Prävention und Rehabilitation bei psychischen Störungen Priv.-Doz. Dr. med. Katarina Stengler Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie (Direktor: Prof. Dr. med. Ulrich Hegerl) Prävention & Gesundheitsförderung Prävention (Reduktion von....) - Veränderung und Abschwächung von Risikoverhalten und intrapersonellen Risikofaktoren - Eliminierung oder Milderung von Risikofaktoren in der sozialen und physikalischen Umwelt Gesundheitsförderung (Stärkung von..) - Stärkung personinterner protektiver Faktoren und personaler Ressourcen (z.B. gesunder Verhaltensstil) - Förderung gesundheitsunterstützender Umwelten (z.B. Arbeitsplatz- und Schulgestaltung) Präventionsarten (Caplan 1964) Unterscheidung nach Zeitpunkt der Intervention relativ zum Krankheitsverlauf Primär (vorher) = Prävention Sekundär (im Beginn) = Früherkennung & Frühbehandlung Tertiär (danach) = Rehabilitation Früherkennung und -behandlung (Sekundärprävention) von (chronischen) Erkrankungen: in der Medizin allgemein nahezu selbstverständlich – – – – Krebsvorsorgeprogramme Prävention bei Herz-Kreislauferkrankungen Schlaganfallprophylaxe Impfprogramme In der Psychiatrie, explizit – und am Beispiel der Schizophrenie: ? Besonderheiten warum? welche? ? Konsequenzen „Schizophrenie“ „Schizophrenie als Passepartout für allerlei Unsinniges in vieler Munde...“ (Häfner, 2000) Finzen (1996) „Der Verwaltungsrat ist schizophren“: – „Wir Schweizer sind schizophren“ (Baseler Zeitung) – „Frankreich lebt schizophren“ (Der Spiegel) – „...hier wird die Schizophrenie ärztlicher Tätigkeit in der DDR deutlich...“ (Deutsches Ärzteblatt) Das Stigma psychischer Krankheit – das Stigma der Schizophrenie Psychiatrische Stigmaforschung: – Einstellungserhebungen in der Bevölkerung zur Untersuchung der ablehnenden Haltung der Gesellschaft gegenüber psychisch Kranken (Angermeyer et al. 1996, 2001; Crisp et al. 2000) – Studien zur subjektiven Stigmatisierung, d.h. Untersuchungen zur konkret erlebten und zur antizipierten Stigmatisierung sowie zum Stigmacoping der Betroffenen (Angermeyer 2003, 2004) Das Stigma der Schizophrenie besondere Vorsicht im Zusammenhang mit Frühdiagnostik/ frühzeitiger Benennung..... und frühzeitiger Behandlung ABER Die Schizophrenie geht mit schweren psychosozialen Behinderungen einher und hat erhebliche volkswirtschaftliche Auswirkungen. Chronizität der Schizophrenie 1/3: chronischer Verlauf, 1/3: mehrfache Manifestationen; 80% gar nicht oder nur teilweise beschäftigt, viele keine Partnerschaft oder Kinder Global Burden of Disease Study WHO (Murray und Lopez 1997), andauernde Behinderung: Platz 5 (vor Diabetes und Verkehrsunfällen) größte Gruppe der stationären Aufnahmen in psychiatrische Krankenhäuser (hohe Rezidivanfälligkeit; Janssen, 2000) Mehr als 50 % aller psychiatrischen Versorgungsleistungen entfallen auf Patienten mit Schizophrenie ca. 10 Milliarden €/ Jahr in der BRD (Kissling, 1999) Volkswirtschaftliche Bedeutung: Indirekte Kosten 6000 Frühverrentungen von Schizophrenen neu pro Jahr Bei den unter 40jährigen Schizophrenie wichtigste Ursache von Erwerbsunfähigkeit Durchschnittliche Bezugsdauer von Frührente: 12.7 Jahre bei allen Frühberenteten, 25.9 Jahre bei schizophrenen Patienten Clouth et al. 2003 Der verzögerte Behandlungsbeginn hat negative Langzeitauswirkungen. Verzögerter Behandlungsbeginn korreliert mit verzögerter und unvollständiger Remission der Symptomatik (Johnstone et al. 1986; Loebel et al. 1992; Birchwood & McMillan 1993; Mc Gorry et al. 1996; Loebel et al. 1996) längerer stationärer Behandlungsbedürftigkeit und höherem Rückfallrisiko (Helgason 1990) einem erhöhten Depressions- und Suizidrisiko größerer Belastung der Arbeits- und Ausbildungssituation erhöhtem Substanzmißbrauch und delinquentem Verhalten deutlich höheren Behandlungskosten (McGorry & Edwards 1997) Die Schizophrenie hat einen frühzeitigen Beginn. Frühverlauf der Schizophrenie - Phasen und Definitionen Geburt Erste uncharakteristische Erkrankungszeichen Prämorbide Phase Prodromalphase (Präpsychotische Basisstadien) B Beginn der Psychose Unbehandelte Psychosephase Erste Behandlung Behandelte Psychosephase Remission Remission Erste uncharakteristische Rückfallzeichen Psychotische Symptome Residualphase (Postpsychotische Basisstadien) Rezidivprodromalphase (Präpsychotische Basisstadien) Rezidivphase Modifiziert nach McGlashan, Johannessen 1996 A A = Dauer der unbehandelten Psychose (Duration of Untreated Psychosis DUP) B = Dauer der unbehandelten Erkrankung (Duration of Untreated Illness DUI) Prämorbide Phase - Risikofaktoren Schizophrene Erkrankung in der Familie Suche nach molekulargenetischen Markern Geburtskomplikationen Neurobiologische Vulnerabilitätsindikatoren Präkursoren auf Erlebens- und Verhaltensebene Studientypen: Familienstudien, Geburtskohortenstudien, genetische und psychometrische High-risk-Forschung Präventionsstrategien Primäre Prävention: prämorbide Phase bei Schizophrenie begrenzt aufgrund der geringen Sensitivität + Spezifität von spezifischen Merkmalen (high-risk-Forschung) Sekundäre Prävention: Dauer der unbehandelten Psychose - DUP Beeinflussung der Dauer der unbehandelten Krankheit (DUI) Tertiäre Prävention: Ansatz Psychoedukation bei bestehender Erkrankung Voraussetzungen für die Sekundärprävention zuverlässige präventiv Risikokriterien wirksame Interventionen Risikokriterien für erste psychotische Episoden „Ultra-high-risk“- (UHR) Kriterien: (McGorry/ Yung et al., 1998) Übergangsraten 35-54% prospektiv innerhalb von 12 Monaten Basissymptom-Kriterien: (Huber 1966; retrospektive Selbstwahrnehmung) Vorhersagefähigkeit: bis ca. 70% (Kölner-Früherkennungsstudie) Psychosefernes/ -nahes Prodrom (Kompetenznetz Schizophrenie, Deutschland) Interventionen für Personen mit „erhöhtem Psychoserisiko“ Gute Studienlage Forschungsgruppen: Melbourne, USA, Europa – Interventionen in Anlehnung an Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungs-Modell zwei abgeschlossene, drei mit vorläufigen Ergebnissen publizierte Interventionsstudien mit prospektivem, randomisiertem Kontrollgruppendesign (McGorry, Morrison, McGlashan, Bechdolf, Häfner; 2002-2005/ 2006) - UHR-/ Basissymptom-Kriterien Hinweise, dass kognitive Verhaltenstherapie incl. Psychoedukation allein/ mit atypischen Neuroleptika (Amisulprid, Olanzapin,Risperidon) gegenüber Kontrolldesign überlegen ist Erste Hinweise für: Verzögerung, Abschwächung, Verhinderung psychotischer Ersterkrankungen Verbesserung der aktuellen Symptomatik Verhinderung/ Verzögerung sozialer Behinderung Verbesserung des neuropsychologischen Funktionsniveaus Ethische Aspekte Pro-kontra-Diskussionen • Nehmen Personen durch die Partizipation an einem Früherkennungsprogramm Schaden? • Erhalten sie unnötigerweise eine Behandlung? Ethische Aspekte • für Personen, bei denen sich Psychoserisiko bestätigt, sind Interventionen gerechtfertigt • Personen, die keinen Übergang in eine Psychose zeigen, haben sich mit relevanten Beschwerden/ Einschränkungen vorgestellt – profitieren von (unspezifischen) Angeboten • „Number needed to treat“ (NNT) = 4 für 1-Jahres-Zeitraum (McGorry et al., 2002) (Vergleich Schlaganfall-präventive Effekt, der durch RR-Einstellung erreicht wird: NNT=167) Fazit 1. Die (ethischen) Voraussetzungen für eine Frühintervention sind aktuell für Personen mit erhöhtem Psychoserisiko (und deren Angehörige) gegeben. 2. Insbesondere trifft dies für den Einsatz von supportiv-psychotherapeutischen und psychoedukativen Methoden zu. 3. Antipsychotische Behandlung sollte Patienten vorbehalten sein, die bereits Kriterien für eine psychotische Störung erfüllen. (International Early Psychosis Association, IEPA, 2005) Rehabilitation bei psychischen Störungen Psychische Störungen sind: 1. Häufig........... 2. Folgenschwer........ 3. Unterversorgt......... 1. Häufigkeit: Psychische Störungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung Bundesgesundheitssurvey 18-65jährige (Jacobi 2004) Lebenszeitprävalenz: 42.6% Top 4: Angststörungen: 14.5% Affektive Störungen: 11.9% Somatoforme Störungen: 11.0% Substanzstörungen: 4.5% 2. Schwere: Psychische Störungen beginnen meist wesentlich früher als andere Erkrankungen und gehören zu den folgenschwersten chronischen Erkrankungen Fälle von Erwerbs- und Berufsunfähigkeit 2002: 1. Psychische Störungen 29.2% (bei unter 40jährigen: 45%) 2. Skelett und Muskeln 3. Herz und Kreislauf 3. Unterversorgung: Nur ein geringer Teil psychisch Kranker wird behandelt, oft nicht nach dem Wissensstand des Fachgebietes - hier: Anteil der nicht behandelten Fälle über alle Diagnosen: 63,3% Bundesgesundheitssurvey, Wittchen 2000 Psychiatrische Rehabilitation umfasst alle Maßnahmen, um: „...einen seelisch behinderten Menschen über die Akutbehandlung hinaus durch umfassende Maßnahmen auf medizinischem, schulischem, beruflichem und allgemeinsozialem Gebiet in die Lage zu versetzen, eine Lebensform und –stellung, die ihm entspricht und seiner würdig ist, im Alltag, in der Gemeinschaft und im Beruf zu finden bzw. wieder zu erlangen.“ Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation Psychiatrische Rehabilitation Abgrenzung zu somatisch Kranken/ Behinderten: – Regelhafte zeitliche Abfolge von Akutbehandlung und Rehabilitation nicht gegeben – Rückschritte während Rehabilitation i.S. von Erkrankungskrisen – Erfolgreiche Wiedereingliederung abhängig vom Zusammenwirken von Akutbehandlung und Rehabilitation – Cave: Schwierigkeit Kostenträger!! Bestandteile/ Formen der (psychiatrischen) Rehabilitation Medizinische Rehabilitation – Versucht einen entstandenen Gesundheitsschaden zu beseitigen, zu mildern oder die Folgen zu beheben Berufliche Rehabilitation (Teilhabe am Arbeitsleben) - „Rehabilitation vor Rente“: Integration in den beruflichen Alltag Soziale Rehabilitation – Teilhabe in der sozialen Gemeinschaft: z.B. Wohnungsund Haushaltshilfe Psychiatrische Rehabilitation Rehabilitations- o. Leistungsträger: - Bundesagentur für Arbeit (BA) - Deutsche Rentenversicherung (DRV: ehemals BfA und LVA) - Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) - Unfallversicherung (UV) - Träger der Kriegsopferversorgung und –fürsorge - Träger der öffentlichen Jugend- und Sozialhilfe Wo findet Rehabilitation für psychisch Kranke statt? Psychosomatische Rehabilitationskliniken in aller Regel in landschaftlichen schönen Gegenden Schwerpunkt: F4, F5, F3 Aufnahmekriterien – Stabilität der Erkrankung, gute Prognose aussage, keine Rückfallgefahr Früher: Kurklinik, „zur Kur fahren“ RPK: Rehabilitation psychisch Kranker (D: n=50) Ambulant, teilstationär Medizinisch, beruflich Schwerpunkt: F2, F3 Zentraler Baustein der Rehabilitation psychisch Kranker: Teilhabe an der Arbeit und am sozialen Leben Bestandsaufnahme zur Rehabilitation psychisch Kranker im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung – Zwischenbericht zum 31. März 2002 - Formen der Integration in Arbeit und Beschäftigung – Integration auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (§33 Abs.1 SGB IX) • Förderung von Teilzeitbeschäftigung • Flexibilität der Arbeitszeiten – Beschäftigung auf dem besonderen Arbeitsmarkt • Werkstatt für Behinderte (cave: Stigmatisierung) – Rehabilitative Beschäftigung • Tagesstätten, Wohnheime, tagesstrukturierende Angebote – Tätigkeiten im Dritten Sektor • Hauswirtschaftliche Versorgung von Familienangehörigen (Kinder, pflegebedürftige Angehörige) • Ehrenamtliche Tätigkeiten Was ist unser Ziel ? Ziel unserer Rehabilitationsbemühungen ist Integration und nicht Ausgrenzung! Alternative – „Supported Employment“ ? Erfahrungen aus den USA und der Schweiz Definition: • • • • Kompetitiver Arbeitsplatz in freier Wirtschaft • Erst plazieren, dann trainieren! Betreuung durch „Job Coach“ Zeitlich unbeschränkt mit Arbeitszeit: > 20h/Wo. Tariflich entlöhnt Ergebnisse: Wiedereingliederungsrate besser als durch: • psychosoziale Rehabilitationsprogramme • Trainingsarbeitsplätze • Tagesklinikaufenthalte Breite Palette an rehabilitativen Einrichtungen: Es braucht nicht geeignete Patienten für bestehende Einrichtungen, sondern für jeden Patienten geeignete Einrichtungen! Der Sandhaufen als Beispiel einer normalverteilten Gesellschaft Der Rand stützt die Norm