„Wie kommt das nur?“ Multifaktorielle Ursachen von psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter - Ein biopsychosoziales Modell - Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Patjens Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie Kinderhospital Osnabrück 12. Fachtagung im Eylarduswerk Bad Bentheim-Gildehaus Eylarduswerk 09.05.2012 Definitionen Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie - Diagnostik und Behandlung von Störungen des Verhaltens und Erlebens im Kindes- und Jugendalter Seelische Störung - Beeinträchtigtes Verhalten und/oder Erleben unter Berücksichtigung von Entwicklungsstand/ Enwicklungsprozessen Eylarduswerk 09.05.2012 Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Umfasst die Erkennung, nichtoperative Behandlung, Prävention und Rehabilitation bei psychischen, psychosomatischen, entwicklungsbedingten und neurologischen Erkrankungen oder Störungen sowie bei psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter. Remschmidt, 2003 Eylarduswerk 09.05.2012 Entwicklung Multidimensionaler Prozess Risiko- und Schutzfaktoren → Vulnerabilität und Resilienz Kritische Entwicklungsphasen - Bewältigung vs. Fehlanpassung → - psychische Auffälligkeiten → - Chronifizierte psychische Störungen Altersabhängigkeit psychischer Störungen Eylarduswerk 09.05.2012 Risikofaktoren: Ereignisse und Erfahrungen, die mit dem Auftreten psychischer Störungen korrelieren Vulnerabilität Protektive Faktoren: Gegebenheiten oder Ereignisse, die dem Kind oder Jugendlichen helfen, sich normal zu entwickeln Resilienz Eylarduswerk 09.05.2012 Risikofaktoren: Genetik Erworbene biologische (z.B. perinatale Risiken) Schwieriges Temperament Psychische Störung, Delinquenz eines Elternteils Finanzielle Probleme Streitbeziehungen in der Familie Vulnerabilität Protektive Faktoren: Weibliches Geschlecht Erstgeborenes Postives Temperament Intelligenz Stabile emotionale Beziehung in Familie Soziale Unterstützung Positive Freundschaften Eylarduswerk 09.05.2012 Resilienz Interaktion Genetische Faktoren Neurobiologisches Substrat Psychosoziale Faktoren (Klinischer) Phänotyp Eylarduswerk 09.05.2012 Entwicklungsaufgaben Essen Schlafen Verdauung Bewegung Sensomotorik Soziale Resp. Bindung Sprache Sauberkeit Selbst-versorgung -kontrolle -steuerung Sicherheitsregeln Beziehung/ Gleichaltrige Soz. Koop. Schul-fertigkeiten -regeln Regelspiele Hobbys Geldgebrauch Verpflichtungen Eylarduswerk 09.05.2012 Beziehung zum anderen Geschlecht Verantwortung Existentielle Autonomie Ablösung von Familie Risiko- und Schutzfaktoren Risikoindikatoren - Korrelate/Zusammenhänge - nicht kausale Pathomechanismen Risiko- und Schutzfaktoren - nicht per se pathogen/protektiv - wirken (oft probabilistisch, nicht deterministisch) - unspezifische vs. spezifische Faktoren - direkte vs. indirekte Faktoren Eylarduswerk 09.05.2012 Ungünstige biopsychosoziale Faktoren • • Sozioökonomischer Status (Armut) Unterprivilegiertes Wohngebiet/ungünstige schulische Situation • Abnorme intrafamiliäre Beziehungen Inadäquater Erziehungsstil/Kommunikationsstil Aggression und Gewalt in Familien/Feindseligkeit Familiäre psychiatrische Erkrankungen • Zugehörigkeit zu Randgruppen (Diskriminierung) • • Pränatale Toxine (z.B. Alkohol, Nikotin) Geburtskomplikationen; niedriges Geburtsgewicht • Belastende Lebensereignisse • • • Eylarduswerk 09.05.2012 Varianten der Deprivation • • • • • • • Kurze Trennungen Verlust der Eltern durch Tod Verlust der Eltern durch Trennung/Scheidung Vernachlässigung Misshandlung Krankenhausaufenthalte Heimunterbringung Eylarduswerk 09.05.2012 Ätiologie Biopsychosoziales Modell – Multifaktorielle Genese Eylarduswerk 09.05.2012 Eylarduswerk 09.05.2012 Genetische Faktoren • Heritabilität - Anteil der Varianz der Population, der durch genetische Unterschiede bedingt ist • Gen vs. Umwelt determiniert • Hohe Heritabilität (60 – 90 %) · moderate Heritabilität (20–50 %) - Autismus - Schizophrenie - Bipolare affektive Störung - ADHS veränderbar - unipolare Depression - generalisierte Angststörung - Phobien - Essstörungen Eylarduswerk 09.05.2012 Psychische Störungen – genetische Ursachen • Oft erbliche Störungen mit komplexem Erbgang • Oft multifaktoriell bedingt - kleine Effekte einzelner Gene/Faktoren • Oft extreme Ausprägung auf dimensionalem Kontinuum - statt diskrete kategoriale Entität • Oft gekennzeichnet durch hohe Komorbidität - Gemeinsame Risikofaktoren - Störung A Risikofaktor für Störung B • Oft nicht unmittelbare Auswirkung einer Schädigung Eylarduswerk 09.05.2012 Psychische Faktoren und Persönlichkeitsmerkmale Temperament Exekutive Funktionen - Planungsvermögen, Impulsivität, Aufmerksamkeitsspanne Motivationsstile/Grundbedürfnisse - Ausdauer, Lustgewinn/Unlustvermeidung, Sensation-seeking Selbstwahrnehmung, Selbstbild Selbstwertschutz, Selbstwerterhöhung Kausal- und Kontrollattributationen Soziale Wahrnehmung, Attributionsstile - moralisches Bewusstsein, Kooperationsfähigkeit - interne vs. externe Attribution Bewältigungsstrategien Eylarduswerk 09.05.2012 Psychische Störungen Altersabhängigkeit Säuglingsalter Mittlere Kindheit · Entwicklungsstörungen · Störungen des Sozialverhaltens · Regulationsstörungen · Bindungsstörungen · Emotionale Störungen - Sozialer Rückzug - Schulängste, Schulphobie - Depressive Reaktionen - (passagere) Zwangsphänomene · Somatisierungen Kleinkindalter · Wutanfälle/Aggressivität Jugendalter · Hyperaktivität · Angststörungen, häufig mit Ess- und · Entwicklungsstörungen · affektive Störungen/Suizid(versuche) · Angststörungen/Phobien · Zwangsstörungen · Anorexia nervosa, Bulimia nervosa · Somatoforme und dissoziative Störungen · Delinquenz, Drogenabhängigkeit · Schizophrenien Eylarduswerk 09.05.2012 Psychische Störungen Altersabhängigkeit Früh beginnende Störungen mit überdauernder Beeinträchtigung · z.B. Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen, Autismus, Impulskontrollstörungen, Intelligenzminderung Entwicklungsabhängige Störungen · z.B. Bewegungsstereotypien, Pavor nocturnus, Enuresis, Enkopresis Altersspezifisch beginnende Störungen · z.B. Tic-Störungen, Essstörungen Früh beginnende erwachsenentypische Störungen · z.B. Angststörungen, Zwangsstörungen, Schizophrenie Eylarduswerk 09.05.2012 Heinrich Hoffmann Eylarduswerk 09.05.2012 ADHS-Ursachensuche Eylarduswerk 09.05.2012 1. Früh beginnende Störungen mit überdauernder Beeinträchtigung der Entwicklung beginnen in der frühen oder mittleren Kindheit, lebenslange Beeinträchtigung Hyperkinetisches Syndrom: Aufmerksamkeitsstörung Hyperaktivität Impulsivität Chronisch-persisterender Verlauf vom Kindesalter bei 30 % - 70 % ins Jugendalter bei Jugendlichen: 5-fach höheres Risiko für Substanzmissbrauch, dissoziale, delinquente, andere psychische Störungen niedrige Schulbildung 65 % ins Erwachsenenalter (30 % Vollbild) Eylarduswerk 09.05.2012 Psychische Störungen Verlauf Oft wechselndes Erscheinungsbild - Angststörungen depressive Störungen - Sprachentwicklungsstörungen Beeinträchtigung sozialer Beziehungen - ADHS Störung des Sozialverhaltens Substanzabusus Depression Jugendalter Delinquenz Schulprobleme Kindheit Aggression Oppositionelles Trotzverhalten Bündnis mit dissozialen Jugendlichen Soziale Defizite Probleme mit Gleichaltrigen Soziale Isolation Hyperkinetische Störung Schwieriges Temperament Geburt Prä- und perinatale Faktoren Störungsverlauf Eylarduswerk 09.05.2012 Depression und Körperhaltung Eylarduswerk 09.05.2012 Depressionen – Ätiologie Aktuelle psychsoziale Belastungen (z.B. Trennunserlebnis, Schulversagen, Misshandlung) Physikalische Einwirkungen (z.B. Lichtentzug) Genetische Prädisposition Besonderheiten der Neutrotransmittersysteme Physiologische, organische Einflüsse (z.B. Schilddrüsenfunktion, virale Infektionen, Kachexie) Persönlichkeitsfaktoren (z.B. Schüchternheit, Angstneigung) Katecholamin-Hypothese Serotonin-Hypothese Unerwünschte Wirkung von Medikamenten neuroendokrinologische Hypothesen Traumatische Erfahrungen, Deprivation, Verlusterlebnisse, erlernte Hilflosigkeit Depressive Symptomatik Emotional/kognitiv/vegetativ/psychosomatisch/somatisch Eylarduswerk 09.05.2012 2. Entwicklungsabhängige Störungen: häufig in der frühen und mittleren Kindheit, Häufigkeitsabnahme mit Reifung und Alter Enuresis nocturna: Unwillkürliches nächtliches Einnässen, Ausschluss organischer Ursachen Ab Alter von 5 Jahren Eylarduswerk 09.05.2012 3. Altersspezifisch beginnende Störungen: treten in einer spezifischen Altersphase erstmalig auf, verschiedene Verlaufscharakteristiken Anorexia nervosa Selbst herbeigeführter Gewichtsverlust Körperschemastörung Endokrine Störungen Eylarduswerk 09.05.2012 Heinrich Hoffmann Eylarduswerk 09.05.2012 Anorexia nervosa Ätiologie Individuelle Prädispositionen · · · · · Ablösungs- und Autonomieprobleme Gefühle der persönlichen Wertlosigkeit Evtl. prämorbide Körperschemastörungen/Gewichtsstörungen Konformistische Persönlichkeitszüge Primäre hypothalamische Dysfunktion (?) Familiäre Prädispositionen · · · · Mögliche genetische Präposition Betonung von Gewicht und Nahrung/Erscheinungsbild Abhängigkeit von externen Standards (Fitness-Ideale) Pathologische Familieninteraktionen Soziokulturelle Prädispositionen · Bevorzugung des weiblichen Geschlechts, einer Altersgruppe, der Mittelschicht · Vermittlung des Schlankheitsideals über Werbung · Gesellschaftlicher Leistungsdruck Eylarduswerk 09.05.2012 Anorexia nervosa Ätiologie Auslösende Faktoren Familiäre Spannungen Verlust von Bezugspersonen Hänseleien wegen prämorbider Adipositas etc. Krankheitsunterhaltende Faktoren Effekte des Hungerzustandes - Intensivierung des pathologischen Umgangs mit der Ernährung - Beeinträchtigung von Leistungsvermögen und Stimmung Erbrechen verändertes Sattheitsgefühl persistierende Störung durch Gewichtsverlust positive Selbstbestätigung durch Gewichtsverlust Zwanghaftigkeit und andere Persönlichkeitsmerkmale ungelöste familiäre Konflikte sekundärer Krankheitsgewinn iatrogene Faktoren (Fehlbehandlung) Eylarduswerk 09.05.2012 4. Früh beginnende erwachsenentypische Störungen: typisch für Erwachsene, beginnen in der Adoleszenz, meist Persistenz ins Erwachsenenalter Schizophrenien: Störung der Realitätskontrolle Denkstörungen Wahrnehmungsstörungen Affektive und sonstige Symptome Very eraly onset: < 13. LJ. Prävalenz: 1,9/100.000 (0,0019 %) Early onset: 13. – 18. LJ. Prävalenz: 0,23 % Lebenszeitprävalenz: 1 % Häufigkeitsgipfel: Männer: 24 Jahre Frauen: 27 Jahre Eylarduswerk 09.05.2012 Ätiologie – Schizophrene Erkrankungen Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell erklärt die Entstehung schizophrener Erkrankungen im Sinne eines multifaktoriellen Störungsmodells am besten. Belastende Umweltfaktoren und individuelle, personenbezogene Vulnerabilitätsfaktoren führen gemeinsam zum Ausbruch der Erkrankung, sobald ein „kritischer Grenzwert“ überschritten wird. Demgegenüber stehen Resilienzfaktoren, die es therapeutisch zu stärken gilt, um einen Rückfall zu vermeiden (nach Lincoln, 2006). Eylarduswerk 09.05.2012 Multiaxiale Klassifikation (nach ICD-10) 1. Klinisch-psychiatrisches Syndrom (Anorexia nervosa, frühkindlicher Autismus, emotionale Störungen usw.) 2. Umschriebene Entwicklungsstörungen (Legasthenie, Rechenstörung, Sprachstörungen usw.) 3. Intelligenzniveau (von geistiger Behinderung bis Hochbegabung) 4. Körperliche Symptomatik (wie Epilepsie und andere pädiatrische Erkrankungen 5. Aktuelle abnorme psychosoziale Umstände (wie unzureichende Aufsicht, inadäquate oder verzerrte Interaktion, Kindesmisshandlung usw.) 6. Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung (von guter sozialer Anpassung bis zu ständiger Betreuung) Eylarduswerk 09.05.2012 Kinder- und Jugendpsychiatrische Störungsbilder/Themen · Intelligenzminderung · · · · · · Autismus Schizophrenien Organische Psychoyndrome Hyperkinetische Störungen Bewegungsstörungen Störungen des Sprechens und der Sprache · Lern- und Leistungsstörungen · Emotionale Störungen · Belastungs- und Anpassungsstörungen · Psychische Störungen mit körperlicher Symptomatik · Chronische Krankheiten und Behinderungen · Störungen des Sozialverhaltens · Drogenmissbrauch und Sucht · Deprivations- und Misshandlungssyndrome · Persönlichkeitsstörungen · Sexuelle Störungen · Suizid- und Suizidversuch · Selbstverletzendes Verhalten Eylarduswerk 09.05.2012 Wir stellen uns immer wieder neuen Herausforderungen! Eylarduswerk 09.05.2012 Literatur Herpertz-Dahlmann, B.; Resch, F.; Schulte-Markwort, M.; Warnke, A. (Hrsg.): Entwicklungspsychiatrie, Schattauer, Stuttgart, New York, 2. Auflage, 2008. Steinhausen, H.-C.: Urban & Fischer: Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. München, 6. Auflage, 2006. Remschmidt, H., Schmidt, M., Poustka, F. (Hrsg.): Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10. Huber, Bern. Ihle, W.; Groen, G.; Walter, D.,; Esser, G.; Petermann, F.: Depression, Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, Band 16. Hogrefe, Göttingen, 2012. Eylarduswerk 09.05.2012 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit ! Eylarduswerk 09.05.2012