2.1. «Diagnoseträger» und Patienten: Zur Epidemiologie

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2.1. «Diagnoseträger» und
Patienten: Zur Epidemiologie
behandelter und unbehandelter
psychischer Störungen in
Deutschland
Frank Jacobi & Hans-Ulrich Wittchen
1. Was ist überhaupt ein «Fall»?
Vor der diagnostischen Frage «Wo liegt das spezielle Problem dieses Patienten?» im Rahmen der Therapieplanung steht aus epidemiologischer bzw. störungs-diagnostischer Perspektive die Frage danach, was überhaupt als «Fall» zu
betrachten sei. Epidemiologie und Diagnostik psychischer Störungen hatten im
Verlauf der letzten Jahrzehnte hierbei mehrere Probleme zu lösen.
Erstens musste die notorische Unreliabilität klassischer diagnostischer Konzepte überwunden werden, um einen verlässlichen Begriffsrahmen zu schaffen,
der weitere differenziertere Forschung und die Entwicklung immer störungsspezifischerer Therapien erst ermöglicht. Der enorme Fortschritt seit der Einführung moderner Klassifikationssysteme ist unübersehbar. So wurde etwa die
störungsspezifische Forschung enorm stimuliert: es stehen mittlerweile zum
Beispiel für Angststörungen im Sinne des DSM-IV (APA, 1994) weit effektivere Behandlungsmethoden zur Verfügung als noch zu Zeiten der «Angstneurose», wobei sich heute Behandlungsstrategien und Interventionen für eine
Panikstörung unterscheiden von denjenigen für die Generalisierte Angststörung;
einer Sozialphobie liegen andere Störungs- und Behandlungsmodelle zugrunde
als einer Tierphobie oder einer Blutphobie oder einer Trennungsangst etc..
16
Frank Jacobi & Hans Ulrich Wittchen
Andererseits erlaubte die Einführung operationalisierter Kriterien, mit denen
psychische Störungen in den modernen Klassifikationssystemen definiert
werden, dass die Größenordnung psychischer Störungen erstmals einigermaßen
breit und verlässlich abgeschätzt werden konnte: die Entwicklung klinischer
strukturierter oder standardisierter Interviews (z. B. DIS, Robins et al., 1981;
CIDI, Robins et al., 1988, Wittchen et al., 1991; SCID) ermöglichte epidemiologische Studien, die nicht die unmittelbare Diagnostik bei einem Patienten zur Fallkonzeption, sondern die Fallfindung selbst zu Ziel haben.
Auch wenn Reliabilität im allgemeinen als eine notwendige Bedingung für
Validität betrachtet wird, und auch wenn es einige Befunde dazu gibt, dass standardisierte Diagnostik einem reinen klinischen Urteil bei der Fallfindung überlegen ist, soll hierbei nicht unerwähnt bleiben, dass insbesondere unter klinisch
orientierten Kollegen der standardisierte, kriterienorientierte Ansatz im Sinne
klassifikatorischer Diagnostik durchaus umstritten ist. Als Kritik wird z. B.
angeführt, dass die klassische Kunst der Psychopathologie durch profanes
Symptomzählen ersetzt würde, oder dass die unmittelbare Relevanz für die Behandlung durch diese Art von Diagnostik häufig nicht mehr gegeben sei (z. B.
Brugha, Bebbington & Jenkins, 1999; Faravelli et al., in press) – ein halbstrukturiertes Vorgehen mit klinischer Urteilsbildung sei daher einem standardisierten
Ansatz als gold standard vorzuziehen. Wittchen, Üstün und Kessler (1999)
stellen dem gegenüber heraus, dass der theoretische Vorteil eines halbstandardisierten klinischen Ansatzes nur wenig empirisch unterfüttert ist und dass damit
insbesondere in nicht-klinischen, großangelegten epidemiologischen Studien
möglicherweise mehr Probleme geschaffen als gelöst werden. Eine Synthese
beider Ansätze ist wahrscheinlich dann am meisten reliabel und valide, wenn ein
obligatorisches standardisiertes Vorgehen im Sinne der internationalen Diagnosekriterien um offene Fragen und dimensionale Einschätzungen (z. B. zum
Schweregrad von Symptomen oder zur Hierarchisierung von Syndromen) –
möglichst durchgeführt von klinisch ausgebildeten Interviewern – ergänzt wird
als umgekehrt.
Der neben dem hier skizzierten Fortschritt durch moderne reliablere Diagnostik zweite notwendige Schritt, um sich der Frage «Was ist überhaupt ein
Fall?» zu nähern, betrifft das Setting, in dem die Fallfindung stattfindet. Psychische Störungen wurden bis ins vergangene Jahrzehnt hinein hauptsächlich in
klinischen Populationen im psychiatrischen und primärärztlichen Bereich gezählt und weitergehend untersucht. In Deutschland lagen bis zum 1998/99
durchgeführten Bundesgesundheitssurvey – Zusatzsurvey «Psychische Störungen» – auf Bundesebene nur äußerst eingeschränkt interpretierbare administrative Daten zur Häufigkeit einer eingeschränkten Anzahl psychischer Störungen
«Diagnoseträger» und Patienten
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vor (hauptsächlich Schizophrenie, Depression, Alkoholabhängigkeit und Suizid). Abgesehen vom allgemein wissenschaftlich eher zweifelhaften Wert
solcher Statistiken muss man davon ausgehen, dass selbst wenn Diagnostik und
Datenqualität valide gewesen wären, dieses Bild nur unvollständig sein kann.
Goldberg & Huxley (1980) stellten erstmals heraus, dass Personen mit psychischen Störungen oft gar keine psychiatrische oder psychologische Hilfe aufsuchen. Fälle, die beim Spezialisten landen, sind daher nicht vollständig
repräsentativ und für die Charakterisierung psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung nicht hinreichend geeignet.
Die Antwort auf die Frage «Was ist also nun ein Fall?» sollte daher mehrere
Personengruppen einschließen:
•
diejenigen mit der Diagnose einer oder mehrerer psychischen Störungen
(DSM-IV), die beim Spezialisten Hilfe aufsuchen oder auf andere Art im
Gesundheitssystem auffallen und registriert werden;
•
diejenigen, die psychiatrische oder psychologische Hilfe wegen psychischer
Probleme aufsuchen, ohne die Kriterien für die Diagnose einer psychischen
Störung zu erfüllen (sei es, weil nicht sorgfältig oder umfassend genug
diagnostiziert wurde, oder weil auf diesen Einzelfall einfach keine Diagnose
vollständig passt);
•
sowie diejenigen mit der Diagnose einer oder mehrerer psychischen Störungen (DSM-IV), die nicht auffallen (sei es, weil sie niemals Hilfe deswegen
aufsuchen, oder sei es weil sie, z. B. beim Hausarzt, nicht erkannt werden).
2. Die Bedeutsamkeit reliabler Fallfindung in
der Epidemiologie
Eine Person, die wegen psychischer Probleme einen Spezialisten aufsucht, wird
wohl eher selten abgewiesen, nur weil sie die falsche Symptomkonstellation für
eine DSM-IV-Diagnose aufweist, d. h. im klinischen Setting ist die Frage der
Fallfindung nicht so bedeutsam wie in der epidemiologischen Forschung. In
großen epidemiologischen Studien in der Allgemeinbevölkerung wie der Early
Developemental Stages of Psychopathology (EDSP; Wittchen et al., 1998; Lieb
et al., 2000) oder dem bereits erwähnten Zusatzsurvey «Psychische Störungen»,
der im Rahmen des letzten Bundesgesundheitssurvey durchgeführt wurde
(Wittchen & Jacobi, 2001; Jacobi et al., 2002; Jacobi et al., 2004) ist die mög-
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Frank Jacobi & Hans Ulrich Wittchen
lichst umfassende reliable Erfassung und Verrechnung von Symptomkonstellationen und Diagnosen hingegen unerlässlich, wenn (verschieden von klinischer Praxis) durch eine Makro-Perspektive und der Aggregation von mehr oder
weniger eingehend beobachteten Einzelfällen folgende Arten von Fragestellungen untersucht werden:
2.1 Gesundheitsberichterstattung
Wir finden es bemerkenswert, dass nun auf Grundlage des Bundesgesundheitssurveys erstmals repräsentative Daten psychischer Störungen für die erwachsene
Bevölkerung vorliegen. Damit haben bereits die reinen Prävalenzzahlen einen
gesundheitsberichterstatterischen Wert per se und gehen über reines «Erbsen
zählen» hinaus. Die Größenordnung psychischer Störungen (über 30% der 1865jährigen in der Allgemeinbevölkerung erhalten (mindestens) eine 12-MonatsDiagnose!), verbunden mit den dadurch entstehenden individuellen Belastungen
und gesellschaftlichen Kosten sollte – wissenschaftlich korrekt – nicht zuletzt
deswegen besonders herausgestellt werden, um die Allokation von Ressourcen
für die Versorgung und die Versorgungsforschung, aber auch für die klinischpsychologische Forschung und Ausbildung positiv zu beeinflussen. Zudem kann
man, wie im Pharmabereich bereits vorexerziert, durch die Schaffung von
awareness Erkennens- und Behandlungsraten bei psychischen Störungen steigern. Dies nützt nicht nur Psychiatern und Psychotherapeuten als Anbietern,
sondern es darf auch von einem gesamtgesellschaftlichen Nettonutzen ausgegangen werden.
2.2 Beitrag zu psychopathologischem Verständnis und
diagnostischer Methoden
Die psychologische Störungs-Diagnostik hat zwar in den vergangenen zwei
Jahrzehnten große Fortschritte zu verzeichnen, ist aber selbst ständiger Gegenstand weiterer Forschung. Wichtige Themen sind die Optimierung diagnostischer Kriterien und deren Erfassung (z. B. Ein- und Ausschlusskriterien bei
Komorbidität, oder populationsbezogene thresholds, z. B. geschlechtsspezifisch
oder über verschiedene (Sub-) Kulturen hinweg), verstärkte Ergänzung kategorialer Bewertungen um dimensionale Einschätzungen (Wittchen, in press),
Minimierung von Artefakten wie z. B. Unterschätzung psychischer Störungen
aufgrund von Nicht-Berichten von Symptomen, sozialer Erwünschtheit (Ref.)
«Diagnoseträger» und Patienten
19
etc.). Hierbei kann epidemiologische Forschung übrigens auch der klinischen
Praxis nützen, etwa wenn diagnostische Instrumente in einer repräsentativen
Stichprobe validiert und normiert werden.
2.3 Testen von Hypothesen, die in kleineren klinischen
Studien und anderen Settings entwickelt wurden
Oftmals werden in Studien aus klinischen Settings Zusammenhänge beobachtet,
bei denen es lohnenswert erscheint, diese nochmals in einer repräsentativen
Stichprobe zu replizieren, um das Verständnis dieses Zusammenhangs zu vertiefen. Gerade bei der Beforschung des gemeinsamen Auftretens von körperlichen
Erkrankungen und psychischen Störungen ist es z. B. interessant, ob eine im
Allgemeinkrankenhaus gefundene hohe Komorbidität auf einem «wahren»,
allgemein erhöhten gemeinsamen Auftreten oder eher auf einem help seeking
bias beruht.
Beispielhafte Studien in Kollaboration mit dem Bundesgesundheitssurvey, die
nur dadurch möglich waren, weil jeweils eine hinreichend ähnliche standardisierte Diagnostik psychischer Störungen betrieben wurde, betreffen Zusammenhänge von psychischen Störungen und Asthma (Goodwin, Jacobi & Thefeld,
2003), Diabetes (Petrak et al., 2003), oder muskuloskelettalen und kardiovaskulären Erkrankungen (Baumeister et al., in press). Auch für Untersuchungen aus dem Bereich der Arbeitspsychologie über Zusammenhänge von
Arbeitsbedingungen und psychischen Störungen ist eine nachvollziehbare, reliable Fallfindung unerlässlich.
2.4 Beiträge zum ätiologischem Verständnis psychischer
Störungen
Eine epidemiologische Königsdisziplin ist die Erforschung ätiologischer
Mechanismen. Im Rahmen einer längsschnittlichen Studie mit mehreren
Erhebungswellen müssen dabei insbesondere auch die Reliabilität der um Jahre
auseinander liegenden diagnostischen Befragungen der Probanden sichergestellt
und der Einsatz adäquater Instrumente langfristig geplant werden.
Beispielhafte Studien aus dem oben erwähnten EDSP-Projekt belegen z. B.
einen spezifischen Einfluss von Rauchen auf Panik (Isensee et al., 2003), oder
nicht nur eine erhöhte Prävalenz von psychischen Störungen bei Kindern von
Depressiven, sondern auch einen ungünstigeren Verlauf (Lieb et al., 2002).
20
Frank Jacobi & Hans Ulrich Wittchen
3. Epidemiologie behandelter und
unbehandelter psychischer Störungen in
Deutschland
Im Folgenden sollen schlaglichtartig drei zentrale Ergebnisse des Bundesgesundheitssurvey 1998/99 berichtet werden. Design und Methoden des Forschungsprojekts sind andernorts ausführlich dargestellt (Jacobi et al., 2002).
Zusammenfassend sei hier erwähnt, dass es sich um eine repräsentative Stichprobe der deutschen 18-65jährigen handelt (N=4181), bei denen Substanzstörungen, mögliche psychotische Störungen, affektive Störungen, Angststörungen,
somatoforme Störungen, sowie Essstörungen mittels des M-CIDI (DIA-X;
Wittchen & Pfister, 1997) erhoben wurden. Der Datensatz kann übrigens beim
Erstautor als Public Use File für weitere eigene Auswertungen bezogen werden
(vgl. Jacobi, 2003).
3.1. Psychische Störungen sind häufig!
Etwa 20% der Erwachsenen zwischen 18 und 65 Jahren erfüllen die Kriterien
für mindestens eine psychische Störung (DSM-IV) in den vergangenen vier
Wochen; die 12-Monats-Prävalenz beträgt etwa 31% und die Lebenszeit-Prävalenz etwa 43% (Jacobi et al., 2004). Die häufigste Störungsgruppe bilden die
Angststörungen (12-Monats-Prävalenz Frauen: 20%, Männer 9%), gefolgt von
depressiven Störungen (12-Monats-Prävalenz Frauen: 14%, Männer 8%), somatoformen Störungen (12-Monats-Prävalenz Frauen: 15%, Männer 7%) und
substanzbezogenen Störungen (12-Monats-Prävalenz Frauen: 2%, Männer 7%).
Nur 60% der Fälle haben nur eine Diagnose; etwa 10% erfüllen die Kriterien für
vier oder mehr Diagnosen.
In Tabelle 1 (entnommen aus Bijl et al., 2003) sind zum Vergleich neben den
deutschen Daten auch diejenigen aus vergleichbaren Studien aus Canada, Chile,
den Niederlanden und den USA aufgeführt (WHO, International Consortium of
Psychiatric Epidemiology). Aus Gründen der Vergleichbarkeit über alle Studien
hinweg betreffen die Zahlen dort nur die 18-54jährigen (für Deutschland:
N=3219) und sind niedriger, weil nur die affektiven, Angst- und Substanzstörungen einbezogen wurden; zudem wurden nicht alle Angstdiagnosen berücksichtigt, die im Bundesgesundheitssurvey erfasst wurden. Trotz dieses
«Diagnoseträger» und Patienten
21
reduzierten Diagnosespektrums liegt die 12-Monats-Prävalenz immer noch bei
23% und nimmt damit einen mittleren Platz ein (Chile: 17% bis USA: 29%).
Bezüglich des Schweregrades nehmen Bijl et al. (2003) eine grobe Einteilung vor, indem alle Unterdiagnosen einen Punktwert von 1 (z. B. spezifische
Phobie) und 4 (z. B. Manie) erhalten und die Probanden darauf hin gemäß aller
ihrer einzelnen Diagnosen (bei Komorbidität aufsummiert) in noncases (keine
Diagnose), mild (1-2 Punkte), moderate (3-4 Punkte) und serious (5-20 Punkte)
eingeteilt werden. Eine solche zusätzliche Unterteilung macht insofern Sinn, als
dass es in der Tat große Unterschiede innerhalb aller Fälle (im Sinne von: denjenigen mit mindestens einer Diagnose) hinsichtlich Rollenbeeinträchtigung und
anderer Schweregrads-Kriterien gibt. Auch hier nimmt Deutschland mit 5.4%
schwerer Fälle einen mittleren Platz ein (Chile: 3.3% bis USA: 8.2%).
Aus diesen Zahlen wird einerseits ersichtlich, dass «die» Prävalenz so nicht
existiert, sondern dass es sehr wichtig ist, Zeitraum, Altersgruppe, einbezogene
Störungen, Hierarchien (Beispiel: ab wann wird eine komorbide Dysthymie
nicht mehr mitgezählt?) und gegebenenfalls einen – wie auch immer definierten
– Schweregrad vollständig darzustellen. Andererseits kann für Deutschland
festgehalten werden, dass ein substanzieller Anteil der Bevölkerung auch bei
sehr restriktiver Fallfindung von psychischen Störungen betroffen ist (z. B.
moderate oder severe Diagnosen im obigen Sinne allein aus dem Bereich der
Angst-, depressiven und Substanzstörungen im letzten Jahr bei über 10%; zum
Vergleich (ebenfalls 18-54jährige): Diabetes und koronare Erkrankungen: je ca.
1%, Bluthochdruck: ca. 7%, muskulo-skelletale Erkrankungen: ca. 18%).
3.2 Psychische Störungen werden selten behandelt!
Eben dargestellte Ergebnisse beziehen sich auf die Häufigkeit psychischer Störungen gemäß DSM-IV- Kriterien, erfasst mit einem standardisierten klinischen
Interview (CIDI). Entsprechend der eingangs angestellten Überlegungen macht
es einen Unterschied, ob man diese Gesamtgruppe, oder nur diejenigen, die
auch Behandlung aufsuchen als «Fälle» betrachtet, oder ob man auch diejenigen
hinzurechnen soll, die Behandlung aufsuchen, obwohl sie nicht in das untersuchte DSM-IV-Spektrum fallen.
Weniger als 40% derjenigen mit einer Diagnose berichteten, auch irgendwann einmal in ihrem Leben eine im weitesten Sinne psychiatrische oder
psychosoziale Behandlung gehabt zu haben (Wittchen & Jacobi, 2001). Die
Behandlungsquoten hingen dabei erwartungsgemäß stark von der Art der
Störung, sowie vor allem vom Grad der Komorbidität ab (Jacobi et al., 2004).
22
Frank Jacobi & Hans Ulrich Wittchen
Zusammenfassend: Deutschland hatte 1999 insgesamt etwa 43% erwachsene
«Diagnoseträger» (Lebenszeit-Prävalenz mindestens einer der im Bundesgesundheitssurvey erfassten Diagnosen; 12-Monats-Prävalenz: 31%), davon
über 60% ohne jegliche Behandlung. Von den insgesamt etwa 22% «Patienten»,
die jemals zumindest eine minimale, im weitesten Sinne psychiatrische oder
psychosoziale Behandlung erhielten, hatten ca. 26% keine Lebenszeit-Diagnose
und ca. 43% keine 12-Monats-Diagnose aufzuweisen.
Tabelle 2, ebenfalls entnommen aus Bijl et al. (2003), listet die Behandlungsquoten wieder im internationalen Vergleich, sowie nach Schweregrad und Anteil der Fachbehandlungen auf. Es fällt auf, dass Deutschland (20%) zusammen
mit Chile (17%) einen Spitzenplatz einnimmt, was die Prävalenz von im weitesten Sinne psychiatrischer oder psychosozialer Behandlung insgesamt betrifft
(d. h. einschließlich derer, die auch ohne Diagnose eine Behandlung
berichteten). Dieser Spitzenplatz kommt vor allem durch vergleichsweise
häufige Behandlungen bei noncases (Deutschland: 14%) und mild cases
(Deutschland: 30%) zustande, aber auch bei den serious cases liegt Deutschland
(zusammen mit den Niederlanden) vorne (67%).
Während in den anderen Ländern etwa jeder zweite mit einer Behandlung
eine Fachbehandlung angibt (psychiatrische oder psychologische Einrichtung vs.
primärärztlicher oder komplementärer Sektor), sind es in Deutschland etwa
70%. Der untere Teil der Tabelle 2 verdeutlicht, dass im Gegensatz zu anderen
Ländern in Deutschland unter denen mit einer Behandlung (aufgrund psychischer Probleme im weitesten Sinne) kein Zusammenhang zwischen Schweregrad und Fachbehandlung zu finden ist.
3.3 (Aktive) Psychische Störungen gehen mit hohen
gesellschaftlichen Kosten einher!
Dass psychische Störungen «teure» Störungen sind, ist spätestens seit der WHOStudie zum burden-of-disease (Murray & Lopez, 1996) weitgehend bekannt.
Dort wurden die Kosten, bei denen die Depression einen vorderen Rangplatz
unter allen Krankheiten einnimmt, jedoch nicht anhand «harter» Daten (z. B.
direkte Kosten durch Behandlungen oder indirekte Kosten durch Produktivitätsminderung) ermittelt, sondern anhand von Schätzungen aufgrund expertengestützter Schweregrad-Indizes (z. B. quality adjusted life years). Versorgungspolitisch besonders interessant sind aber monetär bewertbare Analysen.
«Diagnoseträger» und Patienten
23
Indirekte Kosten auf repräsentativer Basis können nun ebenfalls erstmals für
Deutschland anhand des Bundesgesundheitssurveys abgeschätzt werden.
Abbildung 1:
Abb. 1: Ausfalltage bei aktuellen und remittierten
psychischen Störungen
Ausfalltage
25
20
15
10
5
0
niemals psychische remittierte psychische aktuelle psychische
Störung gehabt
Störung
Störung (12-Monate)
Abbildung 1 (Jacobi & Zoike, 2003) liefert dazu zwei wichtige Befunde. Erstens
berichten Personen mit der 12-Monats-Diagnose einer psychischen Störung
doppelt so viele Ausfalltage («An wievielen Tagen waren Sie in den vergangenen 12 Monaten so krank, dass Sie Ihrer üblichen Tätigkeit nicht nachgehen
konnten?») verglichen mit Personen, die niemals die Diagnose einer psychischen Störung erhielten. Zweitens weisen remittierte Fälle (d. h. Lebenszeitdiagnose, aber keine 12-Monats-Diagnose) die gleiche Anzahl von Ausfalltagen
auf wie Personen ohne Lebenszeitdiagnose. Hierbei muss allerdings angemerkt
werden, dass über die Krankheitsverläufe und die Ursache von Remissionen
(Behandlung vs. «spontan») in dieser querschnittlichen Untersuchung nur sehr
eingeschränkte Aussagen gemacht werden können. Dennoch finden sich derartige Ergebnisse auch in Psychotherapiestudien, in denen die Kosten psychischer
Störungen vor und nach psychotherapeutischer Behandlung verglichen wurden
(Baltensperger & Grawe, 2001; Hiller, Fichter & Rief, 2003; Jacobi, 2002).
Psychische Störungen gelten heute als gut behandelbar. Insbesondere aufgrund des zweiten Ergebnisses, dass remittierte psychische Störungen keine
erhöhten Ausfalltage mehr produzieren, sollte unter gesundheitsökonomischer
Perspektive das Erkennen und Behandeln psychischer Störungen bei der Allokation von Ressourcen im Gesundheitssystem mehr beachtet werden.
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Frank Jacobi & Hans Ulrich Wittchen
4. Schwierigkeiten und Auffälligkeiten: MakroPerspektive vs. individuelles Leiden
Im vorliegenden Beitrag wurde ausgehend von der Frage «Was ist überhaupt ein
Fall?» beispielhaft aus epidemiologischer Perspektive dargestellt, dass psychische Störungen häufig sind, häufig nicht behandelt werden und mit hohen indirekten gesellschaftlichen Kosten einhergehen (wenn aktuell mindestens eine
Diagnose nach DSM-IV vorliegt). Um Aussagen dieser Art legitim zu formulieren, sind repräsentative Studien in der Gesamtbevölkerung mit einer umfassenden, reliablen und transparenten Diagnostik von «Fällen» eine notwendige
Bedingung.
Natürlich kann die Diagnostik psychischer Störungen im klinischen Kontext
dabei nicht stehen bleiben. Umfassende Verhaltens-, Problem- und Zielanalysen,
sowie dimensionale, am klinisch geschulten Blick vorgenommene Einschätzungen, Fragebogendaten und nicht standardisierte Problemschilderungen sind
selbstverständlich in der Therapieplanung ebenso notwendig wie die hier fokussierte Störungsdiagnostik im klassifikatorischen Sinne – denn die Bedeutung
von Symptomen, Schwierigkeiten und Auffälligkeiten ist auch bei Menschen
mit gleichen Diagnosen oft sehr verschieden.
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Tabelle 1: 12-Monats-Prävalenz von affektiven, Angst- und Substanzstörungen in fünf Ländern
(Bijl et al., 2003)
Deutschland
(N=3,219)
%
SE
I. Störung (DSM-IV)
affektive Störung
Angststörung
Substanzstörung
irgendeine Störung
Canada
(N=6,320)
%
SE
Chile
(N=2,181)
%
SE
Niederlande
(N=6,030)
%
SE
USA
(N=5,384)
%
SE
11.9
11.9
5.2
22.8
0.5
0.5
0.5
0.7
4.9
12.4
7.9
19.9
0.5
0.6
0.5
0.8
9.0
5.0
6.6
17.0
1.3
1.3
0.9
1.8
8.2
13.2
9.9
24.4
0.5
0.7
0.5
1.0
10.7
17.0
11.5
29.1
0.6
0.6
0.5
0.7
77.2
10.8
6.6
5.4
0.7
0.6
0.4
0.3
80.1
12.4
3.6
3.9
0.8
0.6
0.4
0.4
83.0
8.1
5.5
3.3
1.8
1.1
0.8
0.6
75.6
14.1
4.2
6.1
1.0
0.6
0.3
0.3
70.9
13.8
7.0
8.2
0.7
0.4
0.4
0.5
II. Schweregrad
keine Diagnose
leicht
mittel
schwer
Quelle: World Health Organization, International Consortium of Psychiatric Epidemiology (ICPE) Master Data File
Tabelle 2: Beziehungen zwischen Schweregrad und Behandlung psychischer Störungen in fünf Ländern
(Bijl et al., 2003)
Deutschland
%
SE
Canada
%
SE
Chile
%
SE
Niederlande
%
SE
USA
%
SE
I. Anteil derjenigen, die jemals
irgendeine Behandlung
erhielten
keine Diagnose
leicht
mittel
schwer
gesamt
14.1
29.6
38.7
67.0
20.2
0.8
1.6
3.3
3.0
0.8
3.4
10.4
27.7
52.3
7.0
0.4
1.7
4.7
5.1
0.5
14.4
12.3
50.2
47.9
17.3
1.1
2.7
6.3
8.0
1.2
7.6
13.3
43.0
66.3
13.4
0.4
1.2
3.4
2.6
0.5
6.3
11.3
26.3
37.1
10.9
0.4
1.4
3.2
2.3
0.5
II. Behandlung beim
Spezialisten (unter denjenigen
mit irgendeiner Behandlung)
keine Diagnose
leicht
mittel
schwer
gesamt
65.4
74.5
68.2
79.8
69.8
2.5
3.7
4.1
3.0
1.7
46.8
40.6
50.8
61.6
50.6
4.9
6.6
7.7
8.5
3.7
34.5
16.4
48.2
44.6
36.5
7.2
8.7
13.9
7.7
4.9
43.2
41.4
47.3
60.0
48.5
2.4
4.9
4.6
3.2
1.6
42.3
46.3
50.6
62.9
50.0
4.9
6.2
4.6
3.2
2.8
Quelle: World Health Organization, International Consortium of Psychiatric Epidemiology (ICPE) Master Data File
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