Psychische Erkrankungen im Jugendalter Die Gratwanderung zwischen gesund und krank Dr. M. Klein Klinik für Kinder- u. Jugendpsychiatrie u. Psychotherapie Klinikum am Weissenhof, Weinsberg Was Sie erwartet Jugendalter - Entwicklungspsychologie psychische Krankheit – Definition, Klassifikation, Auftreten Problemverhalten im Jugendalter – Formen und angemessene (Be)Handlungspfade Entwicklungsaufgaben im Jugendalter Reifung der Geschlechtsidentität / Geschlechterrolle • Veränderungen Körper / Aussehen annehmen • Aufnahme intimer Beziehungen • Aneignung gesellschaftl. erwarteten geschlechtsspezif. Verhaltens • Vorstellungen vom zukünftigen Partner / Familie entwickeln Identität – Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, Selbstbild • Aufbau neuer, tieferer Beziehungen zu beiderlei Geschlecht • Wissen was man werden will und was man dafür können muss • Wissen wer man ist und was man will Autonomie • Von den Eltern / Erwachsenen unabhängig werden • Entwicklung einer eigenen Zukunftsperspektive • Entwicklung einer eigenen Weltanschauung Entwicklungsfaktoren Reifungsvorgänge (körperlich, psychosexuell, emotional, kognitiv) • Geschlechtsreifung ♀ 2 Jahre vor ♂ Gesellschaftliche Erwartungen – soziales Zeitraster • z.B. Schule / Beruf, Übernahme der Geschlechterrolle, Eigenständigkeit, Verantwortungsübernahme Individuelle Ziele / Werte Entwicklungspsychologische Aspekte psychischer Krankheit Entwicklungsaufgaben werden nicht erlernt aufgrund mangelnder Entwicklungsfaktoren neu erlernte Entwicklungsaufgaben sind störanfällig Verhalten / Symptome müssen unter Berücksichtigung des Entwicklungsalters beurteilt werden Was ist psychische Krankheit? Remschmidt (1988): „ein Zustand gestörter Lebensfunktionen, der durch Beginn, Verlauf und ggf. auch Ende eine zeitliche Dimension aufweist und ein Kind oder einen Jugendlichen entscheidend daran hindert, an den alterstypischen Lebensvollzügen aktiv teilzunehmen und diese zu bewältigen.“ Auftreten psychischer Krankheit BELLA-Studie (Sieberer et al., 2007) 2863 Familien, Kinder 7-17J., Befragung zu seelischem Wohlbefinden, Verhalten, Schutz- u. Risikofaktoren 21,9% der deutschen Kinder u. Jugendlichen „psychisch auffällig“ (BELLA-Studie 2007) – 12,2% „möglich“, 9,7% „wahrscheinlich“ Ängste 10%, SSV 7,6%, Depression 5,4%, ADHS 2,2% Auftreten psychischer Krankheit Ulmer Heimkinderstudie (Fegert et al. 2004 / 2007) • 60% haben psychische Erkrankung nach ICD-10 • Praevalenz für ADHS / SSV / Substanzmissbrauch bis 4x höher als in Normalpopulation • 13% seelisch behindert / von seelischer Behinderung bedroht Klassifikation psychischer Krankheit Dimensionaler Ansatz = Kontinuitätsmodell quantitativer Unterschied zw. gesundem und krankem psychischem Erleben und Verhalten mit fließenden Übergängen Kontinuitätsmodell psych. Störung Beispiele im Jugendalter Normvarianten - Psychische Krankheit Schlanksein,wählerisches Essen, Erbrechen Essstörung Impulsivität, häufige Konflikte Sozialverhaltensstörung Pessimismus, Melancholie Unsicher, zurückhaltend Emotional instabil, Selbstverletzungen Depression Soziale Phobie Borderline-Störung Belastende Ereignisse Schutzfaktoren Resilienz Risikofaktoren Belastung, Einzelsymptome Psychische Erkrankung gesund krank Klassifikation psychischer Krankheit Kategorialer Ansatz = Diskontinuitätsmodell • qualitativer Unterschied zw. gesundem und krankem psychischem Erleben und Verhalten („0-1-Prinzip“) Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM-IV Mindest-Symptomanzahl Mindest-Zeitkriterium Ausschlusskriterien MAS-Klassifikation psychischer Störungen Achse I Achse II Achse III Achse IV Achse V Achse VI Psychiatrische Störung umschriebene Entwicklungsstörung Intelligenz (relevante) somatische Störung psychosoziale Belastungsfaktoren psychosoziales Funktionsniveau Behandlungsbedürftigkeit psychischer Störungen (1) akute Gefährdung? (2) objektive Beeinträchtigungen bzw. Einschränkungen in den altersentsprechenden Lebensvollzügen? (3) Objektive Beeinträchtigung der Entwicklungsmöglichkeiten? (4) subjektiver Leidensdruck? Jugendtypische psychische Symptomatik Risikoverhalten fremdaggressives Verhalten Selbstverletzendes Verhalten Rückzugsverhalten Risikoverhalten Mechanismen • Abgrenzen gg. Erwachsenen / der Norm • jugendliches Gruppenverhalten • Suche nach dem Kick Formen • Substanzkonsum (Rauchen, Alkohol...) • Mutproben • schnelles riskantes Fahren .... trainsurfing • sexuell riskantes Verhalten Risikoverhalten Gefahren • Sucht • körperliche Verletzungen / Tod • Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis...) • frühe Elternschaft, evt. Prostitution • Abrutschen in delinquentes Milieu Risikoverhalten – Was tun? Es gibt keinen Verhaltensschlüssel! Prävention durch Aufklärung entwicklungsbegleitende Führung: Balance zwischen pädagogischer Begrenzung und respektvoller Freiheitsgewährung spezifische Interventionen: Jugendberatung, Suchtund Drogenberatung, Jugendhilfe psychiatrische Vorstellung indiziert, wenn pädagog.beratende Interventionen erfolglos oder akute Fremdoder Eigengefährdung vorliegt Fremdaggressives Verhalten Mechanismen • Entwicklungspsychologisch • jugendliches Gruppenverhalten • Ich-Durchsetzung • Abgrenzung gg. Autorität, Autonomisierung • Versuch der Konfliktlösung • Wahrnehmungs-, Steuerungs- und Kompetenzprobleme Formen grenzverletzenden Sozialverhaltens instrumentell reaktiv expressive Aggression proaktiv Delinquenz Dominanz-A. feindselig impuls. Racheaggression antisozial offen oder verdeckt verdeckt o. offendemonstrativ offen: Offener Akt der Konfrontation in Zusammenhang mit körperlicher und verbaler Gewalt verdeckt: z.B. Weglaufen; verborgene Sachbeschädigung, anonyme Drohung/Entwürdigung; dissexuelles Verhalten, Stehlen; School shooting, Brandstiftung, Tierquälerei, bösartiges Ausgrenzen (vgl. Essau & Conradt, 2004) Formen grenzverletzenden Sozialverhaltens instrumentell reaktiv proaktiv expressive Aggression Delinquenz Dominanz-A. feindselig impulsive Racheaggression antisozial Kompetenzproblem Zugehörigkeitsproblem Kompetenzen: Frustrations-Aggressions-Steuerung (Miller et al.,1941); Selbstwirksamkeitserleben (Borg-Laufs & Dittrich, 2010); Soziale Informationsverarbeitung (Crick & Dodge, 1996; Helmsen & Petermann, 2010) Zugehörigkeit: deviante Wertegemeinschaft (H.S. Becker, 1963), Risikopfad „Frühentwickler“ (Fend, 1990) ; chronisch erlebtes soziales Anerkennungsdefizit und sozio-emotionaler Empathiemangel Störung des Sozialverhaltens Definition nach ICD-10 seit mindestens 6 Monaten ein für das Entwicklungsalter unangemessenes... oppositionell-aufsässiges Verhalten … oder aggressiv-dissoziales Verhalten Symptomatik nicht durch andere psychische Störung und nicht durch organische Erkrankung erklärbar Störung des Sozialverhaltens Auftreten Prävalenz 8% (m: 6-16%; w: 2-9%) Mädchen holen auf! Beginn: Jungen Kindheit; Mädchen Jugendalter Auftreten vom sozialen Kontext abhängig (Döpfner 1993) kaum kulturelle Unterschiede (Crijnen et al. 1999) 60-80% d. Jugendl. 1x delinquentes Verhalten (Farrington 1995) aggressiv-dissoziale SSV F91.0-2 verbale Aggressivität: extremes Streiten, Tyrannisieren körperliche Aggressivität: Schlagen..., Grausamkeit (gg. Mensch, Tier), sexuelle Gewalt Ungehorsam, Wutausbrüche, Provokation Lügen, Stehlen, Sachbeschädigung, Kriminalität Schuleschwänzen, Weglaufen evt. niedriger Selbstwert + emotionale Beeinträchtigung evt. geringes Empathievermögen SSV - Komorbidität ADHS → „Hyperkinetische SSV“ F90.1 Depression → „SSV mit depressiver Störung“ F92.0 Angst, Zwang → „Andere SSV und der Emotionen“ F92.8 Bindungsstörungen F94.1 / F94.2 umschriebene Entwicklungsstörungen (Sprache F80, schulischer Fertigkeiten F81, motorisch F82, kombiniert F83) Substanzmissbrauch / - abhängigkeit F1x Fremdaggressives Verhalten – Was tun? Ausnahmeverhalten • situative Konflikt- und Problemlösung reine Störung des Sozialverhaltens • Erziehungs-, oder Jugendberatung • Jugendhilfemassnahmen Störung des Sozialverhaltens mit psychischen Begleitstörungen • psychotherapeutische und/oder psychiatrische Behandlung der Begleitstörung • SSV ist komplizierender Behandlungsfaktor Störung des Sozialverhaltens Interventionsregeln früh: frühe Chronifizierung > geringere Veränderbarkeit Verbesserung soz. Kompetenz bei reaktiver Aggressiv. Deliktorientierung bei proaktiver Aggressivität Validierung antisozialer Einstellungen Gewalt > keine Toleranz Aggression > interaktive Flexibilität Selbstverletzendes Verhalten Definition: freiwillige, direkte Zerstörung oder Veränderung des Körpergewebes ohne Suizidabsicht; Verhalten ist repetitiv und sozial nicht akzeptiert Formen: • oberflächliches Ritzen • Schneiden • Verbrennen • Kneifen, Schlagen, Boxen, Beißen • „Extrem-Piercing“ • Selbstverstümmelung Selbstverletzendes Verhalten Funktionalität (nach Plener et al.2010): • Affektregulation • Anti-Dissoziation • Anti-Suizid • Interpersonelle Distanzierung • Selbstbestrafung • Sensation-seeking Selbstverletzendes Verhalten Psychische Erkrankungen Depression (in 50% auch SVV!) emotional-instabile PKS (Borderline-Störung) Angststörungen (8-fach erhöhtes Risiko SVV) Zwangsstörungen (5-fach erhöhtes Risiko SVV) Posttraumatische Belastungsstörung Essstörungen Substanzkonsum Sozialverhaltensstörung / ADHS Lebenszeitprävalenz 3,7 % (Rodham et al. 2004) - 23,2 % (Mühlenkamp 2007) Selbstverletzendes Verhalten günstige Marker • Nachahmung (endemisches Auftreten) • geringe sonstige Belastung • geringe sonstige psychische Auffälligkeiten ungünstige Marker • psychosozial: frühe Trennung Eltern, chron. Streit Eltern, Gewalt in Familie, emotionale / körperliche Vernachlässigung • Individuum: erhöhte Impulsivität, schlechte Affektregulation Selbstverletzendes Verhalten Goldene Regeln SVV ist nicht gleich Suizidalität! Aber: SVV ist ein Risikomarker für späteres Auftreten suizidaler Handlungen Verhalten in der Situation: • ruhig und sachlich bleiben • Wundversorgung (Handschuhe tragen!) bei oberflächlichen Wunden • Arzt aufsuchen bei großen oder klaffenden Wunden • nach Motiven und emotionaler Situation fragen Selbstverletzendes Verhalten – Was tun? vereinzeltes Auftreten, Modelllernen, demonstrativ: • im System lösbar durch 1. Bezugnahme und 2. pädagogische Maßnahmen regelmäßiges Auftreten, überdauernde psychische Problematik mit Alltagsbeeinträchtigung: • !Psychiatrische Diagnostik! • ambulant vor stationär • Therapie der zugrundeliegenden psych. Erkrankung • Therapeutische Stützung des Umfelds im Umgang mit dem SVV Rückzugsverhalten Bewusstes Sich-Herausziehen aus sozialen Gruppenund Einzelkontakten (Vermeiden einzelner Kontakte bis komplette soziale Isolation) Verhalten im Rückzug • „normal“: Schlafen, Lesen, Musik, Lernen.... • Alkohol- / Drogenkonsum • übermäßiger Medienkonsum (Nacht wird zum Tag), Kontakte in der virtuellen Welt möglich • weitere psychische Symptome Rückzugsverhalten Motive sozio-emotionale Überforderung Erschöpfungserleben Ängste Suchtverhalten fehlende Motivation Rückzugsverhalten Auftreten bei... Depression Angst-, und Zwangsstörungen Computersucht Posttraumatischer Belastungsstörung beginnende psychotische Störung Persönlichkeitsstörungen Rückzugsverhalten Handlungsbedarf ergibt sich aus.. emotionaler Beeinträchtigung • Gefahr manifester und chronifizierter psychiatrischer Störung psychosozialer Funktionseinbuße: Entwicklungsstopp! • kein Schulbesuch • kein Kontakt zu Aussenstehenden / zu Familie • Zimmer wird nicht mehr verlassen Rückzugsverhalten Was tun? niederschwellige Intervention: • im Bezugssystem auf Jugendlichen zugehen, Verhaltensmotive nachvollziehen, gemeinsame Problemlösung versuchen psychiatrische Aklärung (ambulant, ggf. stationär geschlossen) • Erfassen der zugrundeliegenden psych. Störung • Erfassen der psychosozialen aufrechterhaltenden Bedingungen spezifische psychiatrisch-psychotherapeutische Therapie unter Einbezug des Umfelds Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit ! Training und Beratung der Eltern (Parental Management Trainings PMT) Für Kinder mit Störungen des Sozialverhaltens die effektivste Intervention bis zum Beginn der Adoleszenz Strategien zur Förderung prosozialen Verhaltens (Lob; kontingente positive Aufmerksamkeit; materielle Belohnungen) Stärkung von Familienbeziehungen (Kommunikation, Kooperation, körperliche Zuwendung, aktive gemeinsame Zeit) Training von Arbeits- und Sozialverhalten mit Jugendlichen (Petermann & Petermann, 1987/2007) Selbst- und Fremdwahrnehmung der betroffenen jungen Menschen Selbstkontrolle und Ausdauer Umgehen mit dem eigenen Körper und Gefühlen Selbstsicherheit und stabiles Selbstbild Einfühlungsvermögen Umgehen mit Lob, Kritik und Misserfolg Integration der Lerneffekte in das Selbstkonzept der jungen Menschen „Angeleitete Einsicht“: Deliktorientiertes Therapiekonzept (Eldrige & Bullens) Änderungsimpuls durch die Lebenslage Psychoedukative Auseinandersetzung mit angenehmen und aversiven Folgen des Problemverhaltens Neutralisierung verringern Explizite Erwartung von Gewaltabstinenz Alternative Selbstwirksamkeitserfahrung und Erlebnisaktivierung ermöglichen und symbolisieren Soziale Sanktionsandrohung bei Abbruch Antisoziale Persönlichkeitsentwicklung (Füllgrabe, 2003; Expertenkreis Amok, 2009) Verringerte soziale Bindungen Erhöhte emotionale Kränkbarkeit Erlebtes soziales Anerkennungsdefizit „Niemand sieht mein Potential“ Antisoziale Phantasien zur Selbstwertrestitution Generalisierte antisoziale Einstellung Leaking Manifeste antisoziale Gewalt Anerkennung der „bösen“ „dunklen“ Seite Verfügbarkeit aggressiver Mittel beachten Breite soziale Wechselseitigkeit: „Tit for Tat“ Einschätzung des Suizidrisikos Schweregrad Distanzierungsfähigkeit fortbestehende Belastungen mäßige Gefährdung • weiche Methode • appellativer Charakter • Distanzierung • Umfeld unterstützend • gutes Coping hohe Gefährdung • harte Methode • fehlende Distanzierung • fortbestehender Konflikt • wiederholter SV • psychiatr. Erkrankung • fehlender sozialer Halt