusammenspiel der verschiedenen in den Mitochondrien lokalisierten Stoffwechselwege ermöglicht Institut für Klinische Chemie, Molekulare Diagnostik und Mitochondriale Genetik (Direktor: Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Gerbitz), Akademisches Lehrkrankenhaus, München-Schwabing A-2972 (40) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 46, 19. November 1999 SUMMARY (Grafik 1). Die genetisch, strukturell und funktionell komplexe Situation auf der zellulären Ebene spiegelt sich in einem äußerst bunten Bild klinischer Erscheinungsformen (Phänotypen) wider, was die Diagnosefindung nicht selten erschwert. Der vorliegende Beitrag wurde geschrieben, um den genetischen Erkenntnissen und diagnostischen Verbesserungen der letzten Zeit Rechnung zu tragen und somit Kollegen, die nicht so häufig mit diesem relativ seltenen, aber sehr heterogenen Formenkreis konfrontiert werden, einige klinische und diagnostische Hilfestellungen zu geben. Wir werden dabei nur auf einige der in der Grafik 1 angezeigten teilweise oder ganz in den Mitochondrien lokalisierten Stoffwechselwege eingehen können. Darüber hinaus veröffentlichen wir die Internet-Adressen von Datenbanken und Diensten, die Bezug zum Thema haben (Textkasten Ausgewählte Datenbanken). ! M E D I Z I N AKTUELL Besonderheiten mitochondrialer Genetik und ihr Krankheitsbezug Je nach Energiebedarf besitzen Zellen unterschiedlicher Gewebe wenige bis Tausende Mitochondrien, jede Organelle wiederum zwei bis zehn mtDNA-Kopien. Das mtGenom weist einige Besonderheiten auf. Das 16,6 Kilobasen (Kb) lange, doppelsträngige und zirkuläre Molekül ist äußerst kompakt gebaut, das heißt es besteht nahezu nur aus kodierenden Abschnitten (Genen) (1). Es kodiert für 22 mitochondriale tRNAs und zwei ribosomale RNAs und versetzt die Organelle damit in die Lage, 13 der über 70 Proteinuntereinheiten der fünf Komplexe der mitochondrialen Atmungskette und der oxidativen Phosphorylierung (OXPHOS) selbst zu produzieren (Grafik 2). Die kompakte Struktur, der fehlende Histonschutz, ein ineffizienter Fehlererkennungs- und Reparaturmechanismus und der Einfluß von entlang der benachbarten Atmungskette entstehenden Sauerstoff-Radikalen macht das mtGenom verletzbar, was sich in einer 10- bis 20fach höheren Mutationsrate als in der chromosomalen DNA niederschlägt. Es ist daher nicht verwunderlich, daß einerseits bis vor kurzem ausschließlich Mutationen der mtDNA als genetische Ursache von mitochondrialen Erkrankungen ausgemacht werden konnten, andererseits die Akkumulation somatischer Mutationen entlang der horizontalen Linie eines Lebens das Auftreten verschiedener neurodegenerativer Erkrankungen fördert, beziehungsweise als wesentliche Ursache des Alterns per se angesehen wird. Somatische Mutationen werden nicht weitergegeben, sondern vergehen mit dem Tod des Individuums. Keimbahnmutationen der mtDNA hingegen werden vererbt und zwar ausschließlich entlang der maternalen Linie, da nur der mtDNASatz der Eizelle (etwa 100 000 mtDNA-Moleküle), nicht der des Spermiums weitergegeben wird. In anderen Worten: Töchter und Söhne können Träger einer mitochondrialen Mutation, nur die Töchter aber Überträger sein. Während der Mitosen der Grafik 1 FettsäureStoffwechsel AminosäureStoffwechsel Glukose Verzweigte Aminosäuren HämSynthese Fettsäuren Pyruvat Aktivierte Fettsäuren NADH/H+ Äußere Membran Intermembranraum Innere Membran Matrix Acetyl-CoA β-Oxidation Succinyl-CoA Zitratzyklus NADH/H+ Pi FADH2 ADP CarnitinTransporter ATP SteroidSynthese ATP ATPase Atmungskette HarnstoffZyklus Apoptose Oxidative Phosphorylierung Aufbau und Stoffwechselwege von Mitochondrien Ausgewählte Datenbanken und Internet-Dienste mit Themenschwerpunkt „Mitochondriale Erkrankungen“ c OMIM (Online Mendelian Inheritance of Men): Differentialdiagnostische Hilfestellung, Beschreibung der einzelnen Erkrankungen, verschiedene Hyperlink-Möglichkeiten zu anderen Online-Datenbanken (zum Beispiel MedLine): (http://www3.ncbi.nlm.nih.gov/Omim/searchomim.html) c MITOMAP: Ausschließlich mitochondriale Genetik mit den dazugehörigen Erkrankungen und diversen Hyperlink-Möglichkeiten: (http://www.gen.emory.edu/mitomap.html) c MITOP: Systematische, akkumulierende Datenbank zur Beschreibung aller mitochondrialen Gene und Proteine mit diversen Hyperlink-Möglichkeiten: (http://websvr.mips.biochem.mpg.de/proj/medgen/mitop/) c MITONET: Das sogenannte „MITONET“ stellt ein „Netzwerk für Diagnostik und Therapie mitochondrialer Erkrankungen“ dar und besteht aus einem Zusammenschluß von mehr als 200 deutschen Ärzten und Wissenschaftlern. Es nahm im Februar 1999 mit einer Homepage unter der Internet-Adresse http://www.kms.mhn.de/mitonet/ seine Arbeit auf. Es soll Patienten über Selbsthilfegruppen, Ambulanzen und Veranstaltungen informieren sowie einen wissenschaftlichen Veranstaltungskalender, einen Literatur-und Diagnostikservice und ein Diskussionsforum beinhalten. Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 46, 19. November 1999 (41) A-2973 M E D I Z I N AKTUELL Grafik 2 ZellkernGenom Synthese e = Elektronenfluß H+ = Protonenfluß Import Zytosol H+ e UE 43 Komplex Untereinheiten e 5 11 Succinat I II Intermembranraum Cyt c Q NADH H+ H+H+H+ H+ H+ Äußere Membran 13 1/ O 2 2 III 7 Innere Membran H2O IV 1 Pi ADP ATP V 3 MitochondrienGenom 2 Aufbau der Atmungskette in der mitochondrialen Membran Grafik 3 Enzephalo(myo)pathien bzw. Symptome Autosomal rezessiv/dominant oder unklarer Erbgang Maternale Vererbung Standardneuro(radio)logische Verfahren NMR-Spektroskopie, PET Screening-Methoden (Tandem-MS, organische Säuren im Urin etc.) Direkte Genanalyse der mtDNA Direkte Genanalysen z. B. im MCAD-oder SURF1-Gen Ohne Diagnose bzw. Ausschluß- oder Bestätigungsdiagnostik Muskelmorphologie Muskelbiochemie Genanalysen Genlokalisation Forschungsprojekte Aktuelles diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf mitochondriale Erkrankungen A-2974 (42) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 46, 19. November 1999 frühen Oogenese oder Embryogenese kann ein einzelnes mutiertes mtDNAMolekül durch klonale Expansion den vormals einheitlichen mtDNATyp (Homoplasmie) in einen gemischten mtDNA-Genotypus (Heteroplasmie) überführen. Abhängig vom Zeitpunkt und von der betroffenen Zelle, kann die Konsequenz dieser mitotischen Segregation eine Funktionseinschränkung des aus diesem Zelltyp entstehenden Organs sein, falls die Mutation zu einer Beeinträchtigung des Genproduktes führt und der Grad der Heteroplasmie einen organspezifischen Schwellenwert übersteigt. Heteroplasmie der mtDNA gilt daher als gravierender Hinweis auf eine krankheitsrelevante Veränderung. Genotyp versus Phänotyp Der Begriff „mitochondriale Erkrankung“ ist nicht eindeutig definiert; er unterliegt mit zunehmendem Kenntnisstand einer Wandlung. Traditionellerweise verstand man bisher hierunter Defekte des oxidativen Stoffwechsels, insbesondere der Atmungskettenenzyme (Grafik 2). Diese stellen eine klinisch sehr heterogene Gruppe dar, die zum einen molekulargenetisch definiert (falls Art und Lokus des Gendefektes bekannt sind), zum anderen biochemisch durch Funktionsverlust des betroffenen Enzymkomplexes charakterisiert werden kann. Da die Peptiduntereinheiten von vier der fünf Komplexe der OXPHOS sowohl von der mitochondrialen als auch von der nukleären DNA kodiert werden (Grafik 2) ist sowohl maternale als auch Mendelsche Vererbung möglich. Obwohl die Genebene jede denkbare Defektvariante als möglich erscheinen läßt (Punkt- und Längenmutationen sowohl der nukleären als auch der mtDNA), waren bis vor kurzem nahezu ausschließlich Mutationen der mtDNA bekannt. In letzter Zeit wurden allerdings einige nukleäre Defekte beschrieben, die mittelbar oder unmittelbar die Funktionalität der OXPHOS beeinträchtigen. Phänotypisch steht letztlich bei allen genetischen OXPHOS-Defekten immer eine Störung der Energiebereitstellung im Vordergrund, deren Auswirkungen M E D I Z I N AKTUELL Prädilektionsstellen und Symptome mitochondrialer Erkrankungen c Auge c Ohr Ptosis, Ophthalmoplegie, Optikusatrophie, Retinitis pigmentosa, Katarakt, Nystagmus Innenohrschwerhörigkeit, Taubheit c Skelettmuskel Myopathie, generalisierte Muskelhypotonie, Belastungsintoleranz, Rhabdomyolyse c ZNS Ataxie, Hirnstammsymptomatik, Entwicklungsretardierung, Epilepsie, MyoklonusEpilepsie, progressive Myoklonus-Epilepsie, Demenz, periphere Neuropathie, Migräne, Dystonie, Paraplegie, schlaganfallsähnliche Attacken, Basalgangliendegeneration, Basalganglienverkalkung c Herz Kardiomyopathie (hypertroph, dilatativ), Herzreizleitungsstörungen c Endokrinium Diabetes mellitus, Hyperparathyreoidismus Tabelle 1 Auswahl von Erkrankungen mit bekannten Mutationen der mitochondrialen DNA Erkrankung Gendefekt Diagnostik MELAS tRNALeu(UUR) DNA, AE, Morphologie MERRF tRNALys DNA, AE, Morphologie Progressive Myoklonusepilepsie und Taubheit tRNASer(UCN) DNA, AE, Morphologie Kearns-Sayre-Syndrom Deletionen (mehrere Gene) DNA, AE, Morphologie Pearson-Syndrom Deletionen (mehrere Gene) DNA, AE, Morphologie CPEO (CPEO plus) verschiedene tRNAs Deletionen DNA, AE, Morphologie Myopathie mit „ragged red fibers“ verschiedene tRNAs Deletionen DNA, AE, Morphologie Taubheit, syndromisch tRNASer(UCN) DNA Aminoglycosid-induzierte Taubheit 12S rRNA DNA Maternaler Diabetes (mit Taubheit) tRNALeu(UUR) DNA Lebersche Optikusatrophie Proteinkodierende Gene DNA Leigh-Syndrom, maternal ATPase6 DNA NARP ATPase6 DNA Progressive Enzephalopathie verschiedene tRNAs DNA Abkürzungen: AE: Atmungskettenenzyme; MELAS: mitochondriale Enzephalomyopathie, Laktatazidose und schlaganfallsähnliche Attacken; MERRF: mitochondriale Enzephalomyopathie mit „ragged red fibers“; CPEO: chronisch progressive externe Ophthalmoplegie; NARP: neurogene Muskelschwäche, Retinitis pigmentosa. A-2976 (44) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 46, 19. November 1999 vor allem Gewebe mit hohem Energiebedarf wie Skelettmuskel, ZNS, Herz, Ohr, Auge und Endokrinium betreffen und in diesen mehr oder weniger typische Symptome erzeugen (8) (Textkasten Prädilektionsstellen und Symptome). Die Ausdrucksvielfalt des Formenkreises mitochondrialer Erkrankungen wird vor allem durch die variable syndromartige Kombination der Symptome verschiedener betroffener Organe erzeugt. Obwohl in den meisten Fällen die Mechanismen unbekannt sind, die zu einer bestimmten Organmanifestation eines gegebenen molekularen Defektes führen, kann die empirische Kenntnis des phänotypischen Erscheinungsbildes richtungsweisend für die molekulargenetische Diagnostik sein. Wir können hier beispielhaft nur einige Defekte der mitochondrialen wie chromosomalen Genebene anführen, die zu mehr oder weniger typischen Krankheitsbildern führen. Mitochondrial-genetische Atmungskettendefekte Krankheitsrelevante Längenmutationen der mtDNA (Deletion, Duplikation, Insertion) treten meist sporadisch auf, sind immer heteroplasmisch und können weite Abschnitte des mtGenoms betreffen (5). Die bekannteste, die etwa 5 000 bp lange „common deletion“ betrifft etwa ein Drittel des gesamten mtGenoms und führt zum Verlust von Genen, die für die Untereinheiten der Komplexe I, IV und V sowie für fünf tRNAs kodieren (11). Phänotypisch kann sie – je nach Organmanifestation – zum Bild der chronisch progredienten externen Ophthalmoplegie (CPEO), dem Vollbild des Kearns-Sayre-Syndroms (KSS) mit CPEO, Retinitis pigmentosa, Kardiomyopathie mit Reizleitungsblock oder zum Pearson-Syndrom (Sideroachrestische Anämie mit Panmyelophthise und exokriner Pankreasinsuffizienz) führen, wobei Übergänge der einzelnen Bilder ineinander beschrieben worden sind (Tabelle 1). Darüber hinaus sind mittlerweile eine Vielzahl weiterer Deletionen bekannt, die andere Bereiche der mtDNA betreffen, ohne daß sich ihnen bisher definierbare Phänotypen M E D I Z I N AKTUELL beziehungsweise klinische Zustandsbilder zuordnen ließen. Seit der Erstbeschreibung 1988 sind über 50 weitere krankheitsrelevante Punktmutationen der mtDNA beschrieben worden (Textkasten Ausgewählte Datenbanken [Mitomap], Tabelle 1). Sie betreffen entweder als sogenannte missense mutations konservierte kodierende Bereiche der mtDNA, bedingen eine Kodonveränderung und somit einen Aminosäureaustausch im betroffenen Protein oder mutieren mitochondriale tRNAGene und führen so zu einer Beeinträchtigung der mitochondrialen Translation. Drei verschiedene missense mutations sind für über 90 Prozent aller Fälle mit dem ophthalmologischen Bild der Leberschen Optikusatrophie (LHON) verantwortlich. Dies sind im einzelnen eine CÕA Mutation an Nukleotidposition (np) 3 460 im ND1-Gen, ein GÕA Austausch an np 11 778 im ND4-Gen und ein TÕC Austausch an np 14 484 im ND6-Gen (6). LHON-Mutationen sind in der Regel homoplasmisch, wurden aber als Polymorphismen bei Gesunden bisher nicht gefunden und können somit als pathognomonisch für LHON gelten. Warum diese in allen Geweben vorkommenden Mutationen in den Komplex-I-Genen sich Tabelle 2 Heterogenität des Leigh-Syndroms (LS) LS: Einteilung Datenbank-Nr. (OMIM) Gendefekt Genlokus LS mit PDH-Defekt 312170 PDH(E1) Chr. X LS mit Komplex II-Defekt 600857 SDH2 Chr. 5 LS mit Komplex-IV-(COX)-Defekt 185620 SURF1 Chr. 9 LS mit Komplex-I-Defekt 602141 NDUFS8 Chr. 11 LS, maternal 516060 ATPase6 mtDNA Chr.: Chromosom; mtDNA: mitochondriale DNA hauptsächlich am Nervus opticus manifestieren und ausschließlich zum Bild der LHON führen, ist bisher unklar. Eine extreme Variabilität des klinischen Bildes findet man bei tRNA-Mutationen, die meist heteroplasmisch auftreten. Die prominentesten Beispiele, die sogenannte MELAS-Mutation an np 3 243 in der tRNALeu(UUR) (4) sowie die MERRFMutation an np 8 344 in der tRNALys, wurden zwar ursprünglich mit definierten mitochondrialen Erkrankungsbildern assoziiert gefunden, konnten aber mittlerweile mit einer Tabelle 3 Beispielhafte Krankheiten des erweiterten Formenkreises Erkrankungen Datenbank-Nr. (OMIM) Gendefekt Genlokus Barth-Syndrom 302060 EFE2 Chr. X Sideroblastische Anämie u. Ataxie 301310 ABC7 Chr. X Taubheit/Dystonie-Syndrom 305050 DDP1 Chr. X Progressive Enzephalopathie 136850 FH Chr. 1 Myopathie 600650 CPT2 Chr. 1 Koproporphyrie 121300 CPO Chr. 3 Friedreich-Ataxie 229300 FRDA1 Chr. 9 Morbus Wilson 277900 ABC7B Chr. 13 Spastische Paraplegie 602783 SPG7 Chr. 16 Metabolische Azidose und Ataxie 253270 HLCS Chr. 21 Chr.: Chromosom A-2978 (46) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 46, 19. November 1999 Reihe anderer Syndrome in Verbindung gebracht werden. Dies wird beispielhaft dadurch verdeutlicht, daß die MELAS-Mutation bei entsprechender heteroplasmischer Organverteilung ausschließlich als Diabetes mellitus mit Taubheit (3), aber auch als chronisch progrediente externe Ophthalmoplegie imponieren kann. Zudem wurden mittlerweile eine ganze Reihe weiterer tRNALeu (UUR)Punktmutationen mit der Erkrankung MELAS assoziiert, so daß eine ausschließliche Testung der Mutation an np 3 243 bei vorliegendem Verdacht diagnostisch nicht mehr ausreichend ist. Eine von uns durchgeführte detaillierte Suche nach tRNAMutationen bei Patienten mit Atmungskettendefekten führte zur Identifizierung bisher unbekannter tRNA-Mutationen, vor allem in der tRNASer(UCN) (7). An diesen Beispielen wird die phänotypische Varianz von tRNA-Mutationen nochmals deutlich: Auch wenn die gefundenen Mutationen ein und dieselbe tRNA betreffen, können sie doch in so unterschiedlichen Krankheitsbildern wie einerseits einer Myoclonusepilepsie mit Ataxie, Innenohrschwerhörigkeit und kognitiver Beeinträchtigung und andererseits, einer progredienten Myopathie mit „ragged red fibers“ resultieren. Unserer Erfahrung nach können bei Patienten mit OXPHOS-Erkrankungen in bis zu 20 Prozent aller Fälle mtDNA-Mutationen gefunden werden. Sie stellen somit eine wesentliche Ursache für mitochondriale Erkrankungen dar. M E D I Z I N AKTUELL Chromosomal vererbte Atmungskettendefekte Stammbaumanalysen betroffener Familien sowie das Fehlen nachweisbarer mtDNA-Defekte weisen darauf hin, daß die Mehrzahl von Atmungskettenerkrankungen auf nukleäre Gendefekte zurückzuführen ist (2, 9). In nukleär kodierten Untereinheiten der Atmungskette beschriebene Mutationen stellen bisher jedoch die Ausnahme dar. Dies mag zum einen an der hohen Mutationsrate der mtDNA, zum anderen auch daran liegen, daß eine unbekannte Vielzahl nukleärer Gene letztendlich am Aufbau und an der Funktionalität der Atmungskette beteiligt ist. Bekannt waren bis vor kurzem lediglich seltene Mutationen in den Untereinheiten der Komplexe I und II. Obwohl die Komplex-IV-(Cytochrom-c-Oxidase-[COX-])Defizienz den weitaus häufigsten Atmungskettendefekt darstellt, konnten wir trotz intensiver Suche an 21 COX-defizienten Patienten weder in den zehn nukleär kodierten Untereinheiten, noch in den drei mitochondrial kodierten Untereinheiten Mutationen finden. Eine Untergruppe dieses Patientenkollektives litt an Leigh-Syndrom (LS). Die Mutationssuche bei diesem häufigsten pädiatrischen Krankheitsbild des mitochondrialen Formenkreises demonstriert Entwicklung, Ausweitung und Schwierigkeiten dieses Forschungssektors in der letzten Zeit in eindrucksvoller Weise. Das Leigh-Syndrom ist neuropathologisch durch fokale, bilateral symmetrische spongiforme Läsionen gekennzeichnet, die sich vor allem in der Hirnstammregion und im Thalamus finden. Das klinische Bild ist variabel; meist finden sich psychomotorische Entwicklungsstörungen, muskuläre Hypotonie, Ataxie und eine Hirnstammsymptomatik mit Schluckstörungen und respiratorischer Insuffizienz. Eine Laktaterhöhung im Liquor liegt praktisch immer vor. Die Verdachtsdiagnose des meist im ersten Lebensjahr auftretenden Syndroms basiert häufig auf einer kranialen MRI- beziehungsweise CT-Untersuchung. Für das kli- Probenbehandlung für enzymatische Untersuchungen an Muskelproben Zur biochemischen Untersuchung (beispielsweise Aktivitätsmessung der Atmungskettenenzyme) sollte Gewebe (je nach Fragestellung zirka 30 bis 100 mg) sofort nach Entnahme tiefgefroren werden, um einen autolytischen Aktivitätsabfall labiler Enzyme zu vermeiden. Ratsam ist das sofortige Einfrieren in flüssigem Stickstoff. Die gefrorene Probe kann anschließend auf Trockeneis versandt, oder bei –80°C zwischengelagert werden. Biochemische Untersuchungen aus Fibroblastenkulturen sind ebenfalls möglich. nische Bild des Leigh-Syndroms können Defizienzen verschiedener Enzymkomplexe des oxidativen Energiestoffwechsels verantwortlich sein, so beispielsweise die PyruvatDehydrogenase, sowie die Komplexe I, II, IV und V der Atmungskette (Tabelle 2). Etwa 20 Prozent aller LS-Patienten weisen einen biochemisch nachweisbaren schweren und generalisierten Defekt der COX auf (LSCOX). Der Erkrankungslokus für diese ausschließlich autosomal rezessiv vererbte Subform wurde kürzlich auf Chromosom 9q34 kartiert. Die Mehrzahl der untersuchten LSCOX-Patienten haben Mutationen Probenbehandlung für DNA-Analytik DNA kann aus allen Geweben gewonnen werden, wobei zum Nachweis von mtDNA-Deletionen und -Duplikationen (bei Verdacht auf Kearns-Sayre-Syndrom oder chronisch progressive externe Ophthalmologie) Muskelgewebe erforderlich ist. Am einfachsten lassen sich heute genetische Analysen aus zirka 5 bis 10 ml EDTA-Vollblut (bei Kleinkindern 1 ml) durchführen, wobei die Gesamt-DNA aus Leukozyten extrahiert wird. Das EDTABlut kann ungekühlt auf normalem Postweg versandt werden. in einem dort lokalisierten Kandidatengen, dem SURF-1 (12, 15). Die genaue Funktion des Surf-1-Proteins ist bisher unklar. Untersuchungen am Surf-1-Homolog der Hefe weisen jedoch darauf hin, daß dieses bisher unbekannte Protein für die Funktionalität des COX-Komplexes von Bedeutung ist. Ein von uns durchgeführtes Screening einer größeren Anzahl von COX-defizienten Patienten, darunter auch solchen ohne eine LS-typische Symptomatik, machte zwei Dinge deutlich: Erstens, SURF-1-Mutationen sind ausschließlich bei LS-Patienten nachzuweisen und zweitens, innerhalb der LSCOX-Subform stellen SURF-1-Mutationen eine wesentliche Ursache (65 Prozent aller Fälle) dieses heterogenen Krankheitsbildes dar (13). Erweiterung des Begriffs „mitochondriale Erkrankung“ Das Beispiel der Patienten mit biochemisch nachweisbarem Aktivitätsverlust der COX wie auch die Entdeckung von für das Leigh-Syndrom spezifischen Defekten im SURF-1-Gen macht die Komplexität des Geschehens deutlich: Wenn – wie in den Fällen der COX-Defizienzen – keine Gendefekte in den eigentlichen Strukturgenen der Enzymkomplexe gefunden werden, dann bedingt dies eine entsprechende Ausweitung möglicher Kandidatengene und eine Erschwernis für die Diagnostik. Um hierfür einen Anhalt zu geben: Aus Hefestudien ist bekannt, daß zur Erstellung eines funktionellen COX-Komplexes annähernd 40 andere Gene benötigt werden, die Prozessierung, Modifikation, mitochondrialen Import und Zusammenbau der Untereinheiten bewerkstelligen. Aber nicht nur die notwendige Ausweitung des Spektrums an Kandidatengenen bei der Suche nach genetischen Ursachen der Atmungskettendefekte macht eine Öffnung des tradierten Begriffes notwendig. In den letzten Jahren ist eine Reihe von genetischen Defekten aufgedeckt worden, die zu mitochondrial Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 46, 19. November 1999 (47) A-2979 M E D I Z I N AKTUELL lokalisierten Störungen führen, aber nicht unmittelbar der OXPHOS zuzurechnen sind. In Tabelle 3 sind einige dieser Erkrankungen aufgeführt, eine vollständige Übersicht findet sich in unserer Münchener MITOP-Datenbank im Internet (Textkasten Ausgewählte Datenbanken). Bei manchen dieser Erkrankungen (beispielsweise FriedreichAtaxie, Spastische Paraplegie, Morbus Wilson) ist die physiologische Funktion des Genproduktes bisher nicht bekannt, dennoch deuten Lokalisation und Symptomatik auf eine mitochondriale Erkrankung hin. Mitochondrien sind ferner teilweise oder ganz Ort des Geschehens der Steroid-, Harnstoff- und Hämsynthese, des Aminosäurestoffwechsels, des Carnitin-abhängigen Fettsäuretransportes und der ß-Oxidation. Über die letztgenannten Stoffwechselwege wird ein folgender Beitrag in Heft 47 informieren. Der von uns etablierte Informationsdienst MITONET (Textkasten Ausgewählte Datenbanken) soll über Zusammenhänge, Neuentdeckungen und therapeutische Möglichkeiten auf dem erweiterten Gebiet mitochondrialer Erkrankungen in der Zukunft berichten. Genetische Beratung Sofern es sich um nukleäre Gendefekte handelt, die Mendelschen Vererbungsregeln unterliegen, unterscheidet sich die genetische Beratung im Bereich der mitochondrialen Erkrankungen nicht von der anderer Erbkrankheiten. Völlig anders sieht die Situation auf dem Sektor genetischer Veränderungen der mtDNA aus. Wir wissen heutzutage noch viel zu wenig über die Regulierung der in der frühen Embryogenese ablaufenden Prozesse der Segregation, um mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussagen zu können, ob eine Mutter mit einer heteroplasmischen mtDNA-Mutation eine „krankmachende Dosis“ dieser Mutation an ihr Kind weitergeben wird. Diese Unsicherheit zu beheben, ist ein wesentliches Aufgabengebiet zukünftiger genetischer Forschung auf diesem Sektor. Aktuelle Diagnostik Grundsätzlich ist bei einem sicher nachgewiesenen maternalen Erbgang nur eine mtDNA-Untersuchung aus Blutzellen notwendig, um zu einer definitiven Diagnose zu gelangen (Grafik 3). Eine ausführliche Familienanamnese ist deshalb in jedem Fall dringend erforderlich. Sie erspart gegebenenfalls eine Muskelbiopsie. Nur bei Verdacht auf CPEO, KSS und Pearson-Syndrom (meist sporadisch auftretende Erkrankungen) muß die mtDNA-Deletionsanalyse mittels Southern-blotting aus Muskel-DNA erfolgen, da die Analyse aus weißen Blutzellen nicht aussagekräftig ist. Liegen Mendelsche beziehungsweise unklare Erbgänge bei dringendem Verdacht auf eine mitochondriale Erkrankung vor, sollten Screening-Methoden zur Erfassung von Metabolitveränderungen (wie organische Säuren im Urin, Amino- und Fettsäuren im Serum) zur Ausschluß-, beziehungsweise Bestätigungsdiagnostik, herangezogen werden. Die in einem folgenden Beitrag vorgestellte Tandem-Massenspektrometrie stellt hierfür ein besonders schnelles und sensitives Verfahren dar. Bei einer Muskelbeteiligung ist die Muskelbiopsie zur weiteren Diagnostik meist unverzichtbar. Mit Hilfe der morphologischen Skelettmuskelanalyse läßt sich eine große Zahl neuromuskulärer Erkrankungen bereits im Vorfeld aussortieren. Alle weiteren können somit für eine biochemische und/oder genetische Analyse gezielt ausgewählt werden (Tabelle 1 und 2). Wesentliche Hilfestellungen für differentialdiagnostische Überlegungen können die über Internet öffentlich zugänglichen Datenbanken OMIM, Mitomap, MITOP und MITONET bieten (Textkasten Ausgewählte Datenbanken). Sollten die Untersuchungen keine eindeutige Diagnose ergeben haben, empfehlen wir die Kontaktaufnahme mit den Stoffwechselzentren, die in manchen Fällen weitere Hinweise zu sehr seltenen mitochondrialen Erkrankungen oder Auskünfte über aktuelle Projekte zu vorliegenden Erkrankungen geben können. A-2980 (48) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 46, 19. November 1999 Glossar mtDNA: mitochondriale DNA Heteroplasmie: gleichzeitiges Vorkommen von mutierter und nicht mutierter Wildtyp-mtDNA Homoplasmie: ausschließliches Vorkommen von mutierter oder Wildtyp-mtDNA maternale Vererbung: Vererbung nur der mütterlichen mtDNA; das heißt Söhne und Töchter können Träger einer mutierten mtDNA sein, nur die Töchter aber Überträger Mutation: Veränderung der DNA an einzelnen (Punktmutation) oder mehreren Basen (Längenmutation), bei letzterer entweder durch: Insertion, Duplikation: Einfügen einer neuen beziehungsweise Verdoppeln einer vorhandenen DNA-Sequenz oder durch Deletion Deletion: Herausbrechen einer vorhandenen DNA-Sequenz „common deletion“: häufigste der bisher gefundenen mtDNA-Deletionen mitotische Segregation: zufällige Verteilung von mutierter und nicht mutierter mtDNA während mitotischer Teilungen der Zelle Schwellenwert: Grad der Heteroplasmie der mtDNA einer Zelle, die zu Ausfällen der Funktion führt Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1999; 96: A-2972–2981 [Heft 46] Literatur 1. 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Tiranti V, Jaksch M, Hofmann S et al.: Loss of function mutations of surf-1 are specifically associated with leigh syndrome with cytochrome c oxidase deficiency. Ann Neurol 1999; 46: 161–166. Kongenitale Infektion mit dem Virus der lymphozytären Choriomeningitis Dem weltweit verbreiteten Virus der lymphozytären Choriomeningitis (LCMV), Prototyp der Arena-Virusfamilie, dienen Mäuse als Hauptwirt. Ohne zu erkranken scheiden diese Nager den Erreger lebenslang aus und können so den Menschen gefährden. Zuweilen sind auch infizierte Spielhamster die Infektionsquelle. Beim Menschen verläuft die Infektion mit LCMV meist mild und unspezifisch mit Fieber, Schwindel, Kopf- und Muskelschmerzen, in seltenen Fällen als Meningitis oder Enzephalitis. Während des ersten Schwangerschaftstrimesters kann die Infektion mit LCMV einen Abort auslösen. Im zweiten und dritten Trimester führt die Infektion des Fetus zum Tode intrauterin oder bald nach der Geburt, bei lebend geborenen Kindern zu Hydrozephalus und Chorioretinitis. Die Diagnose der LCMV-Infektion gelingt durch die Isolierung des Erregers, den Nachweis seiner Nukleinsäure mittels PCR oder den Nachweis spezifischer Antikörper mit Hilfe des früh- und anhaltend anzeigenden indirekten Immunfluoreszenztests, ELISA oder Neutralisationstest. Die Komplementbindungsreaktion ist weniger geeignet. Die Autoren beschreiben sechs virologisch gesicherte kongenitale LCMV-Infektionen, die in den Jahren 1991 bis 1997 in verschiedenen Teilen Westdeutschlands aufgetreten waren. Beobachtet wurden ein Hydrozephalus und intrauteriner Tod in der 22. Schwangerschaftswoche, ein innerer Hydrozephalus (im zweiten Trimester festgestellt), nach der Geburt zeigten sich Chorioretinitis, Stummheit, Krämpfe, Unfähigkeit zu sitzen und zu schlucken sowie ein innerer Hydrozephalus, der in der 29. Schwangerschaftswoche erkannt wurde. Ferner zeigten durch Kaiserschnitt entbundene Zwillinge Dystrophie, Hydrozephalus, Mikrozephalus, Chorioretinitis, Krämpfe, verzögerte psychomotorische Entwicklung und Blindheit. Ein Säugling erkrankte drei Monate nach der Geburt vorübergehend mit Meningitis und Konjunktivitis ohne Hydrozephalus oder Chorioretinitis und in einem Fall wurde ein Hydrozephalus, Mikrozephalus, intrakranielle Verkalkungen und Chorioretinitis festgestellt. Das Kind war nahezu blind. Fünf Monate nach der Geburt wurde eine kongenitale Infektion anderer Ätiologie vermutet und im Alter von neun Monaten als LCMV-Infektion bestätigt. In zwei Fällen konnte eine Exposition gegenüber Spielhamstern, in einem Fall gegenüber Hausmäusen während der Schwangerschaft ermittelt werden. Drei Fälle konnten prospektiv verfolgt werden. Die Ätiologie der übrigen wurde nach der Geburt erkannt. Ein Hydrozephalus beim Fetus und beim Neugeborenen zusätzlich eine Chorioretinitis sollten dazu veranlassen, neben anderen kongenitalen 14. Wallace DC: Mitochondrial diseases in man and mouse. Science 1999; 283: 1482–1488. 15. Zhu Z, Yao J, Johns T et al.: SURF1, encoding a factor involved in the biogenesis of cytochrome c oxidase, is mutated in Leigh syndrome Nat Genet 1998; 20: 337–343. Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Gerbitz Institut für Klinische Chemie, Molekulare Diagnostik und Mitochondriale Genetik Forschergruppe Diabetes Akademisches Lehrkrankenhaus Schwabing Kölner Platz 1 80804 München Infektionen auch nach einer LCMVÄtiologie zu suchen. Vor allem aber sollten Schwangere jeden Kontakt zu Mäusen, Spielhamstern und anderen Nagetieren meiden. Bei uns wird der nicht ungefährliche Erreger wegen seiner relativen Seltenheit meist nicht in Betracht gezogen oder mit unzulänglicher Technik untersucht. Die durch Spielhamster aus LCMV verseuchten Zuchten zu Beginn der 70er Jahre in der Bundesrepublik beobachteten Krankheitshäufungen mit gleichartigen kongenitalen Infektionen sind inzwischen vermutlich vergessen. akm Enders G, Vrko-Göbel M, Löhler J, Terletskaia-Ladwig E, Eggers M: Congenital lymphocytic choriomeningitis virus infection: an underdiagnosed disease. Pediatr Infect Dis J, 1999; 18: 652-655. Prof. Dr. med. Gisela Enders, MedizinDiagnostik Gemeinschaftslabor, Institut für Virologie, Infektiologie und Epidemiologie e. V., Rosenbergstraße 85, 70193 Stuttgart. Normierende Texte Normierende Texte (Empfehlungen, Richtlinien, Leitlinien usw.) können im Deutschen Ärzteblatt nur dann publiziert werden, wenn sie im Auftrag von Bundesärztekammer oder der Kassenärztlichen Bundesvereinigung als Herausgeber oder gemeinsam mit diesen erarbeitet und von den Herausgebern als Bekanntgabe klassifiziert und der Redaktion zugeleitet wurden. Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 46, 19. November 1999 (49) A-2981