Borderline-Persönlichkeitsstörung

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Diplomarbeit für den Abschluss in Körperzentrierter Psychotherapie IKP (Typ A)
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Entwicklung eines Therapiekonzeptes der
Körperzentrierten Psychotherapie IKP
unter Berücksichtigung von Diagnostik, Ätiologie- und
Therapiekonzepten
eingereicht am Institut für Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Kanzleistrasse 17, 8004 Zürich
Zürich, den 28. April 2007
Diana Maag
Neugrütstrasse 10
9542 Münchwilen
Sabine Gerber
Hans-Hässig-Strasse 3
5000 Aarau
1. Vorwort
Erfahrungsgemäss machen viele Ärzte und Psychotherapeuten einen grossen Bogen um
das Krankheitsbild „Borderline“. Borderline-Patienten gelten in Fachkreisen als schwierige,
fordernde, schwer behandelbare und kaum greifbare Menschen. Es heisst, dass drei
Borderliner einen Therapeuten bereits schon an seine psychischen Belastungsgrenzen
bringen. Psychohygiene und Supervision haben deshalb bei der BPS-Therapie einen
besonderen Stellenwert.
Was aber viele vergessen, ist, dass Borderline-Betroffene uns mit ihrer Komplexität,
Individualität und speziellen Art, wie kaum eine andere psychische Erkrankung, in den
therapeutischen
Genzen
und
Möglichkeiten
herausfordern,
uns
so
viele
Erfahrungsreichtümer bringen und zu therapeutischem Wachstum anregen. Wenn wir sie
ein Stück auf ihrem Lebensweg begleiten dürfen und sie in ihrer Individualität ernst nehmen,
können wir viel von ihnen lernen. Das bedeutet, dass wir von festgeschriebenen und fixen
Therapiekonzepten (z.B. Therapie-Manualen) und starrem Wissen über BPS Abstand
nehmen und einen Paradigmenwechsel zur phänomenologischen, ganzheitlich-integrativen
Sichtweise vollziehen müssen. Jeder Mensch verfügt über eigene Selbstheilungskräfte und
ist Experte seiner selbst. Er bringt bereits das Wissen über die eigene Heilung mit in die
Therapie. Als Therapeutinnen haben wir die Aufgabe, im Wahrnehmen und Erkennen dieses
an die Oberfläche des Bewusstseins zu bringen, zu reaktivieren, zu fördern und zu
verstärken. Damit werden dem Klienten in einem integrativen Prozess verdeckte Teile seiner
Selbst wieder zugänglich gemacht, stehen der Ganzheitlichkeit, dem Wachstum und
Entfaltung seiner Persönlichkeit wieder zur Verfügung und können zukünftig als Ressourcen
genutzt werden. Dies entspricht unserer humanistischen Grundhaltung und hat uns für das
Verständnis unserer Borderline-Patienten in der Praxis stark geholfen und dazu motiviert,
immer wieder nach individuell angepassten Interventionen zu suchen.
Wir möchten an dieser Stelle einer Borderline-Betroffenen – es handelt sich um die junge
Frau vom Fall-Beispiel 1 (s. Kap. 8.1) – das Wort übergeben. Denn wer kann besser
beschreiben, was BPS ist, als eine Betroffene selbst? Sie stellte uns das Vorwort ihrer
Matura-Arbeit zur Veröffentlichung zur Verügung und wir bedanken uns ganz herzlich bei
ihr.
Vorwort zur Matura-Arbeit von C.R. (2007):
Was ist Borderline?
Es ist das Schwanken zwischen zwei Extremen, dem Guten und dem Bösen,
dem Leben wollen und dem nicht mehr Leben wollen, zwischen Schmerz und
Euphorie.
Es sind Symptome die jeder Mensch kennt, einfach nicht in diesem Ausmass,
sie können nicht mehr nachvollziehen was vorgeht.
Leben mit Borderline ist ein Leben auf der Überholspur, es ist die Flucht vor
der Realität.
Die Gedanken rasen durch den Kopf, es sind viel zu viele um sie überhaupt
noch ausdrücken zu können, der Bezug zu sich selbst geht verloren und wird
auf gewaltsame Weise wiederhergestellt. Manchmal wird der Schmerz unerträglich und das Leben auch, doch niemand lässt dich gehen, immer wieder
entrinnst du dem Tod, jedes Mal knapper. Doch wieso? Für was?
Der Zyklus beginnt immer wieder neu. Viele Fachpersonen sind überfordert,
können die widersprüchlichen Gedankenvorgänge, von denen ich weiss, dass
sie widersprüchlich sind, nicht erfasse. Sie machen es manchmal nur noch
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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schlimmer und lassen mich spüren, dass ich anders bin. In meiner Welt wird
gekotzt, geschnitten, getrunken bis zu Besinnungslosigkeit, beim Aufwachen ist
die Welt immer noch gleich schlimm wie vorher.
Borderline ist für mich, die extreme Suche nach dem Sinn im Leben, dem Ertragen all dieser Schmerzen. Borderline gänzlich zu erfassen ist viel zu komplex, denn Borderline ist ungleich Borderline und auch die Betroffenen unterscheiden sich teils gänzlich. Wir wollen nicht in Schubladen gesteckt werden,
sondern wir sind eigentlich tief im Innern noch zu normal um als krank zu gelten.
Nun da ich noch am Leben bin und wieder zur Schule gehe, könnte man sagen
ich bin geheilt, aber ich denke Borderline ist nicht unbedingt heilbar, es ist eine
Persönlichkeit, wie ein Charakterzug der bleibt, mit positiven, wie auch negativen Seiten. Ich kenne viele, die heute ihr Leben meistern können, aber ungefähr dieselbe Zahl hat es auch nicht geschafft. Es sind Erfahrungen die prägen
und mich zu der Person machen, die ich heute bin. Und wenn mich jemand
fragen würde, was ich lieber hätte, normal zu sein oder Borderline? Würde ich
sagen Borderline, weil man so auch die Komplexität der Welt erfährt und es
einfach Erfahrungen sind, die ich nicht missen möchte.
Ähnliche Erfahrungen in der therapeutischen Arbeit mit Borderline-Klienten und der
gemeinsame Austausch über mögliche Interventionen haben uns zu der vorliegenden
Diplomarbeit motiviert. Bis heute existiert zudem keine spezifische Literatur der
Körperzentrierten Psychotherapie IKP zum Thema BPS. Daher hatten wir die Idee, ein BPSTherapiekonzept der Körperzentrierten Psychotherapie IKP, das zugleich Leitlinie und
therapeutischen Freiraum bietet, selbst zu entwickeln.
Ein weiteres Interesse am Thema BPS resultierte zudem aus persönlichen Erfahrungen mit
„Borderlinern“. Eine der Verfasserinnen erlebte eine mehrjährige Beziehung zu einem Mann
mit BPS. Die Auseinandersetzung mit dem Thema BPS führte bei ihr im Nachhinein zu
einem heilsamen Verständnis und einer weiteren Verarbeitung dieser als sehr schwierig und
zum Teil auch traumatisch erlebten Beziehung.
Im Nachhinein stellten wir zudem fest, dass in der Vergangenheit vermutlich schon Klienten
mit einer BPS zu uns in der ambulanten Psychotherapie waren, ohne dass wir es wussten
oder erkannten. Dies hatte einerseits damit zu tun, dass diesen andere Krankheitsbilder
diagnostiziert wurden und andererseits fehlte uns damals das entsprechende Wissen und
die Erfahrung mit BPS.
Für unsere Entscheidung, gemeinsam eine Diplomarbeit zu verfassen, sind wir noch heute
dankbar und froh. Unsere Zusammenarbeit erlebten wir als sehr fruchtbar, harmonisch und
lehrreich. Wir konnten gegenseitig von unserem Wissen, unseren Erfahrungen und Ideen
profitieren, was zu einer gewinnbringenden Synergie beim Verfassen unserer Diplomarbeit
geführt hat. Es war uns von Anfang an ein grosses Anliegen, die Diplomarbeit wirklich
gemeinsam zu schreiben. Dies bedeutete für uns, in ständigem Kontakt und Austausch zu
bleiben, das Geschriebene fortlauend zu besprechen und gegenseitig zu ergänzen.
Wir möchten uns ganz herzlich für die emotionale und fachliche Unterstützung bedanken,
die wir von unserem persönlichen Umfeld und IKP-Fachleuten erhalten haben. Valentin
Rupp und Walter Lendi, danken wir für die emotionale Unterstützung, die Geduld mit uns
und die Zeit, in der sie auf uns verzichteten und uns arbeiten liessen. Valentin Rupp danken
wir zusätzlich für seine Hilfe in „Computerdingen“ (Formatieren etc.). Unseren
Supervisorinnen, Lehrtherapeuten und Ausbildnern vom Institut für Körperzentrierte
Psychotherapie IKP verdanken wir eine langjährige Ausbildung, Begleitung,
Persönlichkeitsentfaltung und Entwicklung zu Psychotherapeutinnen. Roland Gerber danken
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wir für seine Hilfe bezüglich Rechtschreibung, Grammatik und Feedback eines NichtFachmannes im Bereich Psychotherapie.
Nun sind wir sehr stolz auf unsere Diplomarbeit. Unser enormes Engagement, die
Motivation und das Interesse am Thema BPS, haben sich gelohnt. Bereits vor der
Zusammenarbeit an der Diplomarbeit pflegten wir nicht nur den fachlichen Kontakt, sondern
hatten auch schon die Idee und Motivation, intensiver zusammenzuarbeiten. Mittlerweile ist
eine Freundschaft entstanden und ein Entschluss zu weiteren gemeinsamen Projekten.
Aarau, Münchwilen und Zürich, im April 2007
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
Sabine Gerber & Diana Maag
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Inhaltsverzeichnis
1.
Vorwort ........................................................................................................ 2
2.
Einleitung .................................................................................................... 9
THEORETISCHER TEIL.......................................................................................... 12
3.
Begegnung im Zwischenreich: Annäherung an das Krankheitsbild.... 12
3.1
3.1.1
3.1.2.
3.1.3.
3.1.4.
3.1.5.
3.1.6.
3.2.
3.2.1.
3.2.2.
Allgemeines zum Begriff „Persönlichkeitsstörung“...................................... 12
Persönlichkeitsstörungen: Klinische Forschung und Praxis........................ 12
„Gesunde“ Persönlichkeit und „gestörte“ Persönlichkeit ............................. 13
Zum Begriff „Persönlichkeitsstörung“ .......................................................... 14
Die Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen.............................................. 15
Modelle der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen .............................. 15
Therapiemodelle von Persönlichkeitsstörungen ......................................... 16
Borderline-Störung: Abgrenzung und Begriffe ............................................ 17
Historische Entwicklung des Begriffs „Borderline“ ...................................... 17
Historische Konzepte der „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ ................... 18
4.
Diagnostik und Klassifikation der Borderline-Persönlichkeitsstörung22
4.1
4.5
Auf dem Weg zur Diagnose „Borderline-Persönlichkeitsstörung“:
Definitionen und Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen nach den
Diagnosesystemen ICD und DSM, inkl. einer kritischen Würdigung der
Diagnosesysteme ....................................................................................... 22
Diagnostik und Klassifikation der Borderline-Persönlichkeitsstörung
nach DSM-IV .............................................................................................. 27
Diagnostik und Klassifikation der Borderline-Persönlichkeitsstörung
nach ICD-10................................................................................................ 28
Borderline-Persönlichkeitsstörung in den modernen
Klassifikationssytemen im Überblick ........................................................... 29
Symptomatik der Borderline-Persönlichkeitsstörung .................................. 30
5.
Prävalenz, Verlauf und Prognose, körperliche und psychiatrische
4.2
4.3.
4.4
Komorbiditäten der Borderlinestörung................................................... 36
5.1.
5.2.
5.2.1.
5.2.2
Prävalenz, Verlauf und Prognose ............................................................... 36
Psychiatrische Komorbidität und Differentialdiagnostik .............................. 38
Borderline-Persönlichkeitsstörung und andere psychische Erkrankungen . 38
Borderline-Persönlichkeitsstörung und andere Persönlichkeitsstörungen . 44
6.
Ätiologie: Ausgewählte Entstehungsmodelle zur
Borderline-Persönlichkeitsstörung......................................................... 48
6.1.
6.2.
6.3.
6.4
Biologischer, genetischer und neurobiologischer Ansatz............................ 50
Psychodynamische und psychoanalytische Ansätze.................................. 51
Bindungstheoretische und interpersonale Ansätze..................................... 54
Bio-psycho-soziale Ansätze........................................................................ 57
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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6.4.1
6.4.2
Das dialektisch-behaviorale Entstehungsmodell nach M. Linehan
(„Diathese-Stress-Modell“, von Linehan abgeleitet).................................... 58
Das neobehaviorale Entstehungsmodell..................................................... 61
7.
Ausgewählte resp. gängige Therapiekonzepte ...................................... 63
7.1.
7.1.1
7.1.2
7.1.3
7.1.4
7.2
7.2.1
7.2.2
7.2.3
7.2.4
7.2.5
7.3
Psychoanalyse: Übertragungsfokussiertes Therapiekonzept TFP.............. 63
Theoretischer Hintergrund und Therapiesetting.......................................... 63
Die 3 Säulen der Therapieprinzipien........................................................... 65
Therapieverlauf und Therapiephasen ......................................................... 67
Wirksamkeitsüberprüfung ........................................................................... 71
Verhaltenstherapie: Dialektisch-Behaviorale Therapie DBT ....................... 72
Allgemeine Aspekte der DBT-Therapie und Therapiesetting ...................... 72
Haltung des Therapeuten ........................................................................... 76
Die Therapiestrategien der DBT ................................................................. 77
Therapieverlauf und Therapiephasen ......................................................... 78
Wirksamkeitsüberprüfung ........................................................................... 79
Psychodynamisch imaginative Traumatherapie PITT bei traumatisierten
Patienten mit BPS....................................................................................... 80
7.4
Körperorientierte Psychotherapie der BPS ................................................. 83
7.4.1
Körpertherapie und Körperpsychotherapie ................................................. 83
7.4.2
Forschung und Studien der Körperpsychotherapie..................................... 84
7.4.3
Behandlungsmöglichkeiten der BPS mit Körperorientierter
Psychotherapie ........................................................................................... 85
7.4.3.2 Körperorientierte Psychotherapie bei traumatisierten Borderline-Patienten 92
7.4.4
Körperorientierte Psychotherapie der BPS im stationären Setting.............. 93
8.
Fallbeispiele „Borderline-Persönlichkeitsstörung“
aus eigener Therapietätigkeit .................................................................. 96
8.1.
8.2.
8.3.
9.
Fallbeispiel 1: Borderline-Persönlichkeitsstörung (DSM-IV, ICD-10) .......... 96
Fallbeispiel 2: Borderline-Persönlichkeitsstörung (DSM-IV),
Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typus (ICD-10) ... 108
Erkenntnisse für die Therapiekonzeption BPS der
Körperzentrierten Psychotherapie IKP...................................................... 117
Beitrag der Körperzentrierten Psychotherapie IKP für ein
ganzheitlich-integratives Therapiekonzept der BorderlinePersönlichkeitsstörung .......................................................................... 120
9.1.
9.2.
Erkenntnisse aus Theorie und Praxis (Kap. 1 – 8).................................... 120
Allgemeines Entstehungs- und Therapiekonzept IKP anhand des
Anthropologischen Würfelmodells IKP...................................................... 123
9.3.
Bestätigung des ressourcenorientierten Ganzheitstherapiekonzepts IKP
und dessen Relevanz für die BPS durch aktuelle Forschungen ............... 124
9.4.
Ein ganzheitlich-integratives Therapiekonzept IKP für die BPS................ 130
9.4.1. Individuelle Therapieplanung und Festlegen von
Therapieschwerpunkten............................................................................ 135
9.4.2. Individuelles ganzheitlich-integratives Therapiemodell IKP der BPS ........ 135
9.4.2.1. Therapieprinzipien .................................................................................... 137
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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9.4.2.2. Therapieschwerpunkte /Therapiephasen.................................................. 140
9.4.3.3 BPS-spezifische Techniken und Interventionen ......................................... 147
10.
Zusammenfassung und Ausblick.......................................................... 153
Literaturverzeichnis ................................................................................................ 155
Weblinks................................................................................................................. 168
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Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen
APA
BPS
DBT
DSM
HA
ICD
IKP
KBT
Pat.
PITT
PS
PTSD/PTSB
TFP
Th.
VAKO
WHO
American Press Association
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Dialektisch-Behaviorale Therapie
diagnostical and statistical manual of mental disorders
Hausaufgaben
International Classification of Mental an Behavioural Disorders,
Internationale Klassifikation psychischer Störungen
Institut für Körperzentrierte Psychotherapie
Konzentrative Bewegungstherapie
Patient
psychodynamisch-integrative Traumatherapie
Persönlichkeitsstörung
Posttraumatic stress disorder, Posttraumatische
Belastungsstörung
Transference-Focused-Psychotherapy,
Übertragungsfokussierte Psychodynamische Psychotherapie
Therapeutin
Sinneskanäle: visuell, akustisch-auditiv, kinästhetisch,
olfaktorisch
World Health Organization, Weltgesundheitsorgansation
Synonym verwendete Begriffe
Körperzentrierte Psychotherapie IKP = Ganzheitspsychotherapie IKP = IKP-Ansatz
Körperpsychotherapie = körperorientierte oder körperbezogene Psychotherapie
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2. Einleitung
Aufgrund unserer Recherche bestehender Diplomarbeiten haben wir festgestellt, dass die
störungsspezifische
Erarbeitung
von
Therapiemodellen
auf
der
Basis
der
ganzheitsorientierten Psychotherapie IKP weitgehend fehlt. Über das Thema BorderlinePersönlichkeitsstörung wurde am IKP noch gar nie geschrieben. Allein das wäre schon
Grund genug gewesen, das Thema Borderline-Persönlichkeitsstörungen aufzugreifen.
Leider ist es aber auch eine traurige Tatsache, dass wir Therapeuten im ambulanten Setting
immer häufiger mit „Borderline-Patienten“ konfrontiert werden. Für eine Einarbeitung in die
doch sehr umfassende Persönlichkeitsstörung und für ein auf den ganzheitsorientierten
Therapieansatz IKP störungsspezifisch ausgerichtetes Vorgehen bleibt da für den einzelnen
Therapeuten häufig keine Zeit. Denn Patienten mit BPS fordern uns ab der ersten
Therapiestunde an wie kaum eine andere psychische Störung zum psychotherapeutisch
schnellen Handeln.
Unsere Arbeit soll hier zumindest partiell gesehen einerseits praktische Hilfestellung für die
Körperzentrierten Psychotherapeuten IKP bei der Behandlung der BPS bieten, andererseits
aber auch eine Motivation zur Erweiterung des bisherigen Therapieblickwinkels der BPS für
andere Therapierichtungen sein.
In diesem Bestreben galt es, ausgehend vom heutigen Forschungsstand über BPS, sich
umfangreiches Grundlagenwissen zu erarbeiten und eine Reihe wichtiger
Forschungsergebnisse und Faktoren zu beachten.
Kapitel 3 stellt eine Einführung in die Thematik von Persönlichkeitsstörungen im
Allgemeinen dar. Schon allein die therapierichtungsspezifisch bestehenden Fronten in der
Begriffsdiskussion über „Persönlichkeitsstörungen“ zeigen die herrschenden Uneinigkeiten
und Widersprüche auf, die sich auch lange in der Begrifflichkeit der „BorderlinePersönlichkeitsstörung“ widerspiegelten und die auch heute noch existieren.
Kapitel 4 und 5 beinhalten Fragen zur Diagnostik: wie die Diagnose „BorderlinePersönlichkeitsstörung“ entstanden ist, was die Diagnose BPS nach verschiedenen
Klassifikationssystemen bedeutet (ICD-10, DSM-lV), differentialdiagnostische Erwägungen
und Komorbiditätsfragen. Besondere Aufmerksamkeit wird hier auf die Vielfalt der
Symptome und ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen gelegt. Die wichtigste Botschaft
für Therapeuten liegt hier darin, dass wir den BPS-Patienten einen grossen Gefallen tun,
wenn wir die Diagnose erkennen und sie (wie auch die Familie) darüber aufklären können.
Im Kapitel 6 werden verschiedene Ätiologiemodelle zur BPS vorgestellt.
Entstehungstheorien der BPS bilden unbestritten eine wichtige Grundlage für das
Therapieverständnis. Von den vorgestellten Modellen, die von biologisch/genetischen zu
psychodynamischen und kognitiv-verhaltenstherapeutischen reichen, identifizieren wir uns
mit einer multifaktoriellen Betrachtung - unter besonderer Berücksichtigung der
Bindungstheorie.
Kapitel 7 ist den zum jetzigen Zeitpunkt im ambulanten und stationären Setting
etabliertesten BPS-Therapiekonzepten gewidmet: der Übertragungsfokussierten Therapie
(TFP) psychoanalytischer Herkunft und der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) aus
der Verhaltenstherapie. Beide vernachlässigen mehr oder weniger stark die körperorientierte
Ebene. V.a. die Dialektische Verhaltenstherapie ist in kurzer Zeit zu der am meisten
spezifisch auf die BPS ausgerichteten und empirisch fundierten Behandlung geworden. Auf
der Basis der Verhaltenstherapie arbeitet die DBT zusätzlich mit Modulen der Achtsamkeit.
Für Körperzentrierte Pychotherapeuten IKP hat dies an sich keinen „Neuigkeitswert“, da
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Achtsamkeit, VAKO-Wahrnehmung, Sensory Awareness etc. ohnehin wichtige Bestandteile
einer Therapie sind. Allein ein Therapiekonzept für die BPS fehlt, das genügend Freiraum
für individuelle Anpassung und trotzdem wegleitenden Charakter für die BPS-Behandlung
aufweist.
Die psychodynamisch-imaginative Traumatherapie PITT wird neben ihrem hohen
Bekanntheitsgrad für die Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung PTSD auch
bei der Behandlung von traumatisierten BPS-Patienten eingesetzt. Als reine Traumatherapie
hat die PITT für die Behandlung von BPS-Patienten jedoch nur einen eingeschränkten
Nutzen und es handelt sich auch nicht um eine für die BPS spezifisch entwickelte und
erforschte Behandlungsform. Da der IKP-Ansatz auch imaginative Techniken einsetzt,
methodenintegrierend mit Techniken aus der PITT arbeitet und diese weiterentwickelt hat,
haben wir der PITT auch einen Beitrag gewidmet.
Unsere Hoffnung, aus den Reihen der körperbezogenen Psychotherapieansätze auf BPSTherapiekonzepte zu stossen, wurde jäh enttäuscht. Es bestehen wohl interessante
Ansätze, körperbezogene Interventionen für die BPS und Einzelfallbeschreibungen, BPSKonzepte fehlen hingegen praktisch ausnahmslos. Dieses Ergebnis hat uns umsomehr in
unserem Vorhaben gestärkt, ein störungsspezifisches Therapiekonzept für die BPS
basierend auf der ganzheitsorientierten Psychotherapie IKP zu erarbeiten.
Eigene Praxiserfahrungen mit BPS-Klienten – wie sie in Kapitel 8 geschildert sind - haben
uns dabei wertvolle Hinweise für die Entwicklung eines integrativen BPS-Konzepts IKP
gegeben.
Das nun in Kapitel 9 vorliegende Therapiekonzept IKP für die BPS ist so ausgestaltet, dass
es den Paradigmen, Prinzipien und Modellen der ganzheitsorientierten Psychotherapie IKP
nach Maurer gerecht wird.
Ihm liegt eine phänomenologische und störungsspezifische Sicht zu Grunde, was ein auf
den BPS-Patienten ausgerichtetes individuelles Therapievorgehen ermöglicht. Es waren
unsere BPS-Klienten, die immer wieder diesen individuellen Blickwinkel in die Therapie
hereingebracht haben über Aussagen wie „Jeder BPS-Patient ist anders. Sie können doch
nicht alle in einen Topf werfen.“ (siehe auch Anhang).
Im Blickfeld der Konzeptbetrachtung standen insbesondere Therapieprinzipien,
Therapieschwerpunkte und –phasen bei der BPS sowie ein umfangreiches Angebot von
Interventionsmöglichkeiten nach dem IKP-Ansatz.
Grundsätzlich versteht sich diese Diplomarbeit in ihrer Anlage als eine Basisarbeit für
weiterführende Studien, v.a. bezüglich Interventionen. Das erarbeitete Therapiekonzept IKP
für die BPS soll zudem zukünftig eine Erprobung und Bewährung in der Praxis finden.
Es geht also kurz gesagt darum, bisherige Literatur, Forschung und Informationen zur BPS
erstmals geschlossen in einem integrativen BPS-Therapiekonzept nach dem IKP-Ansatz zu
verarbeiten und zu einem neuen Ganzen zusammenzufassen.
Den Abschluss bildet in Kap. 11 ein Ausblick auf ein weites noch unbearbeitetes
Forschungsfeld und auf mögliche Forschungsthemen, vorwiegend betreffend
körperpsychotherapeutischer Ansätze zur Behandlung der BPS.
An dieser Stelle sei noch bemerkt:
Um das Lesen zu erleichtern, haben wir einheitliche Bezeichnungen und Begrifflichkeiten
verwendet.
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Was die weibliche und männliche Sprachform in dieser Arbeit anbelangt, haben wir bewusst
auf konsequente Ausschreibung beider Geschlechter verzichtet, damit der Text nicht zu
schwerfällig wurde. Wo nur eine Schreibform verwendet wird, wie z.B. „der BPS-Patient“
oder „der Therapeut“, meint sie stillschweigend auch das andere Geschlecht.
Zudem haben wir ein Glossar erstellt, das dem Leser Klarheit über synonym verwendete
Begriffe, Bezeichnungen und Abkürzungen verschafft. So wird z.B. die BorderlinePersönlichkeitsstörung durchgängig mit BPS abgekürzt. (s. Verzeichnis der Abkürzungen)
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THEORETISCHER TEIL
3. Begegnung im Zwischenreich: Annäherung an das
Krankheitsbild
Als Annäherung an das Krankheitsbild der BPS wird in diesem Kapitel auf die Definitionen,
Abgrenzungen und geschichtlichen Entwicklungen der Begriffe „Persönlichkeit“,
„Persönlichkeitsstörung“, „Borderline“ und „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ eingegangen.
Prävalenz, Ätiologie- und Therapiemodelle von Persönlichkeitsstörungen werden kurz
erwähnt.
3.1 Allgemeines zum Begriff „Persönlichkeitsstörung“
Inhalt dieses Kapitels ist die klinische Forschung und Praxis der Persönlichkeitsstörungen,
die Definition von Persönlichkeit und „gestörter Persönlichkeit“, die geschichtliche
Entwicklung des Begriffs Persönlichkeitsstörung, deren Prävalenz, Ätiologie- und TherapieModelle.
3.1.1 Persönlichkeitsstörungen: Klinische Forschung und Praxis
Persönlichkeitsstörungen stehen seit vielen Jahren ausdrücklich im Mittelpunkt des
Interesses
der
klinischen
Forschung
und
Praxis.
Traditionell
galten
die
Persönlichkeitsstörungen als schwer behandelbar. In Verbindung mit einem allgemeinen
Bedeutungszuwachs der modernen psychiatrischen Diagnosesysteme in den 1980er Jahren
sind sie verstärkt in den Vordergrund gerückt. Mittlerweile sind sie ein fester Bestandteil der
klinischen Kategorien und sind auf dem Weg, den alten Begriff der Neurose zu verdrängen.
Es kam in der Folge zu einem wahren Boom von Publikationen durch dieses weltweit
beobachtbare Interesse an Persönlichkeitsstörungen. Der Wissensstand nahm beständig zu
und führte zu kontinuierlichen Veränderungen und Aktualisierungen im Bereich der
Störungskonzepte sowie der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten.
Im Begriff der Persönlichkeitsstörung werden bis heute die Fronten zwischen den
Therapieschulen sichtbar und verdeutlicht sich auch die wechselseitige Abwertung.
Insbesondere die Verhaltenstherapeuten haben sich bis vor wenigen Jahren vehement
gegen diese Diagnose gesträubt und sie immer wieder in Zweifel gezogen. Neuerdings ist
eine andere Entwicklung feststellbar: An die Stelle der früher gegebenen Zuständigkeit eines
Therapieansatzes tritt zunehmend die differentielle Indikation. Im Sinne des Leitgedankens
der Komplementarität sollen mithilfe störungsspezifischer Ätiologiemodelle eine Kombination
unterschiedlicher Vorgehensweisen der psychotherapeutischen Ansätze begründet
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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ausgedacht und realisiert werden. Dies führt zu einem Paradigmenwechsel weg von den
herkömmlichen schulenspezifischen Psychotherapieansätzen hin zu zunehmend
störungsspezifischen und schulenübergreifenden Therapiekonzepten, die in der Praxis
und Forschung angewandt und evaluiert werden können. Daher nimmt die Publikation von
schulenübergreifenden und störungsspezifischen Sammelbänden im Bereich der
Persönlichkeitsstörungen (z.B. Dammann & Janssen, 2001; Giernalczyk, 2005; Merod,
2005; Sass & Herpetz, 1999; Fiedler, 2000) laufend zu. Den verschiedenen
Therapieansätzen der Persönlichkeitsstörungen ist gemeinsam, dass sie sich auf die
Störungen im Beziehungsverhalten konzentrieren und damit die äussere Realität ebenso
stark wie die innere Wirklichkeit der Klienten mit einbeziehen.
3.1.2.
„Gesunde“ Persönlichkeit und „gestörte“ Persönlichkeit
Unter der Persönlichkeit eines Menschen versteht man die individuelle Konstellation seiner
Eigenschaften, seine unverwechselbare Art, wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen, zu
empfinden und Beziehungen zu gestalten. Die Persönlichkeitsentwicklung resultiert aus
dem Zusammenspiel von genetisch-biologischen Voraussetzungen mit psychosozialen und
physikalischen Umgebungsbedingungen. Nach heutiger Auffassung stellt die
Persönlichkeitsentwicklung und –reifung einen über das ganze Leben andauernden Prozess
dar. Die Persönlichkeit eines Menschen ist ein tief greifendes und dennoch flexibles Muster
des Erlebens und Verhaltens. Die Persönlichkeit ermöglicht es dem Menschen, sich auf der
einen Seite kontinuierlich und vorhersagbar zu definieren, und auf der anderen Seite
garantiert sie eine gewisse Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an neue Situationen und
Veränderungen der Umwelt. Leidet ein Mensch unter einer Persönlichkeitsstörung, so
fehlt ihm in einem gewissen Ausmass gerade diese Flexibilität. Das inhaltliche Kernstück
einer jeden Persönlichkeitsstörung ist die Unflexibilität und Rigidität, gekennzeichnet
durch umfassende, überdauernde und unflexible Muster des Verhaltens und
Erlebens. Dies führt zu einer mangelhaften Anpassung an gesellschaftliche Anforderungen,
persönlichem Leid und Beeinträchtigungen in fast allen Bereichen des persönlichen
Lebens. Es besteht somit ein besonderer Widerspruch zu den modernen gesellschaftlichen
Anforderungen an Flexibilität und Beweglichkeit. Die Abweichungen von der
Durchschnittsnorm zeigen sich insbesondere in den psychischen Funktionen Wahrnehmen,
Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen. Normabweichend ist dabei nicht so
sehr die Qualität der einzelnen Merkmale des Verhaltens und Erlebens, sondern vielmehr
deren Akzentuierung, die Ausprägung und vor allem die Dominanz, was sich sowohl in
mangelnder sozialer Anpassung als auch in subjektiven Beschwerden ausdrückt. Menschen
mit Persönlichkeitsstörungen haben eine andere Sicht der Welt und einen anderen Umgang
mit ihr. Aus dieser Sicht der Welt resultieren verschiedene Handlungsweisen, die das
persönliche Leid immer wieder hervorrufen und aufrechterhalten. Dies zeigt sich nicht nur
auf der symptomatischen Ebene, sondern in vielen Interaktionen und Verhaltensweisen.
Diese veränderte Weltsicht entspricht dem der Persönlichkeitsstörung zugrunde liegenden
Satz: „So bin ich halt“, der in den Diagnoseschemata auch als Ich-Syntonie bezeichnet wird
und der ein Grundpfeiler in der Definition von Persönlichkeitsstörungen darstellt. Persönliche
Eigenarten werden als ich-synton, als zu sich gehörend wahrgenommen, so dass das Leid
sich nicht selten erst an den Folgen der starren Interaktionsmuster und nicht an ihnen selbst
festmacht.
Aus psychoanalytischer Sicht, dem konzeptuellen Ansatz Kernbergs (Etzersdorfer et al.,
2005; Kernberg, Dulz & Sachsse, 2000) folgend, setzt sich Persönlichkeit aus dem
Temperament, dem Charakter und dem Über-Ich zusammen. Unter Temperament
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verstehen die Psychoanalytiker hauptsächlich genetisch und konstitutionell bedingte
Dispositionen für Reaktionen, vor allem im affektiven Bereich. Unter Charakter verstehen sie
Verhaltensmanifestationen der Ich-Identität als Ausdruck einer Integration von Selbst- und
Objektbildern, die zu einem Gefühl von Kohärenz und zu Fähigkeiten wie Ich-Stärke führen.
Das Über-Ich schliesslich mit seinen primitiven oder reiferen Entwicklungsmöglichkeiten
stellt den Bewertungsmassstab der Persönlichkeit dar. Dementsprechend nennen sie es
Persönlichkeitsstörung, wenn schwer wiegende Störungen im Bereich von Temperament
und/oder Charakter und/oder Über-Ich-Bildung vorliegen.
3.1.3. Zum Begriff „Persönlichkeitsstörung“
In der psychiatrischen Tradition wurden psychische Erkrankungen nach deren
angenommener Ätiologie in einem Klassifikationssystem eingeteilt. Man unterschied drei
Gruppen von Erkrankungen, die Kurt Schneider (1987, 1. Aufl. 1923) zum sog. triadischen
System weiterentwickelte. Entsprechend der triadischen Einteilung unterschied man
psychogene
Störungen,
organische
Psychosen
und
endogene
Psychosen.
Persönlichkeitsstörungen wurden den psychogenen Störungen zugeordnet. Die
Persönlichkeitsstörungen wurden als „abnorme Persönlichkeiten“ oder „Psychopathien“
bezeichnet. Von Kurt Schneider (1987) stammt die folgende Definition: „Psychopathische
Persönlichkeiten sind solche abnorme Persönlichkeiten, die unter ihrer Abnormität leiden
oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet“.
Die modernen Klassifikationssysteme psychischer Erkrankungen, das ICD-10 (Dilling,
Mombour & Schmidt, 2004) und das DSM-IV (APA, 1994; Sass, 1996), haben sich
weitgehend von dieser ätiologisch orientierten Klassifikation abgewandt und das triadische
System abgelöst. Sie erstellen eine Krankheitssystematik im Wesentlichen anhand
phänomenologischer Kriterien, wie z.B. Symptomatik, Verlauf und Schweregrad.
Weitere gebräuchliche Termini waren die diskriminierenden Begriffe „moralischer
Schwachsinn“, „sozialer Parasitismus“ und „Anethopathie“.
Im angloamerikanischen Raum war über lange Zeit der Begriff der „Soziopathie“
gebräuchlich.
Der mit der „Psychopathie“ verwandte Begriff der „Charakterneurose“ stammt aus der
psychoanalytischen Tradition, die eine pathologische Persönlichkeitsakzentuierung durch
das Vorherrschen eines bestimmten Triebs, dessen Abwehr oder Hemmung erklärt.
Bestimmte Eigenschaften der Persönlichkeit werden als durch unbewusste Konflikte in der
Kindheit entstandene Reaktionsbildungen auf verdrängte Wünsche aufgefasst. Es handelt
sich um eine strukturelle Störung der Persönlichkeit, um eine Reifungs- und
Entwicklungsstörung, zurückgehend auf bestimmte Phasen der frühkindlichen Entwicklung.
Unter all diesen verschiedenen Termini bestehen Überschneidungen. Sie werden nicht völlig
deckungsgleich verwendet. Ihre Bezeichnungen stammen aus verschiedenen theoretischen
Konzepten.
Problematisch an all diesen Begriffen war und ist eine einseitig auf die Defizite des
Betroffenen ausgerichtete Sichtweise.
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Auch der Begriff „Persönlichkeitsstörung“, welcher die Bezeichnungen „Psychopathie“ und
„Charakterneurose“ ersetzt hat, beinhaltet immer noch die Gefahr der Stigmatisierung. So
wird die Person, mit der interaktionelle Schwierigkeiten bestehen, welche „schwierige“ oder
„andersartige“ Verhaltensweisen oder Einstellungen aufweist, als „gestörte Person“
bezeichnet und somit einseitig als „Störungsursache“ bewertet.
Die Begriffe „Psychopathie“ und „Charakterneurose“ enthalten eine ätiologische Hypothese
über die Entstehung von Persönlichkeitsstörungen, währenddem der Begriff
„Persönlichkeitsstörung“ ätiologiefrei und rein beschreibend ist.
Das Konzept der Persönlichkeitsstörungen wird von vielen Autoren (z.B. Frauenknecht &
Lieb, 2005; Kernberg, 2000; Merod, 2005a, 2005b) kritisiert und sogar grundsätzlich in
Frage gestellt (Lieb, 1998). Vor allem die erheblichen Probleme in der genauen Diagnostik
und Abgrenzung der Persönlichkeitsstörungen werden vielfach kritisiert. In den Kapiteln 4.1
und 5 wird ausführlich darauf eingegangen.
3.1.4. Die Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen
Wegen unterschiedlicher Definitionen, Populationen und eingesetzter Messinstrumente
differieren die Prävalenzraten epidemiologischer Untersuchungen teilweise erheblich. Man
kann aber davon ausgehen, dass Persönlichkeitsstörungen zu den häufigsten psychischen
Störungen gehören. Verschiedene Studien kommen zusammengefasst zu den Ergebnissen,
dass etwa 3 – 18% der Normalbevölkerung unter Persönlichkeitsstörungen leiden und die
Verteilung über Männer und Frauen etwa gleich hoch ist. In psychiatrischen Kliniken ergibt
sich je nach Diagnoseschema und Untersuchungsmethodik das Bild, dass ca. 40 – 60%
Prozent des Klientels die Diagnose Persönlichkeitsstörung (bei Mehrfachdiagnosen)
erhalten. In der forensischen Psychiatrie beträgt ihr Anteil zwischen 70 – 90%.
Die Angaben zu den Häufigkeiten von Persönlichkeitsstörungen stammen aus Bronisch,
2005; Dittmann et al., 2002; Frauenknecht & Lieb 2005; Giernalczyk, 2005; Merod, 2005b.
3.1.5. Modelle der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen
Es bestehen keine allgemein akzeptierten Modellvorstellungen zur Entstehung von
Persönlickeitsstörungen mit hinreichend empirischer Evidenz (Bronisch, 2005; Dittmann,
Ermer & Stieglitz, 2002; Frauenknecht & Lieb, 2005; Merod, 2005a, 2005b). Stattdessen
konkurrieren verschiedene biologische und psychologische Modellvorstellungen. Lange Zeit
standen in der Psychiatriegeschichte statische Auffassungen von der Persönlichkeit als
weitgehend unveränderliche, genetisch bedingte Konstante, und besonders von Sigmund
Freud und seinen Schülern herausgearbeitete dynamische Aspekte, denen zufolge
wesentliche Elemente der Persönlichkeitsstruktur als Reaktion auf Umwelteinflüsse und
soziale Bedingungen vor allem in der Kindheit erworben werden, unvereinbar gegenüber.
Ein modernes Konzept von Persönlichkeit und ein zukünftiges Forschungsgebiet zur
Ätiopathogenese
von
Persönlichkeitsstörungen
wird
ein
multifaktorielles,
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multikonditionales und multikausales, nach dem Vorbild des Bio-Psycho-Sozialen
Ansatzes, sein, mit Berührungspunkten zwischen medizinischer, neurobiologischer und
psychologischer
Forschung.
Damit
können
die
bisherigen
und
zukünftige
Forschungsergebnisse zusammengeführt und integriert werden und es kann zu einem
fruchtbaren Zusammenspiel der verschiedenen Disziplinen kommen (Dittmann et al., 2002;
Fiedler, 2001; Frauenknecht & Lieb, 2005; Merod 2005a, 2005b).
Einige wichtige Entstehungsmodelle der Persönlichkeitsstörungen werden hier kurz erwähnt,
ohne weiter darauf einzugehen, mit dem Verweis auf weiterführende Literatur. Einige dieser
Modelle werden im Kap. 6 über die Entstehungsmodelle für die BPS detailliert beschrieben:
•
•
•
•
•
•
Klinische Forschung: Diathese-Stressmodell / Vulnerabilitäts-Stress-Modell (in Bronisch,
2005; Merod, 2005a)
Psychoanalytische und psychodynamische Konzepte: z.B. Objektbeziehungstheorie
(Kernberg, Dulz & Sachsse, 2000)
Kognitiv-lerntheoretische Modelle: z.B. Kognitive Schemata (Beck, Freeman, Pretzer,
Davis, Fleming, Ottaviano, Beck, Simon, Padesky, Meyer & Trexler, 1993)
Genetische und neurobiologische Ansätze: z.B. Schematherapie (Young, Klosko &
Weishaar, 2003), weiterführende Literatur (Bronisch, 2005; Frauenknecht & Lieb, 2005)
Interpersonelle Ansätze: z.B. Circumplexmodelle (in Bronisch, 2005), weiterführende
Literatur (Frauenknecht & Lieb, 2005)
Soziologische Modelle: weiterführende Literatur (Bronisch, 2005)
3.1.6. Therapiemodelle von Persönlichkeitsstörungen
Die psychologischen Modelle zur Entstehung von Persönlichkeitsstörungen bildeten oft die
Grundlage für die Entwicklung therapeutischer Interventionsprogramme.
Nach den oben erwähnten statischen und dynamischen Auffassungen und den
therapieschulenorientierten Grabenkriegen (Kap. 3.1.1 und 3.1.5) ist gegenwärtig eine
realistischere und pragmatischere therapeutische Haltung zu beobachten, die durch
Methodenvielfalt, schulenübergreifende und integrative Konzepte gekennzeichnet ist
(Bronisch, 2005; Dittmann et al., 2002; Fiedler, 2001; Frauenknecht & Lieb, 2005; Merod,
2005a, 2005b; Sass & Herpetz, 1999).
Einige wichtige Therapiemodelle der Persönlichkeitsstörungen werden hier kurz erwähnt,
ohne weiter darauf einzugehen, mit dem Verweis auf weiterführende Literatur. Einige dieser
Modelle werden im Kap. 7 über die Therapiemodelle für die BPS detailliert beschrieben:
•
•
•
•
Ansätze der (kognitiven) Verhaltenstherapie: Schema-Fokus-Therapie (Young et al.,
2003), kognitiv-interpersonelle Therapie (Safran & Zindel, 1990), kognitive „Appraisal“Therapie (Wessler, Hankin & Stern, 2001)), kognitive Therapie (Beck et al., 1993)
(weiterführende Literatur: Dittmann et al., 2002; Ecker, 2000)
Psychoanalytische Therapien: Veränderung der Persönlichkeitsstruktur als Therapieziel
(weiterführende Literatur: Etzersdorfer et al., 2005; Kernberg, 2000)
Interpersoneller Ansatz: SASB(Structural Analysis of Social Behavior)-basierende
rekonstruktive Lerntherapie (Benjamin, 2001)
Pharmakotherapie: (weiterführende Literatur: Frauenknecht & Lieb, 2005)
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3.2. Borderline-Störung: Abgrenzung und Begriffe
Dieses Kapitel beschreibt die historischen Entwicklungen der Begriff „Borderline“ und
„Borderline-Persönlichkeitsstörung“.
3.2.1.
Historische Entwicklung des Begriffs „Borderline“
Der Begriff „Borderland“ wurde erstmals 1907 in einem Vortrag von Hughes (1884, zit. nach
Herpertz & Sass, 2000) erwähnt.
Für neurotische und psychotische Randformen fand der Begriff „Borderline“ oder
„Borderland“ auch Anwendung bei Rosse (1890, zit. nach Herpertz & Sass, 2000) und Clark
(1919, zit. nach Herpertz & Sass, 2000). Rosse verwendete zur Illustration den Begriff
„schwarz-weiss“ und Clark hielt eine spezifische Behandlung für angebracht.
Freud (1925) benutzte zwar den Begriff „Borderline“ nicht explizit, allerdings würden wohl
viele der von Freud beschriebenen hysterischen Persönlichkeitsstörungen heute als
Borderline-Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden.
Bei Reich (1933) und Fenichel (1931) findet sich der Begriff „Borderline“ (beide zit. nach
Eckert, Dubs & Makowski, 2000).
Als nosologischer Begriff wurde „Borderline“ umfassend erstmals 1938 von dem
Psychoanalytiker Adolph Stern (zit. nach Herpertz & Sass, 2000) verwendet, der hiermit
Patienten bezeichnete, die sowohl neurotische als auch psychotische Merkmale aufwiesen.
Solche Patienten konnten mit den damaligen psychoanalytischen Techniken nicht zufrieden
stellend behandelt werden. Stern arbeitete dabei besonders das Charakteristikum der
Borderline-Persönlichkeit heraus, im Analytiker ein gutes und allmächtiges Objekt zu sehen,
das sich abrupt in ein feindliches verwandelte, sobald der Analytiker nicht vollständig den
Erwartungen des Patienten entsprach.
Der Begriff „Borderline“ wird leider in der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse in
unterschiedlicher Bedeutung, teils auch unscharf und inflationär verwendet. In seiner
allgemeinen Bedeutung beschreibt er eine psychische Störung, die zwischen Neurose und
Psychose angesiedelt ist. Als Diagnose wird „Borderline-Syndrom“ häufig für unklare Fälle
missbraucht.
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3.2.2. Historische Konzepte der „Borderline-Persönlichkeitsstörung“
Die BPS gilt eher als neumodische Erscheinung. Das mag für die Etablierung des
Störungsbildes in den aktuellen Diagnoseschlüsseln stimmen, nicht aber für die
Beobachtung und Beschreibung von spezifischen Verhaltensweisen von Menschen, die
heute möglicherweise die Diagnose einer BPS erhalten würden.
Bereits 1681 beschrieb der englische Arzt Thomas Sydenham (*1624-1689†) hysterische
Patienten, die durch Launenhaftigkeit gekennzeichnet waren, „…sie würden ohne jedes
Mass jene lieben, die sie alsbald ohne jeden Grund hassen würden“ (zit. nach Eckert et al.,
2000, S. 271).
Nach Herpertz & Sass (2000) lassen sich vier Entwicklungslinien hin zum heutigen
Konzept der BPS unterscheiden, die abhängig von konkreten Forschungsergebnissen, aber
auch von allgemeinen Paradigmenwechseln in der psychiatrischen Nosologie in zeitlicher
Folge nacheinander oder auch parallel verliefen.
Abbildung 1 zeigt diese Entwicklungslinien auf. Auf der Störungsebene unterscheiden sich
diese vier Entwicklungslinien wie folgt:
BPS als:
A) subschizophrene Störung
B) subaffektive Störung
C) Impulskontrollstörung
D) Posttraumatische Belastungsstörung
Impulsives Irresein
(Kraepelin 1904)
latente Schizophrenie
(Bleuler 1911)
Erregbare und Instabile
(Kraepelin 1905)
Triebmenschen
(Kraepelin 1909)
pseudoneurotische Schizophrenie
(Hoch 1949)
stimmungslabiler Psychopath
(K. Schneider 1923)
explosibler Psychopath
(K. Schneider 1923)
Schizotype Persönlichkeitsstörung——DSM-III/IV——Borderline-Persönlichkeitsstörung
Schizotype Störung
ICD-10
emotional instabile Persönlichkeitsstörung
• Impulsiver Typus
• Borderline-Typus
Abb. 1. Vorläufer des Konzeptes der Borderline-Persönlichkeitsstörung (Herpertz & Sass,
2000, S. 115)
Die unter A) – D) erwähnten Autoren sind zitiert nach Herpertz & Sass (2000, S.115-119).
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A) BPS als subschizophrene Störung
Kraepelin, Autor mehrerer deutscher Psychiatrie-Lehrbücher, bezeichnete 1904 die
„Psychopathien“ als ein Zwischengebiet von seelischen Zuständen und persönlichen
Eigentümlichkeiten.
Bleuler sprach von „latenter Schizophrenie“ zur Bezeichnung von merkwürdigen,
exzentrischen und sonderlingshaften Menschen.
Auch andere, der latenten Schizophrenie verwandte Begriffe, wie z.B. „ambulatorische“
(Zillborg, 1941), „abortive“ (Mayer, 1950), „subklinische“ (Petersen, 1954) oder
„pseudopsychopathische“ (Dunaif & Hoch, 1955) Schizophrenie vertreten die Auffassung
von einem Übergangsbereich zwischen den „abnormen Persönlichkeiten“ und den
Schizophrenien.
Hoch & Polantin (1949) verwendeten den Begriff „pseudoneurotische Schizophrenie“ als
eine untypische Form der Schizophrenie mit spezifischen diagnostischen Merkmalen.
Kety, Rosenthal et al. (1968) prägten den Begriff des „schizophrenen Spektrums“ und das
Konzept der „Borderline-Schizophrenie“.
Alle diese Konzepte eines „Borderline-Syndroms“ kommen zu der Einschätzung, bei
Borderline-Patienten handle es sich eigentlich um „Schizophrene im Gewand der
Neurose“ (Herpertz & Sass, 2000, S.116). Sie betreffen den Übergangsbereich zu den
Schizophrenien und sind Vorläufer der „Schizotypischen Persönlichkeitsstörung“ des DSMIII/IV-Konzeptes oder der „Schizotypen Störung“ nach ICD-10. Diese diagnostische
Kategorie ist beim ICD-10 als eine Unterform der schizophrenen Erkrankungen aufgeführt.
B) BPS als subaffektive Störung
Die zweite Entwicklungslinie sieht die BPS im Gegensatz zur ersten im Grenzgebiet zu den
affektiven Erkrankungen und beschreibt Persönlichkeiten mit labilen, rasch und
unvermittelt wechselnden Stimmungslagen oder auch leichter Erregbarkeit.
Bonet (1684) nannte es „Folie maniaco-mélancolique“, Falret (1854) „Folie circulaire“.
Kraepelin (1896) ordnete andauernde „konstitutionelle“ Verstimmungen und das „impulsive
Irresein“ den sogenannten „psychopathischen Zuständen“ zu. Konstitutionelle
Verstimmungen erachtete er als „Verdünnungsformen der manisch-depressiven
Erkrankung“.
Akiskal (1981, 1992) und andere zeitgenössische Autoren orientieren sich an dieser
Konzeption Kraepelins und sprechen von der BPS als „zyklothymes Temperament“ und
setzen sie in einen biologischen Zusammenhang mit bipolaren affektiven Störungen.
Kraepelin nahm 1913 konzeptuelle Veränderungen vor, erweiterte das Konzept der
„psychopathischen Persönlichkeiten“ und ordnete nun auch Persönlichkeiten mit
andauernden Auslenkungen der Stimmungs- und Antriebslage in diese Kategorie ein. Dazu
gehörten „die Erregbaren, die Instabilen, die Streitsüchtigen und die Triebmenschen“.
Dysfunktionale Persönlichkeitszüge verstand er weniger als Krankheitssymptome denn als
ein Problem der sozialen Abweichung.
Schneider (1923) sprach von „stimmungslabilen Psychopathen“ (Schneider, 1987) und
nahm vor allem charakterliche Beschreibungen vor. Von den „stimmungslabilen und
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explosiblen Psychopathen“ (Schneider, 1987) führt die Entwicklungslinie weiter bis zu den
heutigen
modernen
Klassifikationssystemen,
zur
„emotional
instabilen
Persönlichkeitsstörung“ nach ICD-10 und der „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ nach
DSM-IV (s. Tab. 2 und 3).
Der Wandel des Borderline-Konzeptes von einer subschizophrenen zu einer subaffektiven
Erkrankung setzte sich Ende der 1970er Jahre fort. Es kam zu einer Neubewertung
affektiver Störungen und zur Konzeptualisierung der BPS als eine „affektive
Spektrumserkrankung“ (z.B. Gunderson, 2005).
Es kam zu einem neuerlichen Wandel im Verständnis dieses Störungsbildes. Ein zunächst
angenommener kausaler Zusammenhang zwischen den affektiven Störungen und der BPS
wurde angesichts neuerer Familienuntersuchungen wieder infrage gestellt. In der genauen
Analyse der Symptomatik der affektiven Merkmale fand man einige Unterschiede zwischen
den affektiven Störungen und der BPS (s. Kap. 5.2.1).
C) BPS als Impulskontrollstörung
In den letzten Jahren wurde zunehmend eine Störung der Impulskontrolle als zentrales
Merkmal der BPS diskutiert (z.B. Gunderson, 2005, s. Kap. 4), da sich bei Patienten mit
einer BPS die andauernde Neigung zu verschiedenen Formen autodestruktiver
Impulshandlungen zeigte.
Dieses Konzept geht auf alte Konzepte der Willensstörung zurück, wie z.B. die „fureur sans
délir“ nach Matthey (1816), die „Monomanie-Theorie“ von Esquirol (1810) oder das
„impulsive Irresein“ nach Kraepelin (1896), welches er auch den „psychopathischen
Zuständen“ (s.o., 1909-1915), und innerhalb dieser der Kategorie der sogenannten
„Triebmenschen“ zuordnete. Das impulsive Verhalten wurde wie auch die Stimmungslabilität
und Unstetigkeit (s.o.) weniger unter dem Gesichtspunkt der psychopathologischen
Symptome als unter dem Gesichtspunkt der Dissozialität behandelt.
Manifestationen einer Impulskontrollstörung sind in erster Linie selbst- wie auch
fremdschädigende Verhaltensweisen.
Versteht man Impulsivität über die reine Verhaltensebene hinaus allgemeiner als eine
persönlichkeitseigene Tendenz, auf Reize plötzlich und heftig zu reagieren, so ist es nahe
liegender, „…die affektive Instabilität von BPS-Patienten als Ausdruck eines erhöhten
impulsiven Antriebs denn als Manifestation einer affektiven Erkrankung aufzufassen“
(Herpertz & Sass, 2000, S.119).
Das
Konzept
der
BPS
als
Impulskontrollstörung
wurde
zudem
durch
Familienuntersuchungen
(z.B.
Gunderson,
2005)
gestützt.
Einzelne
Persönlichkeitsmerkmale, z.B. die Impulsivität, unterliegen demnach einem genetischen
Einfluss (s. Kap. 6).
Impulsive Verhaltensweisen bei der BPS werden aufgrund einiger inzwischen vorliegender
empirischer Daten als Persönlichkeitsdisposition, d.h. als krisenhafte Zuspitzungen einer
überdauernden impulsiven Verhaltensbereitschaft angesehen werden. Somit sind sie also
nicht auf einzelne Ereignisse beschränkt.
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D) BPS als Posttraumatische Belastungsstörung
Die Posttraumatische Belastungsstörung wurde erstmals im DSM-III (1980) als offizielle
Störungskategorie eingeführt. Sie rührte insbesondere aus Beobachtungen von Veteranen
des Vietnamkriegs. Seither ist eine Diskussion wegen möglichen konzeptuellen
Überlappungen der Posttraumatischen Belastungsstörung und der BPS im Gange (Kap.
5.2.1). Es geht dabei vor allem um phänomenologische Ähnlichkeiten zwischen den
Diagnosekategorien und die Bedeutung von Traumata in der Kindheit von BorderlinePatienten (Kernberg, 1997; Merod 2005b; Reddemann, 2001; Rohde-Dachser, 1995;
Sachsse, 1995; Schneider und Dulz, 1993). Inzwischen besteht eine hohe Übereinstimmung
darin, dass das klinische Erscheinungsbild der BPS zum Teil von den Folgen kindlicher
traumatischer Erfahrungen geprägt ist. Traumata sind jedoch weder spezifisch noch
ausreichend für die Diagnose einer BPS. Sie kommen auch bei anderen psychiatrischen
Erkrankungen gehäuft vor und es gibt Menschen mit der Diagnose einer BPS, welche nicht
über gravierende umschriebene traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit berichten.
Auf heute gängige Entstehungsmodelle der BPS wird im Kap. 6 detailliert eingegangen.
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4. Diagnostik und Klassifikation der BorderlinePersönlichkeitsstörung
In diesem Kapitel wird ausführlich auf die Diagnostik und Klassifikation der BPS
eingegangen. Zuerst wird der Weg zur Diagnose BPS, dann die Diagnostik anhand der
modernen Klassifikationssysteme und schliesslich die Symptomatik der BPS differenziert
beschrieben.
4.1 Auf dem Weg zur Diagnose „Borderline-Persönlichkeitsstörung“:
Definitionen und Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen nach den
Diagnosesystemen ICD und DSM, inkl. einer kritischen Würdigung
der Diagnosesysteme
Die heute gängigen psychiatrischen Diagnosesysteme bieten viele Vorteile, haben aber
auch Nachteile, welche vielfach kritisiert wurden. Bei der Beschreibung der historischen
Entwicklung der beiden wichtigsten, international anerkannten, psychiatrischen
Diagnosesysteme, dem „Diagnostical and statistical manual of mental disorders“, kurz DSM,
der American Psychiatric Association (APA) (1952, 1968, 1980, 1987; Sass, 1996) und der
„International classification of social diseases“, kurz ICD, der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) (Degwitz et al., 1980; Dilling et al., 2004) wird daher eine kritische Würdigung dieser
Diagnosesysteme vorgenommen.
Um die Diagnose einer BPS stellen zu können, müssen zuerst die allgemeinen
diagnostischen Kriterien für die spezifischen Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10
(Dilling et al., 2004) oder DSM-IV (Sass, 1996) erfüllt sein (s. Tab. 1). In einem zweiten
diagnostischen Schritt müssen dann die spezifischen zusätzlichen Kriterien für die
Untergruppe der BPS vorhanden sein (s. Tab. 2 und 3). Im Folgenden werden die Schritte
auf dem Weg zu dieser Diagnose detailliert beschrieben.
Die stetig häufiger und beliebter werdende Diagnose der Persönlichkeitsstörung ist ein
Spiegel unserer Gesellschaft mit ihren Normen und immer höheren Erwartungen an die
Anpassungs- und Veränderungsfähigkeiten des Menschen. Viele Definitionen von
Persönlichkeitsstörungen betonen die Abweichung von der kulturellen Norm. Damit sind sie
selbst normativ. Die kulturelle und gesellschaftliche Umgebung befindet sich in einem
stetigen Wandel und wird situativ und personenabhängig jeweils unterschiedlich definiert.
Somit ist die Diagnose der Persönlichkeitsstörung selbst ein interaktives Geschehen und
sagt nicht nur etwas über den Diagnostizierten, sondern auch über das Wertesystem des
Diagnostikers aus. Psychiatrische Kategorisierungen bieten immer die Gefahr der
Stigmatisierung und Etikettierung.
Bei einer Betrachtung der Definitionen von Persönlichkeitsstörungen nach dem
„Diagnoseschlüssel und Glossar psychiatrischer Krankheiten“ (ICD-9) (Degwitz, Helmchen,
Kockott & Mombour, 1980) wird möglicherweise verständlich, warum dieses Konzept so
viele Kritiker hatte und abgelehnt wurde.
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Definition der Persönlichkeitsstörungen nach ICD-9
301 Persönlichkeitsstörungen (Psychopathien, Charakterneurosen)
Personen mit tief verwurzeltem Fehlverhalten, das im Allgemeinen zur Zeit der Adoleszenz
oder früher erkennbar wird, die meiste Zeit während des Erwachsenenalters besteht, obwohl
es häufig im mittleren und höheren Lebensalter weniger deutlich wird. Die Persönlichkeit ist
abnorm entweder hinsichtlich der Ausgeglichenheit ihrer Komponenten, deren Qualität und
Ausdrucksformen oder hinsichtlich des Gesamtbildes. Unter dieser Abnormität oder
Psychopathie leidet der Patient oder andere haben darunter zu leiden, und es ergeben sich
nachteilige Folgen für das Individuum oder die Gesellschaft. Hierzu gehören auch sog.
Psychopathien. … (Degwitz et al., 1980, S.54f.)
Diese Definition weist viele diskriminierende und stigmatisierende Begriffe auf. Die Kritik
an dieser Definition hat sich auf die Definitionen nach DSM-III (APA, 1980), DSM-III-R (APA,
1987), DSM-IV (APA, 1994; Sass, 1996) und ICD-10 (Dilling et al., 2004) ausgewirkt.
In Tab. 1 werden die Konzeptualisierungen nach ICD-10 und DSM-IV dargestellt.
Tab. 1. Definition von Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10 und DSM-IV
ICD-10
F60
Spezifische Persönlichkeitsstörungen
Hier
liegt
eine
schwere
Störung
der
charakterlichen Konstitution und des Verhaltens
vor, die mehrere Bereiche der Persönlichkeit
betrifft. Sie geht meist mit persönlichen und
sozialen
Beeinträchtigungen
einher.
Persönlichkeitsstörungen treten häufig erstmals
in der Kindheit oder in der Adoleszenz in
Erscheinung und manifestieren sich endgültig im
Erwachsenenalter. Daher ist die Diagnose einer
Persönlichkeitsstörung vor dem Alter von 16
oder 17 Jahren wahrscheinlich unangemessen.
Diagnostische Leitlinien:
Die Zustandsbilder sind nicht direkt auf
beträchtlichere
Hirnschädigungen
oder
–
krankheiten oder auf eine andere psychiatrische
Störung zurückzuführen und erfüllen die
folgenden Kriterien:
1.
2.
3.
4.
Deutliche Unausgeglichenheit in den
Einstellungen und im Verhalten in
mehreren
Funktionsbereichen
wie
Affektivität,
Antrieb,
Impulskontrolle,
Wahrnehmen und Denken sowie in den
Beziehungen zu anderen.
Das
auffällige
Verhaltensmuster
ist
andauernd und gleichförmig und nicht auf
Episoden
psychischer
Krankheiten
begrenzt.
Das auffällige Verhaltensmuster ist tief
greifend und in vielen persönlichen und
sozialen Situationen eindeutig unpassend.
Die Störungen beginnen immer in der
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DSM-IV
Spezifische Persönlichkeitsstörungen
Persönlichkeitsstörungen
müssen
von
Persönlichkeitszügen, die nicht die Schwelle
einer
Persönlichkeitsstörung
erreichen,
unterschieden
werden.
Persönlichkeitszüge
werden nur dann als Persönlichkeitsstörung
diagnostiziert, wenn sie unflexibel, unangepasst
und überdauernd sind und in bedeutsamer
Weise funktionelle Beeinträchtigungen oder
subjektives Leid verursachen.
Allgemeine
diagnostische
Persönlichkeitsstörung:
Kriterien
einer
A Ein überdauerndes Muster von innerem
Erleben und Verhalten, das merklich von den
Erwartungen der soziokulturellen Umgebung
abweicht. Diese Muster manifestiert sich in
mindestens 2 der folgenden Bereiche:
1) Affektivität (also die Variationsbreite, die
Intensität,
die
Labilität
und
Angemessenheit
emotionaler
Reaktionen)
2) Kognitionen (also die Art, sch selbst,
andere Menschen und Ereignisse
wahrzunehmen und zu interpretieren)
3) Gestaltung
zwischenmenschlicher
Beziehungen
4) Impulskontrolle
B Das überdauernde Muster ist unflexibel und
tief greifend in einem weiten Bereich
persönlicher und sozialer Situationen.
C Das überdauernde Muster führt in klinisch
bedeutsamer Weise zu Leiden oder
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5.
6.
Kindheit oder Jugend und manifestieren
sich auf Dauer im Erwachsenenalter.
Die Störung führt zu deutlichem subjektiven
Leiden, manchmal jedoch erst im späteren
Verlauf.
Die Störung ist meistens mit deutlichen
Einschränkungen der beruflichen und
sozialen Leistungsfähigkeit verbunden.
Für die Diagnose der meisten Untergruppen
müssen mindestens drei der jeweils genannten
Eigenschaften oder Verhaltensweisen vorliegen.
In unterschiedlichen Kulturen müssen unter
Umständen besondere Kriterien in Hinsicht auf
soziale Normen, Regeln und Verpflichtungen
entwickelt werden.
Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen
oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
D Das Muster ist stabil und lang dauernd und
sein Beginn zumindest bis in die Adoleszenz
oder
ins
frühe
Erwachsenenalter
zurückzuverfolgen.
E Das überdauernde Muster lässt sich nicht
besser als Manifestation oder Folge einer
anderen psychischen Störung erklären.
F Das überdauernde Muster geht nicht auf die
direkte körperliche Wirkung einer Substanz
(z.B. Drogen, Medikamente) oder eines
medizinischen
Krankheitsfaktors
(z.B.
Hirnverletzung) zurück.
Es fand ein grundlegender Wandel in der Diagnostik statt mit zahlreichen Veränderungen
und Präzisierungen. Die neueren Definitionen sind zwar nicht mehr in dem Masse
diskriminierend, wie es in der ICD-9 der Fall war, dennoch werden sie weiterhin kritisiert.
Gleichzeitig stellen sie jedoch eine Basis zur Erfassung dieser Störungsbilder und für
die wissenschaftliche Forschung dar und bieten somit gleichzeitig eine gute
Diskussionsgrundlage zur Auseinandersetzung.
In den Diagnosesystemen DSM-IV und ICD-10 wurden neue Ordnungsstrukturen eingeführt.
Eine davon ist die Prototypenperspektive, d.h. die Prototypenbeurteilung der
Persönlichkeitsstörungen, die typologischen Systematisierungen. Diese bringt folgende
Neuerungen und Anforderungen mit sich:
• Die Diagnosekriterien sind polythetisch angelegt, d.h., dass eine Person jeweils nur ein
Teil der Kriterien für eine Diagnosevorgabe erfüllen muss.
• Es werden polythetische Merkmale benannt, die für das jeweilige Störungsbild als
besondere Markierungspunkte gelten
• Akzeptanz von Mehrfachdiagnosen bei einer Person
• Die Kriterien werden qualitativ gewichtet und ermöglichen eine Einschätzung der
Störungsschwere
Der Schwerpunkt der Diagnostik wird auf interpersonelle Verhaltensmerkmale gelegt.
Anhand von konkreten Indikatoren und Verhaltensweisen werden die persönlichen
Probleme und Schwierigkeiten von Patienten beurteilt. Auf einen Gesamteindruck wird
verzichtet.
In der ICD-10 lassen sich acht spezifische Persönlichkeitsstörungen unterscheiden. Das
DSM-IV unterscheidet zehn verschiedene Persönlichkeitsstörungen und teilt sie aufgrund
beobachtbarer Ähnlichkeiten in drei Gruppen (Cluster) ein.
Kritisiert an ICD-10 und DSM-IV werden vor allem die noch sehr hohen Überlappungen
bei den Definitionen der verschiedenen Persönlichkeitsstörungen. Die Symptome
verschiedener Störungen können sich stark überschneiden und erschweren ihre
Unterscheidung.
Diese mangelnde Trennschärfe wurde insbesondere von Otto Kernberg (in Etzersdorfer et
al., 2005; Kernberg, Dulz & Sachsse, 2000), dem bedeutendsten Vertreter des
psychoanalytischen Verständnisses von Persönlichkeitsstörungen, kritisiert. Er hat aus
diesem Grund den Begriff der Borderline-Persönlichkeitsorganisation (BPO) eingeführt,
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indem er alle Persönlichkeitsstörungen wiederum in die Persönlichkeitsorganisation
überführte. Sein Lösungsversuch, alles unter einen, noch dazu doppelt verwendeten
Oberbegriff (Namensgleichheit Borderline-Persönlichkeitsorganisation vs. BorderlinePersönlichkeitsstörung) zu fassen, hat nicht gerade zur Klärung, sondern eher zur
Verwirrung beigetragen. Durch die Einführung dieses Begriffs legte Kernberg ein
psychodynamisches Konzept vor, indem er die Störungen durch bestimmte Kriterien
charakterisiert, die beim Funktionieren auf einem bestimmten psychischen Niveau
vorherrschen. Er betrachtet die Symptombildung nicht mehr allein unter dem Gesichtspunkt
der Konfliktverarbeitung, sondern auch unter dem Aspekt, auf welcher psychischen
Funktionsebene die jeweils gestörte Persönlichkeit funktioniert. Er ordnet die
Persönlichkeitsstörungen also nach dem Schweregrad der Störung der
Persönlichkeitsorganisation. Zwischen dem höheren Niveau der Neurose und dem
tieferen der Psychose ordnet er die BPS auf einem mittleren, später auch auf einem
mittleren und niederen, psychischen Funktionsniveau ein. Die leichtesten und „reifsten“
Persönlichkeitsstörungen sind auf dem höheren Strukturniveau der neurotischen
Persönlichkeitsorganisation angesiedelt. Das mittlere Strukturniveau wird auch als Niveau
der Frühstörungsmanifestation beschrieben. Die schwersten Persönlichkeitsstörungen
befinden sich auf dem niederen Strukturniveau der Borderline-Persönlichkeitsorganisation.
Generell ist kritisch festzuhalten, dass das psychodynamische Konstrukt von
Persönlichkeitsstörungen noch immer von einer „gestörten Persönlichkeit“ ausgeht.
Dadurch unterscheiden sich psychodynamische Theorien und Interventionen bei Menschen
mit „Persönlichkeitsstörungen“ grundlegend von verhaltenstherapeutischen, aber auch von
den Konzepten der heute gängigen Diagnoseinstrumenten ICD-10 und DSM-IV. In dem in
der Verhaltenstherapie angewendeten Konzept der Interaktionsstörung handelt es sich
um eine sinnhafte, wenn auch rigide Verhaltensweise einer Person, die verändert
werden soll – und nicht die gesamte Persönlichkeit. Das oftmals seltsam und
befremdlich wirkende Verhalten wird als subjektiv sinnhafte Anpassungs- und
Überlebensstrategie in speziellen Sozialisationskontexten verstanden und gewürdigt.
Dies entspricht auch der ressourcenorientierten Sichtweise der Körperzentrierten
Psychotherapie IKP (s. Kap. 9).
Trotz der Fortschritte durch die Einführung operationalisierter Diagnostik, vor allem der stark
verbesserten Reliabilität von Persönlichkeitsstörungsdiagnosen, sind nach Merod noch viele
Probleme ungelöst:
•
•
•
•
•
•
Die mangelnde Validität der Diagnose
Die ungenügende empirische Fundierung der Kriterienauswahl und
Schwellenwerte für die spezifischen Persönlichkeitsstörungen
Die hohe innere Komorbidität zwischen einzelnen Persönlichkeitsstörungen
Die unklare Abgrenzung zu klinischen Syndromen (…)
Die Konfundierung von Persönlichkeitsstörungen und klinischen Syndromen (…)
Die stigmatisierende Sichtweise des Persönlichkeitskonzeptes
(2005a, S. 43)
der
Auf diese Kritikpunkte wird nicht weiter eingegangen und auf weiterführende Literatur
verwiesen (z.B. Bronisch, 2005; Merod, 2005a, 2005b).
Im Gegensatz zum kategorialen Konzept in der psychiatrischen Diagnostik steht die
psychologische Tradition der differentiellen Psychologie, die im Bereich der Diagnostik von
Persönlichkeitseigenschaften meist einem dimensionalen Modell folgt. Das heisst, dass
bei Personen von einem Kontinuum von Eigenschaften, Einstellungen und
Verhaltensweisen ausgegangen wird, nicht aber von qualitativen Sprüngen oder einer
Unterscheidung von „gestört“ versus „nicht gestört“. Es existieren mehrere dimensionale
Modelle von Persönlichkeitsstörungen (weiterführende Literatur: Bronisch, 2005a).
Dimensionale Modelle bieten eine Möglichkeit, um von der stigmatisierenden Sprache und
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der Defizitorientierung des kategorialen Konzeptes hin zu einer wertschätzenden Sprache
zu gelangen.
Zur Erfassung von ICD-10/DSM-IV-Persönlichkeitsstörungen werden zusätzlich mehrere
Diagnostikinstrumente verwendet, nämlich Selbstbeurteilungsfragebogen, Checklisten
sowie strukturierte und standardisierte Interviews. Eine Zusammenstellung dieser
Instrumente findet sich in Bronisch (2005, S.1606).
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4.2 Diagnostik und Klassifikation der Borderline-Persönlichkeitsstörung
nach DSM-IV
Die American Psychiatric Association APA entwickelte seit 1952 das
Klassifikationssystem „Diagnostical and statistical manual of mental disorders“, kurz DSM
(APA 1952, 1968, 1980, 1994; Sass, 1996). Der Entwicklung vom DSM-I (1952) bis zur
aktuellen Version des DSM-IV (Ersterscheinung 1994) folgend, wird die BPS erstmals 1980
im DSM-III (APA, 1980) konzipiert. Vorläuferkonzepte waren im DSM-I „der aggressive Typ
der
passiv-aggressiven
Persönlichkeitsstörung“
(APA,
1952),
sowie
„die
Explosible/Epileptioide Persönlichkeitsstörung“ nach DSM-II (APA, 1968). Seit der
Erstbeschreibung im DSM-III ist die BPS keinem grundsätzlichen Konzeptionswandel mehr
unterworfen gewesen. Im DSM-IV (APA, 1994; Sass, 1996) wurden die ursprünglich acht
Merkmale des DSM-III und DSM-III-R (APA, 1987) um ein Item ergänzt, das als
„vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere
dissoziative Symptome“ formuliert wird. Die reaktive Natur dieser Symptome im
Zusammenhang mit interpersonellen Stressoren ist ein wichtiges abgrenzendes
Unterscheidungsmerkmal von schizophrenieverdächtigen Symptomen.
Tab. 2. Diagnostik und Klassifikation der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV
(Sass, 1996)
Ein tief greifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in
den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und
manifestiert sich in den verschiedenen Lebensbereichen.
Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
(1) Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches und vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden.
Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in
Kriterium 5 enthalten sind.
(2) Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen
Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.
(3) Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der
Selbstwahrnehmung.
(4) Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Aktivitäten (Geldausgaben,
Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Fressanfälle“).
(5) Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder –drohungen oder
Selbstverletzungsverhalten.
(6) Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung. (z.B. hochgradige
episodische Dysphorie, Erregbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmung gewöhnlich einige
Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern).
(7) Chronisches Gefühl der Leere.
(8) Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z.B. häufige
Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).
(9) Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere
dissoziative Symptome.
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4.3. Diagnostik und Klassifikation der Borderline-Persönlichkeitsstörung
nach ICD-10
Im Unterschied zu dem amerikanischen Klassifikationssystem DSM der APA stellt der
„Borderline-Typus“ nach ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation WHO (Dittmann et al.,
2004) eine von zwei Subformen der „emotional instabilen Persönlichkeitsstörung“ dar. Im
Gegensatz zu den anderen spezifischen Persönlichkeitsstörungen gibt es für diese zwei
Subtypen keine expliziten Kriterien. Bei deutlicher inhaltlicher Ähnlichkeit mit den
„erregbaren Psychopathen“ nach ICD-9 (Degwitz et al., 1980) wurde der Borderline-Typus
erst 1991, in einem relativ späten Stadium der Entwürfe, eingeführt.
Tab. 3. Emotional instabile Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 (Dittmann et al., 2004)
F60.3 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
Eine Persönlichkeitsstörung mit deutlicher Tendenz, impulsiv zu handeln ohne Berücksichtigung von
Konsequenzen, und mit wechselnder instabiler Stimmung. Die Fähigkeit, vorauszuplanen, ist gering
und Ausbrüche intensiven Ärgers können zu oft gewalttätigem und explosiblem Verhalten führen;
dieses Verhalten wird leicht ausgelöst, wenn impulsive Handlungen von anderen kritisiert oder
behindert werden. Zwei Erscheinungsformen dieser Persönlichkeitsstörung können näher beschrieben
werden, bei beiden finden sich Impulsivität und mangelnde Selbstkontrolle.
F60.30 impulsiver Typus
F60.31 Borderline-Typus
Die wesentlichen Charakterzüge sind emotionale Einige Kennzeichen emotionaler Instabilität sind
Instabilität und mangelnde Impulskontrolle. vorhanden, zusätzlich sind oft das eigene
Ausbrüche von gewalttätigem und bedrohlichem Selbstbild, Ziele und „innere Präferenzen“
Verhalten sind häufig, vor allem bei Kritik durch (einschliesslich der sexuellen) unklar und gestört.
andere.
Meist besteht ein chronisches Gefühl innerer
Leere. Die Neigung zu intensiven, aber
unbeständigen Beziehungen kann zu wiederholten
emotionalen Krisen führen mit übermässigen
Anstrengungen, nicht verlassen zu werden, und
mit Suiziddrohungen oder selbstschädigenden
Handlungen (diese können auch ohne deutlichen
Auslöser vorkommen).
Dazugehörige Begriffe:
Dazugehöriger Begriff:
- aggressive Persönlichkeit(sstörung)
- Borderline Persönlichkeit(sstörung)
- reizbare
(explosible)
Persönlichkeit(sstörung)
Ausschluss:
- dissoziale Persönlichkeit(sstörung) (F60.2)
Beim impulsiven Typus steht im Vergleich zum Borderline-Typus die mangelhafte
Impulskontrolle und Affektsteuerung und die leichte Erregbarkeit mit Tendenz zu
aggressiven Ausbrüchen mehr im Vordergrund.
Beim impulsiven Typus besteht die Grundtendenz, die Aggressionen eher nach aussen
auszuleben, während sich beim Borderline-Typus die Aggressionen eher gegen sich selbst
richten. Es gibt jedoch Überschneidungen.
Eine solche Differenzierung von zwei Subtypen erscheint problematisch, da es sich bei der
Beschreibung doch eher um unterschiedliche, insbesondere auch geschlechtsspezifische
Ausdrucksformen einer zugrunde liegenden impulsiven und emotional instabilen
Persönlichkeit handelt.
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Zusätzlich zu den offiziellen Kriterien für die Diagnosestellung der emotional-instabilen
Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus nach ICD-10 gibt es noch die folgenden
Forschungskriterien des ICD-10 (Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte-Markwort, 2000,
Tab. 4):
Tab. 4. Forschungskriterien „Emotional instabile Persönlichkeitsstörung“ vom „BorderlineTypus“ nach ICD-10 (Dilling et al., 2000)
Mindestens drei der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen müssen vorliegen:
• Deutliche Tendenz unerwartet oder ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
• Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen. Vor allem dann, wenn impulsive
Handlungen getadelt oder unterbunden werden
• Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiblen
Verhaltens
• Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
• unbeständige und unberechenbare Stimmung
Zusätzlich müssen mindestens zwei der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen vorliegen:
• Störungen und Unsicherheiten bezüglich Selbstbild, Zielen und „inneren Präferenzen“
(einschliesslich sexueller)
• Neigung sich in intensive aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge von
emotionalen Krisen
• Übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden
• Wiederholt Drohungen oder Handlungen mit Selbstbeschädigung
• Anhaltende Gefühle von Leere
4.4 Borderline-Persönlichkeitsstörung in den modernen
Klassifikationssytemen im Überblick
Ein Vergleich moderner Klassifikationssysteme in der Typologie der BPS und deren
Vorläufer, angefangen mit Kurt Schneider (1987) über ICD-9 (Degwitz et al., 1980) und ICD10 (Dittmann et al., 2004) bis hin zu DSM-III/DSM-III-R (APA, 1980, 1987) und DSM-IV
(Sass, 1996), zeigt die Tab. 5.
Tab. 5. Typologien von Borderline-Persönlichkeitsstörung
Cluster
DSM
B
DSM-IV
BorderlinePS
DSM-III/
DSM-III-R
BorderlinePS
ICD-10
ICD-9
Emotional instabile PS
• Impulsiver
Typus
• BorderlineTypus
Antisoziale PS
Erregbarer
Psychopath
K.
Schneider
Explosible
PS
Beim DSM-IV und ICD-10 wird bei der Diagnostik nicht auf theoretische,
tiefenpsychologische oder andere Konstrukte und Ätiologiemodelle eingegangen, sondern
sie basiert auf beobachtbaren Verhaltensmerkmalen (s. Kap. 3.1.3).
Trotz weitreichender Überlappungen mit der BPS nach DSM-IV finden sich beim BorderlineTypus nach ICD-10 inhaltlich auch eindeutige Abweichungen. In der ICD-10 steht die
Impulsivität im Mittelpunkt der diagnostischen Kriterien. Sie wird nicht nur in Form
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konkreter, dysfunktionaler, auto- oder fremdaggressiver Verhaltensweisen aufgezählt,
sondern darüber hinausgehend als Planlosigkeit beschrieben, als Unfähigkeit, auf nahe
liegende Ziele zugunsten zukünftiger Belohnungsreize zu verzichten, sowie die Neigung,
aversive Verhaltenskonsequenzen nicht zu antizipieren. Weitere Unterschiede liegen darin,
dass Hinweise auf dissoziative oder paranoide Erlebnisweisen in der ICD-10 gänzlich
fehlen, Leeregefühle und Verlassenheitsängste nur in den Forschungskriterien erwähnt
werden. Im ICD-10 findet sich zudem neben dem Borderline-Typus der emotional instabilen
Persönlichkeitsstörung noch ein zweiter Typus, der „impulsive Typus“ (s.o.).
Obwohl Unterschiede zwischen den beiden Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV in
einigen Details des Merkmalskataloges geblieben sind, hat die rege Beschäftigung mit der
BPS in den letzten Jahren zu einer Störungsbeschreibung geführt, welche eine international
anerkannte, einheitliche diagnostische Sprache und Grundlage für Forschungstätigkeiten
auf dem Gebiet der Ätiologie und der Therapie ermöglichen.
Aus dem früheren „Sammeltopf“ für schwierige Patienten und unklare Fälle, der
verwirrenden Restkategorie des Borderline-Syndroms, ist inzwischen eine der empirisch
am
besten
belegten
Persönlichkeitsstörungskategorien
der
aktuellen
Klassifikationssysteme geworden. Die spezifischen Merkmale der BPS beschreiben ein
hinreichend abgrenzbares und im Verlauf relativ stabiles Störungsprofil, welches aber auf
der phänomenologischen Ebene leider viele Überlappungen mit anderen Störungsbildern (s.
Kap. 5) aufweist.
Diagnostikinstrumente zur Erfassung der BPS
Diagnostikinstrumente sind zusätzliche Hilfsmittel für die Diagnosestellung einer BPS. Es
gibt strukturierte klinische Interviews, wie z.B. die IPDE (International Personality Disorder
Examination) und speziell für die BPS das DIB-R (Diagnostisches Interview für das
Borderline-Syndrom – revidierte Fassung) und das Borderline-Persönlichkeitsinventar
(weiterführende Literatur: Bronisch 2005).
4.5
Symptomatik der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die Symptomatik der BPS ist durch die Diagnosesysteme DSM-IV und ICD-10 bereits
ausführlich beschrieben worden(s. Tab. 2 - 4, Kap. 4.2 und 4.3). Die Krankheitssymptome
lassen sich in mehrere Bereiche von Symptomkomplexen aufteilen. Im Folgenden wird
detailliert darauf eingegangen.
Die diagnostischen Kriterien im DSM-IV (s. Tab. 2) enthalten nach Frauenknecht & Lieb
(2005) die folgenden vier Bereiche:
• Affektivität (Kriterien 6, 7 und 8)
• Impulsivität (Kriterien 4 und 5)
• Kognition (Kriterien 3 und 9)
• Interpersoneller Bereich (Kriterien 1 und 2).
Frauenknecht & Lieb (2005), Linehan (1996) und viele weitere Kliniker und Theoretiker
verschiedenster Therapieschulrichtungen sehen im Zentrum der Symptomatik der BPS eine
gestörte Affektregulation. Weitere Hauptmerkmale sind die Impulsivität sowie Instabilität des
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Identitätserlebens und zwischenmenschlicher Beziehungen, was sich in Form von
Spannungszuständen, Selbstverletzungen, rezidivierender Suizidalität oder aggressiven
Durchbrüchen äussert.
Herpertz & Sass (2000, S. 121-123) teilen dieselben Kriterien ebenfalls in vier
Symptomkomplexe:
• Affektive Instabilität
• Impulshandlungen
• Identitätsstörung
• Dissoziative oder (pseudo)psychotische Symptome
Zentrale Charakteristika der BPS sind nach Möller et al. (2005, S.1611):
• Emotionale Instabilität
• Impulsivität
• Instabilität in den zwischenmenschlichen Beziehungen
Diese gängigen Einteilungen wichtiger Symptomkomplexe der BPS sind sich sehr ähnlich.
Auf die einzelnen Bereiche wird in der Folge detailliert eingegangen.
Affektive Instabilität
Die affektive Instabilität wird definiert als schnell wechselnde Veränderungen der
emotionalen Befindlichkeit mit Rückkehr zur Ausgangslage, meistens im Zusammenhang
mit Lebensereignissen wie z.B. Trennung, enttäuschte Erwartungen und Kritik. Sie ist eine
ausgeprägte Reaktivität der Stimmung in bestimmten situativen Kontexten. Typische
Auslöser sind reale oder angenommene Erfahrungen von Verlassenwerden und
Zurückweisung. Daneben wird aber auch zwischenmenschliche Nähe oft als bedrohlich
erlebt. Fiedler (2000) führt diese typischen Auslösesituationen auf eine ungelöste
Ambivalenz zwischen Bedürfnissen nach Bindung und einer gegenläufigen Sorge um
Autonomieverlust zurück.
Die gestörte Affektregulation äussert sich wie folgt:
• Hohe affektive Reagibilität: Niedrige Reizschwelle für die Auslösung emotionaler
Reaktionen, also eine hohe Sensibilität gegenüber schon niederschwelligen Reizen
• hohe Affektintensität, hoher Erregungsgrad
• Neigung zu abrupt wechselnden Stimmungen und Affekten: plötzlich aufschiessend,
kurzwellig, extrem (z.B. intensive Missgestimmtheit, Irritierbarkeit oder Angst)
• Stimmungen und Gefühle können nebeneinander als überwältigendes „Gefühlschaos“
auftreten
• Verlängerte Dauer bis zum Abklingen der Gefühlsreaktionen (über mehrere Tage)
• Grosse
Schwierigkeiten,
verschiedene
Gefühlsqualitäten
(z.B.
Traurigkeit,
Unzufriedenheit, Wut, Ärger, Stolz, Zufriedenheit) differenziert wahrzunehmen.
• Unangemessener, intensiver Ärger oder Kontrollverlust bei Ärger (z.B. häufige
Zornesausbrüche, andauerndes Gefühl von Ärger, wiederkehrende körperliche
Auseinandersetzungen)
Die Zornausbrüche stehen in ihrer Intensität in keinem Verhältnis zu den auslösenden
Ereignissen, basieren vielmehr auf einer massiven Angst vor Enttäuschung und dem
Verlassenwerden.
Qualitativ herrschen nach Herpertz & Sass (2000) dysphorische, ängstliche und ärgerliche
Affekte vor. Daneben ist häufig ein quälendes chronisches Gefühl der inneren Leere
(„Taubheit“, Langeweile) und Depressivität vorhanden. Diese werden sehr intensiv, oft
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verbunden mit körperlichen Empfindungen (z.B. Druck im Kopf, Spannungen im Bauch)
erlebt.
Impulsivität
Anstelle der differenzierten Wahrnehmung von unterschiedlichen Gefühlsqualitäten (s.o.),
insbesondere anstelle „negativer“ Emotionen, werden quälende, lang anhaltende
Spannungszustände erlebt und berichtet. Spannung wird demnach „…als Synonym für
aversive emotionale Erregungsprozesse benutzt…“ (Stiglmayr, Mohse, Behm, Auckenthaler
& Bohus, 2005, S.550). Hierzu zählt nach Stiglmayr et al. (2005) eine als unangenehm
erlebte körperliche Erregung (z.B. Zustand von innerer Unruhe und Nervosität), ein
gesteigertes motorisches Verhalten sowie kognitive Prozesse im Sinne eines Hyper- als
auch Hypoarousals. Die kognitiven Inhalte drücken einen Zustand der Belastung aus.
Entsprechend den Kennzeichen einer Störung der Affektregulation (s.o.) schildern
Menschen mit einer BPS, dass die Spannung meist aus unersichtlichen Gründen schnell
ansteigt und in der Regel nur sehr langsam wieder zu ihrem Ausgangsniveau zurückkehrt.
Solche Spannungsanstiege werden meist mehrmals pro Tag erlebt.
Befunde aus den Studien von Stiglmayr et al. (2005) mit weiblichen Patientengruppen
konnten diese Schilderungen hinsichtlich des Verlaufs von Spannungszuständen belegen:
Patientinnen mit einer BPS leiden im Vergleich zu Patientinnen mit einer Depression bzw.
Dysthymie, Patientinnen mit ausgewählten Angststörungen oder psychisch gesunden
Kontrollprobandinnen an einem generell erhöhten, subjektiv als aversiv erlebten
Spannungsniveau. Weiterhin konnte festgestellt werden, dass es bei allen genannten
Patientinnengruppen im Vergleich zu den gesunden Kontrollprobandinnen häufiger zu
Spannungszuständen kommt und die Spannung bei Borderline-Patientinnen im Vergleich zu
allen anderen untersuchten Gruppen deutlich schneller ansteigt. Schliesslich bleibt die
aversive Spannung bei den Patientinnengruppen über einen längeren Zeitraum bestehen
und baut sich damit langsamer wieder ab als bei der gesunden Kontrollprobandinnen.
Patientinnen mit einer Borderline-Störung erzielen gemäss den Studien von Stiglmayr et al.
(2005) in fast allen fraglichen Parametern die höchsten Werte im Vergleich zu den anderen
untersuchten Patientinnengruppen und den gesunden Kontrollprobandinnnen.
Viele Menschen mit einer BPS „lernen“, dass sie die Spannungszustände durch
selbstverletzende Handlungen (wie z.B. Schnitt-, Stich-, Beiss-, Kratzverletzungen an
Gliedmassen, Rumpf und Genitalien, Brennen, Schlagen mit dem Kopf gegen die Wand)
unterbrechen und beenden können, und setzen diese Verhaltensweisen regelmässig zur
Spannungsregulation ein. Diese Impulshandlungen führen eine prompte Entlastung
herbei, die ihrerseits von einer kurzfristigen Stimmungserhebung gefolgt ist. Später treten
dann häufig Gefühle von Schuld; Scham oder Versagung auf. Suizidgedanken und –
handlungen sind im Zusammenhang mit emotionaler Spannung oder intensiven Gefühlen
von
Schuld
und
Scham
häufig.
Dieses
Spannungsreduktionsmodell
von
Selbstverletzungsverhalten wird inzwischen allgemein akzeptiert (z.B. Frauenknecht & Lieb,
2005; Herpertz & Sass, 2000; Stiglmayr et al., 2005).
Selbstverletzendes Verhalten findet nicht nur zum Spannungsabbau, sondern auch zur
Selbstbestrafung (bei verborgenem oder offenem Selbsthass), sowie bei Dissoziation
(s.u.), um „sich selbst wieder zu spüren“, statt.
Nicht selten werden hochriskante Verhaltensweisen (wie z.B. das Balancieren auf
Brückengeländern, das Sitzen auf Bahnschienen oder Rasen im Strassenverkehr) zur
„Kompensation“ von Ohnmachtsgefühlen eingesetzt. Ebenfalls zur Emotionsregulation
dienen weitere dysfunktionale Muster, wie z.B. Alkohol-, Drogen- und
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Medikamentenmissbrauch, Störungen des Essverhaltens („Fressanfälle“ mit und ohne
selbstinduziertes Erbrechen, anorektische Episoden), impulshaftes, inadäquates
Geldausgeben und Ladendiebstähle. Weitere mögliche Probleme auf der Verhaltensebene
sind ein promiskuitives, riskantes Sexualleben und Zwangshandlungen.
Nebst diesen genannten selbstschädigenden Verhaltensweisen, kommen auch
fremdschädigende Handlungen, wie z.B. aggressive Durchbrüche, in Form von
Wutausbrüchen und körperlichen Auseinandersetzungen, vor.
Die Impulsivität steht in engem Zusammenhang mit weiteren anderen Symptomen. Sie kann
z.B. aus den Frustrationen einer gestörten Beziehung entstehen, Ausdruck von
Stimmungsschwankungen oder Zornesausbrüchen sein oder ein Versuch, die Gefühle von
Einsamkeit oder Trennungsangst zu betäuben.
Besonders typisch für Menschen mit einer BPS sind über die Lebenszeit hinweg
wechselnde Muster dieser genannten impulsiven Verhaltensweisen.
Viele versuchen, ihre Impulse zurückzuhalten bzw. zu unterdrücken. Diese
Kontrollversuche sind allerdings wenig ausdifferenziert und flexibel. Dies führt nach
Herpertz & Sass (2000) zu einem „…unberechenbaren Wechsel zwischen angespanntem
Zurückhalten von affektiven Regungen und Impulsen auf der einen Seite und plötzlichen
Affekt- und Verhaltensdurchbrüchen auf der anderen Seite“ (S. 121).
Dissoziative und (pseudo)psychotische Symptome
Stresssituationen gehen nicht selten mit vorübergehenden dissoziativen Phänomenen
(z.B. kindliche und dissoziative Amnesien, d.h. Gedächtnislücken, die in ihrem Ausmass und
ihrer Vollständigkeit variieren und die sich auf die Person wesentlichen Erinnerungen oder
Lebensabschnitte oder ein aktuelles traumatisierendes Ereignis beziehen), einer Analgesie
(verringertes
Schmerzempfinden),
anderen
Körperwahrnehmungsstörungen
oder
paranoiden Verkennungen einher. Bei paranoiden Vorstellungen werden z.B. die Welt oder
einzelne Menschen als schlecht und als Bedrohung empfunden.
Dissoziative Symptome werden bei Menschen mit einer BPS häufig durch subjektiv als
aversiv erlebte Spannungszustände (s.o.) ausgelöst. Stiglmayr et al. (2005) konnten in ihren
Studien (s.o.) einen klinisch relevanten Zusammenhang zwischen Dissoziation und
Spannung nachweisen. In allen vier von ihnen untersuchten Gruppen (Patientinnen mit
einer BPS, Patientinnen mit einer Depression bzw. Dysthymie, Patientinnen mit
ausgewählten Angststörungen und gesunde Kontrollprobandinnen) findet sich ein
bedeutsamer positiver Zusammenhang zwischen den als aversiv erlebten
Spannungszuständen und dem Ausmass an dissoziativer Symptomatik. BorderlinePatientinnen erzielten sowohl hinsichtlich der Spannungszustände (s.o.) wie auch
hinsichtlich der dissoziativen Zustände die höchsten Werte. Dissoziative Phänomene treten
den Daten zufolge niemals ohne Spannungszustände auf.
Dissoziation bedeutet, dass die Fähigkeit zur bewussten Beeinflussung und Kontrolle für
bestimmte psychische oder körperliche Bereiche gestört ist, d.h., bestimmte
Gedächtnisinhalte, Körperwahrnehmungen oder –bewegungen sind vom „normalen“
Bewusstsein abgespalten und können nicht mehr in das eigene Erleben oder die aktuellen
Erfahrungen integriert werden.
„Flash-backs“, d.h. das Gefühl, ein Ereignis tatsächlich noch einmal zu durchleben, welche
sich auf frühere traumatische Erlebnisse beziehen, können bis zu mehreren Tagen anhalten
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und mit Pseudohalluzinationen, d.h. halluzinatorischen Erlebnissen, die auch als solche
identifiziert werden (=Ich-dyston), einhergehen.
Häufig sind auch Episoden von Derealisationserlebnissen. Dabei erscheinen Personen,
Gegenstände und Umgebung unwirklich, fremdartig oder auch räumlich verändert. Dadurch
wirkt die Umwelt z.B. unvertraut, sonderbar oder gespenstisch (z.B. „Alles ist so weit weg“,
Ich sehe alles wie durch einen Schleier“, „Gegenstände erscheinen grösser oder kleiner“,
„Das Essen schmeckt plötzlich so fade“) (AMDP, 2000, S.110). Es kann zu kurzfristigen
psychotischen Dekompensationen kommen (Dittmann et al, 2002, S.188).
Im Unterschied zu der „schizotypischen Persönlichkeitsstörung“(DSM-IV)/“schizotypen
Störung“(ICD-10) und der schizophrenen Erkrankungen ist die paranoide Symptomatik von
kurzer Dauer, tritt in einem affektiv hoch geladenen Kontext auf und ist inhaltlich auf nahe
Bezugspersonen, zu denen eine konflikthafte Beziehung besteht, bezogen. Zudem sind die
Sinnestäuschungen meist von pseudohalluzinatorischem Charakter (s.o.).
Identitätsstörung
Eine mangelnde Zukunftsorientierung und Lebensplanung stellen sich als weitere
Probleme der Menschen mit einer BPS dar, die auch mit dem Aufbau der Selbstidentität
zusammenhängen. Diese äussern sich z.B. mit häufigen Stellenwechseln und
Ausbildungsabbrüchen, wie auch mit wahllosen Kontakten mit unterschiedlichen sozialen
Bezugsgruppen.
Episoden von Derealisations- (s.o.) und Depersonalisationserleben sind häufig. Beim
Depersonalisationserleben handelt es sich um eine „Störung des Einheitserlebens einer
Person im Augenblick oder der Identität in der Zeit des Lebenslaufs. Die Person kommt sich
selbst fremd, unwirklich, unmittelbar verändert, als oder wie ein anderer und/oder
uneinheitlich vor“ (AMDP, 2000, S.111). Viele Menschen mit einer BPS schildern das
anhaltende Gefühl, nicht zu wissen, wer sie wirklich seien. Diese Störung des
Identitätserlebens bezieht sich auch auf das Erleben des eigenen Körpers, das zumeist als
negativ beschrieben wird. Sie können ihren Körper als leblos, losgelöst oder anormal
empfinden. Manchmal erleben die Betreffenden, wie sie sich aus ihrem Körper entfernen
und sich mit Abstand selbst betrachten. Sie haben häufig das Gefühl, „anders„ zu sein als
die anderen Menschen und nicht wirklich zu dieser Welt zu gehören. Diese ausgeprägte
Instabilität des Selbstbildes und der Selbstwahrnehmung kann auch Aspekte der
Geschlechtsidentität mit einbeziehen und sich dann als Wechsel zwischen hetero- und
homosexueller Partnerwahl oder auch als transsexuelle Strebungen manifestieren.
Die andauernde Identitätsstörung kann sich auf vielen verschieden Gebieten äussern.
Nebst den genannten Bereichen langfristige Ziele, Berufswahl, Selbstbild und sexuelle
Orientierung, betrifft es auch das Wertesystem und die Art der gewünschten Partner und
Freunde.
Menschen mit einer BPS akzeptieren ihre Eigenschaften, wie z.B: Intelligenz und
Attraktivität, nicht als konstantes Gut, sondern als Eigenschaften, die immer wieder neu
verdient werden und im Vergleich mit anderen beurteilt werden müssen. Das
Selbstwertgefühl und die Fähigkeit zur Selbstachtung basieren bei ihnen deshalb nicht auf in
der Vergangenheit erbrachten Leistungen, sondern auf aktuelle (Miss-)Erfolgserlebnisse und
Feedback durch andere.
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Instabilität in den zwischenmenschlichen Beziehungen
Entsprechend turbulent und konflikthaft gestalten sich die Beziehungen von Menschen mit
einer BPS. Sie gehen häufig intensive, aber unbeständige Beziehungen ein. Die
Beziehungen sind geprägt von raschen Wechseln zwischen Annäherung und abrupter
Distanzierung (Störung der Nähe-Distanz-Regulation), zwischen Idealisierung und
Entwertung und der wiederholten Demonstration von Hilflosigkeit („Ich bin schwach und
hilflos“) und Leiden („passive Aktivität“).
Das Muster der Spaltung zeigt sich vor allem in der Dichotomie des Denkens, d.h. dem
sogenannten „Schwarz-Weiss-Denken“, das innerhalb eines Kontinuums keine Mittelwerte
zulässt. Das Denken der Betroffenen ist wesentlich von „entweder-oder“, „schwarz-oderweiss“, „nur gut“ oder „nur böse“, „alles-oder-nichts“, geprägt, was in Beziehungen vor allem
bewirkt, dass diese Haltung ins jeweilige Gegenteil umschlagen kann. Menschen können so
nicht als reale Personen mit gleichzeitig guten und schlechten Eigenschaften erlebt werden.
Eine Synthese zu „sowohl-als-auch“ oder „alles zugleich“ ist ihnen nicht möglich.
Die Störung der Nähe-Distanz-Regulation und das Muster der Spaltung zeigt sich wie
folgt: Der „Borderliner“ entwickelt eine Abhängigkeit zum Partner und idealisiert ihn, solange
er seine Bedürfnisse befriedigt. Erfährt er Zurückweisung oder Enttäuschung, verfällt er ins
andere Extrem, wertet den Partner ab, ohne sich jedoch von ihm trennen zu können. Die
Betroffenen schwanken zwischen vorwurfsvollen Angriffen und Klammerverhalten. Sie sind
schnell enttäuscht und erbost, wenn andere ihre Erwartungen nicht erfüllen, bleiben aber
trotzdem intensiv an sie gebunden. Einige Borderlinekranke demütigen die Personen, die sie
lieben, wünschen sich aber gleichzeitig, dass die jeweilige Person bleibt („Ich hasse dich –
verlass mich nicht“). Es fällt ihnen schwer, Nähe zuzulassen, auch wenn sie ständig danach
suchen. So leben sie in einem ständigen Dilemma, indem sie schnelle und intensive Nähe
brauchen und suchen, die sie aber, wenn sie sie erhalten, nicht ertragen können. Die Angst,
verlassen zu werden, steht oft in Beziehung mit eigenen, traumatischen Erfahrungen in der
Kindheit. Unter allen Umständen soll in gegenwärtigen Beziehungen ein tatsächliches oder
imaginäres Verlassenwerden durch eine Bezugsperson oder Alleinesein vermieden werden.
Diese Angst motiviert die Betroffenen zu verzweifelten Bemühungen, ein Verlassenwerden
zu verhindern. Dann kann es zu einer Eskalation von manipulierenden Verhaltensweisen
(„schwach und hilflos“) mit der Neigung zu Hypochondrie, Masochismus,
Selbstverletzungen, Suiziddrohungen und –versuchen kommen. Dementsprechend erleben
sie einen Mangel an tragfähigen, stabilen und verlässlichen Beziehungen und ihr Wunsch
nach absoluter Nähe und Zuwendung führt zu einem Gefühl der Überforderung bei ihren
Bezugspersonen. Nahestehende Personen fühlen sich unter Druck gesetzt. Es kann zu
schädlichen Beziehungen führen mit Gewalt- und Missbrauchserlebnissen bis hin zur
völligen Selbstaufgabe.
Dies gibt dem ohnehin bestehenden Gefühl „anders“ zu sein als andere Menschen und
„nicht zu dieser Welt zu gehören“ (s.o.) zusätzlich Nahrung. Werden sie trotz ihrer
Bemühungen verlassen, durchleben sie meist emotionale Krisen, in deren Verlauf es zu
einer Verschlimmerung der beschriebenen Krankheitssymptome kommen kann.
Als weitere Symptome kommen auch häufig Schlafstörungen
Durchschlafstörungen) und Alpträume vor (Frauenknecht & Lieb, 2005).
(Ein-
und
Wie die Grade der Störung selbst, sind auch die Symptome höchst unterschiedlich. Jeder
Betroffene hat ein eigenes Belastungsbild. Die Symptome können bei den Betroffenen auch
gegenteilig ausgeprägt sein.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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5.
Prävalenz, Verlauf und Prognose, körperliche und
psychiatrische Komorbiditäten der Borderlinestörung
Das folgende Kapitel ist den fachspezifischen Erkenntnissen hinsichtlich Prävalenz, Verlauf
der BPS und den prognostischen Gesichtspunkten gewidmet. Da BPS sehr häufig
zusammen mit anderen körperlichen und psychischen Erkrankungen und auch
Persönlichkeitsstörungen
auftritt,
erhalten
Themen
der
Komorbiditäten
und
differentialdiagnostische Überlegungen besonderen Stellenwert.
5.1. Prävalenz, Verlauf und Prognose
Prävalenz benennt die statistische Grösse der Häufigkeit einer Krankheit zu einem
bestimmten Zeitpunkt. Eindeutige wissenschaftlich gesicherte Zahlen gibt es zur Prävalenz
von Borderline Erkrankung nicht. Das liegt weitgehend daran, dass der grössere Teil der
Bevölkerung nicht fachliche Hilfe sucht und daher nicht erfasst ist. Studien, obwohl in
verschiedenen Ländern durchgeführt, bewegen sich in einer Prävalenz mit relativ kleiner
Schwankungsbreite von 1.1 – 2%.
•
•
•
•
Nach DSM lV 1994 (APA, 1994; Sass, 1996) ca. 2%
Nach Swartz, George und Winfield (1990) bei einer Stichprobe von 4000 Personen nach
DIB (Diagnostisches Interview für das Borderline-Syndrom): 1.8%
Nach Widinger und Weissmann, die 1991 eine Analyse aller ihnen vorliegenden
epidemiologischen Daten vornahmen: 1.1 – 1.8%
Die Prävalenz der BPS wird in den USA mit 1.0 – 1.8% angegeben.
Das Verhaltensmuster bei der Borderline-Störung konnte bisher überall in der Welt gefunden
werden. Die Erkrankung wird überwiegend bei Frauen (70-75%) am häufigsten im Alter von
15 bis 25 Jahren diagnostiziert. Basierend auf einer Vergleichsstudie von 12 Studien im
ambulanten Bereich und 15 Studien im stationären Setting konnte das Auftreten von BPS
bei ca. 17% (Meridianwert) bei ambulanten und ca. 28% (=Meridianwert) bei stationären
psychiatrischen Patienten festgestellt werden (vgl. Kröger, 2002). Auffallend sind eine hohe
Suizidrate von 5-10% und eine Selbstverletzungsrate von 69-80% (zusammenfassend
Jerschke et al., 1998; Grüttert, 2000; Rothenhäusler et al., 1999). Es gibt Hinweise dafür,
dass das höchste Suizidrisiko zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr liegt (Bronisch, 1997).
Borderliner tendieren zu einem Leben in der Stadt. Ca. 20% der erwachsenen Patienten
leben mit einem Partner zusammen. Während der Schulabschluss im Normbereich liegt,
gehen nur ca. 20% einer Vollzeitbeschäftigung nach. Unter den Berufsbezeichnungen finden
sich in erster Linie Sozialberufe wie Krankenschwestern, Altenpfleger/-innen und Erzieher/innen (Bohus, 2002).
Der Verlauf der BPS ist unterschiedlich, was sich auch in der Literatur über die Therapie der
Störung niederschlägt. Die größte Übereinstimmung bei den meisten Betroffenen dürfte
jedoch im Beginn chronischer Instabilität im frühen Erwachsenenalter - gefolgt von Episoden
schwerer affektiver und impulsiver Unkontrolliertheit - bestehen. Ebenso häufen sich
Inanspruchnahmen des Gesundheitssystems aus Gründen, die im Zusammenhang mit der
oben erwähnten Symptomatik (s. auch Kap. 4.5) stehen. In psychiatrischen Kliniken der
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Schweiz ist es mehrheitlich üblich, die Diagnose BPS erst ab 18 Jahren zu stellen, da bis
dahin die Persönlichkeit eines Menschen noch starken Entwicklungen unterliegt. Das weist
auf die Schwierigkeit der Diagnosestellung von BPS in der Adoleszenz hin.
Mit fortschreitendem Alter nimmt die Intensität der Störung meist ab, sodass viele Betroffene
ab dem 30. und 40 Lebensjahr eine grössere Stabilität sowohl in ihren Beziehungen als
auch im Beruf erreichen. Dies zeigen verschiedenste Langzeitvergleichsstudien (s.
McGlashan, 2001; Stone, Hurt & Stone, 1987).
Unbehandelt muss der Krankheitsverlauf als eher ungünstig betrachtet werden
(Frauenknecht & Lieb, 2005; Bohus, 2002). Die Gefahren ergeben sich für BorderlinePersönlichkeiten aus ihrer Instabilität gekoppelt mit Phasen von emotionalem Kontrollverlust,
dem zusätzlich häufigen Alkohol-/Drogenmissbrauch und Essstörungen und ihrer Neigung
zu selbstschädigendem Verhalten. Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen
erschweren die Behandlung für beide Seiten, und es kommt häufig zu mehrfachem
Therapeutenwechsel.
Die Chance auf eine völlige Heilung der BPS ist eher gering. Eine positive Prognose ist
gemäss Zanarini (2003) umso schlechter bei:
• BPS mit Alter über 25 Jahre
• Hospitalisierungen in der Vorgeschichte
• Missbrauch in der Vorgeschichte
• Substanzmissbrauch in der Familie
• BPS-Komorbidität mit Affektiven Störungen
• BPS-Komorbidität mit Posttraumatischen Belastungsstörungen
• Cluster C Persönlichkeitsstörungen
Neuere Studien liefern positive Hinweise dafür, dass deutlich höhere Heilungschancen bei
BPS anzunehmen sind als vor einigen Jahren noch geglaubt. Zwei Untersuchungen (Grilo et
al., 2004; Zanarini et al., 2003) konnten zeigen, dass 6-Jahres-Katamnesen bzw. 2 JahresKatamnesen (bei Grilo et al.) überraschend hohe Remissionsraten (basierend auf DSM-lVKriterien) aufweisen. So erfüllen 2 Jahre nach der Diagnose nur noch 60% der Betroffenen
die DSM-lV-Kriterien, nach 4 Jahren 50% und nach 6 Jahren noch 33%. Die Rückfallraten
sind mit jeweils 6% sehr gering. Vor allem die dysfunktionalen Verhaltensmuster wie auch
Selbstverletzung und Suizidversuche scheinen sich zu reduzieren. Zudem werden
Annahmen geäussert, dass bei rund 10 % der Borderline-Persönlichkeiten die Störung im
Laufe der Zeit so weit zurückgeht, dass die Diagnose Borderline nicht mehr zutrifft, obwohl
die meisten Betroffenen nach wie vor Symptome einer leichten Persönlichkeitsstörung
zeigen.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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5.2.
5.2.1.
Psychiatrische Komorbidität und Differentialdiagnostik
Borderline-Persönlichkeitsstörung und andere psychische Erkrankungen
Wie wir bereits in vorhergehenden Kapiteln (Kap. 3.2.2, Kap. 4) gesehen haben, hat die
BPS viele Gesichter. Sie ist sehr heterogen. Die eine BPS mit den typischen, immer gleich
erscheinenden Symptomen und Beschwerden gibt es nicht. Daraus resultieren
Abgrenzungsschwierigkeiten der BPS zu anderen psychischen Krankheitsbildern, was auch
unter Fachleuten – selbst in stationären Institutionen – häufig zu „Fehl“diagnosen und
folglich zu ungeeigneten Therapieplänen führen. Zudem wird die Differentialdiagnose
dadurch erschwert.
Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen die Erfahrung, dass die
Trennschärfe der Diagnosekriterien der einzelnen Störungsbilder zu gering ist, während die
Komorbidität der BPS mit anderen psychischen Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen
sehr hoch sind (vgl. zu Stuart et al., 1998; Zanarini et al., 1998, Kap. 4.1). Gemäss
Gunderson (2005) sind die Überschneidungsraten bei einer höheren Stufe der Versorgung
sogar noch höher als bei einer ambulanten Behandlung.
Komorbid zur BPS finden sich häufig affektive Erkrankungen, Angsterkrankungen,
Essstörungen, und Substanzmissbrauch. Leider schwanken die Komorbiditätsraten
verschiedener Studien sehr stark, abhängig davon, in welchen Institutionen diese
durchgeführt und welches Komorbiditätskonzept diesen zu Grunde gelegt worden sind. Die
zu Hilfenahme mehrerer Quellen gemäss. Gunderson (2005) erlaubt einen vereinfachten
Überblick über die Komorbiditäten von BPS, verzichtet aber auf epidemiologische
Stichproben, die sich verallgemeinern lassen.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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Tab. 6. Geschätztes gleichzeitiges Auftreten von BPS und anderen Diagnosen
Diagnose
Depression
Dysthymia
Bipolar ll Störung
Bipolar l Störung
Essstörung
Bulimie
Anorexie
Adipositas
Posttraumatische
Belastungsstörung
Substanzmissbrauch
Ausschliesslich Alkohol
Somatisierung
Narzisstische
Persönlichkeitsstörung
Antisoziale
Belastungsstörung
Prozentualer Anteil von
BPS mit anderen
Diagnosen
50
70
10
5
25
20
5
5
30
35
25
5
25
25
Quelle: Die Schätzungen basieren auf den folgenden Übersichtsartikeln: Dolan et al. (im
Druck), Fyer et al. (1988), Gunderson und Sabo (1993), Gunderson et al. (1991, 1993,
1999), Herzog et al. (1992), Hudziak et al. (1996), McGlashan et al. (im Druck), Stern et al.
(1993), Tyrer et al. (1997), Zanarini et al. (1998a, 1998b). Alle sind zit. nach Gunderson
(2005, S. 63).
Die Daten ermutigen wenig, zumal wenn man bedenkt, dass die Komorbidität von
Depression, Angst, Essstörungen und Sucht mit Persönlichkeitsstörungen in Bezug auf den
Behandlungsausgang einen schlechteren Verlauf und Ausgang aufweisen als bei Patienten
ohne Persönlichkeitsstörungen. (vgl. Reich & Vasile, 1993).
BPS und affektive Störungen
Die meisten Borderline-Patienten weisen Kriterien der Majoren Depression, der
Dysthymia oder beiden auf. Einige Studien liefern erste Versuche, das depressive Erleben
der Borderline-Patienten von anderen depressiven Patienten zu unterscheiden (Kurtz &
Morey, 1998; Westen et al., 1992). Diese sehen hinter dem entwertenden, impulsiven, von
stets instabilen Beziehungen frustrierten Verhalten der Borderline-Persönlichkeit vorwiegend
ein Selbsterleben geprägt von Wut, Einsamkeit, Leere und primitiven Schuldgefühlen (s.
Kap. 4.5). Demgegenüber steht der besorgte, unsichere Depressive mit einer emotionalen
Grundstimmung der Hoffnungslosigkeit und des Versagens.
Die Diagnoseentscheidung kann jedoch dann schwierig sein, wenn ein Patient mit
Merkmalen einer Majoren Depression in Zusammenhang mit einer belastenden Beziehung
zu suizidalen Impulsen oder Handlungen greift. Da stellt sich die Frage, ob die Suizidalität
des Patienten als Kommunikationsmittel eingesetzt wurde, um den Wunsch nach Kontakt
durchzusetzen (Borderline-Dynamik, Kap. 4.5) oder ob sie durch Verzweiflung und
Hoffnungslosigkeit motiviert war. Ein weiterer Hinweis für eine Borderlinethematik zeigt sich,
wenn Patienten mit Merkmalen der Majoren Depression nur mässig auf Antidepressiva
ansprechen und im stationären Aufenthalt wegen vermehrter Kontaktzuwendung eine
überaus rasche Besserung zeigen.
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•
Auch die Ähnlichkeit zwischen den Bipolaren Störungen und BPS ist nicht von der
Hand zu weisen, vor allem aus phänomenologischer Sicht (s. Kap. 3.2.1).
Stimmungslabilität und Impulsivität sowie häufig instabile Beziehungen und
unangemessene Wut gehören zu beiden Krankheitsbildern. Eine Möglichkeit zur
Unterscheidung bietet die Reaktionsbildung auf Konfrontationen und Deutungen (Bolton
& Gunderson, 1996). Patienten mit BPS werden manchmal auf konstruktive Weise
reagieren, manchmal gar nicht. Sie werden jedoch immer emotional und empfindlich im
zwischenmenschlichen Bereich reagieren. Sie werden glauben, dass viel auf dem Spiel
steht, entweder ihre eigene Selbstachtung oder die Glaubwürdigkeit des Therapeuten.
Patienten mit Bipolar ll-Störungen (Wechsel von depressiven und hypomanischen Episoden) lassen sich nicht stören. Sie werden so weitermachen, als hätte keine
Intervention stattgefunden – indem sie entweder überhaupt nicht reagieren, das Thema
wechseln oder rationalisieren. Sie verhalten sich bei zwischenmenschlichen Konflikten
autonom, eher oberflächlich und mit mangelnder Tiefe.
BPS und Angststörungen
Angst (bis Panik) – auf obiger Tabelle nicht aufgeführt – ist ein zentrales Phänomen der
BPS (Kap. 4). Meist handelt es sich um eine frei flottierende, diffuse Angst, die sich
bedrohlich über die ganze Existenz des Patienten ausdehnt (generalisierte Angst) und sich
bis zur Panik steigern kann.
Noch immer existieren unterschiedliche Meinungen in der Fachwelt darüber, ob Angst ein
zentrales Symptom der BPS (postuliert von Dulz & Schneider, 1996; Kernberg, 1975) oder
als eine nicht durchgängige Angst, die in Variationen von generalisierter Angst über isolierte
Angstattacken (Panik) hin zu einer Vielzahl phobischer Störungen auftreten kann
(Gunderson & Singer, 1975). Diese Differenzen sind Produkt von historisch bedingten
unterschiedlichen Borderlinekonzepten (s. Kap. 3.2.2) und es verwundert nicht, dass bei
dem Einfluss, den Gunderson und seine Arbeitsgruppe auf die Formulierungen der
Borderline-Persönlichkeitsstörungen im DSM-lll und DSM-lV hatten, Ängste nicht mehr als
durchgehende Leitsymptomatik auftreten.
Das Problem ist dadurch aber noch nicht gelöst: Haben Borderline-Patienten nun
durchgängig Angst oder nicht? Die Literaturrecherche zeigt, dass Angst bei BorderlinePatienten in allen Variationen und Stärken zu beobachten ist. Inhaltlich geht es dabei um
folgende Themen (s. Hoffmann, 2001).
•
•
•
•
•
Kontrollverlustangst:
Angst vor Überwältigung durch konflikthafte Impulse und Vorstellungen
Trennungsangst:
Angst vor dem Alleinsein, das eine unbewusste Gleichsetzung von Verlassenheit
darstellt
Regressionsangst:
Angst , den erreichten Ich-Status zu verlieren
Angst vor Selbstverlust
Angst vor einem phantasierten Verschlungenwerden
Diese Ängste aber sind eindeutig zeitlich limitiert. Dem Beobachter erscheint es, dass die
Ängste phasenweise da sind, dann wieder für eine Zeit lang „verschwinden“. Doch nicht
nach aussen zum Ausdruck gebrachte Angst muss noch nicht Angstabsenz bedeuten.
Selbst Kernberg et al. (2001) bestätigen, dass Borderline-Patienten aufgrund ihrer partiell
leistungsfähigen Ich-Strukturen durchaus in der Lage sind, eine nennenswerte Menge von
Angst zu bewältigen. Zum Teil geschieht dies durch besondere Abwehrleistungen wie z.B.
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Affektverdrängung. Auch Dulz und Schneider (1996) betonen, dass hinter einer scheinbar
unverletzlichen Fassade bei Borderline-Patienten sehr viel Angst spürbar ist, die aber aus
Befürchtung vor Verletzung nicht gegenüber andern gezeigt wird. Das mag die Aufklärung
für die Widersprüche in der Phänomenbeschreibung sein. In der Psychodynamik sind
Personen mit einer BPS in dieser Hinsicht ständig mit der Abwehr von Ängsten beschäftigt,
die über weite Strecken hinweg auch erfolgreich ist. Wenn die Ängste aber durchbrechen,
können sie vielgestaltig und unterschiedlicher Intensität sein.
BPS und Essstörungen
Essstörungen als Merkmale der Störung zum impulsiven selbstschädigenden Verhalten
begleiten sehr häufig die BPS (Kap. 4). Meist ist es die Bulimie, die gleichzeitig auftritt.
Bulimiker sind weniger zielgerichteter und ausdauernder in ihren persönlichen
Einschränkungen als Menschen mit Anorexie. (s. Böhme-Bloem, 2001; Skodol, Oldham et
al., 1993). Mit ihren Essstörungen bringen Borderliner mit Bulimie den
Spaltungsmechanismus von asketischem Hungern (Verzicht auf eigene Bedürfnisse) und
unkontrolliertem aggressivem In-Sich-Hineinstopfen nach aussen. Nach Fressattacken folgt
tiefe Scham und Strafe, die zu Abführbemühungen, erneutem Hungern und/oder zu
impulsiven Wiederholungen autodestruktiver Handlung führt.
Bei der BPS kann sich das Essen aber auch zur Sucht entwickeln. Mit übermässigem Essen
wird dann der Versuch unternommen, den Gefühlen der Leere und des ZurückgewiesenWerdens zu entrinnen. Vor allem bei Frauen mit einer BPS kommt solches Essverhalten
häufig phasenweise vor, was zu ständig schwankendem Gewicht führt (vgl. Niklewski,
2003).
Durch eine Studie von Sansone et al. (1995) wurde auch ein Zusammenhang zwischen
übergewichtigen Patienten mit BPS und sexuellem Missbrauch in der Vorgeschichte
nachgewiesen.
Es ist wichtig, das Hungern bei Borderlinern auch als Ausdruck eines intrapsychischen und
interpersonalen Konflikts zu betrachten. Mit der Essstörung wird die Verantwortung über
sich und das eigene Leben an andere delegiert. Bei den nahen Bezugspersonen (meist die
Mutter) wird Sorge ausgelöst, die Zuwendung verspricht, ohne dass man sich den Wunsch
nach Abhängigkeit eingestehen muss.
Und worin unterscheiden sich nun Patienten mit Essstörungen von Borderline-Patienten mit
Essstörungen? Nach Gunderson (2005) sind Impulsivität und Dysfunktion verbunden mit
instabilen Familienverhältnissen die Kennzeichen für Essstörungen bei Borderline-Patienten.
Patienten mit Essstörungen ohne BPS haben Vorgeschichten ohne markante
Familienprobleme, jedoch mit Themen absoluten Unabhängigkeitsstrebens und hoher
Leistungserwartung.
BPS und Substanzenmissbrauch
Jede Persönlichkeitsstörung erhöht die individuelle Vulnerabilität für eine Suchtentwicklung.
Durch Gefühle der inneren Leere und des Alleinseins sind Borderliner besonders anfällig für
Drogen – insbesondere Alkohol (s. Kap. 4.5). Driessen und Hill (1998) wiesen einen
ausgeprägten Zusammenhang zwischen Alkoholismus und den Persönlichkeitsdimensionen
insbesondere der Borderline-Störung sowie der Antisozialen Persönlichkeitsstörung nach.
Alkohol vermittelt kurzfristige Glücksgefühle aber auch Spannungserleichterung (Plakun,
1996; Soloff, Lis et al., 1994, Kap. 4.5). Letzteres kann auch als „SelbstmedikationsVersuch“ betrachtet werden, um endlich etwas zur Ruhe zu kommen. Aus eigener
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Praxiserfahrung konnten wir feststellen, dass bei Borderline-Patienten der
Substanzenmissbrauch episodischen und impulsiven Charakter hat (also selten zur
Suchtentwicklung führt) und dass die Art der Substanz eher unwichtig ist. (vgl. Nace, 1989)
Der Behandlung von Substanzenmissbrauch bei schwerer Abhängigkeit bei Personen mit
BPS kommt prioritäre Bedeutung zu, denn komorbider Substanzmissbrauch vergrössert
nachweisbar die Wahrscheinlichkeit eines Suizids und verschlechtert die Gesamtprognose
(vgl. Gunderson, 2005)
Differentialdiagnostisch anspruchsvoll sind Patienten mit Substanzenmissbrauch und
unglücklichen, impulsiven, selbstgefährdenden Beziehungen. Hier ist häufig eine längere
Beobachtungszeit notwendig, bis der Therapeut entscheiden kann, ob eine BPS vorliegt
oder eine primär substanzeninduzierte Störung, die für derart drastische Auswirkungen auf
das Beziehungsverhalten verantwortlich ist.
BPS und Posttraumatische Belastungsstörung
Viele Untersuchungen zeigen, dass bis zu 50% der Borderline-Patienten auch die
diagnostischen Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung erfüllen (s. u.). Neben
allgemeinen Hinweisen auf die Bedeutung einer Inzest-Problematik für die Entstehung der
BPS (Kernberg, 1997; Merod 2005b; Reddemann, 2001, 2006; Rohde-Dachser, 1995;
Sachsse, 1995; Schneider und Dulz, 1993) gibt es etliche – fast ausschliesslich nicht aus
dem deutschsprachigem Raum stammende – Untersuchungen, die empirisch hohe Raten
von Kindheitstraumatisierungen bei Borderline-Patienten gefunden haben.
Diese Erkenntnisse führen zu der Frage, wie eng eine Borderline-Störung mit einer
traumatischen Erfahrung verbunden ist (s. Kap. 3.2.2). Geht es bei der BorderlinePersönlichkeitsstörung (BPS) und der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) wirklich
um voneinander abgrenzbare Störungen? Dies lässt sich bejahen, denn nicht jeder
Borderline-Patient hat in der Kindheit ein schweres Trauma erlitten und umgekehrt führen
schwere Traumatisierungen auch zu anderen Störungen. Folglich müssen zur
Traumatisierung weitere ätiologisch bedeutsame Faktoren hinzukommen, damit eine BPS
entsteht (s. Kap. 3.2.2, Kap. 6).
Dennoch ist die Abgrenzungsfrage für die Therapieplanung bedeutend, insbesondere dann,
wenn ein sich selbst verletzender Patient eine bedeutsame Traumatisierung in der
Entwicklungsgeschichte aufweist. Da gilt es zu überlegen, ob das Trauma genug Erklärung
für die emotionalen und Verhaltens-Probleme des Patienten generiert (PTSD) oder ob das
Trauma Folge einer schon vorher bestehenden Entwicklungsproblematik war (BPS) (s. auch
Kap. 7.3). Traumaspezialisten sind sich heute weitgehend einig, dass PTSD vor allem dann
diagnostiziert werden soll, wenn Flashbacks und anhaltende dissoziative Zustände durchlebt
werden und das Verhalten der Betroffenen durch Scheu und Bindungsangst geprägt ist.
Derartig belastende Traumastörungen sind zwingend in den Mittelpunkt der Behandlungen
zu stellen wie Reddemann (Reddemann, 2001, 2006; Reddemann & Sachsse, 1999, Kap.
7.3) dies fordert: Trauma first!
Haben die Patienten jedoch das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Schutz und verleihen
ihrem Ärger Ausdruck, wenn sie verletzt werden, dann waren die Traumatisierungen
wahrscheinlich weniger dominant, und es ist besser von einer Borderline-Störung
auszugehen.
Die Zusammenhänge zwischen BPS und Posttraumatischen Belastungsstörungen sind
komplex. Zusammenfassend kann gemäss Gunderson (2005) festgehalten werden:
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•
•
•
•
Missbrauch prädisponiert Kinder zu einer Reihe von schweren psychischen Störungen,
einschliesslich BPS.
Erwachsene Patienten mit BPS gefährden sich aufgrund ihrer Rücksichtslosigkeit und
emotionalen Tendenz zu Überreaktion eine PTSP zu entwickeln.
Eine emotionale Entfremdung von den Eltern ist eine Bedingung für die BPS.
Missbrauchsvorfälle wirken weitaus traumatisierender als bei bestehender Entfremdung
von den Bezugspersonen, als wenn Kinder sich auf die Eltern verlassen können und die
traumatischen Vorfälle besprechen können.
Wenn auch in der Kindheit von Borderline-Patienten verstärkt traumatische Erlebnisse
zu finden sind, so können auch andere psycho-soziale Faktoren ein Kind so belasten,
das es eine Borderline-Störung ausbildet.
Nebst oben aufgeführten Komorbiditäten können bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen
auch somatoforme Störungen, Zwangsstörungen und die AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitäts-Störung (ADHS) komorbid beobachtet werden, die hier aber nicht weiter
erläutert werden (weiterführende Literatur: ADHS, Zwangsstörungen).
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5.2.2 Borderline-Persönlichkeitsstörung und andere
Persönlichkeitsstörungen
Die BPS kann isoliert auftreten (Reinform), sehr häufig aber kombiniert mit anderen
Persönlichkeitsstörungen.
•
•
•
Nach Fiedler (1994) besteht eine hohe Komorbidität der Persönlichkeitsstörungen
untereinander und daher gibt es kaum eine Person, die, wenn eine solche diagnostiziert
wurde, nicht zugleich die Kriterien mindestens einer anderen erfüllt
Bei 80% der ambulant behandelten Borderline-Patienten wurde mindestens eine weitere
Persönlichkeitsstörung diagnostiziert (Sipos & Schweiger, 2003; zit. nach Merod, 2005b,
S. 672)
Bei den Studien von Stuart et al.(1998) korreliert die BPS signifikant mit allen anderen
Persönlichkeitsstörungen
Daraus wird deutlich, dass Personen mit einer BPS eine erhöhte Wahrscheinlichkeit
besitzen, eine weitere Persönlichkeitsstörung auszubilden.
Betrachtet man das Auftreten einer BPS mit anderen Persönlichkeitsstörungen
differenzierter, so zeigt sich, dass Borderline-Patienten häufiger zusätzlich eine
Persönlichkeitsstörung der Cluster C und A (gemäss DSM-lV) entwickeln. Im Vordergrund
stehen dabei nach Bohus (2002, S.12) und Zanarini et al. (1998) folgende:
•
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•
•
•
Dependente Persönlichkeitsstörung (50%)
Selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung (40%)
Paranoide Persönlichkeitsstörung (ca. 40%)
Antisoziale Persönlichkeitsstörung (25%)
Histrionische Persönlichkeitsstörung (15%)
Auch fand sich bei der Komorbidität mit anderen Persönlichkeitsstörungen ein
geschlechtsspezifischer Unterschied: Männer erfüllen häufiger die Kriterien der antisozialen,
aber auch narzisstischen und paranoiden Persönlichkeitsstörungen (= v.a. Cluster B und A
nach DSM-lV). Bei Frauen stehen vorwiegend Störungen aus dem Cluster C, nämlich
selbstunsicher-vermeidende und dependente Persönlichkeitsstörungen quantitativ im
Vordergrund (Sipos & Schweiger, 2003, zit. nach Merod, 2005b, S. 672).
Differentialdiagnostische Abgrenzungsschwierigkeiten zur BPS ergeben sich insbesondere
dann, wenn die komorbide Persönlichkeitsstörung der gleichen Hauptgruppe - nämlich
Cluster B: „dramatisch, emotional, launisch“ nach DSM-lV – zugeordnet ist. Dies betrifft die
Dissoziale
Persönlichkeitsstörung,
die
Narzisstische
und
die
Histrionische
Persönlichkeitsstörung. Darauf soll im Folgenden kurz eingegangen werden.
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Tab. 7. Hauptgruppen spezifischer Persönlichkeitsstörungen und deren charakteristische
Muster inneren Erlebens und Verhaltens nach DSM-lV (Frauenknecht & Lieb, 2005, S. 297)
Hauptgruppen spezifischer Persönlichkeitsstörungen nach DSM-lV
Cluster
A
“sonderbar,
exzentrisch“
Diagnose
Paranoide PS
seltsam, Schizoide PS
Schizotypische PS
B
Dissoziale PS
“dramatisch, emotional,
launisch“
Borderline-PS
Narzisstische PS
Histrionische PS
C
“ängstlich“
Charakteristika
Missachtung und Verletzung
der Rechte anderer
Instabilität
zw.menschlicher
Beziehungen, des Selbstbildes
und der Affektivität, Impulsivität
Gefühl
der
Grossartigkeit,
Bedürfnis nach Bewunderung,
„Selbstverherrlichung“,
mangelnde Empathie
Übermässige
Emotionalität,
Expressivität, Aufmerksamkeitheischendes Verhalten
Ängstlich-vermeidende PS
Dependente PS
Zwanghafte PS
BPS und Dissoziale Persönlichkeitsstörung
Patienten mit BPS wie auch Dissozialer Persönlichkeitsstörung sehen sich den gleichen
Schwierigkeiten gegenüber, nämlich dass ihre mangelhafte Spannungstoleranz zu einem
impulsiven, schädigenden Verhalten führen – mit einem Unterschied: Personen mit BPS
sind von eher introvertierter Feindseligkeit in Form von Selbstschädigung (s. Kap. 4) und
diejenigen der Dissozialen Persönlichkeitsstörung von mehr nach aussen gerichteter
Feindseligkeit. Ausbeuterische und kalte Umgangsweise mit anderen Menschen bis zu
delinquentem Verhalten, geringe Frustrationstoleranz und fehlendes Schuldbewusstsein
sind die Hauptmerkmale der Dissozialen Persönlichkeitsstörung. Mangelnde Empathie und
verdeckte Versuche der Manipulationen und Lügen führen häufig zu wechselnden
Beziehungen.
Im Vergleich zu BPS-Patienten kreist das manipulative Verhalten bei Menschen mit
Dissozialer Persönlichkeitsstörung nicht um Zuwendung (s. Kap. 4.5), sondern eher um
Profit, Macht und materiellem Gewinn (vgl. Frauenknecht & Lieb, 2005).
Zusätzlich erschwerend zur Therapiebeziehungsgestaltung ist deren geringe
Behandlungsmotivation, die entweder durch eine passive Erwartung oder eine unverhohlene
Ablehnung zum Ausdruck gebracht wird.
Ein diagnostisches Dilemma hingegen ergibt sich dann, wenn ein Patient, der sich
prototypisch für eine BPS verhält, ein Verhalten berechnender Täuschung und gewalttätiger
Ausbrüche aufweist. Ebenfalls ergeben sich Abgrenzungsschwierigkeiten, wenn eine
wiederholt gewalttätige und zwischenmenschlich unverantwortliche Person immer wieder
suizidal und intensiv von der eigenen „Schlechtigkeit“ überzeugt ist, die aber aus dem
Bewusstsein zu verdrängen sucht.
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Diese Frage ist häufig auch dann nicht leichter zu klären, wenn die Anamnese erhoben wird,
denn bei beiden Störungen sind Erfahrungen der Vernachlässigung, Missbrauch und
Entfremdung häufig vorzufinden. (Zanarini et al., 1989). Auch Gemeinsamkeiten, wie
geringe Verbindlichkeit und Gewissenhaftigkeit, legen den Gedanken nahe, dass die beiden
Diagnosen weitgehend zusammenhängende Formen einer psychopathologischen
Syndromatik darstellen. Eindeutige Ergebnisse aus wissenschaftlichen Studien bleiben aber
abzuwarten.
Therapeutisch hat die diagnostische Unterscheidung der beiden Störungen wichtige
Bedeutung. Fälschlicherweise einen BPS-Patienten mit der Diagnose Dissoziale
Persönlichkeitsstörung zu belegen heisst, einen möglicherweise behandelbaren und
bindungswilligen Patienten auf eine Minimaltherapie zu beschränken.
BPS und Narzisstische Persönlichkeitsstörung
Beide Typen von Persönlichkeitsstörungen leben rastlos in innerpsychischer Isolation. Ihnen
fehlt die Einfühlung in andere, und in ihren Beziehungen haben selbstsüchtige Bedürfnisse
grossen Stellenwert. Sie reagieren entweder wütend oder selbstzerstörerisch auf Kritik und
Zurückweisung anderer gekoppelt mit einer unangemessenen Anspruchshaltung.
Dennoch
gibt
es
in
ihrem
Verhalten
und
Erleben
wesentliche
Unterschiede:
1. Die Motivation des Narzissten besteht in der Suche nach Ruhm und Ansehen, während
beim Borderline-Patienten diese im Verlangen nach Bindung liegt.
2. Der Narzisst zeigt sich nach aussen als übermässig selbstbewusst und grandios, im
Verborgenen jedoch schambeladen und unsicher; Personen mit BPS fühlen sich
minderwertig gegenüber anderen. (Akhtar, 2001) Während die Personen mit
narzisstischer Persönlichkeitsstörung einen Eindruck von Selbstgenügsamkeit und von
einem Fehlen von Bedürfnissen nach Liebe und Zuneigung vermitteln, wirkt die
Borderline-Persönlichkeit im Gegensatz dazu abhängig, verzweifelt nach menschlichem
Kontakt suchend (s. Kap. 4.5), und weinerlich bleibt sie dann in dieser Bedürftigkeit
verharren.
3. Personen mit BPS erleben Zurückweisung als Verlassen-Werden, das Ängste auslöst (s.
Kap. 4.5). Kritik ist für sie deshalb unerträglich, denn das, was sich nur auf einen
bestimmten Aspekt bezieht, wird zum Urteil für die ganze Person verallgemeinert. Sie
fühlen sich dann als ganze Person schlecht und nicht akzeptiert. Menschen mit
Narzisstischer Persönlichkeitsstörung erleben Zurückweisung als Demütigung und
Verletzung ihres Grandiositätsdenkens, was Gefühle der Scham, der Unterlegenheit und
des verletzten Stolzes auslöst. Man könnte vermuten, dass die Wut, Feindseligkeit und
der Ärger bei BPS vielmehr fehlgesteuert oder mangelhaft beherrschter sind, während
bei narzisstischer Persönlichkeitsstörung diese Gefühle Ausdruck einer Kränkung eines
sehr fragilen Selbsts darstellen.
4. Auch fehlt dem Narzissten die chronisch offene Wut des typischen Borderline-Patienten
(Gunderson & Singer 1975). Während der Narzisst in seiner Wut scharf mit stark
eingeschränkter Perspektive argumentiert (Kohut, 1972), reagiert der Borderline-Patient
unter den gleichen Bedingungen aufgeregt, unlogisch und chaotisch.
5. Die Erwartung, zu besonderen Zuwendungen und Privilegien berechtigt zu sein, haben
Narzisst wie Borderliner. Bei ersterem erfolgt dies aus seiner Einbildung der
Einzigartigkeit, bei Borderline-Patienten entstammt dieses Verlangen dem Gefühl, viel
gelitten zu haben und deshalb mehr zu brauchen.
6. Auch aus therapeutischer Behandlungssicht kann die Unterscheidung beider Typen
bedeutend sein. Narzisstische Persönlichkeitsstörungen brauchen in der Therapie
dosierte Frustrationen mit dem Ziel der Bindungskorrektur. Menschen mit BPS benötigen
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ebenfalls korrigierendes Bindungsverhalten, zusätzlich aber auch medikamentöse und
sozial-rehabilitative Massnahmen.
BPS und Histrionische Persönlichkeitsstörung
Borderline-Persönlichkeiten
verstehen
wie
Menschen
mit
histrionischer
Persönlichkeitsstörung in ihrem Aufmerksamkeitsstreben sich „in Szene zu setzen“ und
durch eine übertriebene Emotionalität, theatralisches Verhalten und plötzlichem
Stimmungswechsel aufzufallen. Um im Mittelpunkt zu sein, können sie charmant,
übertrieben attraktiv und verführerisch erscheinen.
Im Gegensatz dazu fehlen Personen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung weitgehend
die Autodestruktivität des Borderliners, die chronischen Gefühle der Leere und Einsamkeit
und die wütenden Beziehungsabbrüche.
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6. Ätiologie: Ausgewählte Entstehungsmodelle zur BorderlinePersönlichkeitsstörung
Die Ätiologie der BPS ist nur teilweise verstanden. Wie bei den meisten anderen
psychiatrischen Erkrankungen auch wird nach dem heutigen Wissensstand von einer
multifaktoriellen oder multikonditionalen Entstehung der BPS ausgegangen. Dies
bedeutet, dass hinsichtlich dispositioneller, auslösender, fördernder und chronifizierender
Bedingungen genetisch/neurobiologische, psychologische und soziale Teilfaktoren
berücksichtigt werden müssen (s. Kap. 4.5).
Abbildung 2 zeigt das komplexe Zusammenspiel mehrerer Faktoren bei der Ätiologie der
BPS.
1)
Genetische
Faktoren
2)
Emotionale
Instabilität
3)
SpezifischeEntwicklungsbedingungen oder
Traumatisierung in der
Kindheit
Impulsivität
4)
Erlernte
dysfunktionale Verhaltensweisen
als mangelnde Copingstrategien
und zur Spannungsregulation bei
intensiver Affektgenerierung,
z.B. selbstverletzendes Verhalten,
Suizidalität
Ergebnis:
Intrapsychische und interaktionelle
chronifizierte Störungen und
psychosoziale Konflikte
Abb. 2. Pathogenetische Faktoren in der Entstehung der BPS (Frauenknecht & Lieb, 2005,
S. 309)
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1. Ein Faktor der Entstehung können genetische und neurobiologische Faktoren sein,
bedingt auch durch pränatale Einflüsse wie ungünstige Bedingungen in der Schwangerschaft: Alkohol- oder Drogenkonsum der Mutter, Erkrankungen, die mit einer Medikamenteneinnahme einhergehen oder psychiatrische Vorerkrankungen in der Familie. Auf
biologischer Ebene gilt ein genetischer Einfluss für die Entwicklung affektiver Labilität,
Impulsivität und insbesondere dissoziative Zustände als gesichert (Frauenknecht & Lieb,
2005).
2. Bildgebende Verfahren ergaben Hinweise für Funktionsstörungen im frontalen Cortex, in
der Amygdala und dem Hippocampus, die mit der emotionalen Instabilität und dem
Hyperarousal in Verbindung gebracht werden. Es ist jedoch noch ungeklärt, ob diese
Funktionsstörungen als genetisch bedingt, als Folge der Traumatisierung oder als neurobiologisches Korrelat der BPS zu verstehen sind (Frauenknecht & Lieb, 2005).
3. Einen dritten Faktor bilden psychosoziale Risikofaktoren sowie eine familiäre
Belastung
durch
psychische
Störungen
Psychosoziale Risikofaktoren sowie eine familiäre Belastung mit psychischen
Störungen, die offensichtlich zu pathologischen Familieninteraktionen führen, spielen für
die Pathogenese der BPS eine bedeutsame Rolle. Als psychosoziale Risikofaktoren für
die Entwicklung der BPS werden weibliches Geschlecht bzw. Sozialisation eine frühe
Traumatisierung (durch körperliche Gewalt,
sexuellen
Missbrauch oder
Vernachlässigung durch primäre Bezugspersonen) sowie das Erleben von Gewalt im
Erwachsenenalter genannt (Frauenknecht & Lieb, 2005). Auch das Fehlen einer zweiten
Bezugsperson, die Schutz und Geborgenheit bietet und die Wahrnehmungen und
Empfindungen des Betreffenden bestätigt, soll von wesentlicher Bedeutung sein
(Frauenknecht & Lieb, 2005). Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass aufgrund
einzelner oder multipler Traumata, insbesondere in Kindheit und Jugend, gestörte
Persönlichkeitsentwicklungen bis hin zu Persönlichkeitsstörungen sehr wahrscheinlich
sind (Herman, Perry & van der Kolk, 1989, zit. nach Bronisch, 2005; Johnson, Cohen,
Chen, Kasen & Brook, 2006). Eine Reihe von Studien konnte den Nachweis erbringen,
dass Patienten mit einer BPS im Vergleich zu anderen Patienten mit
Persönlichkeitsstörungen signifikant häufiger in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch,
körperlichen Missbrauch, schwere körperliche Vernachlässigung und körperliche Gewalt
in der Familie erfahren hatten (Herman et al., 1989; Paris, Zweig-Frank, & Guzder, 1994,
beide zit. nach Bronisch, 2005, S. 1613; Paris & Zweig-Frank, 1992; Paris, 2000).
Ebenfalls wurden in der Vorgeschichte von Borderline-Patienten gehäuft frühe
Trennungen und Verluste berichtet. Schliesslich fanden sich signifikant gehäuft
Probleme im Bindungsverhalten zwischen Eltern und Kindern in Borderline-Familien
(Paris et al., 1994, zit. nach Bronisch, 2005; Paris et al., 1992; Paris, 2000).
4. Alle genannten biologischen und psychosozialen Variablen wirken zusammen. Dies führt
zu einer Störung des assoziativen Lernens und zur Entwicklung dysfunktionaler
Grundannahmen und Schemata (z.B. „Ich bin ein schlechter Mensch“ Schuldgefühle). Dadurch ist eine adäquate Interpretation psychosozialer Situationen erschwert (z.B.
„Ich habe eine schlechte Behandlung verdient“), was zu entsprechenden inadäquaten
Copingstrategien (z.B. Selbstverletzung, Fressanfälle, Demonstration von Hilflosigkeit)
führt. Diese Bewältigungsstrategien führen kurzfristig zu einer Linderung des subjektiven
Leidens, langfristig aber zu weiterer psychischer Labilisierung (z.B. Rückzug von Bezugspersonen wegen Überforderung durch den Patienten). Die dysfunktionalen Schemata und Verhaltensweisen verhindern ausserdem, dass positive, adäquate Lernerfahrungen gemacht und frühere traumatische Erlebnisse verarbeitet und relativiert werden
können. So wird die Welt als bedrohlich erlebt und es herrscht ein allgemeines Misstrauen gegenüber anderen Menschen.
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Auf genannte Faktoren, die die Entwicklung der BPS beeinflussen und gegebenenfalls sogar
fördern können, werden wir im Folgenden detaillierter eingehen (s. auch Kap. 4.5), indem
wichtige ätiologische Erklärungsansätze verschiedener Psychotherapieschulen präsentiert
werden. Dabei beleuchtet der biologisch/genetische/neurobiologische Ansatz vorwiegend
angeborene oder durch Frühschädigungen bedingte Prädispositionen für die Entstehung
einer BPS, während psychodynamische und bindungstheroretische Ansätze die
entwicklungsgeschichtlichen Einflussfaktoren v.a. in der Kind-Bezugsperson-Dynamik
fokussiert. Bio-psycho-soziale Ätiologiemodelle erweitern das Blickfeld, um die systemische,
mulitfaktorielle und lerntheroretische, mulitfaktorielle Kompnente.
6.1. Biologischer, genetischer und neurobiologischer Ansatz
Das biologische Modell von Persönlichkeitsstörungen zentriert sich auf biogenetische und
embryonale sowie frühkindliche biologische Faktoren, die Verhalten, Emotion und Kognition
prägen und formen. Von der genetischen Seite her geht es vorwiegend um die angeborenen
Eigenschaften des Menschen. Exogene Faktoren wie Geburtsschädigungen, Infektionen
etc. werden aber auch miteinbezogen, die prä-, peri- und postnatal auftreten können und ein
noch in Entwicklung befindliches Gehirn möglicherweise umfassend schädigen. Im
Folgenden soll der Fokus vor allem auf die genetischen und neurobiologischen Befunde
hinsichtlich der BPS gelegt werden.
Bei der BPS wurden nach Dittmann et al. (2002) Hinweise für eine starke genetische
Mitverursachung gefunden. Vor allem bezüglich Entwicklung affektiver Labilität, Impulsivität
und insbesondere dissoziativer Zustände gilt ein genetischer Einfluss als gesichert
(Frauenknecht & Lieb, 2005).
So zeigten Zwillingsstudien, dass die Konkordanzraten bei eineiigen Zwillingen fast
viermal so hoch waren als bei zweieiigen Zwillingen (55% bzw. 14%) (Bohus, 2002, S.13).
Auch Resultate aus früheren Untersuchungen (Livesley, Jang, Jackson & Vernon, 1993) bei
gesunden Zwillingspaaren, die eine genetische Disposition für Verhaltens- und
Erlebensdimensionen wie Labilität, Identitätsprobleme, Narzissmus und Impulsivität fanden,
weisen auf genetische Faktoren bei der BPS hin.
Demgegenüber konnten Familienuntersuchungen (Baron, Gruen, Asnis & Lord., 1985;
Links, Steiner & Huxley, 1988; und weitere), die der Frage nachgingen, ob die Störung von
einer Generation zur nächsten weitergereicht wird, bis jetzt keine signifikanten und
einheitlichen Ergebnisse liefern. Das liegt auch weitgehend daran, dass die Untersuchungen
sehr unterschiedlich angelegt waren, die Definition von BPS zum Teil stark variierten und die
Informationen nicht von den Verwandten direkt, sondern von den Borderline-Patienten
stammten.
Obwohl Erblichkeitsanalysen auf die Bedeutung genetischer Faktoren verweisen, können
sie kaum Aussagen über die eigentliche Struktur dieser genetischen Einflüsse machen. Es
fehlen Informationen darüber, ob es ein einziger genetischer Faktor ist oder ob es mehrere
sind, die zur Borderline-Pathologie beitragen. Auch bleibt noch weitgehend ungeklärt, ob die
genetischen Einflüsse, die mit einem Merkmal in Verbindung gebracht werden (z.B.
Affektlabilität), spezifisch sind für dieses eine Merkmal oder aber für andere Merkmale der
BPS verantwortlich sind. Verschiedene Studien an Zwillingen (Jang et al., 2002; Livesley et
al., 1998, beide zit. nach Remmel, Kernberg, Vollmoeller & Strauss, 2006) lassen erste
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Vermutungen zu, dass es zwei genetische Wirkfaktoren auf das emotionale DysregulationsCluster (Ängstlichkeit, Unterwürfigkeit, Identitätsprobleme, soziales Vermeidungsverhalten,
Aufsässigkeit, Affektlabilität, kognitive Dysregulation, Bindungsunsicherheit, Narzissmus,
Misstrauen) der BPS gibt: Zum einen ist da ein genetischer Faktor, der alle BorderlineMerkmale des Clusters beeinflusst. Zum andern gibt es spezifisch genetische Faktoren, die
auf die spezifisch primären Persönlichkeitszüge einwirken. Diese Befunde sprechen für eine
komplexe genetische Architektur der BPS, die es zukünftig noch weiter zu erforschen gilt.
Als weiterer biologisch/neurobiologischer Einflussfaktor wird eine „beeinträchtigte
Funktionsweise der Frontallappen“ des Gehirns (Davison & Neale, 2002, S. 462) in Betracht
gezogen, da diese evtl. das impulsive Verhalten beeinflussen. In den letzten Jahren wurde
damit begonnen, die funktionelle und topographische Anatomie von Hirnarealen bei der BPS
eingehender zu untersuchen – vor allem diejenigen, denen eine Bedeutung für die
Auslösung und Regulation von Affekten zugemessen wird. Erste bildgebende
Untersuchungen fanden bei Borderline-Patienten Hinweise auf Störungen im präfrontalen
Cortex sowie der Amygdala und dem Hippokampus. Dem präfrontalen Cortex wird eine
wichtige Rolle bei der Regulierung der Amygdala sowie der Kontrolle von konditionierten
Furchtreaktionen zugewiesen (Quirk, Russo, Baron & Lebron, 2000).
Mittlerweile zeigen weitere Forschungen, dass chronischer Stress oder erhebliche
Verwahrlosungserlebnisse in der Kindheit zu einer Beeinträchtigung neurobiologischer
Reifungsprozesse (vor allem in den limbischen Strukturen) und damit zu kognitiven und
emotionalen Störungen führen können (Bohus, 2002, S. 14).
Auch wurde die Annahme, dass ein zu niedriger Spiegel des Neurotransmitters Serotonin
mit Impulsivität zusammenhängt (Lesch, Bengel, Heils, Sabol, Greenberg, Petri, Benjamin,
Müller, Hamer & Murphy, 1996) insofern bestätigt, als dass die Wut bei Borderline-Patienten
abnahm, wenn ihnen ein Medikament zur Erhöhung des Serotoninspiegels verabreicht
wurde. Dies betrifft sowohl Autoaggression (wie bei Suizidversuchen), als auch
Fremdaggression (Wutausbrüche oder Gewalt). Dies lässt zunehmend den Schluss zu, dass
die bei der BPS vorliegende impulsive Aggression zum Teil vererbbar ist (Torgersen, 1994,
zit. nach Koenigsberg & Siever, 2001, S. 207)
Das neurobiologische Verständnis der BPS bedeutet auch therapeutische Konsequenzen.
Es kann besseren und spezifischeren Pharmakotherapien den Weg weisen und das Einfühlungsvermögen des Therapeuten in die spezifischen Probleme des Patienten erhöhen.
6.2. Psychodynamische und psychoanalytische Ansätze
Die gemeinsame Grundannahme der psychodynamischen und psychoanalytischen Konzepte ist eine strukturelle Ich-Störung von Borderline-Patienten, wobei sich in den unterschiedlichen Ansätzen die historische Entwicklung der psychoanalytischen Konstrukte widerspiegelt. Die wichtigsten Anstösse zum Verstehen der strukturellen Defizite bei BorderlinePatienten stammen von Kernberg (1979), der seit 40 Jahren sein übertragungsfokussiertes
Borderline-Konzept basierend auf Studien und Praxiserfahrungen laufend erweitert hat. Weitere Theorien von Melanie Klein (*1882 – 1960†, weiterführende Literatur: Bott Spillius,
2002) und das Entwicklungsphasen-Modell von Margaret Mahler (*1897 – 1985†, Mahler,
Pine & Bergman, 1993) haben zusätzliche Erkenntnisse für die Erklärung der BPS geliefert.
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Im Folgenden sollen vorwiegend das Kernberg’sche Konzept vorgestellt werden, da es die
weiteste Verbreitung in Deutschland gefunden hat. Es fokussiert vor allem die Objektbeziehungstheorie als Erklärung. Demnach geht die BPS auf frühe inadäquate Interaktionserfahrungen und ein Übermass an Aggression zurück, die den gesunden Narzissmus stören und
sich auf die Entwicklung des Ichs und Über-Ichs auswirken. Dadurch kommt es zu schwersten Selbstwert- und Identitätsproblemen.
Nach Kernberg (1979) leiden die Borderline-Patienten an
1. einer Identitätsdiffusion (=ich-strukturelle Störung)
2. an manifestierten primitiven Abwehrfunktionen (insbesondere die Spaltung) und
3. in einem unterschiedlichen Ausmass an einer Über-Ich-Verzerrung, die in der psychoanalytischen Betrachtung bei einer spezifischen Untergruppe dieser Patienten - bei Narzissmus und Antisozialer Persönlichkeitsstörung - besonders ausgeprägt ist.
Identitätsdiffusion
Bei der Identitätsdiffusion von Borderline-Patienten verweist Kernberg (1979) auf die spezifische Pathologie der Selbst- und Objektbeziehungs-Entwicklung in der Kindheit hin. Folge
davon sind schwere Verzerrungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen – insbesondere in intimen Beziehungen – ,ebenso ein Mangel an konstanter Zielausrichtung im Beruf,
Unsicherheit und Richtungslosigkeit in vielen Lebensbereichen.
Nach Kernberg lässt sich die Entwicklung von Objektbeziehungen den bestimmten Entwicklungsstufen (zwischen 0 und 3. Lebensjahr) zuordnen, in denen das Kind allmählich lernt,
sich als autonomes Individuum in einer Welt von einander getrennten Objekten zu begreifen.
Störungen in diesem Entwicklungsprozess können zu einer BPS im späteren Erwachsenenalter führen.
Laut Kernberg (1979) kann das Neugeborene nicht zwischen Subjekt und Objekt (Dinge und
Menschen) unterscheiden. Es erlebt sich und Objekte als eine positive Einheit (bei ausreichender mütterlicher Versorgung), aber auch als eine negative Einheit bei Frustrationen und
Abwesenheit von primären Bezugspersonen. Beide Einheiten sind voneinander getrennt.
Dabei ordnet das Kind seine Erfahrungen mit den Objekten primär nach Qualitäten „lustvoll“
und „unlustvoll“ bzw. „gut“ und „böse“. Die Spaltung beider „guter“ und „böser“ Einheiten ist
also nach Kernberg der erste Versuch des Menschen, seine widersprüchlichen Erfahrungen
mit der Umwelt zu ordnen. (2.-6. Lebensmonat; gemäss Mahler, 1993, in der symbiotischen
Phase ablaufend). In einem nächsten Entwicklungsschritt (6.-12. Lebensmonat) beginnt das
Kind allmählich zwischen sich und der Umwelt zu unterscheiden, bis das kindliche Selbst
sich zwischen dem 18. und 36. Lebensmonat vollständig von den Objekten trennt (nach
Mahler, 1993: „Trennungs- und Individuationsphase“). Bei einer normalen Entwicklung gelingt dann mit 3 Jahren die Zusammenführung der „guten“ und „bösen“ Teileinheiten in ein
einigermassen realistisches Selbstbild mit „guten“ und „bösen“ Einheiten. Ab diesem Punkt
kann das Kind auch ein Objekt ambivalent erleben, d.h. das Kind weiss jetzt, dass ein Objekt sowohl „gut“ wie „böse“ sein kann, d.h. dass eine geliebte Bezugsperson nicht vollkommen ist und auch negative Eigenschaften haben kann. Zu diesem Zeitpunkt haben sich die
Persönlichkeitsinstanzen vollständig ausgebildet (Ich/Es/Über-Ich), so dass die Verdrängung
möglich wird.
Borderline-Patienten durchlaufen gemäss diesem Konzept die ersten Stufen der Entwicklung von Objektbeziehungen „normal“. Die Wendung hin zum Pathologischen erfolgt da, wo
die Zusammenführung von „guten“ und „bösen“ Teileinheiten nicht mehr vollzogen werden
kann, weil die „böse“ Einheit mit soviel Aggressivität ausgestattet wird, dass die „gute“ von
der Wucht der Aggression ausgelöscht und vernichtet würde, träfen beide zusammen. Diese
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Katastrophe wird mit dem Aufrechterhalten des Abwehrmechanismus der Spaltung verhindert.
Primitive Abwehrfunktionen und Realitätsbezug
Grundsätzlich besteht gemäss Kernberg (1979) ein primärer Mangel an Verdrängungsfähigkeit, so dass die zu verdrängenden Inhalte vom Ich des Kindes nicht effektiv ins Unbewusste
verdrängt werden können. Daraus folgt, dass die abzuwehrenden Inhalte bewusstseinsfähig
bleiben und auf äussere und innere Reize ins Bewusstsein des Patienten übertreten können
Somit steht das Ich des Borderline-Patienten vor dem Problem, wie es sich vor der Wahrnehmung von Unerwünschtem schützt. Prinzipiell bedeutet dies, dass Denkbares (z.B: aggressive Gedanken) nicht gedacht und Wahrnehmbares (z.B. Aggressionen gegen das Kind
bei traumatisierenden Übergriffen) nicht wahrgenommen werden dürfen. Deshalb neigen die
Borderline-Patienten auch dazu, die Wahrnehmungs- und Denkfunktionen im Konfliktbereich
auszuschalten (siehe dazu „Mentalisierungsstörungen“ im Kap. 6.3).
Das gleiche gilt auch für die Realitätsprüfung. Wenn ein Reiz eine Gefahr für das Ich darstellt, wird er nicht wahrgenommen. Die Realität wird nur noch zerstückelt gesehen; Zusammengehöriges wird aus dem Zusammenhang gerissen, d.h. „dissoziiert“ (vor allem auch
bei Traumatas) oder „gespalten“.
Nach Kernberg (1979) ist Spaltung ein aktiver und früh eingeübter Abwehrmechanismus, um
das Erlebnis der Ambivalenz zu verhindern und um Ich-Zustände mit entgegengesetzter
Gefühlsqualität streng voneinander getrennt gehalten werden. Die Spaltung dient also dazu,
ein schützendes idealisiertes Objekt zu bewahren. Warum das „Böse“ mit soviel Aggressivität besetzt wird, erklärt Kernberg mit einer angeborenen gesteigerten Aggression der Borderline-Patienten. Mit dem Begriff der „Spaltung“ greift Kernberg somit die kleinianische
Spaltungslehre in „nur gute“ und „nur böse“ polarisierte Formen von Selbst und Objekt auf.
Weitere zentrale Abwehrformen
(1979):
von Borderline-Persönlichkeiten sind nach Kernberg
•
Projektion: Für das Ich unakzeptable eigene Züge werden verleugnet und anderen
zugeschrieben.
•
Projektive Identifikation: Die manipulative Verwicklung mit dem Projektionsträger
wird fortgesetzt und erhält somit alle unannehmbaren Charakteristika
•
Überidealisierung und Entwertung: Gute Eigenschaften bei anderen werden überbewertet. Bei der idealisierten Person werden Unvollkommenheiten nicht toleriert. Das
Gegenstück ist die völlige Entwertung.
•
Verleugnung: Unabhängige durch die Spaltung entstandene Bewusstseinsteile, die
sich zeigen, werden verleugnet.
•
Ominpotenz: Aufgeblähtes Grössen-Selbst, das in Beziehung zu herabgesetzten und
entwerteten Repräsentanzen von anderen steht.
Der Wechsel zwischen extremer Idealisierung und Abwertung in den zwischenmenschlichen
Beziehungen der Borderline-Persönlichkeiten ist somit die Folge der gestörten Entwicklung
der Objektbeziehungen und der damit verbundenen primitiven Abwehrfunktionen. Das „Gute“ und das „Böse“ können nicht gleichzeitig in einer Person vereint sein. Sie ist entweder
nur „schwarz“ oder „weiss“.
Wenn es zutrifft, dass im Zentrum der BPS vor allem die Integration der gespaltenen positiven und negativen Selbst- und Objektbilder steht, dann müsste das Ziel der psychotheraDiplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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peutischen Behandlung darin bestehen, Borderline-Patienten das Erlebnis der Ambivalenz
zu ermöglichen, um sie in die letzte Stufe der Entwicklung der Objektbeziehungen zu überführen.
Über-Ich-Verzerrung
Ein weiteres Strukturmerkmal sieht Kernberg (1979) in der nicht gelungenen Integration des
Über-Ichs. Meist ist das Über-Ich nicht an spätere realistisch-fordernde und verbietende Aspekte der Eltern orientiert, sondern an sadistische Über-Ich-Vorläufer aus der Frühzeit der
Entwicklung. Aufgrund des Fortbestehens intensiver Aggressionen aus der frühen Entwicklung werden Vater und Mutter potenziell gefährlich. In der ödipalen Phase verschärft sich die
Wutproblematik aus Sicht der Triebentwicklung, da dann prägenitale, aggressive Impulse
mit sexuellen aufeinanderprallen. In den meisten Fällen misslingt der Versuch, von der oralen Wut wegzukommen.
Obwohl die psychoanalytischen Ansätze die BPS nur aus einer psychodynamischen Perspektive erklären und andere Wirkfaktoren eher vernachlässigen, liefern sie wichtige Ziele
für die BPS-Therapie. In erster Linie weist sie auf einen notwendigen Brückenschlag zwischen den abgespaltenen Persönlichkeitsanteilen, auf die Einführung des Realitätsprinzips
sowie die Förderung der Reflexions- und Mentalisierungsfähigkeit hin.
6.3. Bindungstheoretische und interpersonale Ansätze
Die Bindungstheorie basiert auf den Arbeiten von John Bowlby (1975) und beschäftigt sich
mit dem Bindungsverhalten des Kindes, wie es in der Ursprungsfamilie erlebt und erfahren
wurde, und dessen Auswirkung auf seine spätere Persönlichkeitsentwicklung und dem sozialen Bindungsverhalten als Erwachsener. Der Ansatz basiert auf entwicklungspsychologischen, ethologischen und systemtheoretischen Vorstellungen. Im Jahre 1948 in einem Bericht über heimatlose Kinder in Europa nach dem 2. Weltkrieg verfasst, postulierte Bowlby
die Bindung zwischen Säugling und primär Mutter als einen natürlichen Prozess und als
universelles menschliches Bedürfnis nach engen emotionalen Beziehungen, der weder von
Sexualität noch vom Bedürfnis nach Nahrung beeinflusst würde. Dies brachte ihm lange Zeit
das Unverständnis der psychoanalytischen Richtung ein, da er damit wesentliche Dogmen
der Psychoanalyse in Frage stellte. Unterdessen wurden die bindungstheoretischen Gedanken durch Schüler von Bowlby (vor allem Mary Ainsworth, *1913 – 1999†) erweitert und im
klinischen Kontext sowie schulenübergreifend aufgenommen und weiterentwickelt. (s.
Strauss, Kächele & Buchheim, 2002)
Aus der Bindungstheorie und deren Weiterentwicklung lassen sich für die BPS folgende
relevanten Erkenntnisse anführen:
1. Die Beziehung zur primären Bindungsperson ist seit Geburt durch die Suche nach Nähe
gekennzeichnet, die durch Trennung, Bedrohung und Krankheit und Erschöpfung aktiviert wird. Dem gegenüber steht das Explorationsverhaltenssystem, das dem Kind dazu
verhilft, sich von der Bezugsperson zu entfernen und eigene Erfahrungen in und mit der
Umwelt zu machen (Bowlby, 1997).
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Je nach Reaktionen, die ein Kind auf sein Bindungsverhalten durch die primäre Bezugsperson erfährt, werden qualitativ unterschiedliche Bindungsmuster zu anderen Bindungspersonen ausgebildet (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978, zit. nach Remmel et al., 2006, S.
47). und als Erwartungen „abgespeichert“.
2. Ainsworth und ihrer Arbeitsgruppe gelang es drei Muster von Bindungsverhalten zu differenzieren. Das vierte Muster der „desorganisierten/desorientierten Bindung“ wurde durch
Main & Solomon (1986) später ergänzt.
1. Sichere Bindung: Das Kind kann positive und negative Gefühle bei Stressfaktoren
(wie z.B. Trennung) zeigen und wendet sich nach Beruhigung wieder dem Spiel, also
der Exploration zu.
2. Unsicher-vermeidende Bindung: Kontaktvermeidung, unterdrückt negative Gefühle
auf Verhaltensebene, ignoriert Bindungsperson nach Wiedervereinigung.
3. Unsicher-ambivalente Bindung: ausgeprägte Affektreaktionen (Angst, Wut), Stress
und schlechte Beruhigung, wenn Bezugsperson sich entfernt, sucht gleichzeitig aber
Kontakt du Nähe bei gleichzeitiger Abwendung von der Bezugsperson bei Wiederannäherung.
4. Desorganisierte/desorientierte Bindung: verfügt bei Trennung über keine Verarbeitungsstrategien, kann weder Nähe herstellen noch Ablenkung suchen.
Bei den unsicheren Bindungen herrscht im weiteren Lebenslauf eine gewisse Vulnerabilität in der dysfunktionellen Affektregulation (Magai, 1999, zit. nach Buchheim,
2005), während bei der Desorganisation Kinder wie auch Erwachsene mit einer höheren Wahrscheinlichkeit psychopathologische Entwicklung vorweisen (Lyons-Ruth
& Jacobvitz, 1999, zit. nach Buchheim, 2005).
3. Jeder Mensch hat überdauernde Bilder, die die verinnerlichten Beziehungserfahrungen
repräsentieren. Diese nennt Bowlby „inner working models“ (1975). Sie enthalten affektive und kognitive Komponenten. Diese Modelle beinhalten Vorstellungen der Person
selbst, der Bindungspersonen und den Beziehungen und werden so fortan im Beziehungsverhalten reproduziert. Das Bindungsverhalten von früher wird also auch in neuen
sozialen Beziehungen beibehalten. Dies würde die Ambivalenz der Borderliner von gesuchter Nähe und darauffolgender Distanzierung besser erklären.
In der Vorgeschichte von Borderline-Patienten werden gehäuft frühe Trennungen und
Verluste berichtet. Studien mit Borderline-Patienten deuten darauf hin, dass die Patienten
überproportional häufig eine verstrickte Bindungsrepräsentation (=unsicher-ambivalente
Bindung) aufweisen, und ein ebenso überdurchschnittlicher Prozentsatz fiel in die Kategorie
„ungelöstes Trauma“ (Fonagy, Leigh, Steele, Steele, Kennedy, Mattoon, Target & Gerber
1996; Patrick, Hobson, Castle, Howard & Maughan, 1994). Ebenso wird angenommen (s.
Fonagy, Target & Gergely, 2000), dass Borderline-Patienten vor dem Hintergrund früher
traumatischer, äusserst instabiler Bindungserfahrungen mit ihren Bezugspersonen nicht die
Fähigkeit erlangt haben, polare Affektzustände zu integrieren – was für die Entwicklung einer stabilen, sicheren Bindungsbeziehung notwendig wäre.
Das Beibehalten von „inner working models“ bis ins Erwachsenenalter liefert möglicherweise
eine Erklärung für das ambivalente Beziehungsverhalten der Borderline-Personen von Nähe
und Distanz.
Zudem weisen Ross, Lamott und Pfäfflin (2002) darauf hin, dass ebenfalls das Reflexionsvermögen „gehemmt“ oder „verfälscht“ werden kann, wenn die wichtigen Bindungsfiguren in
der Kindheit wenig empathisch und feinfühlig gewesen waren. Daraus ableitend wird die
Borderline-Störung auch als eine Mentalisierungsstörung verstanden. Mentalisierungsfähigkeit bedeutet hier die Fähigkeit, Bewusstseinszustände von anderen oder eigene zu erkenDiplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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nen und kognitiv wie affektiv interpretieren zu können. Ohne diese fehlt die Grundlage für
eine Abschätzung der Konsequenzen eines Verhaltens und für ein Verantwortungsgefühl
bezüglich des eigenen Handelns.
Das Denken des Kindes wird durch das Denken der primären Bezugsperson im Entstehen
mitgeformt. Fehlt den Bezugspersonen genügend Mentalisierungsfähigkeit (,weil sie selbst
geängstigt, zu sehr mit sich beschäftigt oder traumatisiert sind usw.) unterbleibt diese Entwicklung oder bleibt rudimentär. Das Denken, Fühlen, Handeln des anderen kann somit
nicht reflektiert werden; d.h. auch der andere kann als Objekt innerlich nicht repräsentiert
werden und bleibt somit wie ein fremdartiger, bedrohlicher „alien other“ (nach Fonagy, 1991)
präsent.
Aus dieser Perspektive lässt sich das instabile Identitätsgefühl von Borderline-Patienten
aufgrund instabiler ambivalenter Repräsentanzen von sich und anderen Objekten erklären,
die sie entweder idealisieren oder ärgerlich anklagen. Nach Fonagy et al. (2000) haben diese Patienten schematische, rigide Vorstellungen von anderen, die nicht reflektiert werden,
weil das „Mentalisieren“ zu bedrohlich wäre. Insbesondere bei Borderline-Patienten mit
traumatisierenden Bezugspersonen in der Vergangenheit haben die Mentalisierungsfähigkeit selbst blockiert, um weiter mit der sie misshandelnden Person existieren zu können
(Fonagy et al., 2000).
Die Neigung von Borderline-Personen zur Impulsivität sehen Fonagy et al. (2000) ebenfalls
als Folge eines unterentwickelten (abgewehrten) Bewusstseins von inneren Zuständen (in
Bezug auf sich selbst und andere Personen).
Interessant ist aus dieser Perspektive, die therapeutischen Massnahmen abzuleiten. Aufgabe des Therapeuten müsste es demnach sein, den internalisierenden Schritt des Objektes
dadurch nachzuholen, dass er den Patienten mitteilt, was in deren Inneren vorgeht (Fonagy,
1991). Zudem soll der Patient den Therapeuten als denkendes und fühlendes Wesen „echt“
wahrnehmen, um Selbst- und Objektrepräsentanzen integrieren zu können. Beide Prinzipien
bilden eine wichtige Grundlage des TFP-Ansatzes. (siehe Kapitel 7.1. Psychoanalyse:
Übertragungsfokussiertes Therapiekonzept TFP)
Kurz erwähnt soll in diesem Zusammenhang ein interessanter interpersonaler Ansatz von
Benjamin (2001) werden, der zukünftig an Bedeutung gewinnen dürfte. Mittels der von ihr
entwickelten Strukturanalyse (SASB) beschreibt sie typische intrapsychische und interpersonelle Muster von Persönlichkeitsstörungen auf einer Zuneigungsdimension (Liebe – Hass,
von feindselig bis freundlich zugeneigt), einer Statusdimension (Unterscheidung – Verstrickung, Autonomie – Kontrolle) sowie hinsichtlich dreier Aufmerksamkeistfoki (Andere,
Selbst, Introjekt). Pathologische Muster werden nach Benjamin gemäss Konditionierungsprinzipien in früheren Bindungen erlernt. Die SASB-basierende Therapie zielt darauf ab, den
Patienten erfahrbar zu machen, dass die pathologischen Muster vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen Sinn machen. Letztendlich soll dem Betroffenen ermöglicht werden,
sich – häufig in einem
Weitere Erforschungen des Zusammenhanges von interpersonalen Eigenschaften und
Problemen mit spezifischen Bindungserfahrungen, könnten sich zudem dazu eignen, Persönlichkeitsmerkmale und –störungen genauer zu beschreiben und letztendlich auch Persönlichkeitsstörungen besser zu differenzieren.
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6.4
Bio-psycho-soziale Ansätze
Die wohl bekanntesten und heutzutage in der Therapie genutzten Entstehungsmodelle
basieren auf bio-psycho-soziale Ansätzen („Biopsychosoziales Modell“ nach Engel, 1977,
1980) Sie stellen den Versuch dar, verschiedene Ursachen für psychische Störungen in
einem integrativen Konzept zu vereinen. Dittmann et al. (2002) unterscheiden dabei
biosoziale Lerntheorien, kognitionstheoretische Ansätze und das Vulnerabilitäts-StressModell.
Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (Synonym: Diathese-Stress-Modell) geht von einer
genetischen Vulnerabilität aus und erklärt, warum Patienten, konfrontiert mit denselben
Stressoren, unterschiedliche psychische Störungen entwickeln. (Cloninger, 1999).
Vulnerabilität bedeutet Verwundbarkeit und Verletzlichkeit, Diathese entspricht dem
deutschen Begriff Krankheitsbereitschaft. Vulnerabilität lässt sich nicht direkt „messen“ oder
beobachten, denn sie ist als theoretisches Konstrukt gedacht und kann durch
Wahrscheinlichkeitsaussagen über beobachtbare oder rekonstruierbare Personen- oder
Lebensdaten bestimmt und dann näherungsweise quantifiziert werden. Dieses ursprünglich
für die schizophrenen Störungen konzipierte Modell ist zwischenzeitlich auch auf andere
Störungsgruppen ausgeweitet und zum Teil modifiziert worden.
Die Erkrankung an einer BPS geht nach dieser Modellvorstellung auf eine erhöhte
Vulnerabilität (Krankheitsbereitschaft) zurück. Diese Vulnerabilität macht die Person dann
besonders empfindlich, labil und verletzlich gegenüber sozialen Anforderungen und
Stress(situationen). Die erhöhte Vulnerabilität wird auf eine genetische Disposition und/oder
frühe Traumatisierungen zurückgeführt. So ist die Vulnerabilität einerseits abhängig von
einer diathetischen Prädisposition, wobei unter Diathese das ungünstige Zusammenwirken
von Erbeinflüssen und/oder von prä-, peri- oder postnatalen Traumata verstanden wird, die
dann als diathetische Vulnerabilität die weitere Persönlichkeitsentwicklung präformiert.
Andererseits wird die Vulnerabilität bestimmt durch eine psychosoziale Überformung der
Diathese. Als Bedingungen einer solchen psychosozialen Prädisposition werden ungünstige
wie günstige familiäre, erzieherische und soziale Einflüsse auf die frühkindliche
Persönlichkeitsentwicklung beschrieben und untersucht. Dabei scheinen Misshandlungen,
Inzesterfahrungen, Gewalttätigkeit und kriminelle Handlungen der Eltern eine besondere
Rolle zu spielen (Giernalczyk, 2005; Merod, 2005a).
Im Grunde geht dieses Modell von der Interaktion bestimmter Dispositionen der Person und
belastender Sozialisationserfahrungen aus. Durch diese Konzeption wird die BorderlinePersönlichkeitsstörung als interpersonelles Problem verstehbar. Das Vulnerabilitäts-StressModell fasst die Borderline-Persönlichkeitsstörung vorrangig als Störung im
zwischenmenschlichen Beziehungsverhalten auf und stellt sie in Zusammenhang mit
sozialen Konflikten, Krisen und deren Extremisierungen (=Stress). Besondere
Verhaltensweisen der Person werden unter dieser Perspektive als individuelle Reaktionen
auf belastende Anforderungen verstanden und können sogar als persönliche Kompetenz,
auf Krisensituationen zu reagieren, interpretiert werden. Sie lassen sich damit auch als Teil
eines Bemühens begreifen, geenüber diesen Belastungen und Krisen zu bestehen und/oder
die eigene Vulnerabilität zu schützen. Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell ermöglicht
„unangepasstes Verhalten“ als einen Selbstschutz der Person zu verstehen. der oft von den
Bezugspersonen so nicht nachvollzogen werden kann. Viele der von den Betroffenen
gewählten zwischenmenschlichen Verhaltensweisen sind für die Bezugspersonen gar nicht
als Vulnerabilitätsschutz verstehbar. Zu diesen Verhaltensweisen gehören nach Merod
(2005a) Rückzug aus sozialen Beziehungen, fehlendes Einfühlungsvermögen, spontane
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Rollenfluktuationen oder aggressive Abwehr sozialer Anforderungen. Indem diese vielmehr
als Verletzungen interpersoneller Umgangsformen interpretiert werden, erzeugen sie
gerade deshalb jene Ablehnung, Kritik und Feindseligkeit, von denen sich die Betroffenen zu
schützen suchen. Das Ausmass der Störung hängt also auch davon ab, ob und wie die
Betroffenen bei ihren Angehörigen oder Mitmenschen Verständnis, Akzeptanz und sozialen
Rückhalt finden. (Fiedler, 2000; Merod, 2005a).
6.4.1 Das dialektisch-behaviorale Entstehungsmodell nach M. Linehan
(„Diathese-Stress-Modell“, von Linehan abgeleitet)
Der dialektisch-behaviorale Ansatz beruht auf biosozialen Theorien (Linehan, 1996) und
vertritt das Diathese-Stress-Modell (s. Kap. 6.4). Unterdessen ergänzt Linehan die ursprüngliche Sicht um die kognitive Theorie und übernimmt somit die Sicht des neurobehavioralen
Entstehungsmodells. Nach Linehan (1996) liegt das Kernphänomen der Borderline-Störung
in der Dysfunktion des emotionsregulierenden Systems, die als Folge biologischer Unregelmässigkeiten in Kombination mit bestimmten Umweltbedingungen (Linehan bezeichnete sie
als „invalidierende Umgebung“) entsteht.
Folgende Abbildung veranschaulicht dies.
Emotionsdysregulation
Invalidierende Umwelt
Emotionale Verletzbarkeit
• niedrige Schwelle für emotionale Reaktionen
• überschiessende Affekte
• verlangsamter Rückgang zur emotionalen Baseline
Behaviorale
Instabilität
Instabile interpersonelle
Beziehungen
Instabile
Identität
Kognitive
Instabilität
Abb. 3. Ätiologische Aspekte der Borderline-Symptomatik nach Linehan (1996)
Die emotionale Fehlregulation lässt sich auf eine hohe emotionale Verletzbarkeit (Vulnerabilität) und eine Unfähigkeit, Gefühle zu steuern, zurückführen (s. Kap. 4.5).
Diese beschriebene emotionale Verletzlichkeit wird in diesem Erklärungsansatz nicht als
eine „Störung“ im eigentlichen Sinne betrachtet, die man behandeln oder beseitigen muss,
sondern wird als Faktor betrachtet, den man nicht verändern kann.
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Diese Veranlagung besteht sehr wahrscheinlich bereits von Geburt an als eine biologische
Prädisposition, die bewirkt, dass die Schwelle für die Aktivierung der limbischen Strukturen
bei Borderline-Patienten niedriger ist (s. Kap. 6.1).
Die neuronalen Strukturen, die mit emotionalem Verhalten verbunden sind, werden aber
auch von Umwelterfahrungen eines Menschen beeinflusst. Die Beziehung zwischen traumatischen Umweltereignissen (z.B. sexueller Missbrauch) und der Regulierung der Emotionen ist im Fall der BPS besonders augenfällig. (Deneke, 1999, s. Kap. 4.5)
Eine „gute Übereinstimmung“ oder eine „schlechte Übereinstimmung“ zwischen dem Kind
und der Umwelt ist nach Linehan (1996) von grundlegender Bedeutung für das Verständnis
des späteren Verhaltens. Im Falle einer „schlechten Übereinstimmung“ spricht Linehan von
einer „invalidierenden Umgebung“, die die Entwicklung des Kindes beeinträchtigt und eine
Borderline-Störung fördern kann.
In einer invalidierenden Umgebung wird auf das Mitteilen von persönlichen (meist auch negativen) Erfahrungen und Gefühlen in unangemessener Weise reagiert. Das Mitteilen wird
demnach nicht ernst genommen, sondern stattdessen häufig bestraft und/oder ignoriert.
Damit wird der betreffenden Person signalisiert, dass sowohl die Beschreibung als auch die
Analyse ihrer Erfahrungen falsch sind, insbesondere hinsichtlich dessen, was sie fühlen,
denken und wie sie handeln.
Zu invalidierenden Erfahrungen zählt Linehan (1996) als extremstes Beispiel den sexuellen
Missbrauch und die körperliche Misshandlung. Weitere prototypisch invalidierende Erfahrungen sind u.a. fehlende oder nicht-kongruente Imitation des emotionalen Ausdruckverhaltens des Kleinkindes (s. Bindungsmuster, Kap. 6.3).
Wie lernt ein Kind überhaupt, was Angst, Wut oder Trauer ist? Wie lernt es Kontrolle über
Gefühle? Es sind in der Regel die Eltern, die ihrem Kind mitteilen, welche Emotion es gerade erlebt. Wenn ein Kind sich vor einem Fremden fürchtet, teilen ihm die Eltern mit, dass es
keine Angst zu haben braucht, beruhigen es, indem sie den Abstand zur Person vergrössern
oder das Kind hochnehmen, um ihm Sicherheit zu vermitteln. Sie geben ihm Zeit, um sich
an die Situation zu gewöhnen und die Angst langsam zu verlieren.
Wenn ein Kind sich lauthals ärgert, weil das Spiel zu Ende ist und das Zubettgehen bevorsteht, können die Eltern dieses Verhalten entsprechend als Ärger einordnen. Sie verstehen,
warum sich das Kind ärgert, und versuchen, es abzulenken und auf andere Gedanken zu
bringen, damit es sich beruhigt.
Die Eltern interpretieren also den Gesichtsausdruck des Kindes, sein Verhalten und die Situation, in der das Ganze stattgefunden hat als für das Kind ärgerliche Situation und geben
entsprechend Rückmeldungen bzw. bieten Methoden an, wie man mit diesen Gefühlen umgehen kann. Als Eltern sind sie natürlich gleichzeitig auch die wichtigsten Vorbilder im Umgang mit Gefühlen („Lernen am Modell“, Bandura, 1976).
Allerdings gibt es häufig Familiensituationen, in denen die Eltern selbst sehr belastet oder
psychisch beeinträchtigt sind und aus diesen Gründen nicht oder nicht angemessen auf
kindliche Gefühle eingehen. Das passiert bereits in „gesunden“ Familien häufig. Umso
schwieriger ist die Situation, wenn Eltern ein Kind mit einer intensiven Emotionalität erziehen. Hier reagieren die Eltern oder Bezugspersonen häufig mit Unverständnis.
Linehan (1996) benennt hierzu insbesondere drei Arten von Familienstrukturen, die bei einem Kind mit emotionaler Dysregulation zur Entwicklung einer Borderline-Symptomatik beitragen können. Dies sind:
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•
•
•
Die chaotische Familie mit emotionaler und physischer Vernachlässigung
Die perfekte Familie mit fehlender Toleranz von negativen Gefühlsäusserungen seitens
des Kindes
Die kontrollierende Familie, die das Verhalten des Kindes dergestalt formt, dass es
den Vorstellungen der Familie anstatt den kurz- und langfristigen Bedürfnissen des Kindes entspricht.
Wenn Eltern die Gefühle ihrer Kinder nicht mehr einordnen können, teilen sie ihnen verbal
oder nonverbal mit: „Ich verstehe nicht, warum du so reagierst. Ich habe keine Ahnung, was
in dir vorgeht.“ Sie erklären somit die Gefühle ihrer Kinder für ungültig, sie „invalidieren“ sie.
Beispiele für invalidierende Rückmeldungen an die Kinder (und später auch an die Erwachsene) gibt es viele:
•
•
•
•
„Reiss dich zusammen“
„Wage es ja nicht zu weinen“
„Du bist wieder einmal völlig hysterisch.“
„Du solltest mir eigentlich dankbar sein, dass ich dich unterstütze.“
Reaktionen dieser Art gibt es immer wieder in jeder Familie. Wenn jedoch Kinder eine sehr
starke emotionale Verletzlichkeit besitzen, deshalb häufig Schwierigkeiten in ihrer Gefühlsregulation haben, und dann auch noch sehr häufig Unverständnis für ihre Reaktionen ernten, kann dies nachhaltige Konsequenzen haben.
Am bedeutsamsten erscheinen hier nach Linehan (1996)
• Schwierigkeiten in der Benennung und Kontrolle von Gefühlen
• Defizite in der Fähigkeit, unangenehme Situationen zu ertragen und realistische Erwartungen aufzubauen
• Mangelndes Vertrauen in die eigenen emotionalen und kognitiven Reaktionen
• Entwicklung extremer Gefühlsäusserungen und Probleme als einzige Möglichkeit, eine
unterstützende Reaktion der Umwelt zu provozieren
Dies führt zu Instabilitäten auf kognitiver und Verhaltens-Ebene sowie in der Ich-Struktur
(Identität) und belastet die interpersonellen Beziehungen.
So kommt es, dass sich ein System von einer Interaktion zwischen einem etwas verletzbaren Kind und einer leicht invalidierenden Familie hin zu einer Interaktion zwischen sehr empfindlichen, verletzbaren und sich gegenseitig invalidierenden Personen entwickeln kann.
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6.4.2 Das neobehaviorale Entstehungsmodell
Neobehaviorale Störungsansätze beruhen auf drei Paradigmen: der Lerntheorie, der kognitiven Theorie und der Neurobiologie. Beck et al. (1993) stellen besonders starre und nicht
flexibel nutzbaren kognitiven Schemata auf der Basis einer gegebenen Vulnerabilität ins
Zentrum ihrer Erklärung der BPS.
Frühere Traumata
Neurobiologische Prädispositionen
Störung der
Affektregulation
(hohe Grundspannung)
(starke Auslenkung)
Hohe Dissoziationsneigung
Löschungsresistenz
Dysfunktionale Grundannahmen
inkompatible Schemata
Rückgriff auf dysfunktionale
Bewältigungsstrategien
(Selbstschädigung)
Abb.4. Das neurobehaviorale Entstehungsmodell (Bohus & Schmahl, 2001)
Das neurobehaviorale Entstehungsmodell ist ebenfalls ein integratives, auf dem DiatheseStress-Modell basierender Ansatz. Es postuliert, dass sich über ein Zusammenwirken von
neurobiologischen Faktoren mit psychosozialen Variablen dysfunktionale kognitivemotionale Schemata und Grundannahmen (z.B. „Ich bin ein schlechter Mensch“, verbunden mit Schuldgefühlen) entwickeln (s. Abb. 2 „Pathogenetische Wirkfaktoren der Entstehung von BPS“ nach Frauenknecht & Lieb, 2005).
Die Einflussgrössen frühere Traumata und neurobiologische Prädispositionen wirken verstärkend auf die Störung der Affektregulation (d.h. es tritt sehr schnell eine sehr heftige emotionale Reaktion auf, die nur langsam wieder abklingt, s. Kap. 4.5). Dies wiederum führt zu
einer hohen Dissoziationsneigung und beeinträchtigt das assoziative Lernen, sowie die
Verknüpfung neuer und alter Erfahrungen. Diese sog. „Störung des kontextabhängigen Lernens“ (Bohus, 2002, S. 15) führt dazu, dass widersprüchliche „dysfunktionale Grundannahmen“ erlernt und angewendet werden. Dies führt meist zu einer realitätsfernen, inadäquaten
Interpretation einer Situation (z.B. „Ich habe es verdient, dass sie mich so schlecht behanDiplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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deln.“) und einer ebenso inadäquaten Bewältigungsstrategie (z.B. Demonstration von Hilflosigkeit, Selbstverletzung, Fressanfälle, s. Kap. 4.5).
Die dysfunktionalen Problemlösestrategien erbringen zwar eine vorübergehende Linderung
des subjektiven Leidens, mittel- oder langfristig fördern sie jedoch die weitere psychische
Labilisierung (z.B. depressive Syndrome durch gestörtes Essverhalten, Rückzug von
Bezugspersonen wegen „Überlastung“ durch den Betroffenen). Frauenknecht und Lieb
(2005, S. 309) weisen zudem darauf hin: „Die dysfunktionalen Schemata und Muster
verhindern …, dass positive, adäquate Lernerfahrungen gemacht werden und frühere
traumatische Erlebnisse verarbeitet und relativiert werden können.“ Daraus entsteht ein
grundsätzliches Misstrauen gegenüber anderen Menschen, und die Welt wird als bedrohlich
und unberechenbar taxiert.
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7.
Ausgewählte resp. gängige Therapiekonzepte
Therapieansätze zur BPS gibt es zahlreiche. Wir beschränken uns im Folgenden auf
diejenigen, die aufgrund langjährigen Erfahrungen und Studien wichtige therapierelevante
Erkenntnisse liefern, auf einem Ätiologiekonzept aufbauen und für das Therapiekonzept IKP
von besonderer Relevanz sein können. Darunter fallen die „Übertragungsfokussierte
Therapie TFP“ aus der psychoanalytischen Therapierichtung mit besonderer
Berücksichtigung des psychodynamischen Vorgehens und die verhaltenstheraputisch
ausgerichtete „Dialektisch-Behaviorale Therapie DBT“ mit ihrer durchdachten und bereits
sehr gut ausformulierten Therapiekonzeption. Von besonderem Interesse war die Suche
nach BPS-Therapiekonzepten der Körperpsychotherapie. Aber auch die „Psychodynamisch
imaginative Traumatherapie PITT“ der BPS liefert wertvolle Konzeptideen für die BPSBehandlung.
7.1.
Psychoanalyse: Übertragungsfokussiertes Therapiekonzept TFP
7.1.1 Theoretischer Hintergrund und Therapiesetting
Die Übertragungsfokussierte Psychodynamische Psychotherapie (engl. TransferenceFocused-Psychotherapy, TFP) stellt basierend auf dem objektbeziehungstheoretischen
Verständnis der Persönlichkeitsstörungen von Otto F. Kernberg ein manualisiertes
störungsspezifisches Behandlungskonzept dar. Ein erstes Behandlungskonzept erschien
1989 (Kernberg, Selzer, Koenigsberg, Carr & Applebaum, 1989). Zum Indikationsgebiet der
TFP gehören gemäss Kernbergs Konzeption nicht ausschliesslich „emotional instabile
Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typus“, sondern auch Schizoide PS,
Schizotypische PS, Paranoide PS, Histrionische PS, Narzisstische PS, Antisoziale und
Abhängige PS (s. Kernberg-Modell, Kap. 4.1)
Der TFP-Therapieansatz hat sich in einem langjährigen wissenschaftlichen und klinischtherapeutischen Prozess entwickelt. Er arbeitet mit den psychoanalytischen Techniken der
Klärung, Konfrontation und Deutung unbewusster biografischer Objektbeziehungen, die sich
in der Übertragung und Gegenübertragung der therapeutischen Beziehung im Hier und Jetzt
manifestieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Affekte früherer internalisierter
Beziehungsmuster gespeichert sind und symbolisch immer wieder hergestellt werden und
als aktuelle Realität erlebt werden. Der Therapeut stellt sich somit als Übertragungsobjekt
zur Verfügung, damit die vom Patienten abgespaltenen Selbstanteile (Wut,
Selbstaggression) im Setting reinszeniert und von ihm als solche erkannt werden können.
Das Fokussieren auf die Übertragung verlangt vom Therapeuten, sich konstant zu fragen:
•
•
Warum sagt der Patient mir das zu eben diesem Zeitpunkt?
Und was macht der Patient gerade mit mir?
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Um sich diesen Fragen zuzuwenden, muss er seine Gegenübertragung, das heisst seine
eigenen inneren Reaktionen auf den Patienten, ebenso wie die primitiven
Abwehrmechanismen mitberücksichtigen.
Bewusstmachen und Erkennen der getrennten Selbst-Objekt-Dyaden ermöglicht nach TFPAnsicht das Aufsteigen in eine höhere funktionelle Stufe. Das heisst im Mittelpunkt der
Therapiearbeit steht die Beziehungsstörung des Patienten mit dem Ziel, über Analyse der
Übertragung und einem anschliessenden Erkenntnisprozess des Patienten dessen
strukturelle Ich-Schwäche zu korrigieren. Der TFP-Therapieansatz wendet hiermit im
Gegensatz zur Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) (s. Kap. 7.2) keine supportiven
Elemente (Ratschläge geben, Ermutigen) an.
Das TFP-Verfahren ist hauptsächlich für Einzelbehandlungen im ambulanten Bereich
konzipiert worden, kann aber auch als Methode im stationären Setting angewandt werden
(Martius, Merod & Lettner, 2003). Da das Konzept aber gewisse Ansprüche an den Grad der
Selbsterfahrung und den tiefenpsychologischen Kenntnisstand stellt, kann es nicht ohne
weiteres wie bei der DBT (s. Bohus, 2002) auf allen therapeutischen Ebenen eingesetzt
werden.
Auch wurde 1998 von Kernberg ein gruppentherapeutisches Konzept entwickelt. Dessen
Anwendungserfahrungen zeigen, dass sich im Gruppenprozess die inszenierten und
abgewehrten Objekt-Beziehungs-Dyaden offensichtlich gut benennen und vermitteln lassen,
und dass ein reflexiver Prozess in der Borderline-Gruppe so in Gang gesetzt werden kann
(siehe Unterschied zu DBT).
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7.1.2 Die 3 Säulen der Therapieprinzipien
Die TFP zeichnet sich dadurch aus, dass sie in Form eines lern- und lehrbaren Manuals
aufgebaut ist, das insbesondere auch die schwierige Anfangsphase der Therapie und
Krisensituationen berücksichtigt. Dieses Manual sieht (wie auch die DBT) ein hierarchisches
Vorgehen vor, insbesondere in Bezug auf. therapiegefährdendes Verhalten – will aber nicht
als eine starre Anleitung „von Stunde zu Stunde“ verstanden werden, sondern beschreibt die
wesentlichen Prinzipien des Verfahrens. Ziel ist es, die Basiselemente der TFP für die
gesamte Behandlung, die einzelnen Therapiestunden und Interventionen flexibel und doch
konsequent zu gestalten.
Die TFP basiert auf drei grundlegenden Elementen/Säulen, die als „roter Faden“ der TFP
gelten:
Tab. 8. Die drei Säulen der TFP
Elemente/Säulen der TFP
Bezieht sich auf:
Inhalt
Strategische Prinzipien
gesamte Therapie
Ziel 1:
Ziel 2:
Ziel 3:
Ziel 4:
Definition der dominierenden
Objektbeziehung
Beobachten/Deuten der Rollenwechsel
des Patienten
Beobachten/Deuten von Verbindungen
zw. Objektbeziehungen
Integrieren der gespaltenen Teilobjekte
Taktisches Vorgehen
einzelne Sitzung
1. Auswahl eines Hauptthemas unter
Berücksichtigung von Notfällen (Suizid,
Fremdgefährdung)
2. Schutz des therapeutischen Rahmens
3. Technische Neutralität des Therapeuten
4. Intervenieren auf Grundlage einer
gemeinsamen geteilten Realität
5. Analyse ausgeprägter negativer (entwertender)
und positiver (idealisierender) Aspekte der
Übertragung
6. Systematische Analyse unreifer
Abwehrmechanismen in der Übertragung
7. Kontinuierliche Beachtung der
Gegenübertragung und Integration der
Erkenntnisse in den Deutungen
Interventionstechniken
therapeutischen
Moment
1. Klärung
2. Konfrontation
3. Deutung
Vgl. Dammann, G., Buchheim, P., Clarkin, J.F. & Kernberg, O.F. (2001), Martius (2005)
Strategische Prinzipien
Um die dominierenden Objektbeziehungsmuster erkennen zu können, versucht der TFPTherapeut das oft verwirrende und verworrene Informationsmaterial des BorderlinePatienten von Gefühlen, Wünschen, Befürchtungen zu sammeln, um das Auftreten von
„Rollen“ besser zu verstehen. Die mit dem Auftauchen von intensiven Affekten schnell
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wechselnden Rollen der Borderline-Patienten (von Opfer zu Täter, von der wehrlosen zur
aggressiven Person, von der idealisierenden zur entwertenden Person) führen den
Therapeuten zu den inneren Repräsentanten und dominierenden Objektbeziehungen des
Patienten. Sobald die „Rollen“ ausreichend klar sind, versucht er diese so zu benennen,
damit der Patient die Verbindung zwischen seinen Affekten und den beteiligten Selbst- und
Objektbeziehungen kennenlernt. Zum Beispiel: „Als Sie mir gerade beschrieben haben, dass
Sie so unter Druck waren, dass nur das Schneiden Ihnen helfen konnte, fiel mir auf, dass
Sie gleichzeitig gelächelt haben. Wie erklären Sie sich das?“
Die Reaktionen des Patienten darauf sind für den Therapeuten für das weitere Vorgehen
und die Interaktion entscheidend. Eine Abwehr/Leugnung von unterschiedlichen Rollen kann
zu einer weiteren Verstärkung führen, während die Einsicht in abgespaltene Teile der
Psyche eine „gemeinsame Realität“ zwischen Therapeut und Patient erschafft und die
Integration abgespaltener Teile möglich macht.
Die Integration von dissoziierten positiven und negativen Sichtweisen von sich und anderen
erfolgt während der Therapie durch die ständige Aufdeckung dieser Aspekte im Hier und
Jetzt. Das Zusammenbringen von „nur guten“ und „nur bösen“ Seiten braucht zunächst
Monate, später nur noch Wochen und Tage. Der Erkennensprozess beim Patienten kann
gemäss TFP also nur in der realen Beziehung zum Therapeuten erfolgen.
Das stellt für den Therapeuten eine hohe Herausforderung dar, weil an ihm
Übertragungsprozesse ablaufen, die wiederum eine Gefahr von Gegenübertragungen in
sich bergen. Deshalb sind regelmässige (wöchentliche bis 14-tägliche) Supervisionen in der
Gruppe für den Therapeuten ein Muss. Die Supervision wird von einem mit dem Verfahren
vertrauten Psychoanalytiker geleitet, ist aber durchaus auch eine Art Intervision, da die
meisten Teilnehmenden klinisch erfahren sind. Für die Supervision werden in der Regel
Video- oder Tonbandaufnahmen der Sitzungen mit den jeweiligen Patienten verwendet.
Taktisches Vorgehen
Die sieben Regeln zum taktischen Vorgehen der TFP-Behandlung sollen den Therapeuten
darin unterstützen, seine Interventionen innerhalb einer Therapiesitzung zu strukturieren und
zielorientiert anzuwenden. In erster Linie soll die Haltung des Therapeuten von der
Aufmerksamkeit geprägt sein, welche Abweichungen von einer „normalen“
zwischenmenschlichen Interaktion zwischen ihm und dem Patienten vorliegen und welche
Ursachen dies in der Objektbeziehungswelt des Patienten haben könnte. Obwohl sich das
Vorgehen eindeutig an die psychoanalytische Behandlungsmethode orientiert, verändert sie
diese (anlehnend an andere Konzepte, wie z.B. die DBT) aber in einigen Punkten. Dies gilt
für
1. die Festlegung der Themen, die vorrangig behandelt werden müssen
2. das Setzen von Grenzen gegenüber Verhaltensweisen des Patienten (bei neurotischen
Patienten häufig nicht nötig)
3. den Umgang mit der technischen Neutralität (im Setting und des Therapeuten)
Bezüglich der Themen, die bearbeitet werden, gibt es eine Prioritätenliste, unter der zu
finden ist:
• Suizid- und Morddrohungen
• Gefährdungen für eine Fortsetzung der Therapie (finanzielle Schwierigkeiten, Wünsche,
Sitzungsfrequenz zu reduzieren)
• Unehrlichkeit oder absichtliches Verschweigen von Informationen
• Verletzungen des Therapievertrages (z.B. Anrufe gegen Absprachen)
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•
•
•
Agieren während den Sitzungen (Sachbeschädigung in der Praxis, Schreien und
Wutausbrüche)
Agieren zwischen den Therapiesitzungen (manipulative Notfallsituationen)
Ausweichen auf emotional nicht bedeutsame oder triviale Themen
Alle anderen Themen können erst vertieft werden, wenn bezüglich obiger Punkte Klarheit
herrscht. Dies wird mit dem Patient besprochen und vereinbart.
Grundsätzlich bestimmt der Patient die Tagesordnung. Davon kann aber dann abgewichen
werden, wenn dysfunktionale Verhaltensweisen die Therapie gefährden. Zeigt sich, dass der
Patient die Vereinbarungen nicht einhält, werden die Gründe dafür geklärt (z.B Unehrlichkeit
wegen Therapieabwehr usw.). Je nachdem folgen (vorher besprochene) Sanktionen, eine
Vertragsänderung oder ein Therapieabbruch verbunden mit dem Vorschlag einer anderen
Behandlung.
Die therapeutische Haltung der Neutralität ist ein kontroverses Thema. Bei BorderlinePatienten scheint es uns schwierig, das Verständnis für die positiven und negativen Seiten
zu wahren. Insbesondere aggressive und feindselige Verhaltensweisen des Patienten
können den Therapeuten darin fordern, gleichzeitig Verständnis für das Auftreten und die
Ursachen zeigen und eventuell auch strikte Grenzsetzungen in der Therapie vornehmen zu
müssen.
Interventionen
Die Techniken des Verfahrens beinhalten die technisch neutralen psychoanalytischen
Prinzipien der Klärung, Konfrontation und Deutung.
•
•
•
Die Klärung hilft festzustellen, wie weit der Patient die Dinge, über die er spricht, selbst
verstehen kann und auch differenzieren lernt. Ein Beispiel ist: „Was meinen Sie damit,
wenn Sie sagen, dass sie eine „ganz normale Erziehung“ hatten?“
Bei der Konfrontation wird Widersprüchliches und Konflikthaftes taktvoll dem Patienten
mitgeteilt, damit er Diskrepanzen zwischen den drei in der TFP genutzten
Kommunikationskanälen (verbalen, nonverbalen und Übertragung/ Gegenübertragung)
erfahren kann.
Die Deutung erfolgt im Hier und Jetzt und ist vorwiegend auf die Therapeuten-PatientenBeziehung ausgerichtet Sie dient dem Bewusstmachen von noch unbewusst wirksamen
Objektbeziehungen. Sie sollen vom Therapeuten klar formuliert sein, rasch erfolgen und
angemessen mitgeteilt werden.
7.1.3 Therapieverlauf und Therapiephasen
TFP als eine mehrjährige Therapie geht wie die meisten therapeutischen Behandlungen
davon aus, dass sich die Therapie in eine Anfangs-, eine mittlere und eine Abschlussphase
einteilen lässt. Diese drei Phasen sind dabei weniger strikt zeitlich begrenzt als vielmehr
durch ein Vorherrschen spezifischer Themen und Vorgehensweisen bestimmt.
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Entscheidender Pfeiler für die TFP-Therapie ist hingegen die Vorphase vor eigentlichem
Therapiebeginn.
Darin
werden
nebst
diagnostischen
Abklärungen
die
Therapievertragsvereinbarungen definiert, mit denen der Patient einverstanden sein muss.
TFP unterschiedet also:
• Vorphase: Diagnostik und Therapievertrag
• Frühe Therapiephase
• Mittlere Therapiephase
• Schlussphase der Behandlung
Vorphase: Diagnostik und Therapievertrag
Eine Besonderheit der TFP – wie schon erwähnt – ist die Vorphase der Behandlung. In der
sorgfältigen Diagnostik werden nebst der ICD10- und/oder DSM-lV-Klassifikation zusätzlich
die Untersuchung der psychodynamischen Struktur des Patienten mit Hilfe des „strukturellen
Interviews“ (Kernberg, 1981) vorgenommen. Es nimmt eine Mittelstellung zwischen einem
psychiatrischen Interview und einem psychoanalytisch-psychodynamischen Erstinterview
ein (Buchheim, Cierpka, Kächele & Jimenez, 1987). Im Laufe der Zeit wurde es zum
„Structured Interview of Personality Organization“ (STIPO) von Clarkin (2003, zit. nach
Buchheim, Kernberg, Clarkin, Yeomans & Doering, 2006) weiterentwickelt. Die Beurteilung
der Persönlichkeit erstreckt sich in diesem Interview mit 100 Einzelitems auf 7 Dimensionen:
•
•
•
•
•
•
•
Identität: Engagement, Selbstwahrnehmung, Objektwahrnehmung
Objektbeziehungen: zwischenmenschliche Beziehungen, Partnerschaften und
Sexualität, inneres Arbeitsmodell von Beziehungen
Primitive Abwehr
Coping/Rigidität
Aggression: selbstgerichtete Aggression, fremdgerichtete Aggression
Wertvorstellungen
Realitätsprüfung, Wahrnehmungsverzerrungen
Ein weiterer Schwerpunkt des Interesses liegt auf früheren Episoden oder Phasen von
Suizidalität oder selbstschädigendem Verhalten, sowie auf Gründen des Scheiterns früherer
Behandlungen. Informationen münden in den Therapievertrag, der über 1- 5 Sitzungen
hinweg vor dem Therapiebeginn verhandelt wird und die Rechten und Pflichten von Patient
und Therapeut festlegt. Dieser muss nicht schriftlich fixiert werden; es genügt, wenn beide
Seiten (Therapeut und Patient) über Verantwortlichkeiten und mögliche Konsequenzen bei
Nichteinhalten Bescheid wissen.
Tab. 9. Reziproke Verantwortlichkeit von Patient und Therapeut in TFP aus: Clarkin,
Yeomans & Kernberg, 2001b)
Die Verantwortlichkeiten des Patienten sind:
• Erscheinen zu den Sitzungen und Mitarbeit in der Therapie
• Klare finanzielle Regelung
• Bemühen, Gedanken und Gefühle frei und ohne Einschränkungen mitzuteilen
Die Verantwortlichkeiten des Therapeuten sind:
• Einhalten der vereinbarten Termine (bei Ausfällen Ersatztermin anbieten,
Telefonregelungen)
• Dem Patienten helfen, sich selbst und tiefere Anteile seiner Persönlichkeit und seiner
Probleme zu verstehen
• Klären der Grenzen seines therapeutischen Engagements
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Die Therapievereinbarungen haben aber auch weitere Funktionen:
•
•
•
•
•
•
•
•
Sie prüfen die Motivation, Fähigkeit und Bereitschaft von Patient und Therapeut,
sich auf eine länger dauernde intensive Therapie einzulassen
Aufzeigen von Einschränkungen (soziale Probleme, Suchtverhalten, sexuelle
Dysfunktionen)
Richtigstellen von Erwartungen und Möglichkeiten in der Therapie
Einblick in das psychodynamische Geschehen des Patienten, was die Einschätzung
für mögliche Schwierigkeiten im Übertragungsprozess erleichtert
Minimierung des sekundären Krankheitsgewinns des Patienten, um den
Widerstand deutlicher zu machen
Kanalisierung des Therapieablaufs gibt dem Therapeuten gewissen Schutz und
Sicherheit
Vorgehen bei Krisenfällen besprechen
Möglichkeiten werden eröffnet, zusätzlich notwendige Elemente in die Therapie
einzubauen wie Selbsthilfegruppe, Zusatztherapie z.B. bei Alkoholmissbrauch,
Essstörungen, Drogenscreening, Gewichtskontrollen etc.
Die Therapievereinbarungen enthalten somit allgemeine aber auch individuelle Elemente.
Aus ihnen resultiert der Entscheid, ob die Therapie zustande kommt oder nicht. Wichtig ist
hier zu erwähnen, dass bei der TFP sowohl Patient wie auch Therapeut sich auf die
Therapie einlassen können. Dazu muss der Therapeut seinen persönlichen Widerständen
nachgehen und seine volle Zustimmung zur Therapie geben.
Vertragsbrüche, die in häufigen Fällen vom Patienten angekündigt werden, werden bei der
TFP sofort gedeutet. Denn Übertragung ist gemäss TFP immer reale Vergangenheit,
imaginäre Vergangenheit und Abwehr von beidem. Kommt es zu einem Vertragsbruch, so
erfolgt zunächst eine detaillierte Analyse der Situation, die dazu geführt hat.
Gegen den doch sehr detaillierten Therapievertrag lässt sich der Einwand von mangelnder
Zieloffenheit im Therapieablauf einbringen. Wird der Patient durch die Therapievereinbarung
nicht zu sehr durch Reglementierungen über das, was in der Therapie geschehen darf oder
nicht, eingeschränkt? Die TFP hält hier entgegen, dass Patient und Therapeut gemeinsam
die Spielregeln bestimmen, und dass Vertragsveränderungen bei Eintreten gewisser
Ereignisse immer wieder vorgenommen werden könnten.
Leider vergisst man häufig, dass der Patient in einer psychischen Notlage zur Therapie
kommt. Da er Hilfe braucht, wird er den Vereinbarungen erstmals zustimmen. Andererseits
zeigen eigene Erfahrungen, dass gewisse Punkte vor dem Therapiebeginn bei BorderlinePatienten (anders als bei neurotischen Personen) unbedingt geklärt werden müssen.
Welche Abklärungen uns im Rahmen des IKP-Ansatzes als wichtig erscheinen, wird im
Kapitel 9 näher erläutert.
Frühe Therapiephase
Nach der Kontraktphase wird sich die Behandlung am Anfang auf die Beachtung der für den
Patienten typischen Problembereiche konzentrieren, d.h. auf die mit negativen Affekten
beladenen Themen und Interaktionen, die zwischen Therapeut und Patient auftauchen.
Durch Klärung vager Informationen und Konfrontation von Widersprüchlichem werden die
Deutungen vorbereitet. Ziel dieser Phase ist die borderline-spezifischen Symptome zu
reduzieren. Die Abnahme von Angst, Depression, Suizidalität, von impulsivem und
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selbstschädigendem Verhalten sind positive Veränderungen, die aus der ersten Phase
resultieren sollten.
Mittlere Therapiephase
Die mittlere Therapiephase beginnt nach der TFP dann, wenn das turbulente Ausagieren
des Beginns seltener wird.
Sie dient dazu, die dominierenden Übertragungsbeziehungen weiter zu analysieren und
ihren unbewussten Gehalt deutlicher herauszuarbeiten. Konflikte und Affekte, die aufgrund
von früheren Misshandlungen und Missbrauch um primitiven Hass und Neid kreisen,
nehmen in dieser Therapiephase zu und werden nun mit dem Borderline-Patienten dyadisch
bearbeitet. Aufgrund ihres theoretischen Konzeptes bietet die TFP auch für diese besondere
Interventionen an.
Veränderungen in der mittleren Phase zeigen sich in den folgenden Bereichen:
• Therapieausbrüche sind kein Thema mehr
• Verstehen der hauptsächlichen Übertragungsmuster
• Ängste und Depression können in der Therapiesitzung durch Deutung aufgelöst werden
• Selbstdestruktives Verhalten ausserhalb der Therapie persistiert
• Das Selbstkonzept wird klarer
Schlussphase der Behandlung
Durch vermehrt eingesetzte Deutungen soll eine Stabilisierung der Affekte und ihre
adäquate Regulierung in zwischenmenschlichen Beziehungen erreicht werden, weiterhin
eine Verbesserung der Reflexionstätigkeit und der Konfliktfähigkeit. Die TFP-Behandlung
wird zunehmend einer psychoanalytisch orientierten Therapie gleichen. D.h. der Therapeut
muss weniger aktiv sein und die Schweigepausen können vom Patienten aufgrund der
grösseren Ich-Stärke besser akzeptiert werden. Veränderungen in dieser Phase sollten sich
in folgenden Merkmalen zeigen:
•
•
•
•
•
•
Vertiefte affektive Beziehung des Patienten zum Therapeuten
Integration und Reifung der affektiven Reaktionen
Integration von abgespaltenen Objektbeziehungen
Aufrechterhaltung von Beziehungen
Neue Interessengebiete und Verpflichtungen
Fähigkeit zu Selbstreflexion über gegenwärtige und vergangene Erlebnisse
Ein günstiger Zeitpunkt für die Beendigung der Therapie sieht die TFP, wenn es zu einer
Auflösung der Symptome, zu einem signifikanten Persönlichkeitswandel und zum Erreichen
der Therapieziele gekommen ist.
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7.1.4 Wirksamkeitsüberprüfung
Bisher wurden mehrere Studie hinsichtlich Behandlungserfolgs der psychodynamischen
Verfahren und der TFP durchgeführt. Die Wirksamkeit der Behandlungstechnik wurde für
das ambulante Setting nachgewiesen (Clarkin et al., 2001a) und auch im stationären
Rahmen wurden erste positive Effekte festgestellt (Martius, Merod & Lettner, 2003).
Die neuste und interessanteste Vergleichsstudie wurde von Clarkin, Levy, Lenzenweger und
Kernberg (2004) durchgeführt, in welcher die Wirksamkeit von TFP mit einem aktiven
kognitiv-behavioralen Verfahren (DBT) und einer supportiven Psychotherapie geprüft wurde.
Insgesamt zeigen bisherige Daten, dass die TFP eine wirksame Behandlung darstellt.
Dazu ein Zitat von Buchheim et al. (2006):
Vorläufige Analysen konnten nach Abschluss der 12-monatigen Behandlung
in den 3 Therapiearmen mit je 30 Patienten bereits an einigen für den
Therapieprozess und für Veränderungsmechanismen relevanten Daten zu
„Attachment“, „Coherence“ und Insgesamt zeigen bisherige Daten, dass TFP
eine wirksame Behandlung für „Reflective Function“ (RF) durchgeführt
werden (Levy u. Clarkin, im Druck). Während sie die Masse für „Attachment“
und für „Coherence“ in allen 3 Gruppen signifikant besserten, nahm nur in der
TFP-Gruppe die Fähigkeit zur „Reflective Function (RF) auffallend signifikant
zu – ein Befund, der auf eine Verbesserung des Strukturniveaus der
Borderline-Persönlichkeitsorganisation BPO hinweist.“ (S. 238)
Diese Ergebnisse ermöglichen einen Brückenschlag zu den Erkenntnissen von gehemmten/blockierten Reflexionsfähigkeiten bei Borderline-Patienten als Folge von emotional unzureichender Bindungerfahrung in der Kindheit (siehe Kapitel 6.3.). Offenbar zeigt die TFPMethode v.a. auf kognitiver Ebene ihre Wirksamkeit bei der Behandlung von BPS.
Allerdings muss an dieser Stelle aber auch auf die Einschränkungen der TFP-Anwendung
verwiesen werden (Dammann, Buchheim, Clarkin & Kernberg, 2001b):
• Die TFP-Therapie erfordert eine gewisse Intelligenz, aber auch eine gute kognitive Auffassungsgabe. Nur dann können die z.T. komplexen Deutungen aufgefasst werden.
Suchtmittelfreiheit (von Alkohol, Benzodiazepinen, illegalen Drogen) ist deshalb Bedingung. Zahlreiche BPS-Patienten können diese Anforderungen nicht erfüllen.
• Einige BPS-Patienten weisen z.T. so starke antisoziale oder narzisstische Züge auf,
dass sie auch durch Deutungen nicht in der Lage sind, ihre Regression, ihre Projektionen und Externalisierungen aufzugeben. Das verunmöglicht einen Perspektivenwechsel.
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7.2
Verhaltenstherapie: Dialektisch-Behaviorale Therapie DBT
7.2.1 Allgemeine Aspekte der DBT-Therapie und Therapiesetting
Wie bereits im Kap. 6.4.1 erläutert, liegt der DBT das Diathese-Stress-Modell zugrunde, das
die BPS durch ein Zusammenwirken früher Traumatisierung, Vernachlässigung und einer
neurobiologischen Disposition (Störung der Affektregulation) erklärt.
Bei der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) der BPS handelt es sich um eine Therapieform, die seit mehr als 10 Jahren von Marsha Linehan auf der Basis der Verhaltenstherapie
entwickelt wird. Linehan hat vor allem mit chronisch selbstverletzenden und/oder suizidalen
Patienten gearbeitet. In ihrem Manual ergänzt sie die kognitive Verhaltenstherapie um Elemente aus humanistischen Therapieverfahren und Hypnotherapie. Die Therapie wird von
einer Lebenseinstellung getragen, die dem Zen-Buddhismus entlehnt ist.
Entgegen dem TFP-Ansatz (und anderen Therapieansätzen) geht Linehan nicht davon aus,
dass eine Verbesserung der Lebensqualität bei Borderlinern ausschliesslich über eine Veränderung der Persönlichkeitsstruktur erreicht werden kann.
Sie unternimmt mit dem DBT-Ansatz einen doppelten Perspektivenwechsel:
1. Für Linehan (1996) ist eine Veränderung nur möglich, wenn das aktuelle Verhalten als
sinnhaft für den Patienten gewürdigt wird und dies dem Patienten auch mitgeteilt wird
(Akzeptanzprinzip).
2. Eine Verbesserung der Lebensqualität hat zum Ziel, zu erfolgreichen Veränderungsversuchen zu motivieren und nicht die Ich-Struktur des Patienten zu verändern. Obwohl aus
mulitfaktorieller Sicht anzunehmen ist, dass bei positiven Therapieresultaten sich auch
diese
mitverändert.
Am Beispiel der Suizidalität heisst dies, dass nicht die Haltung „Wäre mein Leben lebenswert, müsste ich nicht an Selbstmord denken“, sondern „erst, wenn Selbstmord
nicht mehr eine Antwort auf Krisen ist, kann ich weitreichendere Veränderung erzielen“
die Intervention bestimmt.
Die DBT wurde als ambulante Therapieform entwickelt, ist aber unterdessen auch in der
stationären Anwendung mit einer angepassten Konzeptänderung – auch in der Schweiz,
z.B. in den Psychiatrischen Kliniken Littenheid, Meisenberg und Kilchberg - sehr beliebt.
Nicht zuletzt deshalb, weil Untersuchungen eine deutliche Reduzierung in Bezug auf Hospitalisierungsdauer im Vergleich zu anderen Standardtherapien nachgewiesen hat (weiteres in
Kap. 7.2.5. Wirksamkeitsüberprüfung).
Ausser der Bereitschaft an der Therapie teilzunehmen, müssen die Patienten keine Voraussetzungen erfüllen. Kontraindikationen sind bislang keine bekannt.
Das Therapiekonzept ist nicht linear organisiert, sondern orientiert sich an Prinzipien und
Regeln. „Während die meisten Manuale zur störungsspezifischen Behandlung von monosymptomatischen Störungsbildern, wie etwa von Zwangsstörungen oder Panikstörungen,
die Reihenfolge und Inhalte der jeweiligen Sitzungen vorgeben, orientiert sich die DBT an
den Verhaltensmustern, welche die Patientin zeigt, und strukturiert die jeweiligen Inhalte und
Methoden an Hand von Entscheidungsregeln“ (Bohus, 2002, S. 18). Obwohl die DBT auch
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manualisierte Therapiemanuale herbeizieht, besteht eher ein freieres modales Vorgehen,
das dem Therapeuten erlaubt, bedarfsgerecht Methoden, wie z.B. Expositionsverfahren,
kognitive Umstrukturierung oder Problemlösen, anzuwenden.
Die DBT besteht im wesentlichen aus den vier Therapiebausteinen Einzeltherapie, Fertigkeitstraining in der Gruppe, Telefonkontakt im Notfall und regelmässige Intervision bzw. Supervision des Therapeuten. Die Behandlung findet in einer gleichzeitigen Anwendung von
ambulanter Einzel- und Gruppentherapie statt.
Tab.10. Strukturelemente der DBT nach Linehan (1996)
1. Ambulante Psychotherapie in Einzelsitzungen
- Dauer: zunächst 1 Jahr (verlängerbar)
- Frequenz: 1-2x wöchentlich (bis zu 2 Std.)
- nach 4 versäumten Sitzungen in Folge: Abbruch
2. Fertigkeitstraining in Gruppensitzungen
- Voraussetzung: Einzeltherapie
- Dauer: 1 Jahr
- Frequenz: 1x wöchentlich à 2-2½ Stunden
3. Unterstützende Gruppentherapie im Anschluss an
absolviertes Fertigkeitstraining
- offene Gruppen, fakultativ
- bei Weiterführung der Einzeltherapie über 1 Jahr
4. Telefonische Beratungen und Konsultationen
- gemäss Therapievertrag (auch Internet/E-mail)
- nie innerhalb 24 Std. nach selbstschädigendem
Verhalten oder Suizidversuch
5. Fallsupervisionssitzungen des Therapeuten
- obligatorisch 1x wöchentlich
- gesamtes DBT-Team (Therapeut, Ärzte, Pflegepersonal, Sozialarbeiter)
6. Unterstützende Behandlungen
- Selbsthilfegruppen/Sozialrehabilitation
- medikamentöse Behandlungen
Einzeltherapie
In der Einzeltherapie werden die Problembereiche hierarchisch im Sinne der Dringlichkeit
geordnet. An oberster Stelle stehen suizidales und parasuizidales Verhalten, gefolgt von
therapiegefährdendem Verhalten, Beeinträchtigungen der Lebensqualität und der Verbesserung von Verhaltenfertigkeiten. Die Problemfelder werden in dieser Reihenfolge bearbeitet.
Wenn notwendig, wird sofort auf eine höhere Ebene zurückgegangen.
Der Einzeltherapeut versucht eine Balance zwischen Validierungs- (Verstehen und Wertschätzen des Problems) und Veränderungsstrategien (=“dialektische Strategie“, Linehan,
1996). Grundlage ist eine tragfähige therapeutische Beziehung.
Die Patienten führen eine Tagebuchkarte, in die Medikamenteneinnahme, Spannungszustände, Drogenkonsum und dysfunktionale Verhaltensweisen einzutragen sind.
Durch Verhaltensanalysen sollen die Betroffenen Einsicht in den Spannungsaufbau erhalten
und lernen, das im Fertigkeitstraining Gelernte in Handlungspläne einzubauen. Nach selbstverletzendem Verhalten oder Suizidversuchen werden die Patienten gebeten, solche Analysen selbst anzufertigen.
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Voraussetzung für die eventuelle Bearbeitung eines Traumas in einem zweiten Therapieabschnitt ist, dass die Patienten gelernt haben, emotionale Krisen, Spannungszustände und
Dissoziationen selbst durch die gelernten Fertigkeiten zu regulieren. Die Traumabearbeitung
ist in der DBT selbst bisher wenig ausgearbeitet.
Fertigkeitstraining in der Gruppe
„Das Fertigkeitstraining ist der Ton, aus dem Einzeltherapeut und Patient eine Figur modellieren können“ (Linehan, 1996). Damit ist gemeint, dass die in der Gruppe gelernten Fertigkeiten in der Einzeltherapie in die erarbeiteten Verhaltensanalysen und Handlungspläne
eingebaut und zu einem sinnvollen Ganzen verbunden werden.
Die Gruppe wird meist von zwei Therapeuten geleitet. Das Fertigkeitstraining hat WorkshopCharakter, Gruppendynamik wird nur soweit, wie notwendig, thematisiert. Der Schwerpunkt
liegt auf dem Lernen und Einüben von Fertigkeiten. Interaktionelle Probleme werden DBTmässig durch das Anwenden von Fertigkeiten gelöst. Kritik und Anregungen seitens der
Teilnehmenden sind ausdrücklich erwünscht; eine experimentell-partnerschaftliche Atmosphäre soll entstehen (Bohus & Höschel, 1996).
Das Fertigkeitstraining erstreckt sich üblicherweise über den Ablauf eines Jahres mit wöchentlichem Setting von ca. 90 Minuten und besteht aus vier Modulen:
1.
2.
3.
4.
Innere Achtsamkeit
Zwischenmenschliche Fertigkeiten
Umgang mit Gefühlen
Stresstoleranz
Für jedes Modul sollten etwa 8 Sitzungen veranschlagt werden (Bohus, 2002). Etliche stationäre Institutionen erhöhen die Zahl bis zu 12 Sitzungen
Im Modul „Innere Achtsamkeit“ lernen die Patienten die Skills „Wahrnehmen“, „Beschreiben“, „Teilnehmen“, sowie ein nicht bewertendes, konzentriertes und wirkungsvolles Denken
und Handeln. Hier sind unschwer die Einflüsse des Zen zu entdecken. Ziel ist, Bewusstheit
im Alltag zu erreichen und mehr Steuerungsmöglichkeiten über sich selbst zu bekommen.
Teilnahme und Distanz, Gefühl und Verstand sollen miteinander in Einklang gebracht werden.
Im Modul „Zwischenmenschliche Fertigkeiten“ werden die Basis-Skills „Orientieren auf
ein Ziel“, „Orientierung auf die Selbstachtung“ und die „Orientierung auf die Beziehung“ vermittelt. Faktoren, die die soziale Kompetenz beeinträchtigen und solche, die sie fördern,
werden identifiziert. Förderliche Selbstaussagen werden erarbeitet. Ziel ist, dass die Patienten auf eigenen Wünschen, Zielen und Meinungen bestehen können und dabei sowohl von
anderen Menschen respektiert werden, als auch die eigene Selbstachtung aufrechterhalten.
Im Programmteil „Umgang mit Gefühlen“ wird vermittelt, dass Gefühle (auch solche, die
als angenehm erlebt werden) eine Funktion und eine Bedeutung haben. Fertigkeiten wie:
Beobachten, Beschreiben, Verstehen von Gefühlen, Verwundbarkeit verringern, Schritte in
Richtung angenehmer Gefühle, emotionales Leiden loslassen und dem Gefühl entgegengesetzt handeln, werden besprochen und geübt. Dies dient dazu, die Gefühle in ihren Bedeutungen und Auswirkungen verstehen und akzeptieren zu lernen. Das Vertrauen in die eigene
Gefühlswelt soll erhöht werden.
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Im Stresstoleranzmodul lernen Borderline-PatientenInnen neue Überlebensstrategien, um
Krisen auszuhalten und Spannung zu reduzieren. Angewandte Techniken sind:
•
•
•
•
•
•
Sich durch starke sensorische Reize ablenken (z.B. Eiswürfel, Chili)
Pro und Contra-Abwägungen (welche Argumente sprechen für selbstverletzendes Verhalten, welche dagegen)
Methoden zum besseren Akzeptieren der Realität (z.B. den Augenblick verändern über
Phantasie, Vorstellungskraft, Meditation, Entspannung)
Atemübungen
Übung des leichten Lächelns und
Achtsamkeitsfokussierung.
Ein weiteres Ziel ist, zu lernen, unangenehme Ereignisse und Gefühle zu ertragen, wenn
sich die Situation nicht verändern lässt.
Zusätzlich werden die Patienten angeleitet, sich einen individuellen Notfallkoffer einzurichten, in dem wichtige Utensilien für Stresstoleranz-Skills aufbewahrt werden. Kärtchen, auf
denen die hilfreichsten Fertigkeiten einzutragen sind, sollten die Patienten bei sich tragen.
Sie erhalten ausserdem Formulare, auf denen die gelernten Skills eingetragen sind und protokollieren, wie erfolgreich sie einzelne Fertigkeiten angewendet haben.
Wenn die BPS-Patienten häufig hintereinander nicht am Gruppentraining teilnehmen, werden sie üblicherweise von der Therapie ausgeschlossen.
Die unterstützende Gruppentherapie (Punkt 3 auf Tab. 10) wird optional nach Ablauf des
Behandlungsjahres durchgeführt, wenn Therapeut und Patient vereinbart haben, die Einzeltherapie fortzusetzen oder als weiterführendes, lockeres Betreuungsangebot im Anschluss
an die Standard-DBT.
Telefonkontakt
Patienten können in suizidalen Krisen oder bevor sie sich selbst verletzen, ihre Therapeuten
anrufen. Die telefonische Erreichbarkeit muss mit den Therapeuten vorher geklärt werden
und richtet sich auch nach den Grenzen der Therapeuten. Die Telefongespräche sollen
nach bestimmten Regeln ablaufen. Der Patient berichtet, warum er sich in der Krise befindet
und welche Fertigkeiten er bereits ausprobiert hat. Beide besprechen Fertigkeiten, die der
Patient dann einsetzen soll. Dazu ist hilfreich, wenn der Patient gelernte Fertigkeiten benennen kann.
Verletzt sich der Patient selbst oder begeht er einen Suizidversuch, sollte dies nicht durch
vermehrte Zuwendung verstärkt werden. Ziel ist, dass die Patienten im Nachhinein Verhaltensanalysen dieser Situation anfertigen.
Intervision/Supervision
Die Einzel- und Gruppentherapeuten treffen sich regelmässig, um sich über die gemeinsamen Patienten auszutauschen und sich gegenseitig zu beraten.
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7.2.2 Haltung des Therapeuten
Neben strukturellen Aspekten (Einbindung in Gruppen- und Einzeltherapie) spielt die therapeutische Haltung, wie sie von Linehan in den „therapeutischen Grundannahmen“ (Tab. 11)
formuliert wurde, eine entscheidende Rolle. Dabei fällt auf, dass sie sich hier dem humanistischen Gedankenmodell anlehnt.
Tab.11. Therapeutische Grundannahmen nach Linehan (1996, zit. nach Bohus, 2002, S. 19)
•
Jedes Verhalten der Patientinnen macht im subjektiven Kontext Sinn. Sie versuchen,
das Beste aus ihrer gegenwärtig verheerenden Situation zu machen. Es liegt daher in
der Aufgabe des Therapeuten, die jeweiligen Auslöser, Schemata und Konsequenzen herauszuarbeiten.
•
Borderline-Patientinnen wollen sich verbessern.
•
Borderline-Patientinnen müssen sich stärker anstrengen, härter arbeiten und stärker
motiviert sein, um sich zu verändern, dies ist ungerecht.
•
Borderline-Patientinnen haben ihre Probleme in der Regel nicht alle selbst verursacht, sie müssen sie aber selber lösen.
•
Das Leben suizidaler Borderline-Patientinnen ist so, wie es gegenwärtig gelebt wird,
in der Regel unerträglich.
•
Borderline-Patientinnen müssen in fast allen relevanten Dimensionen neues Verhalten lernen.
•
Patientinnen können in der DBT nicht versagen.
•
Therapeuten, die mit Borderline-Patientinnen arbeiten, brauchen Unterstützung.
Neben einem Wechsel zwischen Validierung (Akzeptanz) und Veränderung, je nach Therapieverlauf, bestimmt radikale Echtheit die Haltung des Therapeuten. Die DBT verfügt über
zwei radikale Kommunikationsstile: reziproke Kommunikation und konfrontierende Schonungslosigkeit.
Bei der reziproken Kommunikation geht es um den Austausch zwischen Therapeut und Patient. Der Therapeut bedient sich strategischer Selbstoffenbarungen und spiegelt dem Patienten Engagement und Echtheit der eigenen Haltung wider.
Unter Einsatz der konfrontierenden Schonungslosigkeit versucht der Therapeut, den Stil des
Patienten durch sachliche und nüchterne Äusserungen zu kontrastieren. So gewinnt er die
Aufmerksamkeit des Patienten, verschiebt dessen Affektlage und geht das Problem so direkt wie möglich an: „Was meinen Sie damit, Sie wollen sich umbringen? - Ich dachte, Sie
hätten gesagt, das Sie die Therapie nicht abbrechen wollen?“ (vgl. Comtois, Cochran & Linehan, 2000, S.591).
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7.2.3 Die Therapiestrategien der DBT
In der DBT unterscheidet Linehan (1996) drei Strategien:
• Validierungsstrategie
• Änderungsstrategien
• Dialektische Strategie
Validierungsstrategie
Validierung oder Akzeptanz wird in der DBT als Wahrnehmung der Realität und der Stärken
wie auch Schwächen des Patienten so, wie sie sind, verstanden. Validierung ist notwendig,
um die in der Behandlung geforderten Änderungen ausgleichen zu können und um gegen
die Selbst-Invalidierungen des Patienten wirken zu können. Ein alleiniger Fokus auf die
Änderungen suizidaler Verhaltensweisen wird vom Patienten oft als Nichtachtung des
emotionalen Schmerzes und einer erneuten Invalidierung seiner selbst erlebt. Zur
Vermittlung der Akzeptanz bedient sich die DBT sieben Techniken:
1.
2.
3.
4.
Zuhören und Wahrnehmen
Spiegeln
Artikulation des Unausgesprochenen
Bestätigung bezogen auf zugrundeliegende Ursachen, d.h. der Therapeut versucht,
Verhalten und deren Ursachen in kausale Verknüpfungen zu bringen, die dem Patienten
zuvor nicht ersichtlich waren
5. Bestätigung bezogen auf aktuelle Situationen oder normale Verhaltensweisen, z.B „Das
ist doch ganz normal, dass Sie sich so fühlen. Jedem anderen würde es auch so gehen“
6. Radikale Echtheit
7. Achtsamkeit
Ànderungsstrategien
Da die Validierung den Patienten in seinem Selbstvertrauen stärkt, werden so die
notwendigen motivationalen Ressourcen auf Veränderung mobilisiert. Den sieben
Validierungsstrategien stehen sieben Änderungsstrategien gegenüber:
1. Aufklärung: Genaue Information über das Wie und Warum einer bestimmten Intervention
2. Selbstmonitoring: Selbstberichtstagebücher über Verhalten und Reaktion zur
Einsichtgewinnung
3. Verhaltens- und Lösungsanalyse: Erarbeiten von genauen Verhaltensketten für alle
Verhaltensweisen, die dem Therapieziel entgegenstehen.
4. Kompetenztraining: mittels Verstärkung und Rollenspielen Fertigkeiten erweitern
5. Kognitive Umstrukturierung: Identifikation und Restrukturierung typischer Denkfehler
6. Management von (störenden) Einflussfaktoren
7. Expositionsstrategien: Handlungstendenzen und expressive Tendenzen blockieren lernen
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Dialektische Strategien
Die Philosophie Hegels (vgl. Kunzmann, Burkhard & Wiedmann, 2005, S. 214-216) fasst
Dialektik als Gesetzmässigkeit auf, die der Natur des Denkens selbst zugrunde liegt.
Erkenntnis wird nach dialektischer Sichtweise in drei Schritten gewonnen:
These
Antithese
Synthese
Die Synthese hebt These und Antithese auf und führt so zu einem neuen Begriff, der als
Resultat die Bedeutungsmerkmale der beiden vorherigen enthält.
Die in der psychoanalytischen Theorie als Spaltung beschriebene Neigung der BorderlinePatienten (s. Kap. 7.1 und 4.5) begreift Linehan (1996) als Bestreben, an
Gegensätzlichkeiten, d.h. entweder These oder Antithese, festzuhalten, als Unfähigkeit, sich
auf eine Synthese hin zu bewegen. Im Sinne dieses dialektischen Prozesses wechselt der
Therapeut je nach Notwendigkeit zwischen Validierungs- und Änderungsstrategien hin und
her. Ein zentraler Punkt in der Behandlung von Borderlinern ist die rasche Erfahrung des
Therapeuten, dass eine alleinige Akzeptanz des Patienten nicht weiterhilft.
Der Therapeut soll den Patienten durch Anwendung der dialektischen Denkweise zur
Aufgabe von Entweder-oder-Standpunkten und zur Annahme von Sowohl-als-auchPositionen bewegen.
Zur Umsetzung verwendet der Therapeut Metaphern und Paradoxone, die als Lehrbeispiele
dienen und die Suche nach alternativen Wahrnehmungsperspektiven anregen. Metaphern
können Analogien, Anekdoten, Parabeln, Märchen oder Geschichten sein, die dem Patienten ein neues Denken über seine Problematik ermöglicht und neue Verhaltensweisen aufzeigen kann. Paradoxone, die im Zen-Buddhismus, zur Entwicklung von Weisheit und
Weitsicht verwendet werden, sind scheinbar widersprüchliche Sätze, die scheinbar unlösbar
sind: „Jeder Tag ist ein guter Tag und das Leben ist voller Leiden“.
7.2.4 Therapieverlauf und Therapiephasen
Über eine hierarchisierte Behandlungsstruktur versucht die DBT, bislang unkontrollierte
Prozesse sowohl für den Patienten wie auch für den Therapeuten berechenbar zu machen.
Die gesamte Therapie im ambulanten Setting (ca. 1 Jahr dauernd) untergliedert sich in die
Vorbereitungsphase und zwei Behandlungsphasen mit unterschiedlichen Zielen:
1. Vorbereitungsphase: Aufklärung und Einverständnis
•
•
•
•
•
•
Aufklärung über das Störungsbild
Klärung der gemeinsamen Behandlungsziele
Klärung der Behandlungsfoki und Methoden der DBT
Behandlungsvertrag, Non-Suizid-Vertrag
Verhaltensanalyse des letzten Suizidversuchs
Verhaltensanalyse des letzten Therapieabbruchs
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2. Schwere Probleme auf der Verhaltensebene
•
•
•
•
Verbesserung der Überlebensstrategien (Umgang mit suizidalen Krisen)
Verbesserung der Therapie-Compliance (Umgang mit Verhaltensmustern, die die
Fortsetzung oder den Fortschritt der Therapie verhindern)
Verbesserung der Lebensqualität (Umgang mit Verhaltensmustern, durch die die
emotionale Balance schwer gestört wird)
Verbesserung von Verhaltensfertigkeiten (skills)
3. Probleme mit emotionalen Erfahrungen
•
•
Abbau von dysfunktionalen Schemata
Verbesserung von Symptomen, die im Rahmen eines Posttraumatischen StressSyndroms auftreten
• Innerhalb der Therapiephasen sind die zu bearbeitenden Problembereiche
hierarchisch geordnet. Wann immer ein höher geordneter Problembereich auftritt, z.B.
Suizidalität oder Parasuizidalität, muss dieser bearbeitet werden.
7.2.5 Wirksamkeitsüberprüfung
Was den derzeitigen Stand der empirischen Überprüfung der Wirksamkeit der DBT anbelangt, so kann mittlerweile die Überlegenheit gegenüber unspezifischen tiefenpsychologischen Ansätzen als gut belegt gesehen werden. Eine vergleichende Studie mit der Übertragungsfokussierten Psychotherapie TFP wird derzeit noch in Stockholm und in New York
durchgeführt (Bohus & Höschel, 2006).
Eine kontrollierte randomisierte Studie zur Wirksamkeit von DBT wurde im Jahr 2000 von
Linehan und ihren Mitarbeitenden (Remmel et al., 2006) durchgeführt. Sie fanden nach 4
Monaten eine signifikante Überlegenheit hinsichtlich:
•
•
•
•
Abnahme der Selbstschädigung,
des medizinischen Risiko der Selbstverletzungen,
der stationären Behandlungstage sowie
der Verbesserungen der sozialen Integration.
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7.3 Psychodynamisch imaginative Traumatherapie PITT bei traumatisierten
Patienten mit BPS
Früheren Traumata kommt im Sinne des multifaktoriellen Vulnerabilitätsmodells (s. Kap.
6.4) eine wesentliche pathogenetische Rolle bei der Entstehung einer BPS zu. Wie
bereits erwähnt (Kap. 3.2.2, Kap. 5.2.1), genügt Traumatisierung alleine nicht, um die BPS
äthiopathogenetisch zu erklären. Schwertraumatisierte weisen oft keine, kaum traumatisierte
Patienten dagegen manchmal schwere Borderline-Störungen auf. Zudem stellt sich die
Frage, ob die Traumatisierung nicht selbst bereits das Symptom einer basal gestörten
familiären Situation ist (Kap. 5.2.1). Obwohl die BPS auch Elemente einer (chronisch,
komplexen) Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) aufweisen kann und eine hohe
Komorbidität zwischen diesen beiden Störungen besteht (s. Kap. 5.2.1), wird deshalb von
einer zu frühen oder einseitigen Fokussierung auf die Traumatisierungen der Vergangenheit
gewarnt (Dammann, 2001; Reddemann, 2001, 2006). Zum einen können Expositionen zu
einer erheblichen Labilisierung führen, zum anderen hat die Traumatisierung in aller Regel
zu deutlichen interpersonellen und mit Ambivalenzen (auch dem Täter gegenüber)
einhergehenden intrapsychischen und interpersonellen Dynamiken geführt. Diese lassen
sich nicht alleine durch eine Exposition auflösen. Eine subtile traumatheoretische
Integrationsarbeit erfordert die Fähigkeit, mit der intrapsychischen Dynamik umgehen zu
können. Der Wunsch vieler Borderline-Patienten, eine vorhandene oder vermutete
Traumatisierung aufzudecken, muss deshalb (zumindest zunächst) zurückgewiesen, aber in
seinem Übertragungsangebot verstanden werden.
Erfahrene Therapeuten, die von einem traumaorientierten Standpunkt aus mit (meist
hochdissoziativen) Borderline-Patienten arbeiten, fokussieren daher in der Regel nicht
primär das Trauma etwa im Sinne einer Exposition, sondern arbeiten integrierend mit den
verschiedenen (dissoziierten) Anteilen (Teilobjektrepräsentanzen, „alters“), die in ihrer
Bedeutung (auch unter Abwehraspekten), affektiv verstanden und angesprochen werden.
Der bekannteste Behandlungsansatz ist die Psychodynamisch Imaginative Trauma
Therapie PITT der BPS nach Luise Reddemann (Reddemann 2001, 2006; Reddemann &
Sachsse, 1999). Er konzentriert sich in erster Linie auf die Behandlung der komplexen
posttraumatischen Störung und ist daher geeignet für Borderline-Patienten, bei denen
Symptome der PTSD-Störung im Vordergrund stehen (Kap. 5.2.1). Dies sind vor allem
Alpträume und Flashbacks (auch als Körperflashbacks) und dissoziative Symptome (s. Kap.
4.5).
Luise Reddemann entwickelte von 1985 – 2003 gemeinsam mit ihrem Behandlungsteam in
der Klinik für Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin des Ev. JohannesKrankenhauses in Bielefeld (Deutschland) das Bielefelder Behandlungskonzept, den Einsatz
imaginativer Techniken bei der Behandlung von traumatisierten Menschen und die PITT.
Seit 1994 wurde das Konzept durch den fachlichen Austausch mit Ulrich Sachsse
(Reddemann & Sachsse, 1999) präzisiert.
Es handelt sich um einen integrativen Behandlungsansatz. PITT integriert Elemente von
angewandter Psychoanalyse mit solchen aus der kognitiven Verhaltenstherapie und
imaginativen Verfahren sowie Prinzipien der Achtsamkeitsmeditation. Auch psychoedukative
Interventionen spielen eine Rolle. Leitend ist das Konzept der Selbstregulation und
Selbstheilung.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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In der PITT wird über das Medium einer hilfreichen Beziehung (zwischen Therapeut und
Patient) vor allem die Selbstbeziehung betont und mittels Imagination angeregt, diese neu
zu gestalten und seelische Wunden damit einer Heilung zuzuführen. Imagination wird als
Vorstellung oder Vorstellungskraft über alle inneren Sinneserfahrungen verstanden.
Reddemann (2001, 2006) bezeichnet die Imagination als die älteste Art des Heilens.
Schwere unbewältigte Traumatisierungen hinterlassen funktionelle neurophysiologische
Veränderungen (Aktivierung des Stressverarbeitungssystems, herabgesetzte Reizschwelle
für Triggerreize, schnelle physiologische Übererregung (hyperarousal) bei Stress,
Dünnhäutigkeit, Reizbarkeit). Triggerreize lösen innere traumatische Bilder aus, so dass
traumatische Erfahrungen wieder und wieder erlebt werden. So wie jedoch diese
„schlechten“ Bilder psychophysiologisch hochwirksam sind, sind nach Reddemann (2001,
2006) „gute“ Bilder ebenso wirksam. Diese werden mithilfe von imaginativen Techniken
aufgebaut.
Bei der PITT ist die Betrachtung des Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens
von zentraler Bedeutung. Es wird dann allerdings eher dazu genutzt, die Patienten zu einem
veränderten imaginativen Umgang mit sich selbst anzuregen, aber auf die
psychoanalytische Technik der Deutung wird auch nicht gänzlich verzichtet. Mitgefühl und
Trost, aber auch Anerkennung des geschehenen Unrechts werden im Umgang des
erwachsenen Selbst mit den jüngeren Teilen stark betont.
Zentral ist das Konzept der „inneren Bühne“, die zu einem gemeinsamen imaginären
Raum wird, auf dem die Patienten gegebenenfalls angeregt und unterstützt durch die
Therapeutin „spielen“ können. Dadurch werden sie handlungsfähiger. „Beidäugiges Sehen“,
das heisst das Sehen der Stärken und auch der Probleme ist ein Grundsatz der PITT. Es
wird davon ausgegangen, dass die Betroffenen über selbstregulative Selbstheilungskräfte
verfügen. Es ist die Aufgabe des Therapeuten, diese zu fördern. Dies bedeutet z.B. die
Übernahme von „Hilfs-Ich-Funktionen“ im Sinne von Ermutigung, die eigenen
selbstregulativen Kräfte aufzuspüren und zu nutzen.
Therapiephasen und imaginative Techniken
Die PITT unterteilt sich in drei Phasen:
1. Die Stabilisierungsphase
2. Die Traumaexposition
3. Die Phase der Integration und des Trauerns (Abschlussphase)
In der Stabilisierungsphase geht es darum, den scheinbar unkontrollierbaren inneren
Bildern gesteuerte, kontrollierte, nur gute Imaginationen entgegenzusetzen. Es geht um das
Schaffen einer guten inneren Welt im Rahmen einer unterstützenden therapeutischen
Beziehung. Dabei wird mit einer Reihe von Imaginationsübungen gearbeitet:
• „Gegenbilder“ (Beim Auftauchen eines negativen Bildes das Gegenteil davon entstehen
und erleben lassen)
• „Der innere sichere Ort“ (als eine Art gutes, nicht persönliches inneres Objekt, mit der
Erfahrung von absoluter Sicherheit und Geborgenheit)
• „Die inneren Helfer“ (als Repräsentanten guter innerer Objekte, die Halt und Trost
vermitteln)
• „Die Tresor- oder Safe-Übung“ (zum „Wegpacken“ im Sinne einer bewussten
Verdrängung von traumatischem und anderem belastenden Material)
• andere dissoziative Techniken: „das Übertünchen von Bildern“, „Das Übertönen von
Geräuschen“
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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•
•
•
„Das innere Team“ (s. auch Schulz von Thun, 1998) (Kontakt zu anderen (unbewussten)
Selbstanteilen aufbauen und als Unterstützung bei der Klärung von Alltagsfragen
nutzen)
„Arbeit mit dem inneren Kind“ (s. auch Bradshaw, 2000; Chopich & Paul, 2003)
„Die konfliktfreie innere Zone“ (Hartmann, 1960, zit. nach Reddemann, 2001, S.157)
In der Traumaexposition werden die traumatischen Intrusionen (=Einbrüche von
traumatischem Material in den Alltag) und Flashbacks (s. Kap. 4.5) gezielt, aber dosiert, das
heisst Schritt für Schritt, und gesteuert aufgesucht. Dabei werden gezielt imaginative
Dissoziationstechniken eingesetzt:
• „Screentechnik“ (Das Geschehen auf einer Leinwand ablaufen lassen mithilfe einer
Fernbedienung, einem Regler für Emotionen)
• „Depersonalisationstechniken“ (Den eigenen Körper verlassen und von oben und
aussen betrachten, was geschieht)
Es soll dabei zu einer Traumasynthese, das heisst einer Synthese von Gefühlen, Bildern
und Körpersensationen, führen. Zu jeder Zeit der Aufarbeitung des traumatischen Materials
können die Selbsttröstungstechniken aus der Stabilisierungsphase angewendet werden.
Die dritte Therapiephase ist eine Phase der Integration und des Trauerns. Es kommt zu
einer Neuorientierung.
Vorteile von PITT
Die Ebene der Imagination ist sehr geeignet, den Körper in die therapeutische Arbeit
miteinzubeziehen, ohne dass der Körper berührt werden muss., was gerade für Menschen,
welche in zwischenmenschlichen Beziehungen traumatisiert wurden, oft ein Problem
darstellen würde. Andererseits ist der Körper der Ort der Traumatisierung. Achtsames
Wahrnehmen des Körpers und der Körperbedürfnisse wird daher fortwährend angeregt, die
Auswirkungen von Vorstellungen auf den Körper und sein Befinden sind unmittelbar
wahrnehmbar und helfen den Betroffenen, sich bewusst und aktiv auf funktionalere und
heilsamere Vorstellungen einzulassen.
Im Behandlungsansatz von Reddemann werden die Coping-Strategien von Traumatisierten
und von Patienten mit einer BPS, nämlich Spaltung und Dissoziation, als Ressourcen
aufgefasst und beim Einsatz von imaginativen Techniken genutzt.
Behandelt man die traumatogenen Elemente der Störung, führt dies nach Reddemann
(2001, 2006) zu einer raschen Beruhigung beim Patienten und zu einem ruhigeren Klima
innerhalb der Therapiesitzungen.
Kontraindikationen von PITT
Redemann (2001, 2006) nennt folgende Kontraindikationen:
• Klienten, welche die imaginative Arbeit – aus welchen Gründen auch immer – ablehnen
• Klienten, die eine lange, haltende Beziehung brauchen und in der therapeutischen
Beziehung regredieren wollen
• Klienten, die ihre Traumata ohne Dissoziationen verarbeiten und über ein hohes Mass
an Ich-Stärke verfügen
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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7.4
Körperorientierte Psychotherapie der BPS
In diesem Kapitel geht es um Konzepte der Körperorientierten Psychotherapie zur
Behandlung der BPS. Zuerst wird die Unterscheidung der Begriffe „Körpertherapie“ und
„Körperpsychotherapie“ erklärt, dann wird auf die Forschung und Studien der
Körperpsychotherapie eingegangen und schliesslich werden Behandlungsmöglichkeiten von
BPS mit Körperorientierter Psychotherapie im ambulanten und stationären Setting
beschrieben.
7.4.1 Körpertherapie und Körperpsychotherapie
Der Begriff Körpertherapie weist auf Defizite in der Körperorientierung der Psychotherapie
hin. Er hat überwiegend einen psychoanalytischen Theoriehintergrund mit
Weiterentwicklung in verschiedene eigene Körpertherapieverfahren und legt den
Aufmerksamkeitsfokus verstärkt auf das leibliche Empfinden. Die Bezeichnung
Körperpsychotherapie hingegen betont die enge Verbindung zwischen Sprache und
Körpererleben. Anstelle dieser zwei Termini spricht man heute vermehrt von
körperbezogener oder körperorientierter Psychotherapie.
Während Vertreter körpertherapeutischer Verfahren eher zu einer Überbewertung der
Körperarbeit im Vergleich zum Gespräch neigen, ist es bei den Vertretern verbaler
Psychotherapieverfahren genau umgekehrt. Integrative Konzepte der körperbezogenen
Psychotherapierichtungen (z.B. Maurer, 1993, 1998, 1999, 2002; Petzold, 2003) lösen diese
Polarisierung auf.
In der körperbezogenen/körperorientierten Psychotherapie wird auf die Wichtigkeit und
Unverzichtbarkeit von Arbeit an und mit dem Körper (Berührung, Wahrnehmung der
Haltung, der Bewegung, der Gestik und der Mimik) hingewiesen. „Sie unterscheidet sich von
rein verbalen Psychotherapiemethoden … dadurch, dass sie frühes Material
[Hervorhebung der Verf.], welches im Körper gespeichert ist, durch Körperinterventionen
bewusst machen [Hervorhebung der Verf.] kann“ (Bolen, 2006, S. 13).
In der nahezu unbestimmbaren Vielfalt theoretischer und praxisbezogener Literatur (s.
Geuter, 2006) gibt es multimethodale Ansätze (z.B. körperorientierte Psychotherapie als
eine Methode in der stationären Psychotherapie) und integrative Ansätze zwischen
einzelnen Körpertherapiemethoden.
Körperpsychotherapien beeindrucken mit ihrer Vielfalt und Kreativität in Bezug auf die
therapeutische Praxis, wie z.B der Variationsbreite der Interventionstechniken und der Tiefe
der emotionalen und körperlichen Erfahrungen und Veränderungen, die diese ermöglichen
(Marlock, & Weiss, 2006; Schrauth, 2001). Demgegenüber bestechen verbale
Psychotherapierichtungen mit der Treffsicherheit ihrer Begrifflichkeiten, der Differenziertheit
der Theorien, die diese aufgestellt haben und immer weiterentwickeln.
Bisher fehlen spezifisch körperorientierte Therapieansätze für die Behandlung der
BPS, die es in Zukunft zu entwickeln gilt. Michels (2005) nennt drei mögliche Ansätze:
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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1. die Tiefenpsychologische Körpertherapie von Krens und Krens (2003), die sich
hauptsächlich an der Bindungstheorie der prä- und perinatalen Psychologie und der
Selbstpsychologie orientiert
2. die Analytische Bewegungs- und Tanztherapie ABT von Trautmann-Voigt (2003), die
das Konzept der analytischen Tanztherapie von Siegel (1986) mit der
Säuglingsforschung von Stern (1992) und Lichtenberg (1998) sowie mit weiteren
Forschungen der präverbalen Entwicklung verknüpft.
3. Mehr
auf
den
Aspekt
der
Trauma-Therapie
konzipiert
ist
der
körperpsychotherapeutische Ansatz nach Madert (2003). Alle genannten Autoren sind
zitiert nach Michels (2005, S. 206) und Geuter (2006, S. 27).
7.4.2 Forschung und Studien der Körperpsychotherapie
Einer grossen Anzahl an qualitativen Arbeiten, Artikeln und Buchveröffentlichungen zur
Körperpsychotherapie steht erst eine kleine Zahl von empirischen Arbeiten gegenüber.
Bisher gibt es eine Fülle von Methodenbeschreibungen und Falldarstellungen der
Körperpsychotherapie, also eine eher „entdeckungsorientierte“ Forschung. Der Mangel an
Forschung beruht vor allem darauf, dass die körperorientierten Psychotherapieschulen in
der Regel nicht im akademischen Umfeld entwickelt wurden. Da in diesem Umfeld
Körperlichkeit und Emotionalität wenig thematisiert wurden, hatten sich viele Gründer dieser
Therapieverfahren enttäuscht von den Universitäten abgewandt und nach eigenen Wegen
gesucht, was sich zum Teil auch in deutlichen antiakademischen Haltungen und
Äusserungen niederschlug. Auch heute sind nur wenige Körperpsychotherapeuten an den
Universitäten tätig. Einem grossen prozessualen, oft intuitiven Wissen um das „richtige“,
hilfreiche Umgehen mit Patienten („Know-how“) steht ein geringes deklaratives Wissen
(„Know-what“) gegenüber. Wahrscheinlich haben sich auch deshalb bislang so wenige
Körperpsychotherapeuten der empirischen Forschung gewidmet, weil sie mehr am „Knowhow“ interessiert sind. Langfristig sollte es aber zu einem fruchtbaren Austausch und einer
Integration zwischen „Know-how“ und „Know-what“ kommen. Dieser Trend zeigt sich im
deutschsprachigen Raum
seit
den
1990er
Jahren,
ausgelöst
durch
die
Auseinandersetzungen
um
die
Psychotherapeutengesetze
sowie
um
die
Anerkennungsprozeduren (Bsp. Schweizerische Charta für Psychotherapie).
Eine weitere methodische Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass sich ein
Kontrollgruppenvergleich als schwer durchführbar und ethisch kaum vertretbar zeigt. Man
müsste eine störungsgleiche Kontrollgruppe aus einem gleichen Grundkollektiv rekrutieren
und diese dann auf eine Warteliste (für eine Therapie) setzen. Kontrollgruppenstudien sind
im stationären Setting eher möglich, im ambulanten Bereich jedoch kaum durchführbar. Eine
andere Möglichkeit bestünde darin, Patientengruppen, die mit verschiedenen
Therapieformen behandelt werden, zu vergleichen. Auch da steht man vor diversen
Schwierigkeiten. So können zum Beispiel die psychosozialen Belastungsfaktoren der
Kontrollgruppe zu unterschiedlich sein oder die Kontrollgruppe erweist sich
„gesünder“/“normaler“ als die behandelte Gruppe.
Bei bestehenden Studien der Körperpsychotherapie fehlen vor allem längere, prospektive
Studien mit Kontrollen und Katamnesen. Zudem beziehen sich diese im Wesentlichen nach
Remmel, Kernberg, Vollmoeller & Strauss, B. (2006) auf psychologische Parameter
(Symptomatik, Persönlichkeitsentwicklung) und erfassen kaum je das Körpererleben.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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Eine Ausnahme zeigen die empirischen Untersuchungen von Yvonne Maurer (z.B. 1976,
1978, 1993, 1998, 1999, 2002). Als Folge des Defizits des Einbezugs des Körperlichen und
aufgrund der fehlenden Bekanntheit des Körperlichen als spezifisch wirksame
körperpsychotherapeutische Elemente innerhalb der Psychotherapie (s.o.) wählte Maurer
(1975) für den von ihr begründeten Psychotherapieansatz den Begriff Körperzentrierte
Psychotherapie. Dieses neue Grundelement des Körperzentrierten begründete sie in der
Folge wissenschaftlich durch empirische Untersuchungen zum Körpererleben und zum
Einbezug des Körpers in Therapie und Psychotherapie (weiterführende Literatur: Maurer,
1999). Heute wird anstelle der Bezeichnung Körperzentrierte Psychotherapie IKP vermehrt
von Ganzheitspsychotherapie IKP gesprochen (s. Kap.9).
Von 1953-1978 zeigten viele empirische Studien zum Körpererleben, dass neurotisch und
psychotisch Kranke signifikant erhöhte Körpererlebnisstörungen im Vergleich mit
gesunden Probanden aufweisen (weiterführende Literatur: Maurer, 2000). Die Untersuchung
von Maurer (1978) zeigte kein getrenntes, sondern ein einheitliches Erleben im
psychischen und körperlichen Bereich (sowohl bei psychisch kranken wie auch bei
gesunden Probanden). Psychisch kranke Menschen erlebten sich im psychisch-physischen
Symptomkomplex signifikant unwohler als Gesunde. Daraus folgt, dass „…jegliches
psychisches Erleben durch Veränderung des körperlichen Erlebens verändert werden
kann“ (Maurer, 1987, S. 51), was wiederum für den Einsatz einer
körperorientierten/körperbezogenen Psychotherapie gegenüber einer rein verbalen
Psychotherapie spricht. Wilke (2000) bestätigt dies und findet das Fokussieren der
Aufmerksamkeit von Patient und Therapeut auf den Körperausdruck und auf das
Körpererleben therapeutisch ausgesprochen fruchtbar bei Patienten mit schwerwiegenden
Körperbildstörungen. Menschen mit einer BPS, welche diese Symptomatik aufweisen (s.
Kap. 4), sollten daher sehr gut auf eine körperbezogene Psychotherapie ansprechen. Viele
Erkenntnisse der neueren Säuglingsforschung zeigen nach Wilke (2000) eine enge
Verknüpfung der Entwicklung der Selbstvorstellung, des Selbstbildes, mit der Entstehung
des Körperbildes. Diese ist das Ergebnis eines interaktiven Entwicklungsprozesses
zwischen dem Säugling bzw. Kleinkind und seinen Beziehungspersonen (s. Kap. 6.3).
Betrachtet man die BPS als „frühe Störung“ (s. Kap. 6.3, Kap. 7.4.3.1), ist auch hier wieder
eine körperorientierte Psychotherapie indiziert.
Unsere Recherchen zeigten, dass störungsspezifische Studien und die differenzierte
Erforschung dessen, was genau durch körperpsychotherapeutische Interventionen und
Prozesse passiert, weitgehend fehlen.
Auch unsere Literatursuche nach empirischen Studien im Bereich der Körperpsychotherapie
zur Behandlung der BPS blieb erfolglos.
7.4.3 Behandlungsmöglichkeiten der BPS mit Körperorientierter
Psychotherapie
Dieses Kapitel beinhaltet die Behandlungsmöglichkleiten der BPS mit Körperorientierter
Psychotherapie. Die BPS wird einerseits als frühe Störung behandelt z.B. durch die
Methoden der Emotionale Reintegration und KBT. Dabei steht die Bewusstmachung von
„frühem Material“ durch Körperinterventionen im Vordergrund. Andererseits bietet die
Körperorientierte Psychotherapie eine Behandlungsmöglichkeit für traumatisierte BPSPatienten an.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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7.4.3.1
BPS: frühe Störung, Störung der weichen Strukturen
Bereits Freud (1923, zit. nach Maurer, 1999) betonte die Wichtigkeit des Körpers als
Grundlage des Ichs, vor allem als ein Mittel zum Aufbau psychischer Strukturen in der
frühen Kindheit. Das Ich als ein zunächst hauptsächlich körperliches Ich bildet sich nach
Freud (1923) aus körperlichen Sensationen (vor allem von der Körperoberfläche
herrührend). Auch in der späteren psychoanalytischen Literatur wird der Körper als Gehilfe
des Ich-Aufbaus gesehen. Maurer (1993, 1998, 1999, 2002) betont die Wichtigkeit des
Körpers für die Ich-Struktur für die gesamte Lebensdauer eines Menschen als
fundamentale Ressource für Erwachsene bzw. für das Menschsein schlechthin. Die
Körperzentrierte Psychotherapie IKP nach Maurer ist ein ressourcenorientierter Ansatz und
arbeitet mit dem Körper als Ressource– nebst Ressourcen in anderen Dimensionen (s.
Lebens-/Seinsdimensionen des „Anthropologischen Würfelmodells“ nach Maurer, 1993,
1998, 1999, 2002, s. Kap. 9.2) - ressourcenreaktivierend und ressourcenaufbauend.
Freud meinte, psychische Störungen würden aus einer übermässigen Besetzung des
Körpers mit Libido (=Hyperkathexis) entstehen. Dies konnte Maurer (1976) widerlegen und
vertritt, wie bereits Federn (1956), die Meinung, dass psychische Störungen eher durch
eine Unterbesetzung des Körpers (=Hypokathexis) entstehen. Demnach wären vor
allem ein psychoanalytisches Setting, aber auch andere rein verbale Behandlungsansätze
zur Behandlung psychischer Störungen kontraindiziert, weil dabei die Unterbesetzung des
Körpers beibehalten oder sogar noch weiter fixiert und verstärkt wird. Für eine erfolgreiche
Psychotherapie spricht demnach eine körperbezogene/körperorientierte Psychotherapie,
welche zu einer ausgeglichenen (d.h. weder über- noch unterbesetzten) Körperbesetzung
über eine Aktivierung des Körpererlebens, der Körperwahrnehmung und des
Körpersensibilisierungsprozesses führt.
In der geschichtlichen Entwicklung der Körperpsychotherapie zeigt sich in den Anfängen das
Bestreben, durch körperliche Interventionen (Bewegung, Haltung, Druck auf
Muskelaximalpunkte, Massagen etc.) die autonome Selbstregulation bei psychophysischen Störungen wieder in Gang zu bringen. Wilhelm Reich (*1897 – 1957†), der
eigentliche Begründer der Körperpsychotherapie, befasste sich als erster Psychoanalytiker
eingehend mit der BPS, die er damals „triebhaften Charakter“ nannte (s. Kap. 3.2.1). Für
Patienten, welche keine stabile Ich-Struktur hatten und daher zur verbal-assoziativen Arbeit
nicht in der Lage waren, suchte Reich nach einer Behandlungstechnik. Als Folge
chronifizierter Abwehrvorgänge bildeten sich nach seinen Beobachtungen charakterliche
Haltungen, der sogenannte Charakterpanzer, aus, die oft mit Körperhaltungen
einhergingen. Er fand bei neurotischen Patienten im Körper ein System von
Energieblockaden, die den freien Fluss der Energie und damit auch der Gefühle
verhinderten und begann in der Folge, mit seinen Händen an den Muskelspannungen seiner
Patienten zu arbeiten (Reich, 1933). Im Zustand der Krankheit sind nach diesem
theoretischen Hintergrund die rhythmisch pulsierenden Prozesse des vegetativen oder
autonomen Nervensystems (Sympathikus – Parasympathikus) blockiert, worauf sich die
Patienten chronisch in einem erhöhten Spannungszustand befinden und nicht fähig sind,
diese Spannung zu entladen. Diese Blockierungen führen beim Patienten zu einem Verlust
eines Teils seiner Mobilität im Sinne des freien Ausdrucks seiner Gefühle durch Haltung,
Bewegung, Gestik und Mimik, als auch eines Teils seiner Motilität (=des unwillkürlichen
spontanen Energieflusses der Muskeln). Reich sprach vom sogenannten Muskelpanzer.
Durch Arbeit am Körper sollen in der Körperpsychotherapie diese einschränkenden
muskulären Blockaden resp. Spannungszustände gelöst werden. Dabei kann es zum
Auftreten von tiefen Gefühlen kommen, welche subjektiv als ein lustvolles Strömen spürbar
und objektiv als eine Pulsationswelle, die den ganzen Körper durchläuft, beobachtbar sind.
Reich nannte dieses ungehinderte Pulsieren zuerst Orgasmusreflex, später Lebensreflex.
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Lowen (1986), sprach von Freisetzung der gehemmten Lebensenergie („Libido“ als
allgemeine psychische Energie) als Ziel der Bioenergetik und Biodynamik. Lowen versteht
den Körper als Organ der Abwehr von Affekten und versucht diese (z.B. durch
biodynamische Massagen) aufzuspüren und aufzulösen. Es kommt dabei nicht zu einem
explosionsartigen Ausbruch lange gestauter Emotionen, sondern zu spontanen
Gefühlsentladungen mit authentischem Charakter in der Entspannungsphase (Gefühle des
Schmelzens).
Bereits Bodaella (1977), Begründer der Schule für Biosynthese, und vor allem Bolen (2006)
weisen darauf hin, dass Personen „mit frühen Störungen oder weichen Strukturen“,
also z.B. Personen mit einer BPS, „bei konfrontativen Berührungen abspalten und
depersonalisieren“ (S. 20). Daher ist ein „Angriff“ auf den Muskelpanzer (z.B. Lowen,
1986; Reich, 1933), oder anders ausgedrückt, eine Arbeit an den „harten Strukturen“, bei
Borderline-Patienten kontraindiziert. Reich waren dazumals nur die „harten Strukturen“
vertraut, also Charakterstrukturen, die einen Muskelpanzer als Abwehr aufgebaut hatten.
Seine Techniken entwickelte er zur Auflösung dieses Panzers. Davis (1988), ein
amerikanischer Körperpsychotherapeut, bezeichnete als Erster die frühen Störungen als
„soft structures“, also weiche Strukturen. Menschen mit weichen Charakterstrukturen
haben nicht das Problem, ihre Gefühle zu äussern. Sie werden geradezu von ihnen
überschwemmt. Daher geht es in der Therapie darum, diese Emotionen halten zu können
und gemeinsam mit dem Therapeuten zu verarbeiten. Dazu braucht es keine dynamische
Stimulation, sondern das sogenannte Containing, also innerhalb der therapeutischen
Beziehung Sicherheit, Schutz, Grenzen und Unterstützung.
Boyesen (Boyesen & Boyesen, 1977), Begründerin der Biodynamik, beschäftigte sich in der
Folge mit dem visceralen System und ging davon aus, dass sich ungelöste Konflikte als
latente dynamische Anspannung der Eingeweide (Viscera) manifestieren und Gefühle im
Inneren des Körpers festgehalten werden. Boyesen (Boyesen & Boyesen, 1977) fand
heraus, dass bei Menschen mit einer BPS die Skelettmuskulatur nicht hyperton,
sondern hypoton ist und diese somit keine klassischen Muskelpanzer-Strukturen zeigen.
Dies bestätigt die Ergebnisse der Studie von Maurer (1976) zur Hypokathexis bei
psychischen Störungen. In der Folge spricht Boyesen von Gewebepanzerungen. Sie
arbeitete zuerst mit sanften Massagen, die Darmbewegungen (Psychoperistaltik) erzeugen
und zu einer Entladung der gestauten Energie im Darm führen und später (1990er Jahre)
mit weiteren Techniken, um gestaute Energie zu entladen, indem sie nur mit der Aura der
Patienten arbeitete, ohne diese direkt zu berühren.
In der phänomenologischen Beschreibung von Borderline-Patienten in der Konzentrativen
Bewegungstherapie KBT (s.u.) weist Franz (2006) jedoch darauf hin, dass sich bei
Borderline-Patienten auf der Ebene der Körperhaltungen und im Bewegungsverhalten
eine Palette von Extremen findet. Die einen Extreme sieht sie eher in Verbindung mit
Depression, die andern mit Aggression. Im Bewegungsverhalten zeigt sich ein
Spannungsbogen von Antriebsarmut und Zögerlichkeit, mitunter mit Bruch und ohne
Übergänge bis zum Gehetzt- und Getrieben-Sein. Es kommt zu raschem Wechsel von
hohem, angespanntem Muskeltonus, begleitet von gut durchbluteter Haut, bis zur
plötzlichen Erschlaffung sowohl des Muskeltonus als auch der Haut. Diese Extreme und
raschen Wechsel auf der körperlichen Dimension entsprechen den Extremen und raschen
Wechseln in anderen Bereichen der Symptomatik der BPS und verweisen vor allem auch
auf die Spannungszustände bei der BPS (s. Kap. 4, Kap. 4.5). Nach Franz (2006) haben
also Menschen mit BPS nicht grundsätzlich eine hypotone Skelettmuskulatur. Zu
Muskelpanzerungen kommt es aufgrund dieser Erkenntnisse dadurch nicht, weil BorderlinePatienten im Muskeltonus von einem Extrem ins andere wechseln, also nicht chronifizieren.
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Im Folgenden stellen wir zwei Ansätze der körperorientierten Psychotherapie von frühen
Störungen (z.B. BPS) vor: die emotionale Reintegration nach Bolen (2006) und die
Konzentrative Bewegungstherapie KBT nach Gindler (zit. nach Becker, 1988).
Emotionale Reintegration nach Bolen
Bolen (2006), der Begründer der Emotionalen Reintegration, ursprünglich klassisch
reichianisch ausgebildet, suchte nach einer körperorientierten Methode, die nicht Stress als
Methode einsetzt (wie bei Lowen, 1986 und Reich, 1933) und dennoch an die tiefen
Emotionen heranführt. Er entwickelte eine körperorientierte Herangehensweise an
„ungepanzerte Störungen“ in Form von Gelenksarbeit.
Bolen (2006) begründet die frühen Störungen als weiche Strukturen wie folgt:
Es scheint, dass erst um das zweite Lebensjahr der Körper imstande ist, als
Abwehr mit der quer gestreiften Skelettmuskulatur zu reagieren. Das heisst,
frühe Störungen haben keinen muskulären Panzer als Abwehr aufgebaut.
Lediglich tief im Kern, um die Wirbelsäule herum und im Nacken gibt es
chronische Spannungen. (S. 40)
Die Gelenksarbeit nach Bolen (2006) findet meist im Liegen auf einem Massagetisch statt.
Der Patient behält seine Kleider an und hat die Knie in der Regel aufgestellt ( Bauch
entspannt, Muskelentladungen über die Oberschenkel, mit Fusssohlen Kontakt zur
Unterlage, dadurch Erdung und Gefühl von Sicherheit). Der Therapeut sitzt auf der rechten
Seite des Patienten. Wenn dieser den Therapeuten anblicken will, schaut er nach rechts
unten. Beobachtungen von Bandler und Grinder (2001) ergaben, dass diese Augenstellung
das kinästhetische System, also die Körperempfindungen stimuliert. Der Therapeut führt
langsame, weiche Bewegungen in den Gelenken aus. Patient und Therapeut achten
gemeinsam auf eintretenden Widerstand in der Bewegung oder auf entstehende Stopps.
Auffinden von feinen Gelenksblockierungen oder Widerständen sind das Ziel dieser Suche.
Zunächst bleibt der Patient passiv in seiner Bewegung, nur beobachtend und empfindend.
Um den Patienten nicht zu überfordern ( Abspaltung) und um ein Adaptionsphänomen zu
verhindern, wird nie zu lange in einer Position oder bei einem Thema stehen geblieben,
sondern der Therapeut geht davon weg und kehrt wieder zurück. Dann fragt der Therapeut
den Patienten nach, ob Intentionen zu einem Bewegungsimpuls spürbar sind. Nach dessen
Mitteilung wird der Patient ermutigt, diesen Bewegungsimpuls auszuführen. Sind keine
Bewegungsimpulse spürbar, aber für den Therapeuten offensichtlich, regt er den Patienten
dazu an, probeweise eine von ihm vorgeschlagene Bewegung auszuführen. In den
Bewegungswiderständen innerhalb der passiven Bewegungen in den Gelenken sind nach
Bolen (2006) Erinnerungen an Themen, letztlich auch an früheste Traumata gespeichert.
Jedes Gelenk korreliert mit bestimmten Körperteilen und dort lokalisierten Gefühlen. Das
Handgelenk, um ein Beispiel zu nennen, bezieht sich nach Bodaella (1991) und Bolen
(2006) auf das Halssegment und den Nacken. Handgelenksblockierungen finden sich oft
bei frühen Störungen, die in der Tiefe der Nackenmuskulatur, am Schädelansatz deutliche
Spannungen haben. Diese verhindern das Strömen in die Peripherie. Dadurch sind die
Hände und Finger kalt. Die Energie wird im Körperinneren festgehalten. Die Therapiesitzung
endet mit Aufsitzen, Überprüfung der neuen Empfindung und Nachbesprechung des
Erlebten. Im Sitzen und Stehen wird gearbeitet, wenn es darum geht, Wut auszudrücken
oder wenn der Patient ungewollt durch das Hinlegen in eine tiefe Regression hineinrutscht
und Probleme damit hat, wieder herauszukommen, wie es bei Menschen mit weichen
Strukturen häufig vorkommen kann.
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Bewusstmachung von „frühem Material“ durch Körperinterventionen
Bolen (2006, S. 13) bezeichnet unser Gehirn als einen „Biocomputer“, auf dem „etwa bis
zum vierten Lebensjahr … von den Erziehungspersonen, meistens den Eltern, Programme
installiert“ werden, wogegen sich das Kind „nicht wehren“ kann. „Erst nach dem vierten
Lebensjahr, wenn nach dem Abschluss der Hirnreifung die Persönlichkeitsbildung ein neues
Stadium erreicht hat, kann es dagegen Widerstand leisten“, jedoch oft nur indirekt. Da unser
kognitives Gedächtnis nur etwa bis zum dritten Lebensjahr zurückreicht, entzieht sich,
was vorher geschah, unserer Erinnerung. Geschehnisse vor dem dritten Lebensjahr sind
wohl im Körpergedächtnis gespeichert, aber nicht im kognitiven Gedächtnis und
somit auch nicht in Form von sprachlichen Codes. Daher können sie auch nicht durch
rein verbale Interventionen abgerufen werden. Dies betrifft also auch die oben genannten
Eingaben oder Introjekte. Negative Auswirkungen gibt es dann, wenn diese Eingaben nicht
der Natur des Kindes entsprechen und wenn die Eltern das Kind nicht als eigene
Persönlichkeit erkennen, indem sie z.B. ihre Projektionen auf das Kind richten. Die
schädlichen Auswirkungen hängen vor allem von dem Ausmass und der Intensität der dem
Wesen des Kindes nicht adäquaten Erziehungsprogrammen ab (s. Kap. 6.3).
Schwierigkeiten in Entscheidungsfindungsprozessen zeigen sich häufig aufgrund einer
fehlenden Balance zwischen Gefühl und Verstand. Was vom Verstand her als logisch,
richtig und korrekt erscheint, jedoch nicht in Balance zu den Gefühlen steht, entspricht nach
Bolen (2006) Reaktionen auf ein unbewusstes, der verbalen Erinnerung nicht zugängliches
„Programm“
und
nicht
einer
eigenen
Überzeugung.
Durch
körperbezogene/körperorientierte Interventionen ist es möglich, an diese Programme
aus unserer frühen und frühesten Kindheit heranzukommen und sie auf ihren früheren
Sinn zu überprüfen, um gegebenenfalls anders handeln zu können.
Die Möglichkeit, über das Körpergedächtnis Unbewusstes bewusst zu machen, geht
bereits bis in die 1960er Jahre zurück, z.B. auf die Untersuchungen des Einsatzes von
„Body-Ego-Technique“ in der stationären Behandlung von chronisch-schizophrenen
Patienten von May, Wexler, Salkin & Schoop (1963, zit. nach Maurer, 1999). In der „BodyEgo-Technique“ geht es darum, „…verlorene körperliche Gedächtnisspuren von Emotionen
zu reaktivieren und sich dadurch auch allfällige Verlusttraumatas von früheren
Bezugspersonen wieder bewusst zu machen“ (Maurer, 1999, S. 15). May et al. ging es um
die gefühlsmässige Erfahrung mit bestimmten Körperhaltungen und Bewegungen, die der
normalen kindlichen Entwicklung entsprechen (z.B. werfen, schlagen, stampfen, liebkosen).
Solche Body-Ego-Techniken werden auch in der Körperzentrierten Psychotherapie IKP
eingesetzt (s. Kap. 9)
Das
unter
ungünstigen
Bedingungen
erworbene,
limitierende,
und
damit
psychotherapeutisch relevante Wissen des Körperselbst soll aufgedeckt, in seinen Facetten
und Auswirkungen erlebt und durchgearbeitet werden. Erfahrungen, die dieses Wissen
erweitern und den Leib neu informieren, sind eine wichtige Grundlage für therapeutische
Veränderung.
Als einen Zugangsweg und Voraussetzung zur Änderung psychischer Strukturen nennen
auch Remmel et al. (2006) körperliche Erfahrungen, die häufig besonders stark mit Affekten
verbunden sind. Sie scheinen „besonders da wirksam zu sein, wo es um defizitäre und
maladaptive Entwicklungen im Bereich früher Beziehungen geht“ (Remmel et al., 2006,
S. 403), wie die Entstehung der BPS zeigt (s. Kap. 6.3)
Janov (1984) betont in seiner Primärtherapie ebenfalls die Wichtigkeit körperlicher
Mobilisierung, um vom Fühlen und vom Körper abgespaltene frühkindliche Erfahrungen, vor
allem sogenannte Urerlebnisse primärer Szenen, dem Erleben wieder zugänglich zu
machen.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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Die Körperorientierte Psychotherapie bietet eine zielführende und manchmal den Weg
abkürzende Methode, um an den sogenannten Urschmerz (=frühe seelische Schmerzen,
die immer auch mit körperlichen Schmerzen einhergehen, (s.o. „einheitliches Erleben im
psychischen und körperlichen Bereich“, Maurer, 1978) heranzukommen.
Auch für Wilke (2000) ist körperorientierte Psychotherapie gegenüber einer rein verbalen
Psychotherapie
besonders
für
Patienten
indiziert,
deren
sprachliche
Symbolisierungsfähigkeit eingeschränkt ist.
Behandlung von BPS mit Konzentrativer Bewegungstherapie KBT
Auch die Konzentrative Bewegungstherapie KBT nach Gindler (*1885 – 1961†, zit. nach
Becker, 1988), ein tiefenpsychologisch fundiertes Verfahren, nutzt die oben genannten
Erkenntnisse und setzt die Körperbewegung und Körperwahrnehmung als Zugangswege zu
früheren Erinnerungen und Entwicklung neuer Erlebnisse und Erfahrungen ein. Bewegung
intensiviert inneres Erleben, verändert Stimmungen, fördert Erinnerungen und
Assoziationen. In der KBT sind in einem vorsprachlichen Ausdrucksbereich
Reinszenierungen von frühkindlichem Geschehen möglich, einerseits in der Übertragung auf
Mitpatienten in den KBT-Gruppen und zum Therapeuten andererseits, aber auch in der
Beziehung zum Raum und zu unbelebten Objekten (Übergangsobjekten), die in diesem
Raum vorhanden sind. Im klinischen Setting wird die KBT fast immer mit einer verbalen
(Einzel- oder Gruppen-)Psychotherapie kombiniert, um das Erlebte sprachlich
auszuformulieren. Zusätzlich können kreative und imaginative Verfahren für die weitere
Umformung und Ausgestaltung des Prozesses hilfreich sein (s. „mulimethodale Ansätze“,
Kap. 7.4.1). Wilke (2000) empfiehlt die KBT unter anderem zur Behandlung von frühen und
schweren Störungen und von Patienten mit Körperschemastörungen, unter den
Bedingungen, dass „es dem Therapeuten gelingt, in der Gruppe die notwendigen
Stützungen zu geben, Abgrenzungsvorgänge zu fördern, wenn sie sinnvoll sind, und die
Realitätswahrnehmung der Gruppenteilnehmer zu fördern“ (Wilke, 2000, S. 287).
Franz (2006) nennt in der KBT-Arbeit mit Borderline-Patienten folgende Grundlagen:
• Bei gefahrenvollen Veränderungen der Realität des Patienten auf Vereinbarungen im
Therapievertrag (z.B. Regelverstösse, Hilfeplan bei Selbst- und Fremdgefährdung)
hinweisen
• Bei Lösungsversuchen Hilfe zur Selbsthilfe geben
• Auf Abwehrmechanismen achten
• Förderung von konstruktiv aggressivem Verhalten beim Patienten, indem seine
aggressiven Äusserungen an- und ernst genommen werden und ihnen nicht
ausgewichen wird. Adäquate Reaktionen und Bestehen auf Einhaltung von Regeln des
Therapievertrages, sowie das Offenhalten als Liebes- und Hassobjekt (in einer Person).
• Arbeiten mit Gegensätzen (z.B. Gegenstände, Berührungen, Tempo). Dabei die
Zwischenräume betonen und erfahrbar machen.
• Aktive Grenzsetzung
• Konfrontation mit verleugneten Inhalten und Abwehrmassnahmen
• Aufspüren und Bestätigen von Ressourcen
• Ich-stützend und Ich-stärkend arbeiten
• Entwicklung einer besseren Frustrationstoleranz
• Integrative Arbeit an der Konstitution des Körperschemas und Körperbildes.
Ausdifferenzierung der Körperwahrnehmung zur Selbstwahrnehmung als Einheit
• Beendigung der KBT-Stunde im Hier- und Jetzt
Franz (2006) hat bei den Überlegungen zum Therapieverlauf die KBT-Arbeit für die
Behandlung von Borderline-Patienten modifiziert. Sie beschreibt ihre Vorgehensweise
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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anhand eines Fallbeispiels mit einer Borderline-Patientin: Den Fokus setzt sie vom Hier und
Jetzt, also von der Oberfläche, zur Tiefe hin zu arbeiten. Der Behandlungseinstieg findet
über reale Botschaften, Erfahrungen und Handlungen statt. Es wird mit offenen Augen
gearbeitet. Zu Beginn werden der Raum und seine Gegenstände über die Sinneskanäle
kennen gelernt. Im weiteren Verlauf geht es um den Körper im Raum (z.B. im Raum gehen,
sitzen, liegen, stehen; Körpermasse im Verhältnis zu Raum- und Platzmassen). Das Ziel ist
eine Verbesserung des Realitätsbezuges durch Wahrnehmungsförderung mit verbaler
Bestätigung. Dann werden via Körperwahrnehmungen frühere Beziehungen wieder belebt
und bearbeitet. Dabei sollen korrigierende Erfahrungen erlebt und durch Verbalisation
verstanden werden. Passive Körperarbeit im Liegen führt zu regressiven Situationen. Dabei
übernimmt die Therapeutin sowohl die „holding function“ als auch eine Hilfs-Ich-Funktion
und es kann zu einer positiven Mutterübertragung kommen. Autonomieregungen der
Patientin in Form von Äusserungen von Bedürfnissen und Wahrnehmungen werden
gefördert. Frühes Erleben wird in einer Zwischenstufe zum Gespräch gestaltet, z.B. mit Ton
modelliert, gemalt oder es werden Gegenstände in die Darstellung miteinbezogen. In der
darauf folgenden Zeit wurden Zwischenräume zum Thema (z.B. Erfahrungen von Annähern
und Abstandhalten in der Beziehung zwischen Patientin und Therapeutin;
Körperinnenräume wahrnehmen). Durch vermehrte Hinzunahme von Gegenständen wurden
Symbolisierungsprozesse in Gang gesetzt (Gegenstände als Symbol, Identifikationsund/oder Projektionsobjekt bzw. als Ding ins Handeln miteinbezogen). Innere Aggressionen
traten nach aussen in die Beziehung zwischen Patientin und Therapeutin durch das
Auftreten einer inneren hämischen und quälenden Stimme. Diese innere Stimme wurde als
inneres Objekt aufgefasst, dessen Funktion in dem Widerstand gegenüber Veränderung
besteht. Trennungs- und Verselbständigungsprozesse wurden am Ende der Therapie zum
Thema und mit aktiver Körperarbeit gefördert (Spüren der Festigkeit des Bodens;
wahrnehmen und fühlen von Kraft und Aktivität im Stehen und Gehen; nehmen, loslassen
und neuergreifen von Gegenständen).
Es lassen sich anhand dieses BPS-Fallbeispieles
Therapiephasen in der KBT-Arbeit unterscheiden:
von
Franz
(2006)
folgende
1. Vertrauensphase: Wahrnehmung und Wahrnehmungsfunktionen, Raumerleben
2. Phase der Regression: Ganzheitsgefühle über Körperangebote erfahrbar machen
3. Konflikt- und Übungsphase: a) Partnerarbeit: Abgrenzung und „Für-sich-einstehenkönnen“ durch Rückmeldungen während des Tuns in Ich-Aussageform und b) Umgang
mit Materialen Differenzierung von Selbst- und Objektbildern. Arbeit mit Symbolen Fähigkeit zur Abstraktion, Erkennen und Distanzierung.
4. Trennungsphase: Wiederholung von Angeboten, Trennungsthemen und –inhalte
anschauen.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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7.4.3.2
Körperorientierte Psychotherapie bei traumatisierten Borderline-Patienten
Traumatisierungen können bereits bei der Geburt oder sogar schon intrauterin (Bsp.
Depressive Schwangere zu wenig Serotonin vorhanden gelangt durch die Placenta
über die Nabelschnur zum Kind Embryo erfährt und übernimmt auf biochemischem Weg
Gefühle der Mutter) geschehen. Die frühesten erlittenen Traumata sind in unserem
Organismus gespeichert, nicht aber in verbalen Mustern. Ergebnisse der
neuropsychologischen Forschung weisen darauf hin, dass traumatische Erfahrungen so tief
ins Affektive und Vegetative hineinreichen und über das limbische System fixiert sind, dass
sie durch primär kognitive und verbal orientierte Verfahren der Psychotherapie nicht
zugänglich sind. Frühe und früheste Traumata können durch Körperinterventionen wieder
bewusst gemacht werden und die Patienten erinnern dabei keine Bilder oder konkrete
logische Zusammenhänge, sondern starke Gefühle und körperliche Empfindungen. Bereits
der Psychoanalytiker Ferenczi (*1873 – 1933†) vertrat 1928 die Ansicht, dass es durchaus
sinnvoll sei, Patienten, die intensiven infantilen Traumatisierungen ausgesetzt waren, auch
zu berühren, wenn dies Halt und Struktur gebe und somit dem therapeutischen Prozess
förderlich sei. Es gehe darum, emotionale Mangelzustände durch eine mütterlich getönte
Zuwendung auszugleichen und die Patienten dadurch emotional zu stabilisieren. Viele
Autoren (Bolen, 2006; Papousek & Papousek, 1998; Petzold, 1993, 2003) weisen darauf
hin, dass sich Schädigungen der frühen Lebensphase natürlich potenziell stark auf alle
Bereiche der Entwicklung auswirken, weil der Säugling und das Kleinkind Abwehr gar nicht
oder nur rudimentär (nur Abspaltung als eine passive Folge von Traumafolgen zur
Verfügung) entwickelt haben, dass jedoch auch die Kompensationsmöglichkeiten erheblich
sind. So muss eine traumatisch verlaufene frühe Lebenszeit nicht zwangsläufig automatisch
zu späteren psychischen Schädigungen führen. Daher kann man die BPS, die zu den frühen
Störungen oder Schädigungen gezählt wird, nur verstehen, wenn man sie als Störung
begreift, die sich in einem ganzen Leben entwickelt hat „als Kette solcher NegativErfahrungen [,die] im gesamten Lebenslauf nicht abgerissen ist“ (Petzold, 1993, S. 20ff.).
Im Erwachsenenalter Traumatisierte spalten oft die traumatischen Geschehnisse ab. Die
Abspaltung als primärer Abwehrmechanismus beim Säugling steht uns – neben vielen
weiteren Abwehrmechanismen - in der Not als Erster zur Verfügung. Die seelischen und
körperlichen Schmerzen bleiben im Organismus - im linken Nukleus Amygdale, einem Teil
des limbischen Systems – gespeichert und die traumatischen Erlebnisse werden bei
bestimmten Auslösern aufs Neue getriggert. Viele Autoren (Bolen, 2006; Petzold & Orth,
1990; Van der Kolk, Bessel, McFarlane, Alexander & Weisaeth, 2000) berichten, dass man
durch rein verbale Psychotherapie alleine nicht an dieses Geschehen herankommt, wohl
aber durch gezielte körperorientierte Techniken.
Körperorientierte Psychotherapie vermag also Traumata früher und frühester Kindheit
wieder zu erinnern, um sie der Verarbeitung zugänglich zu machen, ebenso Folgen von
Schocktraumatas im Erwachsenenalter.
Im Unterschied zu einer lediglichen Wiederholung (die eine neuerliche Traumatisierung
bedeuten würde) geschieht das Wiedererleben diesmal innerhalb der sicheren
therapeutischen Beziehung. Der Therapeut repräsentiert die Gegenwart, die Sicherheit, den
Schutz und das Kraftpotential des Erwachsenen. Ausserdem sollen innerhalb des
Wiedererlebens auch die abgespaltenen oder verdrängten Emotionen erlebt werden und
zugleich auch die dazugehörige körperliche Empfindung. Wenn auf allen diesen Ebenen
gleichzeitig das Trauma wieder bzw. erstmals vollständig erlebt werden kann, also eine
Verknüpfung geschieht, ist Heilung möglich.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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7.4.4 Körperorientierte Psychotherapie der BPS im stationären Setting
Auch heute noch wird zwischen entweder rein verbalen Behandlungen (Psychotherapie im
engeren Sinne) oder reinen Körpertherapien unterschieden, was einer Trennung zwischen
Geist/Psyche und Körper entspricht. Im stationären Bereich ist es weit verbreitet, dass
derselbe Patient einerseits „psychisch-geistig“ und andererseits „körperlich“ von jeweils
unterschiedlichen Personen behandelt wird.
Körpertherapien sind zwar im stationären Bereich vielerorts gut etabliert, werden aber oft
nur als (weniger wichtiger) Zusatz zu psychotherapeutischen Verfahren eingesetzt,
ausgeführt
von
Sportlehrern
mit
Zusatzausbildung,
Physiotherapeuten
oder
Atemtherapeuten. Es handelt sich dabei um Behandlungsverfahren mit meist
pädagogischem Ansatz, wie z.B. die Feldenkrais-Methode, Atem-, Bewegungs- und
Sporttherapien. Als anerkannte Methoden der Psychotherapie und am meisten angewandte
körperorientierte Verfahren nennen Remmel et al. (2006) die Konzentrative
Bewegungstherapie KBT (s.o.), die Bioenergetik und die Funktionelle Entspannung.
Leider wird so die Chance verpasst, dass eine integrierte Behandlung durch ein und
dieselbe Therapeutin die bessere Integration der beiden Lebensbereiche eröffnet (Maurer,
1999).
Die Körperpsychotherapie hat zumindest in der klinisch-stationären Therapie
psychosomatischer Störungen und Erkrankungen immer mehr Anerkennung erlangt,
währenddem ihr Einsatz und ihre Effizienz in der Therapie von Persönlichkeitsstörungen
eher in Frage gestellt wird. Das hat nach Michels (2005) vor allem damit zu tun, dass die
bisher entwickelten körperpsychotherapeutischen Methoden in der Therapie von
Persönlichkeitsstörungen deutlich an ihre Grenzen stossen. Denn genauso wie die verbal
orientierte Psychotherapie der BPS benötigt auch die Körperpsychotherapie entsprechend
differenzielle Konzepte für die BPS.
In unseren Recherchen fanden wir zumindest einen Behandlungsansatz für Patienten mit
ich-strukturellen Störungen/Defiziten und von Persönlichkeitsstörungen, der auch für BPSPatienten im stationären Umfeld anwendbar ist: die Strukturelle Körperpsychotherapie nach
Michels (2005).
Die Strukturelle Körperpsychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen
Die Strukturelle Körperpsychotherapie wurde von Alois Michels (2005) entwickelt, um eine
Körperpsychotherapie-Methode darzustellen, die speziell für die Therapie von Patienten mit
ich-strukturellen Störungen oder Defiziten konzipiert wurde. Sie ist das Ergebnis seiner
Erfahrungen mit Körperpsychotherapie bei der Behandlung von Patienten mit ichstrukturellen Störungen/Defiziten und mit Persönlichkeitsstörungen im klinischstationären Bereich über zwei Jahrzehnte. Der Begriff Struktur wird in der Strukturellen
Körperpsychotherapie nach der Struktur-Theorie der Integrativen Therapie (Rahm, Otte,
Bosse & Ruhe-Hollenbach, 1993) verwendet. Struktur bezeichnet „den Bauplan von
Beziehungen, die zwischen den Elementen und Subsystemen eines übergeordneten
Gesamtsystems bestehen, sowie die Installierung dieser Beziehungen“ (Michels, 2005, S.
210). Dabei ist Struktur etwas enorm Dynamisches, das sich ständig entwickelt und
verändert und durch Austauschprozesse eines Systems mit seiner Umwelt entsteht. Die
strukturelle Körperpsychotherapie zielt auf die Installierung oder Restaurierung von
Strukturen, „weil die Arbeit an und mit der Struktur den Menschen tiefer erfasst, berührt und
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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verändert, als dies in der Vermittlung und Bereitstellung von Fähigkeiten der Fall ist…“
(Michels, 2005, S. 210).
Michels geht von einem komplementären „kreuzmodalen“ Therapiekonzept aus, d.h.
von einer Kombination verbaler Psychotherapie und Körperpsychotherapie (evtl. unter
Einbeziehung von Kunsttherapie) in der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen.
Die Strukturelle Körperpsychotherapie beruht auf vier anthropologischen Basiskonzepten.
Eines davon ist das Korrespondenz-Konzept der Integrativen Therapie (Rahm et al.,
1993). Der Begriff Korrespondenz bezeichnet in der Integrativen Therapie die fundamentale
Tatsache, dass wir ständig in Beziehung zu unserer Umwelt und zu unseren Mitmenschen
stehen, und wir uns ohne diese Korrespondenz weder entwickeln noch überleben könnten
(s. auch Kap. 9). Diese Korrespondenz existiert vom Beginn unserer Entwicklung, d.h. von
der Zeugung an, und wird mit der Methode der Strukturellen Körperpsychotherapie spürbar,
erlebbar, nacherlebbar gemacht. Sowohl die Säuglingsforschung (Stern, 1992) als auch die
Hirnforschung bestätigen dieses Korrespondenz-Konzept. Die Säuglingsforschung weist
nach, dass ein Säugling sich die genetisch angelegte Korrespondenz mit der Lebenswelt
nach und nach in seinem Ich-Bewusstsein selbst anzueignen beginnt (Stern, 1992).
Michels betont v.a. die Wichtigkeit eines differenziellen Struktur-Modells für die
präverbale Entwicklungsphase in der Therapie von Persönlichkeitsstörungen. Im Konzept
der Strukturellen Körperpsychotherapie werden zwölf allgemeine neuronal-mentale
Strukturen der Selbst-Entwicklung definiert und nach vier Entwicklungsstufen differenziert.
Diese Strukturen haben ihre theoretische Fundierung in den anthropologischen Konzepten
(s.o.), sowie in den Ergebnissen der Säuglings- und Hirnforschung.
In der Strukturellen Körperpsychotherapie werden nebst dem Körper auch die Raum- und
die Zeitdimension miteinbezogen.
Die wichtigsten Therapiephasen und entsprechende Therapietechniken der Strukturellen
Körperpsychotherapie sind:
• Verankerung
Verankerungsstufe 1: Beispiel einer Praxisanleitung: Wahrnehmung der Unterlage, auf
der der Patient sitzt wenn stabile Konzentration auf Unterlage möglich, Unterlage =
Ankerpunkt Konzentration kurzfristig auf einen anderen Punkt Rückkehr zum
Ankerpunkt Unterlage wenn Konzentration auf den Ankerpunkt sofort wieder da ist =
Verankerung strukturell stabil. Verankerungsstufe 1 entspricht einer taktilen
Verankerung.
Bei ich-strukturell schwer geschädigten Patienten kann es bereits auf dieser Stufe zu
ersten massiven Reaktionen wie Panikgefühlen und anderen heftigen Gefühlszuständen
kommen, welche häufig Ausdruck einer inneren Verzweiflung sind. Der Therapeut leistet
dann viel Übersetzungsarbeit und erklärt dem Patienten, dass es darum gehe, diese
zuvor oft verdrängten Gefühlszustände erst einmal bewusst wahrzunehmen und
verstehen
zu
lernen.
Verankerungsstufe 2: zusätzlich zur taktilen Verankerung eine visuelle Verankerung
(einen Gegenstand visuell stabil speichern) und deren Verbindung miteinander.
Verankerungsstufe 3: Integration der Verankerung in den Lebensalltag =
Aktualitätstraining (Training im Hier und Jetzt)
• Integration
des
primären
Körperschemas
(Positionsschema)
Wahrnehmung der Körperpositionen (Sitzen, Stehen, Vierfüsslerstand, Gehen, Liegen) Kontakt zu spezifischen Körperpositionen herstellen können
• Integration
der
drei
Ebenen:
Gedanken
–
Gefühle
–
Körper
Technik der „3-Ebenen-Wahrnehmung“ sichere und stabile Wahrnehmung der
vielfältigen unterschiedlichsten Empfindungen und Eindrücke innerhalb dieser drei
Ebenen
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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•
•
Der Boden, der Raum, die Strecke – die Repräsentanzen einer gelungenen
Integration aller wichtigen Strukturen der frühen Zeit im Körper
Der Boden – das Symbol für das Ja zum Leben Sätze: „Ich bleibe hier“, „Ich nehme
teil“,
„Ich
mische
mit“
Der Raum – Symbol für den objektgestützten inneren Halt Ressourcen, stabile
Strukturen
oder
Fähigkeiten
in
sich
entdecken
Die Strecke – Symbol für die innere Beziehung zu einer überschaubaren nahen Zukunft
Verantwortung für sich und die eigene Zukunft übernehmen
Integration
des
sekundären
Körperschemas
(Raumschema)
Sekundäres Körperschema = Fähigkeit, den eigenen Körper propriozeptiv, kinästhetisch
und optisch-visuell – als Ganzes und im Bezug zum eigenen Körper – stabil
wahrnehmen zu können
In der Therapie folgt Schritt auf Schritt in der oben genannten Reihenfolge, jeweils auf dem
Erreichen von Stabilität der vorhergehenden Strukturen aufbauend. Dies erfordert ein
zunehmendes Mass an Komplexität und Integrationsleistung, d.h. innerhalb einer Übung
werden mehrere strukturelle Leistungen und Fähigkeiten angeleitet und hintereinander
abgerufen. Wenn eine Struktur stabil integriert ist, d.h. dem betreffenden Menschen innerlich
gehört und er über diese Handlung verfügen und sie steuern kann – beginnt anschliessend
nicht selten eine Phase von längerer Stagnation, bis die Inangriffnahme der jeweils nächsten
Struktur möglich ist.
In der Strukturellen Körperpsychotherapie kommt es zu einer Integration basaler IchStrukturen und schliesst mit der Integrationsarbeit des sekundären Körperschemas ab. Ziel
auf der letzten Stufe ist, Situationen von damals so authentisch wie möglich, mit all ihren
Aspekten und Facetten wahrzunehmen und anzuerkennen, um schliesslich mit den jetzt zur
Verfügung stehenden Ich-Strukturen und Ich-Kräften sich das zu nehmen, was zur
Verfügung steht, und das loszulassen, was nicht zur Verfügung steht. Es geht also um die
Integration biografischer Quellen und Ursachen von Pathogenese und Salutogenese.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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EMPIRISCHER TEIL
8.
Fallbeispiele „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ aus eigener
Therapietätigkeit
8.1. Fallbeispiel 1: Borderline-Persönlichkeitsstörung (DSM-IV, ICD-10)
Psychiatrisches Erstgespräch
Basierend auf dem Erstgespräch mit Frau T. Börries am 17. 11. 2005 wurde durch sie
folgendes Beschwerdebild erhoben:
Aktuelle Situation / Beschwerden:
Die Pat. C.R. (17 Jahre alt) berichtet, seit Monaten immer wieder unter
Stimmungsschwankungen zu leiden. Seit ca. 6 Monaten sei der Antrieb deutlich reduziert,
sie weine häufig, habe an nichts mehr Spass.
In der Vorgeschichte sei die Scheidung der Eltern eine sehr schwierige Zeit gewesen. Die
Patientin lebt nun allein mit der Mutter, welche in der Vorgeschichte unter BurnoutSymptomen gelitten hat. C.R. gibt an, dass sie in letzter Zeit häufig in der Schule gefehlt
habe, nun auch Probleme wegen den Absenzen habe. Zum Reit- und Gesangsunterricht
gehe sie auch nicht mehr häufig, mit Kollegen sei sie seltener unterwegs. Ihre Mutter sei ihre
beste Freundin, weitere Vertrauenspersonen gebe es nicht.
Weiters berichtete die Patientin C.R., dass ihr Essverhalten gestört sei. So esse sie
zeitweise grosse Mengen, wenn die Mutter nicht zu Hause sei, erbreche aber alles wieder
provoziert. Gemeinsame Essen mit der Mutter gebe es kaum, jeder esse, wann und wie er
wolle.
Erwartungen der Patientin: Stimmungsstabilisierung und Orientierungshilfe
Besonderes: In der Familie gab es wohl väterlicher- wie mütterlicherseits mehrere Suizide.
In emotional belastenden Situationen greift der Vater häufiger zu dosiertem Alkoholkonsum.
Die Patientin hat Angst, an Depressionen zu leiden.
Diagnose:
Probleme in der primären Bezugsgruppe, einschliesslich familiärer Umstände (ICD 10: Z63)
Ungeeignete Ernährungsweise und Essgewohnheiten (ICD 10: Z72.4)
Differentialdiagnose: Bulimia nervosa (ICD 10: F50.2)
Anmerkung: Aus der Sicht von T. Börries ist die Diagnose einer depressiven Störung aktuell
nicht sicher zu stellen, aber nicht auszuschliessen.
Medikation: keine
Die Patientin C.R. wurde für eine ambulante Psychotherapie an D. Maag delegiert.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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Ergänzende Informationen aus dem Psychotherapeutischen Erstgespräch (19. 11.
2005)
• Patientin kommt aus eigenem Anlass, weil sie das Gefühl hat, „es stimme mit ihr etwas
nicht mehr“.
• C.R. spricht von Panikattacken, extremer Nervosität und Spannungszuständen, die sie
in der Schule immer öfters überfallen. Gründe dafür kann sie nicht finden.
• Wiederholt mehrfache Ausgrenzungssituationen in der Schule erlebt.
• Therapierfahrung: einige Stunden Familienpsychotherapie im Alter von 10 Jahren
• Akzentuierung zur Trichotillomanie (F63.3)
• Erster Verdacht auf emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus
(ICD-10: F60.31)
Psychopathologischer Befund aufgrund des psychiatrischen Erstgesprächs und
aufgrunnd der ersten psychotherapeutischen Sitzung
17-jährige, bewusstseinsklare und wache Patientin mit erhaltener Orientierung in allen
Qualitäten. Konzentration, Aufmerksamkeit und Auffassung scheinen unauffällig zu sein.
Das Langzeitgedächtnis zeigt sich – soweit beurteilbar – als nicht beeinträchtigt. Im formalen
Gedankengang zeigt sich C.R. geordnet, aber leicht verlangsamt. Äusserungen sind logisch
und nachvollziehbar. Inhaltlich keine Anzeichen für Wahngeschehen und Zwänge. Denken
stark von negativen Gedanken und passiven Sterbenswünschen geprägt. Ich-Störungen
(Entfremdungserlebnisse) sowohl Sinnestäuschungen werden verneint, hingegen
Schwierigkeiten in der Abgrenzung von Meinungen anderer und leichte Beeinflussung durch
Kollegen und Bezugspersonen. Affektiver Rapport kommt gut zustande. Die Patientin
erscheint traurig und ratlos zu sein. Hinweise auf Affektlabilität zur weiteren Beobachtung: In
Beziehung zur Mutter starke Affektambivalenzen und schnelle Affektwechsel von Gereiztheit
und Wutäusserungen einerseits und kindlicher Dankbarkeit „Ohne meine Mutter hätte ich
niemanden“ andererseits (Liebe vs. Hass). Anzeichen von Parathymie bei Diskussionen
über passive Todeswünsche. Grundstimmung depressiv. Interessensverlust, Freudlosigkeit,
Grübeln, Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Antrieb wie auch die Psychomotorik
mittelgradig reduziert. Von Selbst- und Fremdschädigungsgedanken distanziert sich die
Patientin.
Wirkung / erster Eindruck der Patientin
Ca. 1.70 m gross, vorsichtig, zurückhaltendes und beobachtendes Verhalten, Wirkung
verstärkt durch Haltung: „eingefallener Oberkörper“, gerundeter Rücken, vorfallende
Schultern, leicht nach vorne geneigter Kopf (hypotone Muskelspannung). Flache
Brustatmung. Ungleiche Körpergewichtsverteilung (immer auf rechtem Bein stehend), nach
innen fallende Knie, eher unsicherer Gang (anfangs 2005: zweite Knieooperation). Krallt
sich mit Zehen an den Boden fest.
Geringe Introspektionsfähigkeit, rationale und intelligenzmässige Überbetonung, fehlender
emotionaler Ausdruck. Verzerrtes und häufig wechselndes Körperbild („fühle mich so dick
wie ein Elefant“.)
Als Th. grosse Bedenken, da keine Erfahrung in der Therapie von Jugendlichen. Eindruck,
dass C.R. Verbündete gegen ihre Mutter sucht.
Ganzheitsdiagnostik:
Salutogramme
und
Pathogramme
Lebensdimensionen des anthropologischen Würfelmodells IKP
der
sechs
•
Psychisch-geistige Dimension
Hohe Intelligenz. Hoher Eigenverantwortlichkeitsanspruch („Ich brauche niemanden. Wollte
als Kind immer für mich selbst schauen.“), Hilfe von aussen wird erst in Notfällen eingeholt.
Seit 2005 ständige Grübeleien v.a. über Position in der Klasse. Unkonzentriertheit in der
Schule und immer häufiger werdende Angstzustände (körperliche Auswirkungen: Atemnot,
Zittern an Händen) und räumliches Einengungsgefühl, wenn sie eingeengt zwischen zwei
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Schulkollegen dem Unterricht folgen muss. Häufig betrübte, niedergeschlagene, depressive
Stimmung und negative Gedankengänge. Emotionale Stimmungsschwankungen. Eigene
Bedürfnisse und Meinungen hinter einer Maske „der lieben Tochter resp. Kollegin“ versteckt.
Affektlabilität. Stark kontrollierender Über-Ich-Anteil. Selbstentwertung und –ablehnung
hinsichtlich
Aussehen
und
Verhalten,
Über-Idealisierung
anderer
weiblicher
Schulkolleginnen
(verzerrte
Selbst-/Fremdbildwahrnehmung).
Selbstbestrafungsmechanismus über Fressattacken. Mangelhafter Gefühlsausdruck sowie
fehlende Introspektionsfähigkeit, Lebensfreude und Hoffnung. Hobbies: Sologesang im
Einzelunterricht, Musik hören
• Körperliche Dimension
Schon seit Kindheit mässige sportliche Betätigung (Aerobic, Reiten). Wegen mehrfachen
Knieoperationen und lockeren Bändern ist Schonhaltung entstanden. Reiten bis vor einem
halben Jahr (vor Symptomentwicklung) als grosse Leidenschaft, aber vernachlässigt, weil
C.R. das vertraute Reitpferd mit anderen Mädchen teilen musste. Zur Rehabilitation nach
den Knieperationen Krafttraining im Fitnessstudio, nur mit mässigem Engagement. In der
Therapie fällt auf, dass sich die Patientin gerne zu Musik bewegt, wenn auch mit eher steifer
Körperhaltung.
Körperbild und Körperbezug ist sehr distanziert und verzerrt, die Selbstwahrnehmung
reduziert. Von der Mutter und der Grossmutter mütterlicherseits wurde ihr stets vorgehalten,
zu dick zu sein. Das seit ihrem 11. Lebensjahr. Regt sich häufig über die rigiden
Überzeugungen von Mutter und Grosseltern mütterlicherseits auf, wagt aber nicht zu
widersprechen. Zweimal wöchentlich stattfindende „Fressanfälle“ (mit provoziertem
Erbrechen). Unausgewogene Ernährung: wenig Gemüse und Früchte. Alkoholkonsum im
Ausgang. Körperliche Selbstverletzungen verneint.
• Beziehungsmässige-soziale Dimension
Gefühl der Nähe seit Kleinkindalter immer schon auf den Vater (47, Informatiker) gerichtet.
Zur Mutter (47, Informatikerin) - seit C.R. denken mag - eher distanzierteres Verhältnis. C.R.
empfindet sich nicht als ein Wunschkind. Als der 2 Jahre jüngere Bruder geboren wurde,
wurde dieser schon bald der „Liebling“ der Mutter. Bruder war immer das „Mami-Titti“, was
C.R. aber nicht ausgesprochen störte, weil der Vater ihre Hauptbezugsperson war. Von ihm
erhielt C.R. primär Zuwendung. Diese Dyadenspaltung (Mutter-Sohn und Vater-Tochter)
erhielt mit elterlichen Problemen, Trennung und Wegzug des Vaters (Patientin war ca. 12
Jahre alt) eine jähe Wende. Beziehungsprobleme mit der Mutter verschärften sich akut.
Wunsch zum Vater zu ziehen wurde ihr wegen den engen Wohnverhältnissen verweigert.
C.R. trägt seither noch immer das Gefühl der Verlassenheit, des „Ausgestossen- und
Abgelehnt-Werdens“ in sich. Unterdessen gute und enge Beziehung zum Bruder.
Erfahrungen mit Schulkollegen wurden sehr stark negativ gefärbt. Wegen ihrer
„intellektuellen Überbegabung“ konnte C.R. zweimal die eine Klasse überspringen, was ihr
im Klassenverbund jeweils einen Sonderstatus als „Liebling der Lehrer“ einbrachte. Von der
Klasse wurde sie gehänselt und als „Streberin“ ausgeschlossen. Auch in der altersmässigen
Entwicklung (Pubertät, Sexualreife) gaben ihr die Schulkollegen zu verstehen, „falsch am
Platz zu sein“. Zu Therapiebeginn Besuch des letzten Jahres vor Gymnasialabschluss in
Zürich. Ein bis zwei gute Freunde – meist männliche Schulkollegen. Gute Freundinnen
wechseln häufiger. Kurze Beziehung von ca. 1½ Monaten zu einem Mitschüler, im Frühjahr
2005 Trennung gegen Willen von C.R.. Erlebtes Wiederaufflackern der alten Wunde der
Einsamkeit (die sie in Familie erlebt hatte), Schuldgefühle und Wut, weil der Ex-Freund die
Trennungsgründe nicht mitgeteilt hatte.
Beziehung der Eltern zu deren Herkunftsfamilie:
Die Mutter der Patientin hat ein nahes Verhältnis zu ihren Eltern und lässt sich bei vielen
Entscheidungen durch diese beraten – aus Angst etwas falsch zu machen. Auch grosser
Einfluss der Grosseltern in Erziehungsfragen und Verhaltensprinzipien. C.R. wirft ihrer
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Mutter deswegen Unselbstständigkeit und Unbeständigkeit in ihrer Meinungsbildung vor. In
der Familie der Mutter hatte es bereits zwei Suizide gegeben.
Vater von C.R. lebt seit sieben Jahren mit seiner neuen Partnerin zusammen, die ihrerseits
zwei Kindern aus vorheriger Beziehung eingebracht hat. Ein Kind aus gemeinsamer
Partnerschaft.
Abwehrmechanismen
1.
Projektion von aggressiven und wütenden Selbstanteilen insbesondere gegenüber der
Mutter. („Meine Mutter nörgelt ständig an mir rum, nichts ist recht an mir. Sie schreit
mich dann an, wenn ich wieder ein Paar Schuhe gekauft habe. Nur weil sie
unzufrieden ist mit ihrem Leben und selbstunsicher. Ich kann eine solche Mutter nicht
akzeptieren.“).
2.
Retroflektorische Kompensationshandlungen (Fressanfälle, Alkohol) bei häufigem
Allleinsein und bei Verlassenheitsängsten („Ich bin an allem Schuld. Mich kann man
nicht lieb haben. Immer enttäusche ich Menschen, die ich gern habe.“).
• Dimension des Raumes
Nimmt von der Körperhaltung her wenig Raum für sich in Anspruch (verschränkte Arme und
Beine). Bei Verlassenheitsängsten werden aggressive Wutausbrüche und Heul“attacken“
gezeigt, die gegen die Mutter gerichtet sind. Nachträglich intensiver Wunsch nach
verschmelzender Nähe. Seit Kindergartenalter Gefühl, keinen Raum zur Verfügung zu
haben, in dem C.R sich geborgen und aufgehoben fühlen kann. Trennung vom Vater war
das einschneidende Erlebnis „verlassen und allein“ zu sein, ein Gefühl, der (Raum-)Enge,
des „Sich-Klein-machen-müssens“ begleitet sie seither immer. In dem Dreiecksverhältnis –
Patientin, Mutter und Bruder – übernahm Patientin die Rolle der Rebellin, des Störefrieds
und ging so immer mehr auf Distanz.
Persönlicher Freiraum wird zu Hause als einengend unter den rigiden Richtlinien und
Double-Bind-Anforderungen der Mutter erlebt, hinzu kommt der Druck des engen „Schulund Prüfungsplans“ vor der Matura. Panikattacken v.a. in der Schule und im Zug
(agoraphobische Tendenzen). Seit dem Beziehungsabbruch durch Freund Rückzug vom
sozialen Kollegenumfeld (aus Scham und Selbstentwertung), erlebt dadurch immer mehr ein
„Sich-Rausbewegen-aus-der-Welt“ und eine Sinnlosigkeit sowie Lebensmüdigkeit.
Gegenüber Schulkollegen häufiges Gefühl, sich nicht einbringen zu können; was zur Folge
hat, dass sie von diesen missverstanden und in ihrer wahren Persönlichkeit nicht erkannt
wird, was sehr belastend für C.R. ist.
• Dimension der Zeit
Wenig Freizeitaktivitäten. Starke Zeitbelastung durch bevorstehende Maturaprüfung („stehe
unter Prüfungsdruck, obwohl ich gute Noten habe“). Passive Nutzung der persönlichen
Freizeit: Fernsehschauen, Modejournale anschauen, auf dem Bett liegen und grübeln.
Fehlendes Gefühl der Entspannung.
Keinerlei Zukunftsvisionen – weder beruflich noch privat. Häufiges Gefühl, sich in einem
zeitlosen Raum zu bewegen.
• Spirituelle Dimension
Kann sich nicht erinnern, sich je geborgen und eingebettet in einem grösseren Ganzen
gefühlt zu haben trotz einigermassen „schöner Kindheit“. Sinnfrage und Lebensmüdigkeit
bewegt sie seit einigen Jahren, seit 2005 sogar sehr stark.
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Krankheitsentstehung:
mulitfaktorielle
und
mulitdimensionale
Entstehungsgeschichte anhand der 3-Phasen-Theorie der Symptomentstehung
(Maurer, 1999, S. 72)
Im Frühling 2005 trennt sich der Freund von der Pat. erlebt die Trennung vom Freund als
verletzendes Zurückgewiesenwerden Schuld- / Insuffizienzgefühle Scham Angst vor
Spott durch die Mitschüler „Sich-Klein-Machen“ und sozialer Rückzug stark erhöhter
Muskeltonus des Körpers gestörter Atemrhythmus (flache Brustatmung) Angst- und
Panikentwicklung während den Schulstunden fehlende Entspannung in der Freizeit nächtliche Einschlaf-/Durchschlafschwierigkeiten sowie Albträume Müdigkeit während
des Tages Unkonzentriertheit, Gedankenabschweifen, Grübeleien und Passivität Vernachlässigung persönlicher Ressourcen Verlust von zukunftsgerichtetem Handeln Kraft-/Energielosigkeit Stillstand, Gefühl des Gefangenseins in einer Leere Ohnmacht
Freudlosigkeit, Interessensverlust Lebensüberdruss.
C.R’s Schamgefühle führen zu einer weiteren Verstärkung der Selbstentwertungsspirale Selbstbestrafung durch übermässige Fressanfälle und Alkoholkonsum Hilflosigkeit Scham Selbstentwertung etc.
Das durch den sozialen Rückzug bedingte häufige Alleinsein reaktiviert und verstärkt
Denkschematas der Kindheit („Ich hab alles im Griff“. „Ich bin die Starke und muss meine
Probleme alleine in den Griff bekommen“) Verstärkte Eigenkontrolle (Über-Ich), um
Selbstbilderhaltung nach aussen zu bewahren Verdrängung und Abspaltung
unangenehmer Gefühle Ablenkung durch Aktivitätshektik, um Gefühle nicht spüren zu
müssen Nervosität, innere Unruhe hohe Spannungszustände erlebte Lebensqualität
sinkt Überschwemmtwerden von aversiven Emotionen (Impulsivität) Kontrollverlust Fressanfälle, Alkoholkonsum Scham Sinnlosigkeit usw.
Die oben genannte Dynamik von Einflüssen ist nicht abschliessend zu verstehen. Ebenso
wenig darf nicht daraus interpretiert werden, dass eine lineare UrsacheWirkungsbeeinflussung von Faktoren besteht, sondern die Einflussfaktoren aller
Lebensdimensionen wirken wechselseitig und mutlifaktoriell aufeinander.
Therapievorgehen
Therapiestrategie, -planung und -ziele über den gesamten Therapieverlauf
Der Tatbestand, dass C.R. bereits nach den ersten zwei Therapiestunden (die auf eine
Ressourcenaktivierung und in erster Linie zum Beziehungsaufbau und erster
Symptomerleichterung genutzt werden sollte) , aus eigenem Wunsch wegen akuten
Suizidgedanken und starken emotionalen Anspannungen hospitalisiert werden wollte und
der nachfolgend bestätigte Verdacht auf emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom
Borderline-Typus (ICD-10: F60.31) gab dem Therapieplan und -vorgehen eine andere
Wende. Aufgrunddessen wurden folgende Therapieschwerpunkte gewählt:
1.
2.
3.
Aufbau einer vertrauensvollen Therapiebeziehung (nach C. Rogers), die zu den
defizitären Erfahrungen immer wieder korrektive Erfahrungen ermöglicht: Als Teil
davon Psychoedukation für C.R. und deren Eltern über die Probleme, Symptomatik,
Ursachen, Zusammenhänge, Therapiemöglichkeiten und –erfolge bei BPS. Ziele:
Informationstransfer, Vermittlung von Gefühlen des Verständnisses und Ausblick.
Besondere Beachtung der Abhängigkeitsentwicklung gegenüber der Therapeutin.
Therapiebündnis: Bedürfnisse, Erwartungen an die Therapie, Möglichkeiten,
Bedingungen und Grenzen der Psychotherapie aufzeigen, „gemeinsame Spielregeln“
zw. Th. und Patient festlegen, Setting, Therapieauftrag und –ziele.
Schriftliche Verträge und Abmachungen bezüglich suizidaler Krisen (Vorgehen,
Verantwortlichkeiten, Konsequenzen bei Nichteinhaltung der Vereinbarungen).
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4.
5.
6.
7.
8.
Bulimie und Alkoholkonsum: Schweregrad (Häufigkeit des Erbrechens resp.
Alkoholkonsums, Alkoholmenge; Trinkertyp), Dynamik, Kontrollfähigkeit durch die
Patientin resp. Eltern? Entscheid bezüglich externer Hilfe von Fachpersonen:
Behandlung der Essstörung? Alkoholentzug?
Aktivierung bestehender Ressourcen (Förderung neuer Ressourcen) sowie
bewältigungsorientierte Kompetenzentwicklung zu den Themen „affektiver
Spannungsabbau, Stressbewältigung, Umgang mit impulsivem Verhalten“.
Panikdynamik: Psychoedukation „Angstkreislauf“, Erkennen des Panikmechanismus
(Auslöser, Ursprung, Nutzen, Botschaft), Verändern der bisherigen „Dynamik“, Aufbau
von Veränderungskompetenzen.
Aufarbeitung von verdrängten Gefühlen (Trauer, Wut, Angst) in Beziehungsproblemen
(Ex-Freund, Familie), bisherige Beziehungsmuster (inkl. Denkschematas) in Realität
überprüfen
(Rollenspiele,
Gestaltarbeit,
Familienstellen),
unterschiedliche
Gefühlsqualitäten erspüren lernen (Sensory Awareness), Arbeit an emotionalem
Gefühlsausdruck nach aussen, Aufbau neuer Beziehungsmuster.
Bearbeitung von „unbewussten“ prägenden defizitären Erfahrungen aus der
Lebensgeschichte (Übertragungen, Spaltung, Projektionen, vermitteln korrektiver
Beziehungserfahrung)
und
Integration
von
bedürftigen/abgespaltenen
Persönlichkeitsanteilen.
Im weiteren Therapieverlauf haben sich die Schwerpunkte der Zielsetzungen mit
wachsender Kompetenz der Patientin und Integration von Erfahrungen aus der
Psychotherapie verändert.
9.
10.
11.
Selbstbild und Selbstwertstärkung: Formgebende und stärkende Grounding- und
körperliche Ausdrucks-Übungen, Selbstbehauptungsübungen (adäquate Abgrenzung,
Widerstand und Nein-Sagen lernen), realistische Überprüfung weiblicher Vorbilder.
Wertearbeit: meine persönlichen Werte und Meinungen.
Berufliche Zukunftsplanung.
Therapieverlauf
Erstgespräch vom 29.11.2005: s. oben, Therapieziele, Bedürfnisse, Erwartungen an die
Therapie, Setting.
2. Sitzung: Panikattacken von C.R. stehen im Vordergrund. Erklären des Angst-Kreislaufes,
Abklopfübung
und
durchführen
von
einer
Groundingübung
(Fuss-BodenWahrnehmungsübung), Atemübung (Umstellen von Brust- auf Vollatmung), kognitive
Ablenkungsmethoden (abwechslungsweise die Finger halten und von 1000 rückwärts
zählen u.w.). Liste erstellen, besprechen, wann und wie die Übungen im Alltag eingesetzt
werden können. C.R. ist sichtlich erleichtert, nun auf die Attacken und Angstzustände
reagieren zu können.
HA: Abklopfübung und Anwenden der gelernten Interventionen während den
Angstzuständen und Panikattacken, Reaktionen darauf schriftlich festhalten.
Hospitalisation (PUK) vom 09.12.05 – 13.12.05 auf eigenen Wunsch, Gründe waren akute
Suizidgedanken und starke emotionale Anspannung wegen distanziertem Verhalten durch
den Ex-Freund, C.R. will nicht mehr zu Hause bleiben, sondern „aussteigen“. C.R.
veranlasst ihre Mutter mit Th. Kontakt aufzunehmen, Organisation eines stationären
Therapieplatzes durch Th. (in Absprache mit C.R. und Mutter).
3. Sitzung: Therapiespielregeln und Psychoedukation
Patientin – ruhig, gelöst, souverän wirkend - erscheint mit der Mutter. Mutter: verängstigt,
besorgt, nervös, hilflos. Enttäuschter Austritt aus der PUK auf eigenen Wunsch („hat mir dort
nicht gefallen“, „Ärzte haben sich nicht um mich gekümmert“, „stricken kann ich auch zu
Hause“). Trotzige und anklagende Forderungshaltung, Macht-Ohnmachtsverhältnis zw.
Tochter und Mutter. Mitteilung des Diagnoseverdachts „Borderline-Persönlichkeitsstörung“
durch Th. und Psychoedukation. Einholen von Therapieerwartungen der Mutter.
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Th. erzählt eine Geschichte (Metapher), die C.R’s paradoxes Verhalten von Hilfe suchen
und diese gleichzeitig zurückstossen aufzeigt. Erläutern von Bedingungen, Spielregeln und
Grenzen der Therapiehilfestellung durch Th..
HA: Pro oder Contra-Entscheid für Therapie fällen. Patientin teilt Th. telefonisch mit, die
Therapie bei ihr unter besprochenen Spielregeln weiterführen zu wollen.
4. Sitzung: C.R. äussert, gerne zur Therapie zu kommen, ist froh, dass Th. ihr in der letzten
Sitzung Grenzen gesetzt hat, braucht Grenzen und eine klare Linie, was Eltern nicht
können, Abwertende Bemerkungen über die Mutter Gefahr der Idealisierung der Th.
Reframingarbeit: Was hat meine Mutter schon für mich gemacht Wertschätzung
Informationserhebung bezüglich Schweregrad von Bulimie und Alkoholkonsum: Seit den
letzten zwei Monaten 2-3 mal wöchentlich unregelmässiger Alkoholkonsum (in Dosis von ca.
2.5 dl Bier oder 1 dl Vodka tgl.) zur Spannungsreduktion. Wiederholte Alkoholintoxikation
unter Kollegen (1x im Quartal), Fressanfälle mit selbstinduziertem Erbrechen
durchschnittlich zweimal wöchentlich, seit ca.4 Monaten) Entscheid in Absprache mit T.
Börries: keine stationäre Behandlung wegen Alkohol oder Bulimie momentan indiziert oder
sinnvoll.
HA: Liste zur Kontrolle von Alkoholkonsum und Fressanfälle führen sowie Auslöser/situationen beobachten.
5. Sitzung: Suizidvertrag, Vorgehensklärung bei nächster suizidaler Krise
Besprechen der Listen (s. HA). Selbstbeobachtungsförderung Achtsamkeitsübung VAKO
(„was nehme ich über meine verschiedenen Sinneskanäle wahr..“) Shiften von Innen- und
Aussenperspektivenwahrnehmung. Obwohl Panikattacken dank den Übungen rückläufig
sind, hat C.R. Angst vor der unbeherrschbaren Wirkung der emotionalen
Spannungszustände. Verlassenheitsängste, Einsamkeit, häufiges Alleinsein. Erweiterung
der Liste von Übungen gegen Panikattacken. Aushandeln eines Suizidvertrags von Patientin
verweigert, hingegen schriftliche Vereinbarung von Verhaltensspielregeln bei einem evt.
nächsten Suizidversuch möglich. Erarbeiten des Vorgehens bei einer nächsten Krise
(Kontaktmöglichkeiten, Erstellen von Notfalladressliste, Rolle und Aufgabe der Th.,
Informationspflicht vor einer Suizidhandlung).
HA: weiteres Anwenden von Übungen gegen die Panikattacken. Liste zur Panikbewältigung
wird als hilfreich empfunden.
6. Sitzung: Umgang mit starken Affekten, Impulshandlungen (bewältigungsorientiert)
C.R. leidet an stark wechselnden Erregungszuständen, ist hilflos, traurig, hoffnungslos.
Arbeit an der emotionalen Spannungskurve: Auslöser, Häufigkeit einer hohen Spannung,
bisher erfolglose Bewältigungsversuche, Frühwarnzeichen, Ressourcenerarbeitung für einen
besseren Umgang mit Spannung, Erarbeiten eines Notfallkoffers, Prinzip des Schiftens
erklärt. HA: tägliches Aufzeichnen von Spannungskurve, Erfahrungen sammeln mit
erarbeiteten Ressourcen.
7. Sitzung: C.R. fühlt sich stärker, da einige Methoden zum Spannungsabbau teilweise
greifen – ist erleichtert. Stark erlebter zeitlicher Druck in der Schule, Selbstentwertung („Du
bist langweiliger als andere. Du kannst nichts.“). Erarbeitung der Ressourcen-Ist-Situation
mittels Dimensionen-Diagramm: Pat. ist betroffen, so wenige Ressourcen zu nutzen.
Primär möchte sie diejenigen Ressourcen aktivieren, die ihre extremen emotionalen
Anspannungen reduzieren. Erarbeitet werden vergangene und aktuelle „VerwöhnungsMomente“. Zudem nimmt sich C.R. vor, wieder Reitstunden zu nehmen.
HA: C.R. bekommt von der Therapeutin ein Tagebuch geschenkt. Vorschlage seitens Th.,
alle belastenden Gedanken, die zum Grübeln veranlassen, schriftlich äussern.
8. Sitzung: Grounding, Abgrenzungsübung
C.R. kommt verzweifelt, hilflos und hasserfüllt in die Therapie. Ihr Ex-Freund, in den sie
immer noch so verliebt ist, hat sie vor anderen wieder „blossgestellt“ und ihre frühere
Beziehung entwertet. Gedanken rotieren, wenig Körpergefühl. Angesprochen auf ihre in den
Boden gekrallten Zehen, erzählt sie vom Gefühl, als ob ihr der Boden unter den Füssen
weggezogen würde und sie kaum atmen könne. Atemübung, Grouding-Übung „Baum“ und
anschliessende Abgrenzungsarbeit mit dem Seil, Patientin geht mit einem deutlich besseren
Gefühl des Entspanntseins, zweifelt aber diesen Zustand allein herbeiführen zu können.
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HA: Baumübung anwenden versuchen
Hospitalisation und stationärer Aufenthalt vom 15.01 - 15.02.2006: Verzweiflung, Gefühl des
Ungeliebt- und Alleinseins, Versuch der Gefühlsverdrängung Suizidversuch mit
Tablettencocktail. Einmonatiger stationärer Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung der
Psych. Privatklinik Kilchberg, Bestätigung des Verdachts auf BPS durch Diagnosestellung
der Ärzte.
Nichteinhaltung der Krisenvereinbarung, Th. wird durch Mutter informiert, nach einer Woche
SMS- und telefonischer Kontakt mit Pat.; C.R. lehnt Besuche von Mutter ab, bittet um
Besuch von Th.; Besuch bei C.R. und Gespräch mit den Ärzten.
Während des stationären Aufenthalts erstmals massive Selbstverletzungen durch Ritzen,
Sich-selber-schneiden (Imitationsverhalten von Mitpatienten, negatives Lernen am Modell).
Tagebuch wird ständiger Begleiter von C.R. Bisher unbeteiligter uninteressierter Vater wird
auf Anliegen der Th. einbezogen und aufgeklärt (Wiederanbindung an frühere
Bezugsperson). Gemeinsames Gespräch mit den Eltern und der Patientin bezüglich des
weiteren Schulbesuchs und der Information an die Lehrerschaft. C.R. möchte ein Schuljahr
aussetzen, um im Feb. 2006 in Littenheid eine ambulante Borderlinebehandlung zu
beginnen.
Therapiesitzungen von Mitte bis Ende Februar 2006: Praktische Lebensbewältigung bis
zum geplanten Aufenthalt in Littenheid (April 2006)
• Zeitlupen-Rekonstruktion über den Anlass der suizidalen Krise bis zur Einlieferung;
Erarbeiten der Gefühlszustände kurz vor der suizidalen Krise (Alleinsein, Streitigkeiten
mit der Mutter verursachen starke Affektreaktionen, fehlende Grenzsetzung durch Mutter
fehlende Verhaltens-Leitplanken Verunsicherung, fehlendes Schutzgefühl Wut
gegenüber Mutter Verdrängung von Aggression Selbstaggression („Es geschieht
mir recht, dass mich niemand liebt“ Fressattacken Einsamkeit).
Ressourcenerarbeitung
zur
Förderung
positiver
Geborgenheitsund
Zusammengehörigkeitsgefühlen: Wiederanbindung an „nährende“ und v.a. soziale
Ressourcen (Eincremen nach der Dusche usw., Spaziergänge, mehr Aktivitäten mit dem
Vater und dem Bruder, mehr Freunde nach Hause einladen, Grossmutter (die
Ressourcenperson) väterlicherseits und Onkel mütterlicherseits besuchen.
HA: Tagebuch schreiben. Beobachten und tägliches Aufzeichnen der Spannungskurve.
Fokus: welche Ressourcen bringen mir Wohlgefühl?
• Familiensitzung: Besprechung der Tagesstruktur und Umfeldgestaltung (Wohnsituation,
sozialer Kontakt) von C.R. bis zum Aufenthalt in Littenheid, Kommunikationsgestaltung
zwischen Mutter, Vater, Tochter insbesonders über die Spannungszustände und den
Alkoholkonsum. Gemeinsam erarbeitete Ausgangsregelungen, Konsequenzen bei
Nichteinhaltung von Vereinbarungen. Ziel: Eltern helfen, die Rolle der stärkenden
Verantwortungsträger zu übernehmen. Befindlichkeitsrunde in der Familie, Üben von
verbalem Gefühlsausdruck. Vereinbarung: Vater wird bis Eintritt in Littenheid morgens in
der Wohnung der Mutter arbeiten, damit C.R. Gesellschaft hat. HA: Umsetzen der
vereinbarten Regelungen und Befindlichkeitsaustausch in der Familie (2x wöchentlich,
abends).
März 2006: Förderung der Kommunikation unterschiedlicher Gefühle/Bedürfnisse
Förderung des eigenen Sicherheitsgefühls
• C.R. wirkt entspannter, geregelter und strukturierter Tagesablauf empfindet sie als
hilfreich. Selten Panikattacken im Zug, Alkoholkonsum und Bulimie stark rückgängig.
Ambivalenz zum Vater (Nähe vs. Distanz), geniesst aber seine Aufmerksamkeit. Setzt
grosse Hoffnung auf die DBT-Therapie in Littenheid. Langsame Körperabtastübung
(Auffinden von Wohlfühlorten des Körpers). Vater-Tochter-Beziehung: früher – heute im
Vergleich, Wünsche für die zukünftige Beziehung ausformulieren. HA: Wünsche im
Gespräch mit dem Vater formulieren.
• C.R. konnte sich gegenüber Vater nicht äussern, traurig darüber. „Sicherer Ort-Übung“
installieren. HA: Tägliches Wiederaufsuchen des sicheren Ortes.
• Erneut hohe Impulsivität wegen Auseinandersetzungen mit den Eltern. C.R. fühlt sich
„eingesperrt“, bevormundet, fühlt sich unfähig, ihr Befinden in Worte zu fassen und ist
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deshalb hilflos. Selbstverletzung („Ritzen“). Gestaltarbeit „Leerer Stuhl“ mit dem Thema
„Selbstverletzung“: Selbstverletzung in der Funktion der Selbstbestrafung („bin selber
Schuld, dass ich anders bin als andere“) und des Sich-Selbst-Spürens, Ausdruck des
Bedürfnisses ernst genommen zu werden. Suche nach anderen alternativen
Ausdrucksstrategien: an die Eltern einen Befindlichkeitsbrief oder ein E-Mail schreiben,
Farbpunkte (schwarz: „mir geht es schlecht“, blau: „mir geht es weder schlecht noch gut“
(neutral), rot: „mir geht es gut“). HA: Eltern über die Bedeutung der Farbpunkte
informieren und gemeinsam anwenden (Farbpunkte am Kühlschrank anbringen, so dass
Eltern Befindlichkeit von C.R. erkennen können).
• Befindlichkeitsfarbpunkte werden zu Hause angewendet, Erleichterung von C.R.
• Tymografisches Festhalten der momentanen Gefühlsbefindlichkeit (rechte Seite des
bemalten Blattes ist schwarz, linke Seite ist farbig, Wand dazwischen). Diskussion, wie
Wand in Alltagssituationen durchbrochen werden könnte. HA: Zu Hause häufiger ein
momentanes Befindlichkeitsbild malen; Bilder in die nächste Sitzung mitnehmen,
sicherer Ort täglich aufsuchen.
• Besprechen der zu Hause gemalten Bilder: welche Gefühle stehen hinter diesen
Bildern? Persönlicher Umgang mit diesen Gefühlen? Wie geht man in der Familie mit
genannten Gefühlen um? Wann, in welchen Situationen treten sie auf? Wie gehen sie
weg? Persönliche Bewältigung von negativ erlebten Gefühlen? HA: Sicherer Ort häufiger
besuchen
• Malen eines gewünschten Gefühlsbefindlichkeits-Sollbildes (Thymografie). Verstärken
mittels Skulturierung. Intrakorporeller Dialog zw. Ist- und Soll-Zustand, Erarbeiten einer
Mittelposition: welche Gefühle sollen meine Befindlichkeit zukünftig prägen? Wie kann
ich die gewünschten Gefühle verstärken? Mit welchen Massnahmen, Aktivitäten,
Körperhaltungen etc. in meinem Alltag integrieren etc.? Wo, wann anwenden? HA:
Umsetzung der erarbeiteten Aktivitäten und Massnahmen, um eigene Gefühle besser
steuern zu lernen
• C.R. beginnt erstmals gegenüber der Th. ihre Anliegen aktiv zu äussern, woran in der
Therapie gearbeitet werden soll. Stolz, dass sie gegenüber Kollegen ihre Meinung
vertreten konnte fühlt sich sicherer. Emotionspanorama und Ausdrucksüben von
versch. Emotionen. Rollenspiel „Förderung des emotionalen Ausdrucks“: Varianten
erproben, um eigene Bedürfnisse zu äussern, Unterscheidungsfähigkeit von Gefühlen
stärken, Würdigung aller Gefühle („Sie gehören alle zu mir und bekommen ihren Platz in
meinem Körper“). HA: Üben, eigene Gefühle wahrnehmen, unterscheiden und
willkommen zu heissen. Im Kontakt mit sich selbst bleiben.
April 2006: 3½ wöchiger Aufenthalt in der stationären „Borderline-Abteilung“ der Psych.
Klinik Littenheid, häufiger sms-Kontakt mit Th., Therapieabbruch und überstürztes
unerlaubtes Verlassen der Klinik.
• Th. setzt Bedingung für Weiterführung der Therapie: Durchführung eines offiziellen
Austrittsgesprächs von C.R. mit den Eltern und den Ärzten.
• C.R. erscheint beschämt, beklagt sich über das mangelnde Einfühlungsvermögen der
Ärzte in Littenheid, über das Unverständnis ihrer Mutter („Die kommen alle nicht draus“),
Opferhaltung. Imagination und Gestaltdialog: C.R., die die Therapie in Littenheid
beendet hat spricht mit C.R., die die Therapie abgebrochen hat. Innerer
Persönlichkeitsanteil „Rebell“ wehrt sich gegen das „Bevormundetwerden“, Gefühl des
„Abgeschobenwerdens“ vs. „braves Mädchen“. Bedauert Entscheid nicht, allein von
Skillstraining konnte sie zu wenig profitieren. Vereinbarung: Anmeldung an Skillsgruppe
in der Psych. Klinik Kilchberg.
Mai 2006: Zweiter Suizidversuch am 04.05.2006 mit Tabletten. Einlieferung in die Klinik
Wetzikon mit anschliessendem Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung der Psych. Klinik
Kilchberg, Austritt am 12. 05. 2006. In dieser Zeit hat C.R. die Übung des sicheren Ortes
weitergeübt und relativ gut verankert. Starker Lebensimpuls bei Klinikaustritt („Jetzt ist
Schluss. Ich will leben, nicht sterben“). C.R. besucht weiter das Skillstraining in Kilchberg.
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Ab Mitte Mai 2006: Stabilisierung und nochmaliges Aufarbeiten der Suizidauslöser
mittels Maltechnik
• C.R. kann die emotionalen Zustände ihrer Suizidversuche mit Hilfe ihrer gemalten Bilder
erstmals sehr differenziert beschreiben: Den Suizidversuchen gehen jeweils Phasen
voraus, in der C.R. mit hohem Tempo von einer Aktivität in die andere flüchtet, als
Verdrängung unangenehmer Gefühle. Fühlt sich dann wie in einer dichten Kugel,
emotionslos, „körperlos“, unnahbar, egoistisch bis plötzlich ohne Vorzeichen Gefühle der
Einsamkeit, der Überforderung und des Alleinseins über sie hereinbrechen, denen sie
sich
dann
heillos
ausgeliefert
fühlt.
Gemeinsame
Erarbeitung
von
Verhaltensänderungen, um der Einsamkeit, der Überforderung frühzeitig Grenzen zu
setzen: HA: Frühwarnsignale erkennen lernen und sich darin üben.
• C.R. hat sich seit letzter Sitzung eingehend mit den Einsamkeitsgefühlen beschäftigt.
Arbeit mit dem inneren Kind: Ursprung der Einsamkeit, Reinszenierung der
Ursprungssituation, Bedürftigkeit des kleinen Kindes („Was braucht es?“), Recall-andChange, Kind an den sicheren Ort bringen. HA: inneres Kind umsorgen und besuchen.
• C.R. kommt zufrieden, lebendiger in die Sitzung. Wünscht aus der Skills-Gruppe in
Kilchberg auszutreten, da sie nicht mehr profitieren könnte (Bevorzugung von
persönlichen Themen einzelner anstelle von relevanten Gruppenthemen: „Im Training ist
es mir langweilig – lerne nichts Neues“). Entscheid in Absprache mit zuständigem
Skillsgruppenleiter: Austritt von C.R.. Pat. beschäftigt sich eingehend mit ihrer Kindheit.
Aufstellung der Familiensituation vor der Scheidung der Eltern: „Platz der kleinen C.R. in
der Familie“? Zwei Koalitionen werden sichtbar: Vater und C.R. einerseits, Mutter und
jüngerer Bruder andererseits. C.R. übernimmt als „Lieblingskind“ des Vaters teilweise
Position der Mutter, „Vergötterung“ des Vaters und Ablehnung der Mutter. Aufstellung
der Familiensituation nach der Scheidung: Wut und Trauer über den unangekündigten
Wegzug des Vaters sowie Verantwortungs- und Schuldgefühle gegenüber der Mutter.
Erarbeiten eines idealen Platzes für C.R. heute. Befreiung aus der
„Triangulierungsposition“ zwischen Vater und Mutter. Wie kann der neue Platz von C.R.
eingenommen werden? Mit welchem Verhalten, welchen Äusserungen? HA: Erstellen
einer Liste „Was brauche ich um meine neue Position einnehmen zu können?
Juni 2006: Integration abgespaltener Gefühle, Förderung der Eigenverantwortung
• Aggressive Übertragungssituation auf Th. veranlasst das Thema Wut aufzugreifen. „Wut
darüber, von der Familie wie ein kleines Kind behandelt zu werden, habe keinen
Freiraum: Abgrenzung des eigenen Raumes mit dem Seil und Nein-Stampfübung.
Nachfolgend Körper-Arbeit: Partner-Wegstossübung, immer wenn C.R’s eigene Grenzen
übertreten werden. Diskussion von Alltagssituationen, in denen eigene Grenzen mehr
geschützt werden sollen, und wie das geschehen könnte. HA: für den eigenen Raum
sorgen.
• Vorgängiges Telefon: C.R. wünscht in der nächsten Sitzung mit der Mutter zu kommen.
C.R. verschafft sich zu Hause immer mehr „Platz“, verteidigt ihre Meinungen und
Ansichten, was zu zahlreichen Streitigkeiten mit ihrer Mutter führt, Wutausbrüche häufen
sich. In der Sitzung werden nach Feedback-Kommunikationsregeln die verschiedenen
Standpunkte gesammelt und Kompromisslösungen gesucht und vereinbart, die für C.R.
und die Mutter akzeptabel sind. HA: Lösungen des Zusammenlebens im Alltag
gemeinsam umsetzen.
• Standortgespräch mit C.R. und Mutter: Umsetzungserfolg der erarbeiteten Lösungen für
das gemeinsame Zusammenleben. Eigener Raumanspruch und Mut zur
Verantwortungsübernahme steigt.
• Streiteskalation zu Hause mit der Mutter. C.R. äussert telefonisch unter Tränen den
dringenden Wunsch eines Wohnortswechsels. Telefonischer Kontakt mit der Mutter:
Mutter ist erschöpft, wünscht auch eine Änderung der Wohnsituation.
• C.R. erscheint mit Tatendrang in die nächste Sitzung. Gemeinsame Erarbeitung von
Ideen und Vorschlägen zur Wohnsituationsänderung. C.R. holt aktiv Informationen über
betreutes Wohnen ein.
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•
Besprechung mit der ganzen Familie. C.R. erfüllt die therapeutische Aufgabe, ihre
Wünsche nach externen Wohnmöglichkeiten gegenüber ihrer Familie zu vertreten mit
grossen Ängsten, aber erfolgreich. Zustimmung der Familie und Besprechung des
weiteren Vorgehens.
Juli 2006: Aktivierung sozialer Hilfssysteme, um Wohnsituation von C.R. zu ändern.
• Einbezug des jugendpsychiatrischen Dienstes durch Th. in Absprache mit den Eltern:
Gesuch für Unterstützung an die Gemeinde Richterswil. Gemeinsame Gespräche mit
dem jugendpsychiatrischen Dienst, Besuche von zwei betreuten Wohngemeinschaften
zusammen mit C.R. in Zürich.
• Betreute Wohngemeinschaften lösen bei C.R. weitere Einsamkeitsängste aus: beim
nochmaligen Durcharbeiten von Ressourcenplätzen wird der Wohnort der Grossmutter
väterlicherseits genannt. Diskussion über Möglichkeiten eines Wohnortswechsels zur
Grossmutter.
• Nachfolgende Besprechungen mit der Familie sowie mit der Grossmutter führen im Juli
06 zum Umzug von C.R. zur Grossmutter, wo sich C.R. im Landleben umgeben von
vielen Haustieren (2 Hunde, Katzen, Esel) sofort wohlfühlt.
• August 2006: Zustand. Beginn der Schule
Der Wohnortswechsel zur Grossmutter bringt weitere Verbesserung des Krankheitszustandes von C.R.. Keine Panikattacken mehr, Alkoholkonsum und Fressanfälle stark
reduziert. C.R. möchte ihr letztes Maturajahr abschliessen. Gespräche Th., C.R. und
Vater mit Lehrern. Schulstart im August 06 erfolgreich.
Weiterführende Sitzungsthemen bis März 2007 im Kurzüberblick
Aufgrund der langen Therapiedauer werden ab August 06 die Sitzungsthemen
zusammenfassend grob aufgeführt.
• Arbeit an Zukunftsvisionen, Ziele, Hoffnungen: Imaginationsarbeit: Begegnung mit sich
selbst in der Zukunft
• Erarbeiten und Festigung persönlicher Werthaltungen: Auswahl neuer Freunde nach
C.R.’s Werthaltungen
• Verzerrtes Körperbild: passive und aktive Körperarbeit, um Körperkontakt zu stärken,
• Spiegelarbeit, Förderung der Körperbeweglichkeit (Arbeit mit Tanz und Stimme)
• Auflösen von Spaltungsmechanismen: z.B. Intrakorporeller Dialog mit ambivalenten
• Gefühlen und Gedanken, Pro und Kontra-Betrachtungen in Gestaltarbeiten.
• Ideale und Vorbilder: erstrebenswerte „Frauen- und Mutterbilder“, Imagination:
Begegnung mit der Ur-Mutter, Verinnerlichung der idealen Eltern usw.
Medikation
Anfangs keine Medikation, ab Dez. 2005 Temesta gegen Panikattacken, ab Feb. 2006 Seroquel100 und Fluctine20
Therapieerfolg: Vergleich zum Therapiebeginn
Die Patientin ist heute emotional stabilisiert. Normales Essverhalten, zeitweilig vereinzelt
noch hoher Alkoholkonsum im Ausgang mit Kollegen. Spannungszustände nur in extremen
Stresssituationen. C.R. absolvierte das letzte Gymnasialjahr ohne Panikattacken und konnte
sich gut in die neue Klasse integrieren. Sie hat enorm an Selbstständigkeit und Autonomie
gewonnen. C.R. kann jetzt sogar allein mit einer Freundin urlaubsmässig ohne Abstürze
oder Probleme verreisen, bleibt aber in dieser Zeit aus eigenem Wunsch in Abwesenheit per
sms mit der Therapeutin in Kontakt. Therapieunterstützung bis Ende August 2007 (1x
monatlich) als Rückversicherung von Schutz und Hilfe. Ab September 07: Beginn des
Hochschulstudiums in Kunst und Journalismus. Sie bleibt bis auf weiteres bei ihrer
Grossmutter wohnhaft.
Für die Th. wichtige Lernerfahrungen:
• Verhindern der Überidealisierung der Th.: Ansprechen von eigenen Schwächen der Th.,
• Wertschätzung und periodischer Einbezug der Eltern in die Therapiesitzungen.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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•
•
•
Alle Gefühle, die Pat. mit ihrem Verhalten auslöst, müssen seitens Th. transparent
gemacht und verbalisiert werden: „Das macht mich im Moment wütend, dass du wieder
versuchst, andere Leute zu manipulieren“. „Ich bin nicht sicher, ob ich dich weiter
therapieren möchte, wenn du die Vereinbarungen nicht einhältst. Das muss ich mir bis
zur nächsten Sitzung noch einmal überlegen“.)
Bei C.R. war der pädagogische Anteil ein wichtiger Bestandteil der Psychotherapie: v.a.
die Vorbildfunktion gegenüber C.R. und ihren Eltern betreffend konstruktiver und
transparenter Grenzsetzung kostete die Th. oft einiges an Energie.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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8.2. Fallbeispiel 2: Borderline-Persönlichkeitsstörung (DSM-IV),
Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typus (ICD10)
Psychiatrisches Erstgespräch
Psychiatrisches Erstgespräch geführt von Frau Dr. med. Tatjana Börries am 30.08.2005 mit
Herrn A.S.
Aktuelle Situation / Beschwerden
Der Patient A.S. berichtet, schon seit Jahren unter der gleichen Problematik zu leiden: Er
habe früher auch schon Psychotherapien gehabt.
Er sei Perfektionist, was auch zu Zwangshandlungen führe. Er erwarte Perfektionismus
auch von anderen. Die Fehler von anderen Menschen könne er nicht akzeptieren. Sie
machten ihn „verrückt“ und er werde dann aggressiv. Er ärgere sich sehr über seine
Aggressionen und schlage sich dann selbst auf den Kopf. Kritik könne er nur schlecht
aushalten. Immer seien die anderen schuld, was seine Beziehungen zu anderen sehr
erschwere.
Seit ca. 5 Jahren habe sich dies zunehmend verschlimmert.
Nun habe sich seine Partnerin, obwohl sie Psychologin sei, von ihm getrennt. Er wohne
noch bis Okt. mit ihr zusammen, dann beziehe er eine eigene Wohnung. Er habe Angst vor
dem Alleinsein und vor dem Alleinewohnen.
Er habe auch Probleme im Job bekommen, da er einem Fahrgast gegenüber laut geworden
sei.
Stimmungsschwankungen (z.T. von Minute zu Minute wechselnd) würden ihn quälen.
Daher wolle er nun unbedingt diese Probleme angehen. Er befürchte sonst eine Depression.
Er komme mit seinem Leben nicht mehr zurecht und habe jetzt ab und zu Suizidgedanken.
Erwartungen des Patienten
Besserer Umgang mit Emotionen, mehr Ausgeglichenheit
Beziehung zum Vater soll auch Thema sein
Besonderes
Eltern sind geschieden. Zu Mutter guten Kontakt. Vater lehnt Kontakt zu ihm ab. Vater war
sehr gewalttätig. Pat. war als Kind in einer Kleinklasse, im Kinderheim und in der
Kinderpsychiatrie, da so verhaltensauffällig (aggressiv) und in der Schule nicht mehr tragbar.
Diagnose
V.a. Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus (ICD10: F60.30)
Aktuell Anpassungsstörung mit gemischter Störung der Gefühle und Sozialverhalten
(F43.25)
Ergänzende Informationen aus dem Patientendatenblatt vom 30.08.2005
Zivilstand: ledig, Religion/Konfession: reformiert. Über wen kamen sie zu uns? Ex-Freundin.
Frühere Psychotherapien oder Beratungen? Ja und vor ca. 3 Jahren Aufenthalt im KIZ.
Nehmen Sie zurzeit Medikamente? Nein. Beruf: Lokomotivführer. Name und Beruf der
Eltern? Keine Angaben. Geschwister: 1 Schwester, 36jährig.
Der Patient A.S. wurde an Sabine Gerber für eine ambulante Psychotherapie delegiert und
nebst dem schriftlichen Bericht auch noch zusätzlich mündlich von T. Börries informiert.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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Zusätzliche Informationen aus dem Psychotherapeutischen Erstgespräch (28.09.2005)
• A.S. war vorherige Woche vorübergehend akut suizidal. Grund: schlaflose Nacht gehabt,
weil herausgefunden, dass (Ex)Freundin ihn betrogen hat und seine Briefe an sie
ungeöffnet fortgeworfen hat. Daraufhin Gang in den Wald, mit der Absicht, sich dort
umzubringen. Dort plötzlich eine Wärme und Zuversicht verspürt. Ein Zeichen von Gott
erhalten. Seither Gefühl, Gott wieder näher zu sein. Danach Heimkehr und diverse
vergebliche Versuche, telefonisch Hilfe zu erhalten (Sekretariat IKP, Telefon an mich,
KIZ, etc.). Widerstände und Weigerung, auf eine Combox zu sprechen. Schliesslich
Pfarrer, eine wichtige Vertrauensperson, erreicht, getroffen, mit langem Gespräch.
Später auch langes Telefonat mit Mutter.
• 3 schwere Krisen im Leben gehabt. 1. Krise: 1995, 24jährig, als seine damalige Freundin
ermordet worden ist. 2. Krise: 2001, als eine 5jährige Beziehung zu Ende ging. 3. Krise:
jetzt, seit seine letzte Freundin, C., die Beziehung mit ihm beendet hat.
• KIZ: 2001, Eintritt ins KIZ nach Beziehungsende (s.o.)
• Unmittelbar danach psychologischer Eignungstest zum Lokomotivführer („mit
Auszeichnung bestanden“). Aus 1000 Bewerbern ausgewählt worden. Danach
Ausbildung zum Lokomotivführer. Kindheitstraum in Erfüllung gegangen.
• Seit fünf Jahren zunehmende Verschlimmerung seiner Problematik (zwanghafter Fokus
auf Negatives, Perfektionismus, Aggressivität, s.o.)
• Frühere Psychotherapieerfahrungen: ausführliche Abklärungsphasen und Therapien in
Kindheit. Nach KIZ-Aufenthalt bei Psychiaterin. Nach 2 Monaten Therapie abgebrochen
(„Chemie stimmte nicht, sich unverstanden gefühlt“)
• Diagnose in Kindheit: ADHS (kann A.S. bis heute nicht akzeptieren)
• Erachtet jetzige Krise als Chance zur Veränderung: „Ich muss mich jetzt ändern“.
• Wunsch nach Körperzentrierter Psychotherapie. Daher und auch auf Empfehlung seiner
Exfreundin hat er sich bei uns angemeldet.
Psychopathologischer Befund aufgrund des psychiatrischen Erstgespräches und
aufgrund der ersten psychotherapeutischen Sitzung
34jähriger, sportlich gekleideter, Berndeutsch sprechender, sehr mitteilsamer Patient.
Psychischer Befund: Bewusstsein, Orientierung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, formales
Denken o.B. Zwanghafter Fokus auf die Fehler von anderen Menschen. Keine
psychotischen Symptome. Ängstlich in Bezug auf das Alleineleben, Alleinsein.
Insuffizienzgefühle („Kann Wissen nicht umsetzen.“). Ambivalente Gefühle gegenüber
Exfreundin
(Liebe/Hass,
Idealisierung/Entwertung).
Affektlabilität,
rasche
Stimmungswechsel. Affektinkontinenz in Bezug auf Aggressionen. Antrieb, Psychomotorik
o.B. Kein Hinweis auf circadiane Besonderheiten. Aggressivität (Aggressionstendenzen,
Aggressionshandlungen). Vorübergehende akute Suizidalität vor Therapiebeginn und aktuell
ab und zu Suizidgedanken. Selbstbeschädigungen (sich auf Kopf schlagen). Somatischer
Befund: Schlaf- und Vigilanzstörung (Verkürzung der Schlafdauer, Müdigkeit)
Wirkung / erster Eindruck des Patienten
Grosses Erschrecken zu Beginn wegen Schilderung von Beinahe-Suizidversuch und
Unverständnis gegenüber Weigerung, nicht einmal in grösster Not auf eine Combox zu
sprechen. Macht sympathischen Eindruck (v.a. wegen Berndeutsch). Sportlich und fit
wirkend (sportliche Kleidung und Figur, entsprechende Körperspannung und -haltung).
Hohes Kontrollbedürfnis (Gefühl nach Sitzung: „Er musste die Kontrolle über die Sitzung
haben und er hat bestimmt, was läuft.“). Sehr intelligent. Gefühl: „Er weiss viel mehr als ich.
Kann ich seine hohen Erwartungen und Ansprüche erfüllen?“ Emotional sehr gut spürbar.
Hohe Introspektionsfähigkeit. Keine Suizidalität mehr, im Gegenteil: grosse Zuversicht
spürbar. Bedenken bezüglich Übertragung der Exfreundin = Psychologin auf mich, ebenfalls
Frau, Psychologin und im selben Alter.
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Aussagen über Befindlichkeit nach erster Sitzung:
„Fühle mich gelöst, glücklich, bin voller Freude. Ein wenig skeptisch bezüglich Erreichbarkeit
der gewünschten Therapieziele und auch Angst vor Veränderung und vor dem, was
kommen mag. Ich muss mich jetzt ändern und erachte diese Krise als Chance.
Therapieraum ist sehr schön, riecht sehr gut, wirkt esoterisch. Sie sind mir sympathisch.
Daher habe ich Ihnen schon viel anvertraut.“
Ganzheitsdiagnostik:
Salutogramme
und
Pathogramme
Lebensdimensionen des anthropologischen Würfelmodells IKP
der
sechs
• Psychisch-geistige Dimension
Perfektionist. Enorm hoher Leistungsanspruch („Muss mir durch Leistung etwas verdienen.
Bin geizig. Kann nicht geniessen“.) Zu hohe Erwartungen an sich (
Entscheidungsschwierigkeiten, Blockierung) und andere. Projektive, zwanghafte Selbst- und
Fremdwahrnehmung. Grosses Wissen, v.a. auch psychologisches (Lesen, Kurse, Aus- und
Weiterbildungen). Wünsche nach Universitätsstudium in den Bereichen Biologie,
Meeresbiologie. Schreibt viel (v.a. während KIZ-Aufenthalt). Singen als Hobby. Hohe
Intelligenz: Lesen als Hobby. Übermässig entwickeltes Über-Ich. Selbstwertproblematik,
Insuffizienzgefühle („Kann Wissen nicht umsetzen“, „Ich muss mich ändern.“,
Selbstvorwürfe, „Ich muss…“, fehlende Selbstliebe). Affektlabilität. Impulsivität. AggressionsProblematik. Hohe Introversionsfähigkeit. Sehr guter Analytiker. Weiss, was er braucht und
hat klare Ziele.
• Beziehungsmässig-soziale Dimension
Beruflicher Werdegang: Primarschullehrer, danach diverse Jobs: Nachtwache in einem
Kinderheim, Koch, Bürojob in der Bildungsdirektion etc., dann Kindheitstraum
Lokomotivführer erfüllt (Ausbildung und Anstellung seit 2001). Mehrmalige Verwarnungen
und Beanstandungen am Arbeitsplatz wegen inadäquaten aggressiven Äusserungen.
Mehrere langjährige Beziehungen: jeweils von den Frauen verlassen worden, danach
jeweils akute Krisen. Unerfüllter Kinderwunsch, jetzt sehr aktuell. Letzte Freundin war
schwanger, dann Abort. Aktuell via Partnervermittlung (Internet) auf der Suche nach einer
neuen Freundin. Langjährige gute Freundin, seine Traumfrau, möchte keine Beziehung mit
ihm.
Guter Freundeskreis, jedoch belastet durch Persönlichkeitsveränderung von A.S. in den
letzten fünf Jahren.
Eishockey-Schiedsrichter, spielt selbst Eishockey in Club.
Gute Beziehung zu Mutter und Schwester. Schwester zurzeit depressiv. Gewalttätiger Vater
gegenüber allen Familienmitgliedern während Kindheit von A.S.. Flucht der Mutter mit den
Kindern ins Frauenhaus. A.S. hätte gerne Kontakt zum Vater, doch dieser lehnt es ab.
Hobbies: diverse Sportarten in Gruppen und in Clubs, Kochen (Einladungen zum Essen),
Psychologie-Kurse besuchen, Teilnahme in theologischer Gruppe, von einem Pfarrer
geleitet, der eine wichtige Vertrauensperson für A.S. ist.
Abwehrmassnahmen: Projektion (Die anderen sind schuld. Ständig Fehler bei anderen
sehen und ganze Aufmerksamkeit zwanghaft darauf richten.) und Retroflektion
(Selbstvorwürfe wegen Aggression auf andere, dann zur Selbstbestrafung sich auf den Kopf
schlagen, Suizidalität). In Kindheit gedemütigtes, geschlagenes, ungeliebtes Kind wendet
nun die Aggressionen gegen sich selbst (Vater-Täter-Introjekt, Identifikation mit dem
Aggressor). Extremer Wechsel von Projektion und Retroflektion. Retroflektion als Reaktion
auf Projektion. Abspaltung (Trennung von Gefühlsteil und rationalem, kontrollierendem
Persönlichkeitsanteil, kein Sowohl-als-auch möglich). Verdrängung von Wahrnehmungen,
Bedürfnissen.
Hat Kaninchen als Haustiere
A.S. vermutet Auslöser seiner jetzigen Problematik in der Kindheit und möchte ausdrücklich
mit seinem inneren Kind arbeiten („Ich muss für mein inneres Kind sorgen“.). „Erst, wenn ich
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Liebe für mich selbst empfinden kann, kann ich andere lieben“. A.S. lehnt jedoch im
Gegensatz zum psychiatrischen Erstgespräch ein Angehen der Vater-Problematik strikt ab.
• Körperliche Dimension
Treibt viel Sport. Sportlich durchtrainierter Körper. Macht Wellness. Sauna. Muskeltonus: gut
verteilte Spannung der verschiedenen Muskelgruppen. Hohe Fitness. Schlafprobleme
(schläft viel zu wenig). Müdigkeit. Ernährung wichtig (Kochen als Hobby). Fehlende Balance
des vegetativen Nervensystems: Sympathikotonie. In den letzten Jahren Achtsamkeit
gegenüber Körpererleben vernachlässigt bis hin zur Verdrängung von VAKOWahrnehmung. Körperhaltung: extremer Wechsel zwischen Vorwärts- (Hinweis auf
Projektor) und Rückwärtsneigung (Hinweis auf Retroflektor), jeweils adäquat zu verbal
geäusserten Inhalten. Medikamente: nimmt ab und zu Jarsin und Kava (Selbstmedikation).
• Spirituell-transzendente Dimension
Reformiert. Sehr gläubig. Auf der Suche nach mehr Nähe zu Gott, „Gott gibt mir Prüfungen
auf“. „Möchte Zugang zu meiner Seele finden“. Betet täglich zu Gott und bittet um Kraft
(=Kraftquelle). Pfarrer als Vertrauensperson. „Zeichen von Gott erhalten“. Teilnahme an
theologischen Gruppentreffen (theologische Literatur, Philosophieren, Befindlichkeiten
austauschen). Sinn im Leben: Traumjob ausüben dürfen, Sehnsucht nach Beziehung mit
Frau und eigenen Kindern, Gott nahe sein. Macht Zuhause geführte Meditationsreisen (CDs,
Bücher).
• Dimension des Raumes
Praktisch ständig unterwegs, d.h. kaum Zuhause. Zügelt im Okt. 05 aus gemeinsamer
Wohnung mit Ex-Freundin in eine andere Mietwohnung. Angst vor dem Alleinewohnen. Sehr
an Umweltthemen interessiert (Wunsch nach Meeresbiologie-Studium). Durch seinen Beruf
tagtäglich durch die ganze Schweiz fahrend unterwegs. Mutter in Bern, Schwester in Genf.
Familien-Ferienwohnung im Berner Oberland. Evtl. in naher Zukunft eigene Ferienwohnung
im Tessin. Sporttreiben in der Natur (Wandern, Spaziergänge, Wintersport). Nimmt
innerhalb Therapiesitzung viel Raum ein. Schenkt Umgebung (Therapeutin, Therapieraum)
Beachtung. Interesse an Biologie, speziell Meeresbiologie.
• Dimension der Zeit
Ganze Freizeit verplant (unmittelbare Zukunft). Ständig was los (intensives Handeln im Hierund-Jetzt). Gefühl, zu wenig „freie“ (unverplante) Zeit für sich zu haben. Zu wenig Zeit seiner
Ex-Freundin gewidmet (daher auseinander gelebt). Leidet unter zu hohem Arbeitspensum
und Schichtarbeit. Aktuell auch sehr vergangenheitsorientiert (Liebeskummer, was ist mit
uns geschehen?). Schnelle Wechsel in der Zeitorientierung. Jetzt Kinder haben „müssen“,
ideales Alter, nachher zu spät.
Krankheitsentstehung:
multifaktorielle
und
multidimensionale
Entstehungsgeschichte anhand der 3-Phasen-Theorie der Entstehung psychischer
Erkrankungen (Maurer, 1999, S. 72)
Leistungsorientierung Entwicklung eines extremen Aktionismus ganze Freizeit
verplant, keine „freie“ Zeit mehr haben, kaum mehr Zuhause sein, extrem viel los haben, zu
wenig schlafen Müdigkeit Gereiztheit, Aggressivität körperliche Anspannung,
oberflächliche Atmung, erhöhte Aktivierung des sympathischen Nervensystems
(Adrenalinausschüttung), zu wenig Entspannung zunehmender Verlust des Kontaktes zu
sich selbst: eigenen Bedürfnissen keine Beachtung mehr schenken bis hin zu nicht mehr
wahrnehmen. Körper nur noch über sportliche Betätigungen und Müdigkeit wahrnehmen auf „Zeichen“ (Bsp. Anzeichen einer Verschlechterung der Beziehung zu Freundin) nicht
mehr achten. Verdrängung Spaltung von Gefühls- und rationalem Persönlichkeitsanteil.
Abspaltung von und Kontrollzwang gegenüber Gefühlsanteil führt zu Impulsivität
(Kontrollverlust gegenüber Gefühlsanteil) in Form von aggressiven Durchbrüchen (verbale
Beschimpfungen) und Stimmungsschwankungen und als Folge davon Selbstbestrafung
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mittels autoaggressivem Verhalten und Selbstvorwürfen. Durch Verzicht auf Leben von
Gefühlsanteil auf andere Menschen kalt, egoistisch, rücksichtslos wirkend negative
Folgen im sozialem Umfeld: Beziehungsprobleme, Probleme am Arbeitsplatz, sich im
Freundeskreis unbeliebt machen Erreichung und Aufrechterhaltung von Lebenszielen ist
zunehmend gefährdet (drohender Verlust des Traumjobs, Einsamkeitsgefühl als Single,
unerfüllter Kinderwunsch, Verbindung zu Gott verlieren)
Eigene Ressourcen vernachlässigen Ressourcen verkümmern und können nicht mehr
genutzt werden die einseitige Lebensweise führt zu einer Fixierung, fehlender Balance
der Lebensdimensionen, Verlust von Flexibilität und Differenziertheit
Zunehmende Entstehung und Verschlimmerung von Krankheitssymptomen innerhalb der
letzten 5 Jahre (s.o. Psychopathologischer Befund)
Vernetzung und weiterer Ausbau der Störungen auf allen Seinsdimensionen. Erfolgte
Umstrukturierung
in
den
verschiedenen
Lebensdimensionen
Zahlreiche
Selbstheilungsversuche führen nicht zu einer Verbesserung des Zustandes. Professionelle
Hilfe ist dringend notwendig und wird von sich aus in Anspruch genommen.
Die oben genannte Dynamik von Einflüssen ist nicht abschliessend zu verstehen. Es besteht
keine lineare Ursache-Wirkungsbeeinflussung von Faktoren, sondern die Einflussfaktoren
aller Lebensdimensionen wirken wechselseitig und mutlifaktoriell aufeinander. Die Pfeile
signalisieren eine Folge- oder Wechselwirkung. Bsp. Leistungsorientierung Entwicklung
eines extremen Aktionismus bedeutet, dass die Leistungsorientierung zu der Entwicklung
eines extremen Aktionismus beigetragen/geführt hat und diese beiden in Zusammenhang
miteinander stehen.
Persönlichkeitsanteile
Der Gefühlsteil/ der verletzliche Teil
Extrem feinfühlig, sensibel, einfühlsam, differenziert, verletzbar. Andere verwöhnen, „in den
Himmel heben“. Emotional sehr präsent.
=bedürftiges, verletztes inneres Kind
=verletzbarer, einsamer, Hilfe suchender Teil
↕
Kontrolle haben müssen, Leistungsorientierung, stark sein müssen,
überstrenges Über-Ich
Völlig rational, gefühlsmässig sehr „kalt“, egoistisch, rücksichtslos
Perfektionist,
A.S. investiert alles in Richtung Kontrolle. Ist sein Revier, „Heimvorteil“. Sehr unterhaltsamer
Teil (gestaltet die Therapiesitzungen sehr unterhaltsam). Kontrolle zugleich Stärke und
Schwäche (Impulsivität als erlebte Kontrollverluste).
Spaltung, extreme Wechsel. A.S. leidet sehr darunter. Wünscht sich ein Sowohl-als-auch,
ein Dazwischen, Flexibilität.
Therapievorgehen
Erste strategische Überlegungen, Therapieplanung und –ziele beim Therapiebeginn
1. Aufbau einer vertrauensvollen Therapeuten-Klienten-Beziehung (Klient soll sich gut
aufgehoben, wohl, geborgen, sicher, verstanden, unterstützt fühlen. Therapeutin würdigt
seine Ressourcen und bisherigen „Überlebens“-Strategien. Klient spürt Engagement,
Wohlwollen, Echtheit und Akzeptanz der Therapeutin. Achtsamkeit auf Übertragung –
Gegenübertragung)
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2. Arbeitsbündnis gemeinsam formulieren: Erwartungen, Wünsche, Bedürfnisse an
Therapie und Therapeutin, Definition und Bedingungen von Psychotherapie. Bisherige
Therapieerfahrungen. Setting, Therapieauftrag und -ziele besprechen und festlegen.
3. Aggressionsproblematik:
a) Verhinderung von und Umgang mit Suizidalität (bewältigungs-, ressourcen- und
klärungsorientiertes Vorgehen). Entlastungsmöglichkeiten.
b) Adäquater Umgang mit Aggressionen, Impulsivität (s.o.).
4. Ressourcenreaktivierung und Förderung neuer Ressourcen
5. Beziehungsthematik: Verarbeitung der letzten Beziehung (Trauerprozess, „offene
Gestalten“ schliessen), Beziehungsmuster in Herkunftsfamilie und mit Freundinnen
(klärungsorientiert),
zukünftige
Beziehungen
(Veränderung
des
„alten“
Beziehungsmusters, „neues“ Muster aufbauen, die „ideale“ Beziehung/Frau: Wünsche,
Bedürfnisse, Erwartungen)
6. Integration von abgespaltenen Persönlichkeitsanteilen / vom „Entweder-oder“ zum
„Sowohl-als-auch“ (Psychoedukation, gestalttherapeutische Techniken, imaginative
Techniken, Arbeit mit dem inneren Kind, Vater-Introjekt (Familienprägungen und
Agency-Modell Über-Ich, Perfektionismus, Aggressionsproblematik), Arbeit mit dem
„inneren Team“)
7. Zwischen Therapiesitzungen Hausaufgaben
8. Information bezüglich zeitlichem Verlauf der Psychotherapie: infolge Schwangerschaft
der Therapeutin und Schwangerschafts-/Mutterschaftsurlaub ab Februar 2006 weitere
Optionen besprechen (ab Februar 2006 vorübergehender Wechsel zu anderer
Therapeutin, Therapiepause bis zur Rückkehr von mir oder Therapieabschluss). Daher
auch realistische Therapieziele für diese Zeitspanne formulieren und sehr auf deren
Umsetzung und Erreichung achten.
Weitere, daraus resultierende Therapiestrategie/-planung, therapeutische Haltung in
Bezug auf die spezifischen Persönlichkeitsanteile von A.S.: A.S. braucht
Wertschätzung, Unterstützung und Fürsorge im Gefühlsteil. Therapeutin: „Sie gestalten die
Therapiesitzungen sehr unterhaltsam.“ A.S. in seiner Kompetenz bestätigen und würdigen.
„Aber da ist noch ein anderer Persönlichkeitsanteil da, der ebenso kompetent ist: der
Gefühlsteil, der Verletzliche. - Und das freut mich“. – „Lassen Sie das Gesagte auf sich
wirken, ohne eine Antwort zu geben“. – „Ein sehr verletzbarer, einsamer, Hilfe suchender
Teil. Der soll auch seinen Platz erhalten. Hier.“ – „Was ist jetzt bei Ihnen? Was hat das
bewirkt?“. A.S. soll sich in seinem Kern erkannt vorkommen. „Wir gehen zusammen auf die
Suche nach dem inneren Kind.“ – „Sie müssen mir nichts vorspielen. Sie dürfen ganz sich
selbst sein“. Jeweils am Ende der Sitzungen fragen: „Wie geht’s jetzt dem inneren Kind?“
Im Therapiebericht vorkommende Aufzählungen (1., 2., 3., …) beziehen sich auf die
vorgebrachten Themen/Inhalte und deren Reihenfolge im Sitzungsverlauf.
Therapiebericht
2. Sitzung: A.S. ist sehr müde. Wegen zu hohen Erwartungen und Leistungsanspruch über
seine Grenzen gegangen. 1. Verarbeitung von Trennungsschmerz (gegenseitige Vorwürfe,
unerfüllte Bedürfnisse. Emotional sehr präsent. 2. Zügeltermin: sich sehr aufgeregt wegen
Fehlern von anderen deswegen Selbstvorwürfe. Prozesshafter Verlauf von AggressionsMuster: Idealanspruch („Es muss alles perfekt klappen. Fehler dürfen nicht passieren.“)
Zwanghafter Fokus auf Negatives, auf Fehler von anderen sich aufregen, nerven,
aggressiv werden, Spannungszustand Die anderen sind schuld gegenüber anderen
verbal aggressiv werden durch Abreaktion kurzfristige Erleichterung Schuldgefühle,
Selbstvorwürfe, Selbstbestrafung negative Reaktionen der anderen mit negativen Folgen
für ihn (z.B. drohender Verlust von Arbeitsplatz). 3. Gemeinsame Erarbeitung von
adäquaterem Umgang mit Aggressionen und Verminderung von Auftreten von
Aggressionen. Erstellen einer Liste: „Bewältigungsmöglichkeiten von Wut/Aggressionen“
(z.B. intra- und interdimensionales Shiften, Nutzung von Ressourcen). Therapieplanung:
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Liste immer dabei haben. Erarbeitetes in kleinen Schritten im Alltag umsetzen, Neues
ausprobieren und auswerten. 4. HA: Liste umsetzen. Worst-case-Szenarien erwarten als
Gegenteil zum Idealanspruch (Wie ist es dann?). Idee: Kurs in Autogenem Training
3. Sitzung: Liste nicht gebraucht. Grund: sich nie aufgeregt. Gelassen, ruhig. 1.
Rachegedanken, -impulse gegenüber Ex. Gestaltdialog mit Kissen (pro/kontra Rache).
Entscheidung: es sein lassen und abschliessen, weg von Vergangenheitsorientierung. 2.
Verhinderung von Kontrollverlust, Impulsivität durch in Kontakt mit sich selbst sein und
bleiben können. Weg von Aussenorientierung, hin zur Innenorientierung. A.S. formuliert
seine Ideen dazu und übt alles in Sitzung. Bewältigungs-Liste aufschreiben. Techniken:.
Sensory Awareness, Körperzentrierte IKP-Erfahrungsübungen, Imagination, aktives Shiften.
A.S. verfügt über eine enorme Wahrnehmungs-, Introversions- und Imaginationsfähigkeit. 4.
Sammlung von Ressourcen: Reaktivierung. Therapieplanung: als Ressourcen würdigen und
wiederholt nutzen.
4. Sitzung: Sehr müde (Schichtarbeit, zu wenig Schlaf, tagsüber nicht schlafen können) Reizbarkeit. Coping/HA: Ressourcenaktivierung (Wellness, Sauna, Spaziergänge,
Entspannung). Leidet unter Polarisierung und Spaltung von seinen Persönlichkeitsanteilen
(s.o.). Während Sitzung beide sehr präsent.
5. Sitzung: Sieht schlecht aus. Sit. bei Arbeit: sich furchtbar aufgeregt. Liste nicht umsetzen
können. 1. Zusätzliche Informationen zur Aggressions-Dynamik: Fremdaggression („Ihr seid
nicht o.k.“) Wendung gegen sich selbst („Ich bin nicht o.k.“) Trauer, Einsamkeitsgefühl,
Sehnsucht nach Liebe, Trost, Beziehung. („Niemand hat mich gern“) Todessehnsucht.
(„Ruhe von allem. Nichts mehr müssen“). A.S. weint beim Erzählen. 2. Überarbeitet, keine
Energie mehr, überfordert. In neuer Wohnung nicht Zuhause, eine Baustelle (Erwartung:
perfekte Wohnung). Coping: mit Plüschtier geschmust („Inneres Kind in die Arme
genommen“. 3. Quälender, lähmender Perfektionismus, Leistungsanspruch. 4. Bedürfnis:
Th. soll ihm Mut machen. Angebot: bei akuter Krise Th. telefonieren dürfen. Schriftl.
Vereinbarung betreffend Verhalten bei akuter Krise. 5. Information bzgl.
Persönlichkeitsanteile. Abmachung Therapieplanung: mit Gefühlsteil arbeiten (Arbeit mit
dem inneren Kind). 6. Kindheits-Anamnese, Prägungen: Vater („Ein Knabe weint nicht. Muss
stark sein“.) Fehlende Vater-Liebe. Agency-Modell: „So werden wie Vater, dann Liebe.“ Hat
nicht funktioniert. Folge: Positive Beachtung in Aussenwelt gesucht. Verhaltensauffälligkeit,
ADHS, führte zumindest zu negativer Beachtung. HA: (Therapie)Tagebuch, Bedürfnis nach
Schreiben als Ressource nutzen. Plüschtier knuddeln. Gefühlsteil war in Sitzung sehr
präsent.
6. Sitzung: Besserung dank aktivem Shiften, guten sozialen Kontakten („Die anderen sind
an meinem Wohl interessiert, mögen mich“). Pflege von Spirituellem. Nutzung der
Ressourcen in allen Bereichen. Freude auf Zukunft, Auftrieb. Pflege von innerem Kind
(Plüschtier). In Kinofilm geweint („Umarmung von innerem Kind mit Mutter“). Übung: aktive
Imagination „Begegnung mit dem inneren Kind“. 8j. Kind. HA: Begegnungen mit dem
inneren Kind.
7. Sitzung: Gute Woche gehabt. Freude an Arbeit. Ressourcen gelebt. Genussfähigkeit
entwickelt. Keine Aggressionen. 1. Verarbeitung von letzter Beziehung. Traum-Arbeit. 2.
Beziehungserwartungen: unrealistische, unerfüllbare Erwartungen Misserfolg Versager
3. Grossmutter war wichtige Vertrauensperson. Jetzt sein Schutzengel. 4. Muster:
Gefühlsteil nimmt sehr viel wahr Kontrollierender, rationaler Teil übernimmt Führung und
Mitteilung auf andere „kalt“ und unecht wirken Selbstvorwürfe. Funktion: Rationaler
Teil übernimmt zum Schutz des verletzbaren Gefühlsteils (erfahrene Verletzungen in
Kindheit) die Führung (Technik: Gestaltdialog). Übung: adäquate Mitteilung von
Wahrnehmungen. Einübung des Erfahrenen via Rollenspiel. Therapieziel: Weg von diesen
Extremen. Mehr Flexibilität. Das Dazwischen leben können. HA: Umsetzung im Alltag (im
Kommunikations-Kurs üben, Ich-Botschaften)
8. Sitzung: Gefühlsteil vernachlässigt Schlaflosigkeit Liebeskummer, Schmerz alles
im Tagebuch niedergeschrieben Beruhigung. 1. Liest 16seitigen Brief an Ex vor. „Ich bin
an allem schuld“, aber auch andere Ich-Botschaften. Weint dabei heftig, schluchzt über
aufgekommene Gefühle überrascht „Hier möglich. Fühle mich geschützt. Hier darf und
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kann ich Gefühlsseite zeigen“ „Brief abschicken?“ Entscheidung/HA: mit Ex Kontakt
aufnehmen, ob sie das möchte. Falls nein: Ritual mit Brief (evtl. verbrennen?). 2. Gefühlsteil:
Trauerprozess, versch. Gefühle zulassen, Verarbeitung, sich Zeit geben  rationaler Teil:
möglichst schnell darüber hinwegkommen. Es ist abgeschlossen. Sich zusammenreissen.
Neue Beziehung eingehen. 3. „Ich bin schuld“  „Du bist schuld“ „Es braucht immer
zwei dazu“. Techniken: Gestaltdialoge
9. Sitzung: Zu viel los, zu viel wollen Stress, Druck, Blockierung Entscheidungs- und
Handlungsunfähigkeit Selbstvorwürfe. HA: Plan erstellen. Agenda-Einträge. Prioritäten
setzen. Streichliste. Zeit für sich einplanen. Zeit für Gefühlsteil einplanen. HA: Imagination
„über Berg von Arbeit fliegen“ 2. Wie geht’s innerem Kind? „Hat Angst. Sorgt sich um den
Erwachsenen. Sehr kompetent: weiss, was der Erwachsene braucht.“ Gewinn für beide:
Inneres Kind wird beachtet, gehört, ernst genommen und Erwachsener lernt von ihm.
Inneres Kind als Ressource.
10. Sitzung: HA nicht gemacht. Dauernd müde wegen zuviel Arbeit und Aktionismus in
Freizeit. Keine „freie“ Zeit. Erfolgserlebnis: Umsetzung von Sowohl-als-auch gelungen.
Gleichzeitiges Vorhandensein von Schuldzuweisung und Selbstvorwürfen gegenüber Ex in
Gruppe (Kurs) ausdrücken können positive Feedbacks erhalten. HA: s. 9. Sitzung
11. Sitzung/ Telefon: Termin am Vorabend abgesagt. Grund: Entscheidung für eine Ski-Tour
mit Kollegen. 15-minütiges Telefon. Inhalt: Information zu weiteren Ereignissen betreffend
Ferienwohnung im Tessin. Steckt in Schwierigkeiten, ist sehr gestresst
(bewältigungsorientiert: adäquate Reaktion und Verhalten, Umgang mit Gefühlen).
A.S.:„Jetzt Lösung des Problems gefunden“.
12. Sitzung: HA gemacht: in sich „hineingeschaut“, was wichtig ist und dadurch besser
gelungen, Prioritäten zu setzen. Neu: Wichtiges in Agenda geschrieben. Erkenntnis: noch
viel freier Platz = freie Zeit. Th.: „Inneres Kind?“ A.S.:„Kommt zu kurz. Ist aber geduldig.
Wünscht sich Ruhe für A., damit er wieder Zeit findet“. Leidet unter Hektik, Lärm und Kälte
(Alltag, Zürich). Übung: Wohlfühlort/ Sicherer Ort. Traumfrau, Mutter und 3j. Knabe
anwesend. Schutz und Sicherheit durch Gott. – Abklopf-Übung (ganz ins Hier-und-Jetzt)
zurückkommen notwendig. Imaginations- und Introversionsfähigkeit als überragende
Ressourcen! Vermutlich gleichzeitig innerem Kind begegnet und Vision vom zukünftigen
Glück (Traumfrau und Kind). HA: nach Bedarf/Wunsch an inneren sicheren Wohlfühlort
gehen
13. Sitzung: Neujahr im Ferienhaus mit Mutter und deren Mann verbracht. 1. Mann von
Mutter? - A.S.: Mann als Spiegel seiner selbst: alles negativ, pessimistisch. „Hätte mich so
weiterentwickeln können. Zum Glück anderen Weg eingeschlagen!“ 2. Verarbeitung vom
Liebeskummer: „Gute“ Seite in mir  Verletzte Seite. Übung: gestalttherapeutischer
Dialog mit Kissen. Gute Seite: Wünscht Ex alles Gute. Grosszügige Friedensangebote und
Angebote, alles gütlich abzuschliessen. Ihr an Weihnachten Geschenk gebracht 
Verletzte Seite: Von ihr gekränkt, verletzt worden. Grosse Wut auf sie. Rachegelüste.
Kleinkrieg. Vor Gericht gehen und für Recht kämpfen. Vorwürfe an sie. Ihr nur das
Schlechteste wünschen. – Extreme Wechsel dieser Extrempositionen. Fortsetzung Übung
(gestalttherapeutisch, Kissen): Beide Varianten durchspielen. Was tut ihm gut? Was dient
seinem Wohl am meisten? – Lösung (drittes Kissen, neue Variante), Kompromiss. Einen
Monat lang abwarten, nichts unternehmen. Wenn von ihr nichts kommt, ihr einen Brief
schreiben: Ich-Botschaften („Fühle mich traurig, verletzt, enttäuscht. Hätte es gerne im
Guten bereinigt. Schade. Für mich ist es nun abgeschlossen.“). 3. Liebe für R. (langjährige
gute Freundin, Traumfrau, unerreichbar): Tut weh, kaum zum Aushalten. – Gefühle in Th.Sitzung zulassen und Umgang damit (bewältigungsorientiert). Wechsel auf rationalen
Persönlichkeitsanteil: viele Warum-Fragen. Wunsch nach Klärung, Antworten Harmonie,
Verständnis. Mühe mit Akzeptanz von Realität. Ideal nicht erreichbar. – Gestaltgebet von
Fritz Perls mitgegeben. - Während ganzer Sitzung in sehr gutem Kontakt mit Gefühlen und
Verstand. Keine extremen und abrupten Wechsel mehr, sondern Sowohl-als-auch. Sehr
guter Prozess am Laufen.
14. Sitzung: Für Psychologie-Kurse angemeldet. Viele „Frauengeschichten“ laufen parallel:
1. Brief an Ex abgeschickt: Angebot, alles zu regeln mit Frist. Keine bewertenden
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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Formulierungen, Ich-Botschaften. Keine Rachegelüste mehr. Akzeptanz der Situation. 2.
Viele Gedanken an unerreichbare (Traum)Frau (s.o.). 3. Umgang mit neuen
Bekanntschaften und Erwartungen an sie. Viele Kontakte mit anderen Frauen
(Kontaktanzeigen, Singles-Parties). 4. Angst bezüglich Aufgabe von „Arbeit an sich selbst“
und Rückfall. Lösung: Anmeldung für Kurse. Teilnahme an Gruppen. Äussere Strukturen als
Motivator. Wichtig: Theorie und Erfahrung verbinden.
15. Sitzung: 1. Hin und Her-Verhalten von Ex (Angebote und Rückzieher). Reaktion von
A.S.: Spaziergang, dort heftige Gefühlsschübe, Trauer, Wut, Hass. - „Diese Gefühle sind
o.k., dürfen sein“. - Fokus auf Schönes richten (Schöne Natur, neue Frauenkontakte). – Th.:
Lob, Würdigung von seinem Coping. 2. Erlebnis mit Frau: Flirt. Wie weiter?
Gestalttherapeutisch Varianten durchspielen. 3. Übung: Inneres Team (gestalttherapeutisch)
a)Perfektionist = Oberhaupt. Bestimmt über die anderen Anteile. Richter. Bewerter. Mehr
wert, wichtiger als die anderen. Funktion: Beschützer (vor Chaos, existentiell). Antrieb,
Motor. Erledigt Dinge. Qualität. Beruflicher Erfolg. Gerechtigkeitssinn. b)der
Vernünftige/Verständnisvolle: „Du bist o.k.“ und c)das innere Kind. Lösung: Der
erwachsene A. ist das Oberhaupt über sein „inneres Team“. Alle gleichwertig. Ein Team.
Gemeinsam Lösungen finden. HA: Inneres Team
16. Sitzung: Therapieabschluss. Zusammenfassung des Therapieverlaufs und
gegenseitiges Feedback über therapeutische Beziehung. Positives Feedback an
Therapeutin. Wie weiter? Kurse besuchen (z.B. Autogenes Training), Weiterbildung in
Psychologie, theologische Gruppe mit Pfarrer fortsetzen, Arbeit mit dem inneren Kind
fortsetzen. Wichtig: nicht nur neues Wissen ansammeln, sondern mit sich in Kontakt bleiben,
Integration von Persönlichkeitsanteilen beachten, v.a. Gefühlsanteil weiter stärken. Bei
akuter Krise „Notfallliste“ ausführen und sich bei unserer Ärztin melden. Sich nach Bedarf
wieder bei mir melden. Es mal alleine schaffen und sich bewähren, d.h. ohne Impulse durch
Therapie auskommen. Schöner und stimmiger Abschluss. Verabschiedung.
Therapieabschluss
1 psychiatrisches Erstgespräch, 15 Sitzungen Einzel-Psychotherapie (à 60 – 90 Minuten), 1
telefonische
Besprechung
(eine
Therapiesitzung
abgesagt,
dafür
kurzes
psychotherapeutisches Gespräch via Telefon). Erfolgreicher Therapieabschluss nach
gegenseitigem Einvernehmen. Option, dass sich A.S. nach Babypause der Therapeutin
wieder meldet, über dazwischen liegende Zeit berichtet und nach Bedarf Therapie wieder
fortsetzt.
Therapieerfolge
Trotz begrenzter Zeit und nur 15 Sitzungen Erreichung der Therapieziele. Hilfreich waren
dabei 1. die enorme Wahrnehmungs-, Introversions- und Imaginationsfähigkeit von Herrn S.,
2. das Verfügen über viele Ressourcen auf allen Lebensdimensionen, 3. die hohe
Therapiemotivation und Umsetzung von Erlerntem und Erfahrenem im Alltag
(Hausaufgaben), 4. Bei Herrn S. konnte auf einem hohen Niveau eingestiegen und
gearbeitet werden (s.1.). 5. Der parallel stattfindende Besuch von Psychologie-Kursen und
der theologischen Gruppe. 6. Aufarbeitung und Verarbeitung der schwierigen Kindheit in
früheren Therapieerfahrungen. Der allerwichtigste Faktor und Beitrag zum Therapieerfolg
war jedoch die tragfähige therapeutische Beziehung. Ohne diese wären 1. – 6. nicht möglich
gewesen. Als Therapeutin war ich häufig als Vorbild gefordert. Schwierig war es v.a. dann,
wenn ich Grenzen setzen musste, nämlich dann, wenn ich das Gefühl hatte, dass A.S. mir
gegenüber distanzlos wird, indem er mich über mein Privatleben und meine
Schwangerschaft ausfragen wollte. Da Herr S. ausdrücklich nicht mit seiner VaterProblematik und Kindheitserlebnissen arbeiten wollte, respektierte ich dies, so gut es ging
und überliess es Herrn S., die Sitzungsinhalte nach seinen aktuellen Bedürfnissen zu
gestalten. Mit diesen Themen und ohne meinen beginnenden Urlaub hätte die Therapie
sicher noch mehrere Sitzungen gedauert.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
Seite 116 von 168
Beilage
Brief von A.S., Januar 2007:
Liebe Frau Gerber
Ich wünsche Ihnen, Ihrem Kind und Mann alles Gute für das neue Jahr.
Ich danke Ihnen nochmals für die wertvollen und hilfreichen Psychotherapiesitzungen mit
Ihnen.
In der Zwischenzeit habe ich eine tolle Frau kennen gelernt und auch eine schwere
Schulterverletzung hinter mir. Mir geht’s psychisch sehr gut, da ich von dieser Frau sehr viel
Liebe erfahren darf und ihr auch schenken kann. Wir beide spüren eine
Seelenverwandtschaft.
Ich wünsche Ihnen auch viel Liebe, Lebensfreude und den Mut und die Kraft, Träume zu
verwirklichen.
Liebe Grüsse, A.S.
8.3. Erkenntnisse für die Therapiekonzeption BPS der Körperzentrierten
Psychotherapie IKP
1. Psychoedukation:
Informationen
betreffend
BPS
(Symptomatik,
Ätiologiekonzepte,
Behandlungsmöglichkeiten und Heilungschancen) müssen ein wesentlicher
Therapiebestandteil sein, v.a., wenn beim Klienten eine starke Ich-Fragmentierung
vorliegt und quälende Fragen und Leidensdruck hinsichtlich der Einordnung seiner
Befindlichkeit/Erkrankung bestehen. Bei Jugendlichen sind Eltern sinnvollerweise hierfür
miteinzubeziehen. Ausnahmen bilden Eltern, durch die der Borderline-Patient schwere
Traumatisierungen (Übergriffe, sexuelle Misshandlungen) erlebt hat. In einem solchen
Fall ist in erster Linie eine räumliche Trennung vom Täterumfeld zu prüfen und in
Betracht zu ziehen. Aus eigener Erfahrung empfiehlt es sich bei Jugendlichen (15-18
Jährige) die entwicklungspsychologischen Besonderheiten der Adoleszenzkrise zu
berücksichtigen.
Da der Borderline-Betroffene stark zu unklaren, ambivalenten, abrupt wechselnden z.T.
auch chaotischen Gefühlen und Verhaltensweisen neigt, sind klar formulierte und
strukturgebende
Informationen
und
Aufklärungen
(Information
über
Definition/Verständnis von Psychotherapie, Körperzentrierte Psychotherapie IKP,
Therapieplanung/-strategien, durchgeführte Techniken, Persönlichkeitsstruktur und
Modelle, Veränderung von „alten Mustern“, Verhaltensmuster, Schematas und
Prägungen) von besonderer Bedeutung.
2. Vereinbarungen im Umgang mit Krisen v.a. parasuizidale und suizidale Handlungen
betreffend. „Notfall-Liste“, „Notfall-Koffer“. Schriftl. Vereinbarungen. Als Therapeutin
Telefonkontakt anbieten und emotionale Verbundenheit signalisieren.
3. Kompetenzförderung und Fokus von Negativem (Symptome, Leiden, Störung,
Defizite) auf Positives (Ressourcen, Stärken, Fähigkeiten und Fertigkeiten,
Erfolgserlebnisse,
schöne
Erlebnisse)
richten
(Reframing,
Shiften)
a)Aktivierung und Verstärkung eigener Ressourcen: Sammlung von aktuell gelebten
Ressourcen und früheren Ressourcen auf allen Lebensdimensionen Verstärkung und
Reaktivierung
Symptomerleichterung,
Verminderung
von
Leidensdruck
b) Finden und Förderung von neuen Ressourcen: Balance auf allen Lebensdimensionen
als Ziel, Steigerung von Bewältigungsmöglichkeiten, Persönlichkeitsentfaltung
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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c) handlungsorientiertes Vermitteln von Methoden des Spannungsabbaus (z.B.
individuell zusammengestellter Notfallkoffer), um das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu
stärken.
c) Würdigung von „alten“ Mustern als Überlebensstrategien (=Reframing) Selbstwertsteigerung,
Therapeut-Patient-Beziehung
d)
Positive
Erfahrungen
während
den
Therapiesitzungen
ermöglichen
Es versteht sich von selbst, dass die Ressourcenorientierung durch den gesamten
Therapieprozess oberstes Prinzip ist, nicht nur zum Therapiebeginn.
4. Urvertrauen stärken, weil dies auf allen Dimensionen fehlt: körperlich (eigenes
Körperbild), psychisch (z.B. emotionale Geborgenheit), sozial (Patient-TherapeutBeziehung), Zeit (Sich im Hier-und-Jetzt wahrnehmen und erleben lernen) Raum
(Raumausdehnung), spirituelle Dimension (Eingebettet-Sein in einem Grösseren).
5. Keine
Veränderung
ohne
gefühlsmässiges
Erleben!
Borderline-Persönlichkeitsstörungen können nicht allein über Wissensvermittlung und
nachfolgendem Einüben gewisser Bewältigungsmethoden hilfreich angegangen werden.
Zur Spannungskurvenreduktion ist dieses Vorgehen geeignet, nicht aber um
psychodynamische Themen anzugehen. Der Ansatz der Körperzentrierten
Psychotherapie IKP geht davon aus, dass die Probleme der Borderlinepersönlichkeit
zunächst in der Therapie real und gefühlsmässig im Hier-und-Jetzt erfahren werden
müssen, dann geklärt und bewältigt werden können. Auch das aus der
Verhaltentherapie stammende Expositionstraining muss so verstanden werden.
6. Der sozialen Dimension muss besondere Beachtung geschenkt werden. Das heisst,
die Bindungsart und –qualität zu den primären Bezugspersonen muss als wesentlicher
Therapiebestandteil berücksichtigt werden. Ein wichtiger Stellenwert in der Therapie
haben deshalb die Aufdeckung, Aufarbeitung und Veränderung von negativen familiären
Prägungen
und
inadäquaten
Beziehungsmustern.
Abgespeicherte
frühere
Bindungserfahrungen werden ohne Zutun des Therapeuten immer wieder in Form von
Übertragungen und Projektionen des Patienten aktiviert, sodass hier in der Therapie
einfach
daran
anzuknüpfen
ist.
Borderline-Patienten vermögen ohne Therapie die ständige Wiederholung ihrer alten
Schematas und Verhaltensweisen aus unerfüllten Beziehungen nicht zu erkennen.
Unterschiede zwischen Jetzt und Damals werden meist nicht erkannt. Sie fühlen sich
nicht verstanden und aus all diesen Gründen ist es für sie schwierig, in einer
Paarbeziehung
zu
vertrauen.
Deshalb ist aus unseren Praxiserfahrungen unerlässlich, in erster Linie eine tragfähige
Therapeuten-Patienten-Beziehung als wichtigster Wirkfaktor für eine erfolgreiche
Therapie zu schaffen. Diese beinhaltet einen guten Boden des Vertrauens. Es ist eine
Beziehung, die ehrlich, offen, wertschätzend ist und gleichzeitig konstruktive Grenzen
setzt.
Kindheitsgefühle aus früherem Beziehungsgeschehen können durch spezifische
Interventionen bearbeitet und verändert werden: regressive Techniken unter Einbezug
imaginativer Techniken, kreativer Medien und körperzentrierter IKP-Erfahrungsübungen
(Arbeit mit dem inneren Kind, Familientisch, Lebenspanorama, Beziehungspanorama,
intrakorporeller Dialog etc.), bedürfnisorientierte Veränderung von Erfahrungen in der
Familie („Was hätte ich als Kind von Mutter und Vater gebraucht?“ mit anschliessender
Recall-change-Methode) und nachnährende Interventionen sowie Selbstbeelterung.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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7. Therapierhythmus im ambulanten Setting: mind. 1x wöchentlich, in akuten Krisen 2x
wöchentlich, gegen Ende der Therapie Rhythmus reduzieren. Im Notfall
Kontaktmöglichkeiten (Telefon, SMS, E-Mail) anbieten. Nach Bedarf Sitzungen
gemeinsam mit Angehörigen. Vernetzung vom „Helfer-System“ (z.B. Sozialarbeiter,
Lehrer, Ausbildner, Hausarzt).
8. Die
Teilnahme
an
Gruppen
(Kurse,
Weiterbildungen,
Skills-Training,
Selbsthilfegruppen) sehen wir v.a. dann indiziert, wenn sie als Ressource (s. Fall-Bsp. 2)
genutzt werden kann. Andererseits haben wir auch die Erfahrung gemacht, dass bei
stationären
DBT-Gruppentherapien
mit
Borderline-Patienten
negatives
Imitationsverhalten schädliche Auswirkungen haben kann (s. Fall-Bsp. 1).
Die Begleitung der Borderline-Patientin aus Fallbeispiel 1 erlaubte uns einen tieferen
Blick in die stationäre DBT-Gruppentherapie. Daraus wurden die folgenden positiven
und
negativen
Punkte
ersichtlich:
[+] Grosse Wissensvermittlung und Techniken zur Spannungsreduktion vermitteln den
Borderline-Patienten eine wirksame Therapiestarthilfe und ein Gefühl der
Selbstwirksamkeit.
[+] Förderung des Bewusstseins- und Erkenntnisprozesses über das eigene Fühlen,
Denken
und
Handeln.
[+] / [-] Sozialer Kontakt mit Menschen gleicher Krankheitsbilder vermittelt das Gefühl
des Verstandenseins, des „Dazugehörens“. Gleichzeitig begünstigt es das Gefühl des
Krankseins
und
des
Abgesondertseins.
[-] Auch wenn in der DBT-Gruppe Gruppenprozesse nicht thematisiert werden, so sind
sie doch vorhanden und werden z.T. verdeckt ausgetragen (aus Erfahrungen unserer
Patienten und Therapeuten in stationären Borderline-Gruppen erhoben). In der Gruppe
präsentieren sich dann die unterschiedlichsten bewährten Beziehungs- und
Copingthemen der Borderlien-Persönlichkeiten (z.B. passive Verweigerung zur
Gruppenteilnahme wie z.B. Rückzug, Verweigerung von Äusserungen und eigenen
Meinungen oder sich aggressiv betont in den Gruppen-Mittelpunkt stellen etc.).
[-] In der Gruppe werden leider auch negative Verhaltensmuster gelernt, die der
Borderline-Persönlichkeit zugeschrieben werden. Die Borderline-Patientin aus
Fallbeispiel 1 lernte z.B. selbstschädigendes Verhalten (Ritzen an Beinen und Händen)
erst anhand von Negativ-Vorbildern während ihres stationären Aufenthalts und in der
Gruppe. Zuvor waren keine selbstverletzenden Tendenzen vorhanden, wie dies die
Patientin selbst bestätigte. Solche negativen Lernprozesse kommen gemäss stationären
Betreuungspersonen von Borderline-Patienten häufig vor.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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9.
Beitrag der Körperzentrierten Psychotherapie IKP für ein
ganzheitlich-integratives Therapiekonzept der BorderlinePersönlichkeitsstörung
In diesem Kapitel werden Erkenntnisse aus den vorherigen Kapiteln 1 bis 8 zu Theorie und
Praxis geschlossen (Kap. 9.1) und ein allgemeines Entstehungs- und Therapiemodell IKP
für psychische und psychosomatische Störungen anhand des Anthropologischen
Würfelmodells IKP beschrieben (Kap. 9.2). Es folgt eine Bestätigung des
ressourcenorientierten Ganzheitstherapiekonzepts IKP und dessen Relevanz für die BPS
durch aktuelle Forschungen (Kap. 9.3). Dies (Kap. 9.1 – 9.3) führt zum ganzheitlichintegrativen Therapiemodell IKP für die BPS, welches detailliert beschrieben wird.
9.1. Erkenntnisse aus Theorie und Praxis (Kap. 1 – 8)
Wie aus vorherigen Kapiteln deutlich wurde, bestehen einige ätiologische Konzepte zur
BPS, die in unterschiedlicher Weise in verschiedene Therapierichtungen und -konzepte
eingeflossen sind. Die mit dem multidimensionalen Anthropologischen Würfelmodell IKP von
Dr. med. Yvonne Maurer (s. Kap. 9.2) gegebene ganzheitlich-integrative Sichtweise des
Menschen, verlangt deshalb auch eine möglichst „holistische“ und multifaktorielle
Betrachtung der BPS, weshalb vorliegende ätiologische Konzepte und Ideen sowie aktuelle
neurowissenschaftliche Erkenntnisse in die folgenden Überlegungen miteinbezogen werden.
Den Bedarf an einem ganzheitlichen multidimensionalen und multifaktoriellen
Ätiologiemodell und Therapiekonzept IKP für die BPS sehen wir aus mehrerer Hinsicht
als sinnvoll und notwendig:
Mit Ausnahme der Dialektisch-Behavioralen-Therapie (DBT) existieren kaum
schulenübergreifende Therapiekonzepte für die BPS, obwohl sich – wie in Kapitel 3.1.1.
bereits erwähnt - in den letzten Jahren langsam ein Paradigmawechsel hin zu einer
schulenübergreifenden und störungsspezifischen integrativen Sichtweise von psychischen
Störungen abzeichnet. Bekanntlicherweise kann der Mensch nicht isoliert als ein von aussen
nur kognitiv, emotional oder handlungsmässig zu beeinflussendes Wesen betrachtet
werden, sondern er lebt mit sich selbst in einem ständigen Fliessgleichgewicht
(Selbstorganisation), ebenso mit seiner Umwelt (Selbst-Aussen-Organisation) (s. Maurer,
2002).
D.h. wir müssen in der Therapie Abschied nehmen von dem „statischen“ Patienten und uns
zugestehen, dass wir trotz Kenntnis über allgemeine Wirkfaktoren der Psychotherapie (z.B.
therapeutische Beziehung, Arbeitsklima, Veränderungserwartung des Patienten, seine
Hoffnung auf Heilung) letztendlich nicht genau wissen, welcher Faktor bei einem Patienten
Besserung oder sogar Heilung seiner psychischen Leiden gebracht hat. Wir können nur
versuchen, dem Patienten (für sein spezifisches Krankheitsbild) ein multiperspektivisches
Behandlungsvorgehen zu vermitteln, das Zugang zu den verschiedensten
Lebensdimensionen (s. Kap. 9.2), Schichten und Zugängen seiner selbst ermöglicht.
Dadurch erhöht sich auch die Möglichkeit, dass dem Patienten mehr Angebote zur
Verfügung gestellt werden, den entscheidenden Wendepunkt für seine psychische
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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Erleichterung/Besserung zu finden – ganz im Sinne des „Je mehr desto mehrEnergieprinzips“ von Maurer (1993a, 1998, 1999).
Es bestehen, wenn überhaupt, nur Konzeptfragmente, die den therapeutischen Zugang zu
Borderline-Patienten über den Körper anbieten (s. Kap. 7.4). Auch haben
Bewegungstherapien, wie sie in stationären Institutionen als ergänzendes Modul bei der
DBTund
anderen
Therapien
eingesetzt
werden,
wenig
mit
dem
körperpsychotherapeutischen Verständnis des IKP-Ansatzes gemein.
Die IKP-Therapietheorie basiert auf der Tatsache, dass unser Gedächtnis und die
gemachten Erfahrungen unser Verhalten und unsere psychischen Strukturen beeinflussen
und Spuren im Körper hinterlassen (Bauer, 2002; Marlock & Weiss, 2006; Maurer, 1998,
1999). Deshalb sollen Gedächtnisinhalte über Körperassoziationen bewusst gemacht
und verändert werden. (Maurer, 1999, S. 169). Mit der Arbeit über das Körpergedächtnis
erreichen wir somit auch Früherfahrungen, die sich unserer bewussten
Gedächtniserinnerung entziehen (s. Kap. 7.4). Der körperpsychotherapeutische Ansatz IKP
ist darauf ausgerichtet, sich zwischen den körperlichen und psychischen Polen
therapeutischer Exploration hin und her zu bewegen und diese zu integrieren. Manchmal
bewegt sich der Pol des Psychischen hin zu einer vertieften Körper-Selbst-Erfahrung,
manchmal entfalten sich aus dem Erspüren und Erfühlen des Körpers klare Einsichten im
Psychischen.
Im Weiteren lassen bisherige Konzepte die spirituelle, sinnstiftende Dimension des
Menschen in der Therapie weitgehend unberücksichtigt.
Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass wir den Spiritualitätsbegriff nicht im katholischen
Sinne, aus dem er ursprünglich entstanden ist, verwenden. Mit Spiritualität meinen wir den
Glauben und/oder auch das erfahrene Gefühl und/oder die körperliche Empfindung, des
„Ich-in-der-Welt-eingebettet-Seins“, der tiefen Selbsterfahrung des transpersonalen Erlebens, Fühlens und Handelns, der vollkommenen Harmonie und Zusammenschau (Maurer,
1993).
Der Mensch braucht das Gefühl des Eingewobenseins in ein grösseres Ganzes – ob dies
durch Gottesglauben, Glaube an eine höhere Macht oder Energie geschieht, scheint uns
eher nebensächlich. Tatsache ist, dass der Mensch aus der spirituellen Lebensdimension
neue Kräfte zur psychischen und physischen Gesundung schöpfen kann, wie wir dies von
etlichen Geschichten über Wunderheilungen, erfolgreich gemeisterten Strapazen alter
Völker (z.B. in der Bibel) und aus eigener Erfahrung kennen. Die spirituelle Dimension hilft
uns offensichtlich immer wieder, an die Fähigkeit und das erfahrene Gefühl des Kindes
anzuknüpfen, dass wir immer wieder von Neuem über uns hinauswachsen können. Es geht
dabei darum, sich auf einem tragenden Urgrund bewegen und darauf vertrauen zu können,
dass schon alles gut kommt, und dass es die Welt und das Leben gut mit uns meint
(Urvertrauen) und unser Leben mit Sinn erfüllt ist (Sinnhaftigkeit).
Für das Borderline-Konzept scheint uns diese Dimension von grosser Bedeutung zu sein.
Hält man sich die bei BPS-Patienten in wissenschaftlichen Studien nachgewiesenen
unsicher-ambivalenten Beziehungserfahrungen zu primären Bezugspersonen (s. Kap. 6.3.)
und evtl. mögliche ungelöste Traumaerfahrungen vor Augen, so wird leicht erkennbar, dass
das Gefühl des Aufgehobenseins, welches das Kind in erster Linie in den Armen der Mutter
erfährt (und später internalisiert), defizitär ist oder weitgehend fehlt. Wie soll ein Kind daraus
Urvertrauen und das geborgene Gefühl des Eingebundenseins in der Welt entwickeln resp.
das Potenzial des Über-Sich-Hinauswachsens aktivieren? Im Sinne der Maslow’schen
Bedürfnispyramide (weiterentwickelt nach Maurer, 1993, s. Abb. 5) ist das Borderline„Kind“ auf der zweit- und drittuntersten Bedürfnis-Stufe des Sicherheitsbedürfnisses hängen
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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geblieben, das immer noch ungenügend erfüllt ist. An die Bedürfnisbefriedigung der höheren
Stufen der Selbstentfaltung und Wachsens (s. Kap. 9.2) ist dabei noch gar nicht zu denken.
Wir versuchen in unserem nachfolgenden Therapiekonzept IKP für die BPS den
körperzentrierten und ganzheitlichen Blickwinkel in die heute gängigen BPS-Therapien
miteinzubringen und diese zu ergänzen, um uns an ein ganzheitliches Symptom-, Ätiologieund Therapieverständnis anzunähern.
Spiritualität
Streben nach eigener Ganzheit, Verbundenheit mit
dem höheren Ganzen, Verehrung, Hingabe,
bedingungslose Liebesakte
Einfluss
Macht, d.h. Wille und Energie zum Aktivieren und
Mitreissen anderer im physischen, sozialen, geistigpsychischen, philosophisch-spirituellen Bereich
Selbstachtung
Gute Beziehung zu sich selber, Leben des wahren
Selbst, Wahrnehmen der eigenen Gefühle und
Erkenntnisse und optimaler Umgang damit für sich und
andere zu weiteren Entfaltung, Freiheit, Kreativität
Zugehörigkeit
Soziale Integration
Loyalität, Geführtwerden, Führen, Verantwortung
übernehmen, Handeln, gemeinsam Handeln,
Vertrauen, Offenheit
Sicherheit
Atmosphäre von Sicherheit für die grundlegenden
physiologischen und kommunikativen Bedürfnisse
(Mangelbedürfnisse)
Menschlicher
Austausch
Berühren, Berührtwerden, Hautkontakt,
Zuwendung, Gespräch, Zärtlichkeit, Sexualität
Körperliches
Überleben
Physiologische Bedürfnisse wie Nahrung, Flüssigkeit,
Sauerstoff, angemessene Temperatur, Schlaf-WachRhythmus
Abb. 5. Wachstumsbedürfnisse
Eine Hierarchie menschlicher Bedürfnisse (weiterentwickelt z.T. aus Maslow, 1985, sowie
aus eigenen [gemeint ist Maurer, 1993] Erfahrungen und Konzepten). Links vom Hauptpfeil
deuten kleinere, nicht überall gezeichnete Pfeile auf die Aus- und Rückwirkungen hin.
(Maurer, 1993, S. 42)
Aus dem therapeutischen Gesichtspunkt werden aus dieser Erkenntnis folgende Fragen
bearbeitet werden müssen:
• Wie kann der Borderline-Patient primär darin unterstützt werden, die Erfahrung des Sichim-Körper-Geborgenseins und -Wohlfühlens zu erleben, aufzubauen und zu stärken?
Denn ohne positiven Bezug zu meinem Körper oder aus der Philosophie des Ostens
ohne das „In-Mir-Aufgehoben-Sein“, kann das Aufgehobensein im Ganzen und in der
Welt nicht aufgebaut werden.
• Welchen spirituellen Zugang hat der Patient zu sich und der Welt? Was macht ihm Sinn,
wenn es um Themen von Leben und Tod geht? An welche sinnstiftenden und
lebenssinnstärkenden Einstellungen und Überzeugungen kann in der Therapie
individuell angesetzt werden?
• Welche Interventionen fördern die erlebbaren Erfahrungen des „Eingebundenseins-ImGanzen“?
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Es ist hier vorauszuschicken, dass die spirituelle Dimension eher in einer fortgeschrittenen
Therapiephase Platz bekommen wird (s. Kap. 9.4.3), da es vorerst darum gehen wird, eine
tragende Beziehung zum Patienten aufzubauen und aus psychodynamischer Sicht die
Verdrängungs-/Spaltungsmechanismen aufzuweichen.
9.2. Allgemeines Entstehungs- und Therapiekonzept
Anthropologischen Würfelmodells IKP
IKP
anhand
des
Das Anthropologische Würfelmodell IKP wurde in den 1980er Jahren von Yvonne Maurer
entwickelt. Es ist ein ganzheitliches Menschenmodell, das zugleich Kernmodell für die
Theorienbildung, die Behandlungskonzepte und die Behandlungsstrategien der
Körperzentrierten Psychotherapie IKP war und ist. Es entspricht einer ganzheitlichen, d.h.
multidimensionalen und interrelationalen, bzw. einer systemischen Denkweise. Alle sechs
Lebensdimensionen durchdringen einander gegenseitig im Sinne multidimensionaler
Feedbacksysteme, bilden gemeinsam eine Einheit des Seins und sind gleichbedeutsam.
Der Würfel steht als Symbol für die Ganzheitlichkeit, die Einheit und gleichzeitige Vielfalt des
Menschen.
Abb. 6 zeigt das Anthropologische Würfelmodell IKP mit seinen sechs Lebens- bzw.
Seinsdimensionen.
Körperliche Dimension
Beziehungsmässige
(soziale)
Dimension
Raum/Ökologie
Spirituell-transzendente Dimension
Zeit
Psychisch-geistige Dimension
Abb. 6. Anthropologisches Würfelmodell IKP (Maurer, Version von 1999)
Da alle Lebensdimensionen miteinander in einer Einheit vernetzt sind, gibt es auch nur
vernetzte Symptomatiken. Gemäss der Krankheitstheorie der Körperzentrierten
Psychotherapie IKP ist die Entstehung psychischer Störungen nicht monokausal oder
eindimensional, sondern multifaktoriell und sehr häufig multidimensional. Es sind
komplexe Kausalnetze und Bedingungsgefüge. Das Modell der „3-Phasen-Theorie zur
Entstehung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen“ (Maurer, 1999, S. 72,
s. Kap. 8.1 und 8.2) zeigt die fortlaufende Vernetzung von Störungen mit anderen
Lebensdimensionen.
Eine
zunächst
energetische
Prädisposition
(Abnahme
gesundheitsfördernder Aktivitäten) in Phase 1 führt im weiteren Verlauf zu Phase 2 mit einer
störenden Reaktionsbildung (Krankheitssymptomatik) und schliesslich erfolgt in Phase 3
eine Umstrukturierung in den verschiedenen Lebensdimensionen. Die Patienten
kommen meist erst in Phase 3 in die Therapie.
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Ein Ungleichgewicht zwischen den Lebensdimensionen durch Über- oder Unterfunktionen,
dysharmonische Entfaltung der verschiedenen Lebensdimensionen und deren
Verbindungen untereinander, die Entfaltungsbeeinträchtigungen dieser Dimensionen durch
äussere, soziale, psychische und körperliche Einflüsse sowie vor allem auch die mangelnde
Übernahme und Fähigkeit
des Menschen,
selbst den Wachstumsund
Veränderungsprozess dieser Dimensionen zu erkennen und damit gestaltend umzugehen,
führen zu psychischen und psychosomatischen Erkrankungen (Maurer, 1999, S. 75).
Störungen ziehen in der Regel derart viel Aufmerksamkeit auf sich, dass andere
Lebensbereiche vernachlässigt werden und in der Folge deren Ressourcen verkümmern.
Maurer (1999) bezeichnet diesen Prozess als Zuschlagen der „Ressourcen-Türen“ (S. 75).
Allgemein lässt sich sagen, dass eine einseitige Lebensweise mit Betonung bestimmter
Lebensbereiche auf die Dauer zu einem Ressourcenverlust in den anderen Bereichen
führt. Eine Folge davon ist die Risikozunahme für die Entwicklung psychischer und
psychosomatischer Störungen.
Psychische Gesundheit entsteht dann, wenn möglichst viele Lebensbereiche voll gelebt
und als Ressourcen genutzt werden. In der Therapie nach dem IKP-Ansatz geht es darum,
alle Lebensdimensionen des Anthropologischen Würfelmodells IKP mit dem Patienten
durchzugehen. Dabei sollen unabgeschlossene Situationen (Synonyme: unabgeschlossene
Figuren, „offene Gestalten“ nach Perls, 1995), aufgestaute Gefühle, ungestillte Sehnsüchte
und Bedürfnisse „geschlossen“ bzw. sinnvoll realisiert werden. Zudem sollen zuwenig
gelebte Lebensbereiche stimuliert werden. Gesundheit ist von individuellen Sollwerten
abhängig. Ziel ist eine ausgewogene Besetzung (weder Unter- noch Überfunktion) resp.
eine Balance auf und zwischen allen Lebensdimensionen. Damit wird ganzheitlicheres
Leben mit zunehmendem Wachstum (s. Abb. „Wachstumsbedürfnisse“), Differenzierung
und Entfaltung ermöglicht.
Nebst diesen Zielsetzungen auf einer höheren Stufe (s. Abb. „Wachstumsbedürfnisse“, Kap.
9.1) entscheidet der Schweregrad einer psychischen Erkrankung die Richtung der
Veränderung. Bei einer schweren psychischen Erkrankung und hohem Leidensdruck ist das
Nahziel zu Beginn der Therapie eine Verminderung des Leidensdrucks durch eine möglichst
rasche Symptomerleichterung.
Die Veränderungstheorie IKP des menschlichen Verhaltens ist entsprechend dem
ganzheitlichen Menschenmodell, symbolisch-bildhaft dargestellt durch das Anthropologische
Würfelmodell IKP, multidimensional und hinsichtlich der Kommunikationsweise
multimodal, d.h. sämtliche Sinnes- und Wahrnehmungskanäle (VAKO = visuell – akustisch
– kinästhetisch – olfaktorisch) einbeziehend. Zudem ist sie ressourcen- und
reparativorientiert und setzt die von Maurer entwickelten Veränderungsmethoden, die
„Körpergedächtnisrestrukturierungstechnik“ (reparativ und/oder ressourcenmobilisierend)
und das „Shiften“ (ressourcenmobilisierend) ein (Maurer, 1999, S. 123, s. Kap. 9.4.3.3).
9.3. Bestätigung des ressourcenorientierten Ganzheitstherapiekonzepts
IKP und dessen Relevanz für die BPS durch aktuelle Forschungen
Wie wir wissen, geht der IKP-Ansatz davon aus, in den sechs Seinsdimensionen des
Anthropologischen Würfelmodells IKP (s. Kap. 9.2) handelnd zu verändern. Im Unterschied
zu vielen anderen Psychotherapierichtungen (u.a. Verhaltenstherapie), die einen stark
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störungsorientierten Fokus haben, geht es in der Körperzentrierten Psychotherapie IKP
nach Maurer um eine salutogenetische Betrachtung, d.h. um die Aktivierung
brachliegender und Entwicklung fehlender Ressourcen (Maurer, 1999, s. Kap. 9.2). Damit
wird dem Patienten eine weniger vergangenheits-, sondern zukunftsorientierte Sicht
vermittelt, die die Kräfte der Selbstorganisation und Prioritätensetzung anregen soll.
Das ressourcenorientierte IKP-Therapiekonzept bekommt nun durch eine Studie von
Grosse, Holtforth, Grawe und Tamcan (2003, zit. nach Grawe, 2004, S. 344), basierend auf
neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, unterstützende Zustimmung. Zudem enthält diese
Studie wichtige neurowissenschaftliche Erklärungsansätze für die BPS, welche für die
Therapiekonzeption IKP hilfreiche Unterstützung sein kann.
Im Folgenden soll die Konsistenztheorie, welche die Basis für die oben genannte Studie
bildet, kurz vorgestellt werden und die Relevanz ihrer Ergebnisse für den IKP-Ansatz und
die BPS erläutert werden.
An jedem Aspekt unseres Wahrnehmens, Erlebens und Verhaltens ist nicht ein Neuron,
sondern ein komplexer neuronaler Schaltkreis – kognitiv-emotionale Neuronennetzwerke
– beteiligt. Dies ist neurowissenschaftlich unterdessen gut belegt (vgl. Roth, 1995; Hüther,
2006). Ein Beispiel dazu: Alltägliche Gegenstände (z.B. einen Stuhl) erkennen wir, weil über
lange Zeit immer beim Wahrnehmen eines Stuhles dieselben Neuronennetzverbände
gleichzeitig erregt worden sind. Dadurch bilden sich nach und nach feste Neuronenbahnen
aus, die beim Sehen des Gegenstandes aktiviert werden.
Im Laufe der individuellen Entwicklung, in Auseinandersetzung mit Umwelt- und
Mitweltbezügen, bilden sich unzählige solcher neuronalen Netzwerke aus (s. Hüther, 2006).
Wenn wir uns vorstellen, dass uns Erinnerungen durch den Kopf gehen können, die Gefühle
auslösen und zu Handlungen bewegen können, während wir gleichzeitig uns hungrig fühlen
können und von Kopfschmerzen geplagt werden, so erhalten wir einen Eindruck davon,
dass in unserem Gehirn sekundenschnell und gleichzeitig unterschiedliche
Neuronenschaltkreise aktiviert sein können. Diese kognitiv-emotionalen Netzwerke im
Gehirn stellen also psychische Repräsentationen dar, die Wissen, Emotionen und
„Handlungsbereitschaften“ (Pläne und Schemata) beinhalten. In diesem Zusammenhang ist
auch nachgewiesen worden, dass sich das Gehirn laufend bis ins Alter und auch dauerhaft
verändert werden kann, wenn die Einflüsse intensiv und konstant und über einen längeren
Zeitraum hinweg anhaltend sind (Karni, Meyer, Jezzard, Adams, Turner & Ungerleider,
1995; Merzenich, Jenkins, Johnston, Schreiner, Miller & Tallal, 1996). In der Fachsprache
nennt man das neuronale Plastizität. Aber intensive, vielfach wiederholte Bahnung neuer
Abläufe verlangt vom Menschen die entsprechende Motivation und ein Umfeld, das die
Motivationen des einzelnen unterstützt.
Dieses Wissen bildet die Grundlage zur Konsistenztheorie von Grawe (2004), die
wiederum gleichzeitig die Bindungstheorie (s. Kap. 6.3) in ein neues Licht rückt, indem sie
Erklärungen eröffnet, warum unsichere Bindungen zu Stande kommen.
Dies ist insofern für die BPS von Bedeutung als dass sie mit dem Auftreten des unsicherambivalenten Bindungstyps stark korreliert (Fonagy et al., 1996; Patrick et al. 1994).
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Gerber Sabine + Maag Diana
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Systemebene
Rückmeldung über Inkonsistenz
Streben nach Konsistenz
Grundbedürfnisse
Bedürfnis nach
Orientierung
und Kontrolle
Lustgewinn /
Unlustvermeidung
Bindungsbedürfnis
Rückmeldung über
Bedürfnisbefriedigung
Bedürfnis nach
Selbstwerterhöhung/-schutz
Streben nach
Bedürfnisbefriedigung
Motivationale Schemata
Annäherungsschemata
Inkongruenzsignale
Vermeidungsschemata
Bottom up-Aktivierung
motivationaler Schemata
Erleben und Verhalten
Abb. 7. Das konsistenztheoretische Modell des psychischen Geschehens nach Grawe
(2004, S. 189)
Grawe sieht das Erleben und Verhalten des Menschen als im Wesentlichen von zentralen
allgemeinen psychischen Grundbedürfnissen und motivationalen Schemata geprägt. Unter
psychischen Grundbedürfnissen versteht er Bedürfnisse, die bei allen Menschen vorhanden
sind und deren Verletzung oder Nichtbefriedigung zur Schädigung der psychischen
Gesundheit und des Wohlbefindens führen. Grundbedürfnisse sind für Grawe Vorgaben,
welche die Evolution dem menschlichen psychischen System gemacht hat. Solche
existenziellen Bedürfnisse sind nach Grawe:
•
•
•
•
Orientierung und Kontrolle
Bindung
Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz
Lustgewinn und Unlustvermeidung
Die neurobiologische Forschung zeigt, dass diese Bedürfnisse ganz tief in der
Beschaffenheit des menschlichen Nervensystems verankert sind (Grawe, 2006). Der
Mensch ist gemäss Grawe dazu motiviert, die Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Wenn die aktivierten emotionalen Ziele zur Bedürfnisbefriedigung mit der realen
Wahrnehmung und Erfahrung übereinstimmen, besteht nach Grawe Kongruenz, wenn
nicht, dann erfolgt Inkongruenz.
Grundbedürfnisse beziehen sich dementsprechend immer auf Erfahrungen, die ein Mensch
mit seiner Lebensumwelt gemacht hat. Seine Wahrnehmungen (Gefühle, Gedanken), die er
den jeweiligen Erfahrungen zugeordnet hat, können hinsichtlich eines Grundbedürfnisses
(z.B. Bindung) eine positive oder negative Bedeutung für ihn haben. Diese Erfahrungen
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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bestimmen bei einer nächsten ähnlichen Erfahrungssituation, ob er sich ihr annähern oder
sie lieber vermeiden wird. Grawe spricht hier von annähernden und vermeidenden
motivationalen Schemata.
Annähernde und vermeidende Tendenzen können auch gleichzeitig aktiviert werden und
sich gegenseitig hemmen. In diesem Fall kann von einem motivationalen Konflikt
gesprochen werden, der ebenfalls zu Inkongruenz führt.
Ein hohes Inkongruenzniveau geht mit einem andauernd höheren Pegel negativer
Emotionen (Angst, Wut, Enttäuschung etc.) einher, was sich hirnmässig als unvereinbare,
gleichzeitig ablaufende neuronale/psychische Prozesse zeigt.
Vereinfacht heisst das: Wächst ein Mensch in einer Umgebung auf, die ganz auf die
Befriedigung der Grundbedürfnisse eingestellt ist, wird er hauptsächlich „annähernde
motivationale Ziele“ entwickeln. Er wird positive Erfahrungen sammeln und diese werden als
Erwartungshaltungen für ein nächstes Mal gespeichert. Wächst eine Person hingegen in
einer Umgebung auf, in der ihre Grundbedürfnisse immer wieder verletzt, bedroht oder
enttäuscht werden, entwickelt sie Vermeidungsschematas („vermeidende motivationale
Ziele“), um sich vor Verletzungen zu schützen.
Bei Borderline-Patienten könnte dieses Nebeneinander von Wunsch nach Nähe
(Annäherungschemata) und dem Abstandhalten und Vermeiden von Nähe
(Vermeidungsschemata) einen Zielkonflikt im Sinne von Grawe darstellen und als Folge von
früher unsicheren Bindungserlebnissen in der Familie verstanden werden. In einer
verletzenden Umgebung wie es z.B. bei Borderlinern mit Missbrauchserfahrungen in der
Familie, mit komplexen Traumata der Fall ist, kann Vermeidung als angepasstes Verhalten
gesehen werden. Dauerhaft schädigende Inkongruenzerfahrungen verstellen so den Weg
zur positiven Bedürfnisbefriedigung. Der Mensch bleibt in den vermeidenden Tendenzen
auch in Situationen stecken, wo ihm zur positiven Bedürfnisbefriedigung nichts
entgegenstand, da im neuronalen Netzwerk das „Vermeidungs-Muster“ bereits gebahnt ist.
D.h. immer, wenn es zu Inkongruenzen kommt, werden mit den betreffenden
Bedürfniszielen auch Mittel, Pläne und Verhaltensweisen aktiviert, die bisher erfolgreich
diese Inkongruenzen „runter regulieren“ konnten. Bei solchen Mechanismen sprechen wir
von Abwehrmechanismen oder Coping (Grawe, 2004). Sie laufen überwiegend
automatisiert ab. Aus psychotherapeutischer Sicht entstehen daraus wichtige Hinweise für
die Therapeutenhaltung und die therapeutischen Interventionen (z.B. Lebenspanorama,
Lebensscript, Familienaufstellung, s. Kap. 9.4.3.3)
Zusammenfassend kommt Grawe (2006) zum Schluss: Wenn ein erhöhtes
Inkonsistenzniveau im psychischen Geschehen über längere Zeit anhält, kommt es zur
Ausbildung einer psychischen Störung, denn nur dann wird der neuronale Bahnungsweg im
Gehirn solange wiederholt, dass sich ein festes Störungsmuster etablieren kann.
Die Befunde von Grawe lassen kaum Zweifel, dass die Verletzungen des
Bindungsbedürfnisses zuerst da waren, und dass sie und ihre Folgen grundlegende
Ursachen für eine später ungünstige psychische Entwicklung sind.
Was hat nun aber die geschilderten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen sowie
die Konsistenztheorie von Grawe mit dem Ressourcenansatz der Körperzentrierten
Psychotherapie IKP zu tun?
Grawe
postuliert,
dass
in
der
Psychotherapie
zukünftig
vermehrt
eine
Konsistenzverbesserung angestrebt werden muss, damit Inkongruenzen abnehmen
können. „Wenn sich psychische Störungen einmal herausgebildet und etabliert haben,
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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stellen sie eine zusätzliche Quelle von Inkonsistenzen im psychischen Geschehen dar. Sie
behindern die Realisierung von motivationalen Zielen und stellen selbst Verletzung wichtiger
Grundbedürfnisse dar, denn sie beinhalten Kontrollverlust, sind unangenehm und bedeuten
eine Kränkung für das Selbstwertgefühl.“ (Grawe, 2004, S. 379).
In seiner Prä-Post-Studie (2003) mit 283 Psychotherapiepatienten konnte Grawe (2004)
folgende Resultate vorweisen:
1. Eine Abnahme der Inkongruenz geht einher mit:
• einer Verbesserung des Wohlbefindens
• einer Abnahme der psychopathologischen Symptomatik
• einer Abnahme von Depression und
• einer Besserung interpersonaler Probleme
2. Umgekehrt gilt aber auch: wenn es gelingt, in einem um die Inkongruenz angesiedelten
Problembereich etwas zu verbessern, nimmt die Inkongruenz ab. Ansatzstellen für die
Verringerung der Inkongruenz sind gemäss Studie:
• eine bessere Nutzung vorhandener Ressourcen
• eine bessere Kompetenzerwartung
• Förderung positiven Copingverhaltens
• Abnahme der Stärke von Vermeidungszielen (Bindung zum Therapeuten
ausschlaggebend)
Brachliegende und fehlende Ressourcen (s. untere Abb. 8) hingegen, tragen dazu bei,
Inkongruenz zu verstärken. Deshalb ist eine Ressourcenaktivierung ebenfalls als präventiver
und prophylaktischer Wirkfaktor zu sehen. Die folgende Abbildung verdeutlicht, welche
Faktoren auf die Inkongruenz Einfluss nehmen können:
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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Ungünstige
Lebensbedingungen
Ungünstige
zwischenmenschliche
Beziehungen
Ungünstiges
Beziehungs
verhalten
Ungünstige
Konsistenzsicherungsmechanismen
Fehlende
Ressourcen
(Defizite)
Zu schwach
entwickelte
Annäherungsschemata
Fehlendes Bewusstsein für Determinanten eigenen
Verhaltens
Schlechtes
Wohlbefinden
Inkongruenzniveau
bzgl. der Grundbedürfnisse nach
- Orientierung & Kontrolle
- Bindung
- Selbstwerterhöhung & -wertschutz
- Lustgewinn & Unlustvermeidung
Problematische
Kognitionen &
Überzeugungen
Begünstigen Ausbildung & Aufrechterhaltung
Brachliegende
Ressourcen
Psychopathologische
Symptomatik
Motivationale
Konflikte
Stark
ausgeprägte
Vermeidungsschemata
Trägt/tragen bei zu
Abb. 8. Funktionale Stellung der Inkongruenz im psychischen Geschehen (nach Grawe,
2004, S. 347)
Mit der Studie von Grawe wird das ressourcenorientierte Therapievorgehen, das Maurer
bereits in den 1980er Jahren entwickelt hat, explizit in seiner Wichtigkeit nun auch durch
aktuelle Forschungen bestätigt. Zudem liefert Grawe Hinweis dafür, dass mit dem
ressourcenfördernden ganzheitspsychotherapeutischen Ansatz IKP, gleichzeitig an einer
Inkongruenzverringerung gearbeitet wird, die - wird sie erreicht - zu mehr Wohlbefinden und
zur Abnahme von psychopathologischen Symptomen führt.
Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass mit den 6 Lebens-/Seinsdimensionen des
Anthropologischen Würfelmodells IKP nach Maurer die negativen Wirkfaktoren auf die
Inkongruenz (s.o.) berücksichtigt und verändert werden.
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Seite 129 von 168
9.4. Ein ganzheitlich-integratives Therapiekonzept IKP für die BPS
Vorliegendes Therapiekonzept IKP für die BPS stellt einen Versuch dar, den Ansatz der
Körperzentrierten Psychotherapie IKP nach Maurer (1993a, 1998, 1999, 2002), ausgewählte
Literatur zur BPS und vor allem eigene Erfahrungen in einem Modell zu integrieren. Die
Verfasserinnen stellen keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr soll dieses
Therapiekonzept eine Hilfestellung bei der Behandlung der BPS mit der Körperzentrierten
Psychotherapie IKP sein und natürlich auch zur Verbesserung und Erweiterung anregen.
Dem
Konzept
liegt
eine
phänomenologische
und
störungsspezifische
Psychotherapiesicht zu Grunde (s. Kap. 9.4.1). Es folgt damit einer - in der
Psychotherapieforschung sich zunehmend abzeichnenden - schulenübergreifenden
Therapieperspektive (Zielke & Sturm, 1994; Berger, 1999). Konkret ist damit gemeint, dass
selbst innerhalb einer Therapieschule heutzutage eine Psychotherapie bei Ängsten gänzlich
anders aussieht als eine Psychotherapie bei Depression. Und die Therapieziele und
Vorgehensweisen in der Behandlung von Süchten sind völlig andere als die Ziele in der
Behandlung einer BPS. Damit wird das Ziel einer „selektiven und differentiellen Indikation“
(Fiedler, 2000) angestrebt. Das wesentliche Merkmal einer Phänomenorientierung und
Störungsspezifität wird damit die ätiologische Begründung eines Störungsbildes. Sie legt die
Basis für das konkrete psychotherapeutische Vorgehen.
Phänomen und Störung kennzeichnen eine wichtige Balance im vorliegenden
Therapiekonzept IKP der BPS, die bei der Diagnose aber auch durch den gesamten
Therapieverlauf gesucht und hergestellt werden muss, will man nebst Differentialdiagnose
nach ICD-10, auch die Einzigartigkeit, mit der uns Patienten begegnen, achtsam
berücksichtigen und würdigen.
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Anamnese/Problemaufnahme
Phänomenologisch orientierte Problemanamnese
- anhand Anthropolog. Würfelmodell IKP und
- subjektiver Problemsicht des Patienten
Ganzheits-
Störungsspezifische Differentialdiagnostik
Diagnose
nach ICD-10 inkl.
Komorbiditäten
Individuelle Therapieplanung und
Festlegen von Therapieschwerpunkten
Vom allgemeinen (aus Theorie und Forschung) zum
individuellen Erklärungsmodell BPS
Individuelles ganzheitsorientiertes Therapiemodell IKP für die BPS
=> aufgrund Kenntnis allgemeiner Behandlungsmodelle anderer Schulen
=> unter Berücksichtigung der Therapieprinzipien IKP
•
•
•
BEZIEHUNGSAUFBAU zwischen Therapeut
und Patient
RESSOURCENORIENTIERUNG
SELBSTWIRKSAMKEITSFÖRDERUNG
Therapieprinzipien
1. Krisenmanagement: bei Suizidgefahr,
Selbstverletzung, Fremdgefährdung
2. Psychoedukation des Patienten
3. Stabilisierung der Emotionsregulierung
(Erregungs- und Affektkontrolle, Spannungs- und
Stressbewältigung)
4. Identitätsstiftende Veränderung durch
Ressourcenaktivierung/ -stärkung (auf allen
Lebensdimensionen)
5. Regression: Bewusstmachen und Aufarbeitung
unbewusster Problemursachen und deren Integration
Therapieschwerpunkte/
Therapiephasen
6. Transfersicherung, Stabilisierung und
Verstärkung der Behandlungserfolge
(Hausaufgaben,,Wiederholen von Neugelerntem)
Prozesshafte Therapiedurchführung
Therapiemodule/-ziele für die BPS
Körperliche Seinsdimension: VAKO, Körperwahrnehmung, Sensory Awareness, Achtsamkeitstraining
Psychisch-geistige Seinsdimension: Handlungsorientierte Copingvermittlung für Spannungsabbau,
Umgang mit Stress, Entspannungsförderung, Gefühlsdifferenzierung (Beobachten und Erleben von
verschiedenen Gefühlen), Ressourcenaktivierung positiver Gefühle, Gestaltarbeit zur Integration von
projizierten Aggressions-/Wutanteilen, Urvertrauen
Soziale Seinsdimension: Nähe-Distanz-Arbeit, Kontakt- und Abgrenzungs-Arbeit, Rollenarbeit mit
Perspektivenwechsel, Beziehungsgestaltung von Therapeut und Patient und mit der Umwelt
Raum-Dimension: Körper-Raum-Arbeit
Zeit-Dimension: Vergangene Beziehungsmuster in der Familie (systemorient. Arbeit),
Zukunftsperspektiven erarbeiten, reale Wahrnehmung im Hier-und-Jetzt fördern
Spirituelle Seinsdimension: Eigene Werte finden, Sinnfindungsprozess, Urvertrauen
Abb. 9. Das Therapiemodell IKP der BPS
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Seite 131 von 168
Anamnese/Problemaufnahme
Jede Psychotherapie beginnt mit einer zieloffenen Exploration, in welcher der Patient
ausreichend Gelegenheit erhält, frei und uneingeschränkt über seine Probleme,
Beschwerden und über die von ihm vermuteten Störungsursachen zu berichten. Damit
treffen bereits am Anfang der Therapie zwangsläufig theoretische Vorstellungen über
Störungsbild (nach ICD-10, DSM-lV) und Behandlungsperspektiven einerseits mit der
subjektiven Problemsicht des Patienten und der Individualität des Patientenproblems
aufeinander. D.h. es greifen von Therapiebeginn an die phänomenologische (=induktive)
und die störungsspezifische (=deduktive) Betrachtung abwechslungsweise ineinander.
Dies ist aus unserer Sicht nicht BPS-spezifisch, sondern gilt für alle psychischen Störungen.
Nun gibt es Therapierichtungen, die sich vorwiegend an dem traditionell medizinischen und
theoriegeleiteten Therapieverständnis anlehnen (Pathologie, Diagnose, Intervention) wie
z.B. die klassische Psychoanalyse und dabei die phänomenologische Sicht eher
vernachlässigen. Anders bei der Körperzentrierten Psychotherapie IKP. Sie betont den
phänomenologischen, explorativen Ansatz, der im Therapieprozess von dem ausgeht, was
im Moment gerade aktiviert ist und der unmittelbaren Erfahrung zugänglich ist (s. Maurer,
2002). Ausgehend von diesen Erfahrungen werden bisherige für die Gesundheit hinderliche
Strukturen, Muster, Sichtweisen etc. in ihrem Bezug zu Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft bearbeitet.
Diese Sichtweise hat auch Auswirkungen auf die Anamnese/Problemaufnahme. Nebst einer
Diagnose nach ICD-10 oder DSM-IV interessiert vorwiegend auch die phänomenologisch
orientierte Problemaufnahme, in der versucht wird, möglichst alle (nicht nur
störungsspezifischen) Einflussfaktoren auf das Krankheitsgeschehen in ihrem
Zusammenspiel zu erfassen, damit die Therapie individuell, multimodal und multifaktoriell
auf den Patienten ausgerichtet werden kann. Erkenntnisse aus der phänomenologischen
Problemaufnahme können wiederum rückkoppelnd die störungsspezifische Diagnose
beeinflussen und verändern. Die phänomenologische Ganzheitsdiagnostik nach dem IKPAnsatz erfolgt mithilfe des Anthropologischen Würfelmodells IKP durch Erstellen von IKPSaluto- und Pathogrammen auf allen sechs Lebensdimensionen (Maurer, 1999).
Zusammenfassend geht aus obigem Therapiekonzept IKP der BPS also folgendes hervor:
Es gibt bei der BPS (und bei allen anderen psychischen Störungen) einen gegenseitigen
Rückkoppelungsprozess zwischen phänomenologischer Problemerfassung und
störungsspezifischer Diagnosestellung (nach ICD-10). Ebenso erfolgt aber auch
während des gesamten Therapieprozesses ein ständiges Abgleichen zwischen
Phänomenologie und Theorie, woraus wiederum Veränderungen in der Diagnosestellung, in
Therapiezielen oder sogar ein neuer Therapieauftrag resultieren können. Die
Berücksichtigung beider Perspektiven eröffnen Möglichkeiten zu einer ganzheitlichen,
integrativen Perspektive weg von einer starren Methodensicht einer Therapieschule. Denn
nicht eine bisherige schulenspezifische Therapie-Methodik soll das therapeutische
Vorgehen begründen, sondern die Bedingungen, die für die Entstehung und Verlauf einer
psychischen oder Persönlichkeits-Störung massgeblich verantwortlich sind. Das
Anthropologische Würfelmodell IKP erlaubt genau diese Bedingungen multidimensional in
ihrer Komplexität und Vernetztheit abzubilden.
Störungsspezifische Differentialdiagnostik
Die störungsspezifische Perspektive ist in den vergangenen Jahren durch grosse
Verbesserungen im Bereich der psychiatrischen Klassifikation verbessert worden (ICD-10,
DSM-lV). Dies erleichtert heute die Konsensfindung in der Störungsbenennung wesentlich.
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Psychiatrische Diagnosen sind zunächst nichts weiter als mehr oder weniger zutreffende
klinische Zustandsbeschreibungen. Vorteile zeigen sich v.a. in der „einheitlichen Sprache“
im psychiatrischen und psychotherapeutischen Umfeld. Zudem dient die störungsspezifische
Differentialdiagnostik der gegenwärtigen Psychotherapieforschung als grundlegende
Orientierung für die Entwicklung und Untersuchung ätiologischer Erklärungsmodelle, woraus
therapeutische Strategien abgeleitet werden können (s. Kap. 4).
Phänomenologisch-orientierte Problemanamnese
Zur Einzigartigkeit und Komplexität jedes einzelnen Patienten gehören immer alle
Phänomenbereiche, die auf den sechs Lebensdimensionen des Anthropologischen
Würfelmodells IKP in unterschiedlichster Weise ausgestaltet und miteinander von
Vergangenheit bis jetzt verschiedentlich verknüpft sind.
Diese Phänomene zeigen sich in der Diagnosestellung in Personeneigenarten (persönliche
Lebensstile, Art des Sich-Bewegens, Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Handelns), in der
Biografie und Problemsicht des Patienten, in seinen Interaktionseigenarten und
-auffälligkeiten, seiner sozialen Lebenswelt sowie in seinen Werten, Normen und
Überzeugungen u.a. Insbesondere bei Persönlichkeitsstörungen scheint es uns wichtig, eine
sorgsame Phänomenanalyse der Biografie des Patienten und seiner sozialen Umwelt zu
machen. Denn es ist bei einer Persönlichkeitsstörung zunächst nicht sicher, ob sich, selbst
wenn die Kriterien dazu erfüllt sind, die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung überhaupt
rechtfertigt. Auffällige Persönlichkeitseigenarten könnten auch ein persönliches Unvermögen
wegen existenziellen, länger andauernden Probleme signalisieren. Differentialdiagnostisch
sollten daher auch immer Persönlichkeitsakzentuierungen (ICD-10: Z73.1) und andauernde
Persönlichkeitsveränderungen (ICD-10: F07, F62) berücksichtigt werden.
Dank dem Anthropologischen Würfelmodell IKP kann das erreicht werden, woran zahlreiche
Therapierichtungen im Moment noch „kranken“, nämlich eine komplexe phänomenologische
Diagnoseschau (s.o.), die der Problemindividualität jedes Patienten Rechnung trägt.
Mit dem Anthropologischen Würfelmodell IKP kann die BPS zweigleisig betrachtet werden:
•
Allgemeine störungsspezifische Sicht: Die BPS-typischen Symptome und Probleme
(unter Berücksichtigung von ICD-10 und DSM-lV) lassen sich auf den
Lebensdimensionen abbilden (s. Abb. 10). Daraus zeigt sich, dass bei der BPS alle
Dimensionen betroffen sind, mit den meisten Belastungsausprägungen im PsychischGeistigen (emotional und kognitiv), im Körperlichen und im Sozialen.
Therapieansatzpunkte resp. –themen sind dementsprechend auf allen Dimensionen
gegeben. Wieder einmal bestätigt sich das bio-psycho-soziale Modell (s. Kap. 6.4,
Engel, 1977, 1980), auf dem der IKP-Ansatz beruht. In dem Sinne hat ein BPS-Patient
nicht allein nur „psychische Symptome“, sondern er ist ein „psycho-bio-sozial“-Kranker
mit einer „psycho-bio-sozialen Störung“ (vgl Maurer, 1999, S. 12).
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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1)
2)
3)
6)
4)
5)
1) Körperliche Lebensdimension
Spannungszustände, impulsives Verhalten („Fressanfälle“, Sexualität, Substanzmissbrauch,
körperliche Auseinandersetzungen), selbstverletzendes Verhalten, suizidale Handlungen,
hochriskante Verhaltensweisen (Balancieren auf Treppengeländern, Sitzen auf Bahnschienen,
rücksichtsloses Autofahren), Körperwahrnehmungsstörungen, Analgesie, verzerrtes, unrealistisches
Körperbild/schema, Instabilität der Geschlechtsidentität, sexuelle und andere physische
Gewalterlebnisse, evtl. Schlafstörungen und Alpträume
2) Beziehungsmässige (soziale) Lebensdimension
Instabile und intensive Beziehungen, Beziehungsstörung (Störung der Nähe/Distanz-Regulation,
Idealisierung vs. Entwertung), manipulierendes Verhalten (wiederholte Demonstration von
Hilflosigkeit und Leiden), Beziehungsabbrüche/Therapieabbrüche/Stellenwechsel, keine sichere
Bindung zu Bezugspersonen aufgebaut, Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen,
Rollenfluktuation
3) Psychisch-geistige Lebensdimension
Dissoziative
und
(pseudo)psychotische
Symptome,
Suizidgedanken,
-impulse,
Selbstmordandeutungen, -drohungen, Identitätsstörung: Instabilität des Selbstbildes, der
Selbstwahrnehmung, affektive Instabilität und Impulsivität (v.a. unangemessene heftige Wut oder
Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren), ausgeprägte Reaktivität der Stimmung, gestörte
Affektregulation, Selbstentwertung, fehlendes Selbstvertrauen, Spaltung im Sinne Dichotomie des
Denkens, starre affektiv-kognitive Schemata, Abwehrmassnahmen, Kritik von anderen nicht ertragen
können, häufig emotionale Krisen
4) Raum / Ökologie
Verzerrtes Raumverhältnis: Grenzen/Abgrenzung, Körperraum, Körperabgrenzung, Verhältnis von
Körper und Raum, Platzverhältnisse, Verhältnis innerer und äusserer Raum, Raummasse.
5) Zeit
Unfähigkeit, vorauszuplanen (mangelnde Lebensplanung), Fliehen aus dem Jetzt, fehlende
Zukunftsorientierung (keine Zukunftsvorstellungen, -perspektiven), instabile Zielorientierung
(Unstetigkeit)
6) Spirituell-transzendente Lebensdimension
Fehlendes Urvertrauen, Suizidalität, Sinnlosigkeit, innere Leere, fehlende tragfähige Werte und
Wertvorstellungen
Abb.10. BPS-typische Symptome/Probleme und deren Zuordnung auf den Dimensionen
des „Sechseck-Kreismodells“ nach Maurer (1993, 1998, 1999, 2002)
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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•
Individuelle Sicht: Innerhalb von BPS-Patientengruppen gibt es grosse Varianzen.
Nicht jeder BPS-Patient ist gleich wie der andere. Jeder bringt aufgrund seiner Biografie
und seiner Persönlichkeit ein individuelles Lebensdimensions“muster“ mit ganz
spezifischer Dynamik (Wechselwirkung zwischen den Seinsdimensionen) mit. Zudem
steht dieses immer in ständiger Veränderung.
9.4.1. Individuelle Therapieplanung und Festlegen von
Therapieschwerpunkten
Die auf dem phänomenorientierten und störungsspezifischen Weg erhaltene ganzheitlichintegrative Problembetrachtung/Diagnose der BPS bietet die Grundlage für die Auswahl
eines angemessenen Erklärungsmodells. Wie wir in Kap. 6 bereits gesehen haben, gibt es
zahlreiche Erklärungsansätze für die BPS. Die Entscheidung für ein Erklärungsmodell wird
sich wesentlich davon leiten lassen, ob und wie sich eine Übereinstimmung mit der
ganzheitlich-integrativen Diagnose des Therapeuten herstellen lässt. Ist dieses
wissenschaftlich begründbare Ätiologiemodell gefunden, so kann dieses in ein
individuelles Erklärungsmodell für den Patienten übersetzt werden, welche die subjektive
Störungstheorie des Patienten auch mitberücksichtigt.
Folglich können auch im nächsten Schritt das Therapiemodell und die Behandlungsmassnahmen für die BPS stets individuell angepasst werden. Anders als bei der TFP- und
der DBT-Therapie befürworten wir keine standardisierten Therapiemanuale, die für jeden
BPS-Patienten modular gleich ausgestaltet sind – wir folgen damit dem individuellen,
bedürfnisorientierten Anspruch des IKP-Ansatzes. Wohl aber unterstützen wir ein
Therapiemodell, dass einerseits in einem strukturierenden Sinne die Therapieschwerpunkte
einer BPS aufzeigt, andererseits aber genug Freiraum gibt, um die Interventionen
bedürfniszentriert und individuell zu gestalten. Im nachfolgenden individuellen
ganzheitlich-integrativen Therapiemodell IKP der BPS haben wir dies zu berücksichtigen
versucht.
9.4.2. Individuelles ganzheitlich-integratives Therapiemodell IKP der BPS
Das vorliegende Therapiemodell IKP der BPS unterscheidet zwischen übergeordneten
IKP-Therapieprinzipien, die die Grundpfeiler durch den gesamten Therapieprozess sind
und den BPS-Therapieschwerpunkten/-phasen. Der modulare Aufbau der zentralen
Therapieschwerpunkte geht grundsätzlich von folgenden Therapiephasen aus:
1. Lebenserhaltungsphase:
2. Stabilisierungsphase:
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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Krisenmanagement
Emotionsregulierung, Erregungs- und Affektkontrolle,
Spannungs- und Stressbewältigung
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3. Veränderungsphase:
4. Transfersicherungsphase:
Identitätsstiftende
Ressourcenaktivierung/-stärkung,
Regression: Bewusstmachen und Aufarbeitung unbewusster Problemursachen und deren Integration
Verstärkung von neu Erlerntem und Erfahrenem und
Verankerung
Besserungsfortschritt
Spirituell-transzendente
Dimension (eigene Werte,
Urvertrauen)
Alle Dimensionen,
v.a Körperliche
und Soziale Dim.
Psychischgeistige
Dimension
Körperliche
und Soziale
Dimension im
Vordergrund
Alle
Dimensionen
Krisenmanagement:
Vorgehensklärung,
Vereinbarungen und
Vertrauensaufbau
Shiften
auf allen Dimensionen,
keine passiven Körperübungen für den
Erregungsabbau
V.a. aktive Körperarbeit
+ zw.menschl. Interaktion
Aktivierung
auf allen Dimensionen
individuell abhängig
vom Ress.bild des
Patienten
Ressourcenaktivierung
Lebenserhaltungsphase
Stabilisierungsphase
Innere
Prozesse
Bewusstwerden
unbewusster
Vorgänge
+ Problemursachen
Aufdecken
unbew. Vorgänge
Veränderungsphase
Hausaufgaben
Übungen
Verstärkung
durch
Wiederholung
von Erlerntem
Behandlungsdauer
Transfersicherungsphase
Abb. 11. Graphische Darstellung des Therapieprozesses bei der BPS unter gleichzeitiger
Verknüpfung mit dem Anthropologischen Würfelmodell IKP
(Modell abgeleitet von der graphischen Darstellung des Therapieprozesses bei
psychosomatischen Erkrankungen nach Maurer, 1999, S. 133).
Wie bereits erwähnt (s. Kap. 4.5) führen die Impulsivität und affektive Instabilität des BPSPatienten häufig zu selbstschädigendem und -verletzendem Verhalten. Endpunkt bildet die
Suizidalität und als ihre Konsequenz der Suizid. Tatsächlich beträgt die Sterberate bei der
BPS je nach wissenschaftlicher Studie 5-10% (Niklewski et. al, 2003). Kriseninterventionen,
wie z.B. Notfalleinlieferungen in psychiatrische Kliniken oder Spitäler, gehören zum Alltag
eines BPS-Therapeuten. Deshalb ist in einer ambulanten Therapie von BPS-Patienten
anfangs der Therapie wichtig, das Vorgehen bei Krisenfällen zu besprechen (Ablauf, Rolle
des Patienten und Therapeuten, Auswirkungen auf den Therapieverlauf etc.) und, wann
immer möglich, Suizidverträge abzuschliessen. Krisen haben vor anderen
Therapieinterventionen absoluten Vorrang („Störungen haben Vorrang“, Cohn, 1994)
BPS-Betroffene (wie auch die meisten anderen psychisch Erkrankten) befinden sich zu
Therapiebeginn in einer Situation, in der sie sich neu bestimmen müssen und damit die
bisherigen „Muster“ in Denken, Fühlen und Handeln, aus denen sie bisher persönliche
Sicherheit bezogen haben, verlassen müssen. Die Frage ist also: Wie kann man dem BPSPatienten in seiner brüchigen Ich-Identität und Selbstsicherheit zunächst soweit
stabilisieren resp. stärken, dass eine solche Änderung erfolgen kann?
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Dies gelingt primär über einen individuellen „Notfallkoffer“ (Shiften als die Methode) und
über die Aktivierung der Stärken und Fähigkeiten der BPS-Patienten, sprich über
Ressourcenaktivierung/-stärkung und Entfixierung von den beklagten Symptomen
(Maurer, 1999, s. Kap. 9.2). Umso mehr, wenn multiple Erfahrungen von Traumata
vorliegen, ist eine Stabilisierung und Ressourcenaktivierung vorrangig. Auf keinen Fall darf
bei traumatisierten Patienten konfrontativ und provokativ gearbeitet werden
(Retraumatisierungsgefahr). Auch passive Körperarbeit ist in diesem Stadium
kontraindiziert, denn nach sexuellen und physischen Missbrauchserfahrungen des Patienten
würde/könnte Berührung durch den Therapeuten zu einer Retraumatisierung führen (s.u.).
Ein
strukturierendes,
stabilisierendes
und
bezüglich
Emotionsregulierung
bewältigungsorientiertes Vorgehen bildet aus unserer Sicht die Grundlage für ein
weiteres Vordringen in die unbewussten und tieferen Ebenen der Problemursachen, um da
verändernd wirken zu können.
Da bei der Körperzentrierten Psychotherapie IKP ausgehend vom Hier-und-Jetzt von der
Oberfläche in die Tiefe, vom Bewussten zum Unbewussten, gearbeitet wird, erfolgt
Regressionsarbeit erst in einem zweiten Schritt. Die Aufarbeitung von vergangenen
Problemursachen ist für den Patienten zum einen ein Klärungs- und Erkenntnisprozess, zum
anderen werden durch das Erfahrbarmachen von jüngeren Ich-Anteilen und deren
Bedürfnisse diese mit dem Jetzt-Ich verbunden, damit der Patient sich mehr und mehr im
zeitlichen Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfassen lernt.
Übungen und Hausaufgaben für die Zeit zwischen den Therapiesitzungen dienen der
Stabilisierung und Verstärkung von neu Erlerntem und Erfahrenem.
9.4.2.1. Therapieprinzipien
Beziehungsaufbau zwischen Therapeut und Patient
Unsere Persönlichkeit entwickelt sich in Kontakt und Begegnung, in Beziehung und Bindung
zu Anderen (s. auch Kap 6.3 und Kap. 7.4 “Korrespondenzmodell der Integrativen
Therapie“). Menschen brauchen für eine positive Beziehungsqualität den spürbaren Kontakt
zum Gegenüber. Sie benötigen zum Lernen den sozialen Austausch und internalisierbare
positive Bezugspersonen.
In der Körperzentrierten Psychotherapie IKP wird diesem Tatbestand grosse Rechnung
getragen, indem der Therapeut sich mit seinem ganzen Denken, Fühlen, Wahrnehmen und
Handeln ins therapeutische Geschehen einbringt und aktiv daran beteiligt ist (Maurer, 2002).
Damit wird er vom Patienten als ein „echter“ Begleiter mit Präsenz im Hier-und-Jetzt
empfunden. „Ohne echtes therapeutisches Gefühlsangebot und ohne Intersubjektivität ist
die Motivation zur Veränderung meist brüchig und kurzlebig“ (Maurer, 1999, S. 79).
Die intersubjektive Therapeuten-Patienten-Beziehung ist bei BPS-Patienten häufig harten
Belastungsproben ausgesetzt. Wegen langjährigen belastenden zwischenmenschlichen
Beziehungen, zahlreichen Interaktionproblemen, Traumaschädigungen sowie häufig
fehlender positiver Internalisierungen von Bezugspersonen begegnen die BPS-Patienten
dem Therapeuten anfangs meist mit höchstem Misstrauen, Kritik und Zurückhaltung.
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Viele „testen“ auch mit ihrem Verhalten die Tragfähigkeit der therapeutischen Beziehung
(eigene Erfahrungen und Aussagen des Pflegepersonals in der Psych. Klinik Kilchberg).
Es geht aus der Sicht des Therapeuten also primär darum, dem BPS-Patienten ein
grundlegendes Gefühl von zwischenmenschlicher Sicherheit zu vermitteln, d.h. für den
Patienten da zu sein, wenn er den Therapeuten braucht, ohne aber irgendwelchen
Manipulationsversuchen durch den BPS-Patienten zu erliegen. Dies ist manchmal ein
schwieriges Unterfangen und bedarf einer hohen Achtsamkeit des Therapeuten
(Achtsamkeitsschlaufe: geteilte Aufmerksamkeit) gegenüber dem Beziehungsgeschehen.
Generell verlangt die Arbeit mit BPS-Patienten vom Therapeuten einiges an geduldiger
Haltung und positiver Grundhaltung gegenüber der Behandlung und dem Klienten selbst.
Der BPS-Patient orientiert sich stark an den Einstellungen, Bewertungen, Äusserungen und
dem Verhalten des Therapeuten. Durch seine emotionale Konstanz und Stabilität v.a. bei
Krisen, durch seine Durchhaltekraft und seine Suche nach positiven Lernerfahrungen aus
Rückschlägen des BPS-Patienten, hat der Therapeut hier eine wesentliche Vorbildfunktion
(„Lernen am Modell“, Bandura, 1976). Bei dieser hohen Anforderung ist es günstig, wenn
der Therapeut seinerseits über gute Quellen der Unterstützung verfügt. Supervision (und
Intervision) des Therapeuten erachten wir als ein absolutes Muss in der Behandlung von
BPS-Patienten.
Zusammenfassend kann also festgehalten werden: Vertrauensbildung ist die
entscheidende Grundlage für den Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung mit
BPS-Patienten.
Ressourcenorientierung
Gemäss der Krankheitstheorie der Körperzentrierten Psychotherapie IKP (s. Kap. 9.2)
führen krankhafte Störungen sehr oft zu einer einseitigen Fokussierung und damit zur
Einschränkung bestimmter Lebensbereiche. „Dadurch entsteht … ein Ressourcenverlust
gerade dann, wenn Ressourcen am dringendsten benötigt werden (Maurer, 1999, S. 167).
Durch die Problemfixierung kommt es zu einer verzerrten Wahrnehmung, zu einer immer
grösseren Einseitigkeit und einem Zuschlagen der „Ressourcen-Türen“ (s. Kap. 9.2). Durch
die Ressourcenorientierung in der Körperzentrierten Psychotherapie IKP lernt der
psychisch Kranke auf seine gesunden Aspekte zu achten und lernt, aus anderen weniger
betroffenen Lebensdimensionen „Überbrückungshilfen“, Kraft und neue Energie zu erhalten,
um Veränderungen und Lösungsversuche konstruktiv in Angriff nehmen zu können (vgl.
Maurer, 1993, s. Kap. 9.2). Ziele dieser Arbeit sind Selbstwertschätzung und
Selbstkompetenz, die Förderung persönlicher Souveränität, ein guter Kontakt zum Körper,
Konfliktfähigkeit, Kommunikationsförderung, Aufbau eines guten sozialen Netzes, berufliche
Befriedigung und sinnstiftende Freizeitaktivitäten (Petzold, 1997a).
Dass insbesondere das ressourcenorientierte Vorgehen (s. Kap. 9.2) bei einer BPSSymptomatik von grosser Bedeutung ist, liegt auf der Hand. Wenn ein emotional höchst
instabiler, im Selbstvertrauen angeschlagener BPS-Patient mit mangelnder Selbstkontrolle
nicht auf seine Vielzahl von Ich-erschütternden Problematiken reduziert wird, sondern in
seinen Zielen und Fähigkeiten erkannt, bestätigt und unterstützt wird, dann erlebt er sich
allein dadurch gestärkt und hoffnungsvoller, aber auch mit einer erhöhten Offenheit
gegenüber
veränderungsorientierten
Interventionen
(s.
auch
Kap.
9.1,
„Annäherungsschema“ von Grawe, 1995). Ressourcenorientierung ist somit ein wichtiger
Motor für Veränderungsprozesse.
Manchmal reicht dafür eine ambulante Therapie allein nicht aus. Eine Reihe von
psychosozialen Problemen bei der BPS (wie Arbeitslosigkeit, Kontakt zur Drogenszene,
schwieriges Beziehungsumfeld, misshandelnde Partner) erfordern zwingend die
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Hinzuziehung weiterer Fachberater. Dies betrifft insbesondere die Beratung in Fragen der
Erziehung, der Sozialhilfe und Vormundschaft, bei Krisen in der Ehe (Trennung, Scheidung),
bei schulischer und beruflicher Laufbahnplanung, bei ungewollter Schwangerschaft usw..
Der Therapeut steht bei BPS-Patienten mehr als bei anderen psychisch Erkrankten in einer
Drehscheibenfunktion zu anderen Spezialisten und Institutionen. Wohl kann der Therapeut
selbst Aufgaben übernehmen wie der Einbezug von Eltern bei Jugendlichen mit BPS (s.
Fallbeispiel 1) oder die Kontaktpflege zu Schulen oder Arbeitgebern (sofern durch Patient
bewilligt). Er muss aber auch rechtzeitig entscheiden können, wann und wo zum Wohl des
Patienten Unterstützung von aussen indiziert ist. Eine Vernetzung des „Helfer-Systems“
ist bei der ambulanten Psychotherapie von BPS-Patienten sehr wichtig und hilfreich.
Selbstwirksamkeitsförderung
Letztendlich ist es der Patient selbst, der sich ändert, und nicht der Therapeut, der den
Patienten ändert. Dies verlangt, dass der Therapeut durch seine Interventionen ein
unterstützendes Feld in einem geschützten Rahmen zur Verfügung stellen kann, damit der
Patient Erlebnisse und Erfahrungen machen kann, die ihn in seiner Selbstkontrolle, seinem
Selbstvertrauen und letztendlich seiner Selbstbestimmung stärken. Sich als selbstwirksam
zu erleben, setzt voraus, dass man sich selbst in seinem Körper als präsent und stabil
erleben kann (Selbsterfahrung, s. Kap. Interventionen), was bei BPS-Patienten meist nicht
der Fall ist. Da obliegt es dem Therapeuten, den BPS-Patienten in erster Linie in die
Körperbeobachtung, -wahrnehmung und das Körpererleben zu bringen (Sensory
Awareness, s. Kap. 9.4.3.3) sowie dessen Sinneserleben ausdehnen und qualitativ vertiefen
zu helfen (VAKO-Arbeit, s. Kap. 9.4.3.3). Vorsicht ist hier hingegen bei BPS-Patienten mit
Traumagenese (Übergriffe, Misshandlungen) geboten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass
traumatisierte BPS-Patienten ihren Körper als Ursache von Scham an sich selbst erleben
und deshalb aus Schutz ihr Selbst vom körperlichen Erleben strikt ablehnen und ihr Selbst
vom körperlichen Erleben trennen (Fiedler, 1999a). Passive Körperinterventionen oder
Körperarbeit mit Berührungen sind dann aus Gefahr der Retraumatisierung (Triggering)
kontraindiziert, solange therapeutisch keine ausreichende Stabilisierung des Patienten
erfolgt ist. Dies kann längere Zeit in Anspruch nehmen.
Für den Aufbau des Selbstwirksamkeitsgefühls in Form von „Ich kann das“ oder „Das traue
ich mir zu“, braucht es den Glauben und den Mut, den Weg in die Veränderung und in die
Unsicherheit zu gehen. BPS-Patienten haben es da besonders schwer, da ihre
eigentümlichen Persönlichkeitseigenschaften und ihr Verhalten (wie wir in Kap. 4.5, Kap. 7.4
gesehen haben) als Bewältigungsmechanismen früherer Erfahrungen in ihrem Gehirn tief
verankert sind. Ohne intensive Unterstützung sowie Bestärkung durch den Therapeuten
einerseits und wiederholtes Üben/Festigen von veränderten Denk- und Verhaltensmustern
andererseits schafft der BPS-Patient kaum den „Sprung in das Neue“.
Was das Üben zur Veränderung von „alten Mustern“ in Richtung
Selbstwirksamkeitserhöhung betrifft, so hat dies in und vorwiegend ausserhalb der
therapeutischen Sitzung – im realen Umfeld – zu erfolgen. Damit erlebt der Patient, dass er
selbst kompetent Einfluss auf sein Wohlbefinden nehmen kann. Bewältigungsorientiertes
Üben z.B. zur Affektregulierung, Spannungsreduktion oder ein Training neuer konstruktiver
sozialer Interaktionsmöglichkeiten usw. bieten sich als mittel- bis langfristige Hausaufgaben
an, deren Erfolge/Misserfolge in der Therapie regelmässig überprüft werden müssen (s.
„Transfer, Stabilisierung und Verstärkung der Behandlungserfolge“, Kap. 9.3.3.2).
Indem der Patient über das Wissen (als Folge von Psychoedukation, s.u.) und die Erfahrung
(als Folge von erfahrungszentrierten Übungen des IKP-Ansatzes) verfügt, dass er auf seine
Symptome Einfluss nehmen kann, wird der Patient aus seiner Opferhaltung herausgehoben.
Dies führt zu einem Empowerment, d.h. zu einer Selbstbefähigung, Selbstbemächtigung,
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Stärkung der Eigenkräfte und der Autonomie. Es geht um die „Hilfe zur Selbsthilfe“, um
das Anstiften zur (Wieder-)Aneignung von Selbstbestimmung über die Umstände des
eigenen Lebens.
9.4.2.2. Therapieschwerpunkte /Therapiephasen
Die Hauptziele des Therapieangebotes für die BPS sind aus unserer Erfahrung die
Unterbindung selbst- und fremddestruktiver Handlungen, der Aufbau von Selbstkontrolle,
Selbstvertrauen und Selbstwert, eine realitätsorientierte Identitätsförderung, die Bearbeitung
der auf tieferen Ebenen liegenden Problemursachen, die Entwicklung von Urvertrauen,
tragfähigen Sinnperspektiven und Werthaltungen.
Die Körperzentrierte Psychotherapie IKP berücksichtigt in ihrem Vorgehen die Möglichkeiten
humanistischer, systemischer, psychodynamischer und kognitiv-verhaltenstherapeutischer
Methodenansätze. Bewältigungsorientierte Strategien, die schnell die Eigendynamik von
Symptomen (wie z.B. hohe Affektivität und Impulsivität) beenden können, stehen anfangs
der Therapie zwar im Vordergrund, werden aber vernetzt mit klärungsorientiertem Vorgehen
und mit der Bearbeitung ungelöster Erfahrungen aus der Lebensgeschichte und individueller
Schemata. Einbezogen werden immer auch Psychoedukation, Motivierungsarbeit und
systemische Arbeit im Umfeld (Familie, Arbeitgeber, andere Institutionen), wie auch
Strategien der Ermutigung und Unterstützung zur Erhaltung und Festigung aktivierter
Ressourcen.
Wann, welche Ziele mit welchen Strategien realisiert werden, wird individuell festgelegt und
immer
wieder
von
Neuem
prozesshaft
angepasst.
Die
nachfolgenden
Therapieschwerpunkte für die BPS folgen in diesem Sinne deshalb nicht einer fixierten
Vorgehensreihenfolge. Dasselbe gilt bei den Interventionen, die ausgehend von dem, was
der BPS-Patient erzählt, so ausgewählt werden (Gegenwartsorientierung), dass sie auf die
individuelle Problematik passen. Durchaus können diese aber – wenn indiziert - regressiv in
eine frühere Lebensphase führen, damit wichtig prägende Situationen der Vergangenheit
verarbeitet, verstanden und integriert werden können (Recall-Change-Methode, Arbeit mit
dem inneren Kind, s Kap. 9.4.3.3). So wächst das Therapiegeschehen nicht manualartig,
sondern organisch, immer im Blick auf Therapieplan und –ziele und ausgerichtet auf den
inneren Prozess des BPS-Patienten. Bezüglich der Persönlichkeitsstörungen hat sich im
klinischen Bereich die Regel bewährt: „state vor trait“. Akute Symptome wie Suizidalität,
Depression oder Suchtprobleme (Petzold, Schay, Ebert, 2004) und aktuelle Umfeldkonflikte
haben Behandlungsvorrang.
1. Krisenmanagement
Wie die Symptomatik zeigt, kommen BPS-Patienten häufig „krisengeschüttelt“ in die
Therapie, mit vielfältigen selbstschädigenden oder -verletzenden Auffälligkeiten, die zumeist
für den Verlust der Impulskontrolle von inneren Spannungen (s. Kap. 4.5 und Herpertz,
1999) stehen. Suiziddrohungen, Äusserungen zu Suizidgedanken oder suizidbezogenen
Vorstellungen oder Emotionen müssen v.a. bei BPS-Patienten immer ernst genommen
werden. Das im Krisenmanagement zu verfolgende Hauptziel ist die unmittelbare
Bewältigung einer akuten Krise, denn, wie Mintz (1968) schon äusserte: mit einem toten
Patienten kann man keine effektive Psychotherapie durchführen.
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Wie wir aus unseren Praxiserfahrungen festgestellt haben, sind konkrete schriftlich
festgehaltene Vereinbarungen und Verträge über das Vorgehen bei Krisen
(Suizidhandlungen, lebensgefährliche Selbstverletzungen oder Fremdgefährdungen) eine
für Borderline-Patienten strukturgebende und hilfreiche Unterstützung. Diese werden
gemeinsam erarbeitet. Verträge sind mehr als „Krücken“ im Prozess der Selbststeuerung.
Bei unseren BPS-Patienten aus den Fallbeispielen wurden die schriftlichen Absprachen
eher als Ermutigung betrachtet, dass wir Therapeutinnen ihnen zutrauten, ihre Probleme
weitgehend selbstständig kontrollieren zu können. Aus eigenen Erfahrungen zeigt sich, dass
der Therapeut nicht erwarten darf, dass die Patienten bei einer Krise die Vereinbarungen
(durchwegs) einhalten können, auch wenn ein gutes Beziehungsverhältnis vorhanden ist.
Schon Teilerfolge wie z.B. eine SMS-Mitteilung nach zwei Tagen über eine
Selbsteinlieferung im KIZ kann ein beträchtlicher Fortschritt für den Patienten sein.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, mit dem Patienten bereits im Vorfeld die Konsequenzen
einer Krise für den weiteren therapeutischen Verlauf vorzubesprechen. So kann der
Therapeut bereits im Vorfeld die Grenzen seiner therapeutischen Hilfe offen äussern.
Insbesondere nach parasuizidalen Krisen verhält sich der Therapeut sinnvollerweise
sachlich teilnehmend. Zu starke emotionale Betroffenheit könnte vom Patienten als reizvoller
Anlass zur „Krisenwiederholung“ verstanden werden, um die ersehnte Zuwendung und
Umsorgung zu erhalten.
Entscheidend ist zudem, die Zeit nach der Krise sehr gut aufzuarbeiten („Wann und wodurch
ist die Krise ausgelöst worden?“). Gerade die unmittelbar vor der Krise liegende Situation
bietet Verknüpfungsmöglichkeiten zum Erkennen von automatisch ablaufenden
Verhaltensmustern und zu den kognitiv-affektiven Schemata, die regelmässig zum
„Selbstläufer“ werden. Dabei ist es aus unserer Sicht wichtig, dass der Therapeut für die
Realitätsprüfung sorgt und diese unterstützt. Der Patient soll durch das Aufarbeiten nicht
das Trauma „reinszenieren“, sondern mit Hilfe des Therapeuten die ursprüngliche Funktion
dieses Bewältigungsmechanismus erkennen und sie von der heutigen Situation
unterscheiden lernen.
2. Psychoedukation
Ein Psychotherapiekonzept, das „Heilung in jedem Fall“ zu garantieren vermag, gibt es
nicht. Vor allem dann, wenn beim Klienten eine starke Ich-Fragmentierung vorliegt und
quälende
Fragen
und
Leidensdruck
hinsichtlich
der
Einordnung
seiner
Befindlichkeit/Erkrankung bestehen, sollten die BPS-Patienten und die Angehörigen in der
Regel sachlich und fundiert über Symptomatik, Therapiemöglichkeiten, -dauer und
Belastungen für die Angehörigen aufgeklärt werden (s. Kap. 3, Kap. 8.3). Bei Jugendlichen
sind Eltern sinnvollerweise miteinzubeziehen. Ausnahmen bilden Eltern, durch die der
Borderline-Patient schwere Traumatisierungen (Übergriffe, sexuelle Misshandlungen) erlebt
hat. In einem solchen Fall ist in erster Linie eine räumliche Trennung vom Täterumfeld zu
prüfen und in Betracht zu ziehen. Aus eigener Erfahrung empfiehlt es sich bei Jugendlichen
(15-18 Jährige) die entwicklungspsychologischen Besonderheiten der Adoleszenzkrise zu
berücksichtigen.
Da der Borderline-Betroffene stark zu unklaren, ambivalenten, abrupt wechselnden z.T.
auch chaotischen Gefühlen und Verhaltensweisen neigt, sind klar formulierte und
strukturgebende Informationen und Aufklärungen (Information über Definition/Verständnis
von Psychotherapie, Körperzentrierte Psychotherapie IKP, Therapieplanung/-strategien,
durchgeführte Techniken, Persönlichkeitsstruktur und Modelle, Veränderung von „alten
Mustern“, Verhaltensmuster, Schemata und Prägungen) von besonderer Bedeutung.
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Patienten haben nicht nur ein Informationsbedürfnis. Der Therapeut hat auch eine
Aufklärungspflicht über die erwartbaren Erfolge und Risiken einer Psychotherapie. Deshalb
ist es ratsam, mit dem BPS-Patienten und gegebenenfalls mit den Angehörigen (s.
Fallbeispiel 1, Kap. 8.1) zusätzlich Strategien zu erarbeiten, wie erwartbare Rückfälle
kompetent vermieden werden können (s. „Krisenmanagement“). Er bewegt sich hier
vorwiegend in der Rolle als Coach. Er spricht die Patienten als kompetente Erwachsene an
und versucht die Entwicklungsmöglichkeiten realistisch zu vermitteln.
Psychoedukation verhilft dem Patienten zur Problemeinsicht, zu einem achtsameren
Verhalten in Bezug auf seine Symptome und deren Dynamik und schlussendlich zur
Veränderungsmotivation. Der Patient bleibt so gegenüber den Krankheitstheorien
handelndes Subjekt und wird nicht zu ihrem Objekt. In einer wertschätzenden Atmosphäre
sind Patienten oft motiviert, zu Experten ihrer eigenen Störung zu werden.
Eine positive und konstruktive Erklärung von extremen Persönlichkeitsmerkmalen könnte
sein: „Es gab in Ihrer Geschichte Gründe dafür, diese Eigenschaften und Muster zu
entwickeln und beizubehalten. Früher waren diese zu Ihrem Selbstschutz und als
Überlebensstrategie notwendig und passend, und diese blieben in ihrem Gedächtnis als ein
Programm gespeichert. Später bringen uns die extremen Persönlichkeitsmerkmale in
Schwierigkeiten und machen uns das Leben schwer, weil wir sie gar nicht mehr benötigen,
sie aber immer noch da sind.“
Psychoedukation sollte immer individuell und gezielt eingesetzt werden und eine positive
Wirkung auf den Patienten haben. Daher ist bei Patienten mit stigmatisierenden
Erfahrungen in der Vorgeschichte und/oder einer starken Selbstwertproblematik eine
Aufklärung bezüglich der Diagnose und des Krankheitsbildes vorsichtig und behutsam zu
formulieren (s. Fallbeispiel 2, Kap. 8.2), da es sonst sehr schnell zu einer erneuten
Abwertung und Selbstzweifel kommen könnte.
Aus dem IKP-Ansatz heraus steht Psychoedukation in der Therapie nie für sich alleine da,
sondern immer in der Kombination mit Selbsterfahrung. Im Laufe der Therapie nimmt der
Anteil der Selbsterfahrung immer mehr zu. Der Therapeut hat die Aufgabe, die Reflektion
von Erfahrenem immer wieder mit Psychoedukation zu ergänzen. Diese darf den Patienten
aber nicht zuschütten und überfordern, sondern muss ihm auf seinem Weg der
Selbstregulation dienen.
3. Stabilisierung der Emotionsregulierung durch Ressourcenaktivierung/-stärkung
Hier steht ein bewältigungsorientiertes und strukturierendes Vorgehen im Vordergrund. Es
geht dabei darum, dem BPS-Patienten die Unkontrollierbarkeit destruktiver Handlungen zu
unterbrechen, schnell Erleichterung bei stark emotionalen Spannungszuständen zu
verschaffen und ihm Erfahrungen der Selbstkontrolle und der Selbstkompetenz zu
vermitteln. Der Patient braucht hier ein für ihn individuell angepasstes „Notfallprogramm“,
das ihm rasch verhilft, die extremen emotionalen Spannungszustände vorerst in einer ersten
Phase um- und/oder abzuleiten (Shiften, „Notfallkoffer“, s. Kap. 9.4.3.3), was ihm den Weg
aus der „Spannungsfixierung“ heraus ermöglicht. Dies ist keineswegs ein Vorgang des
Verdrängens oder Wegschiebens, sondern ermöglicht eine Spannungsreduktion durch
bewusstes Umlenken der Kräfte, um schlussendlich selbstschädigende oder –verletzende
Aktivitäten zu verhindern und andere Problemlösestrategien zu vermitteln.
In einem zweiten Schritt kann mit Atem- und langsamen Entspannungsübungen in den
Therapiesitzungen und entsprechenden Hausaufgaben Kompetenzen zur Selbstberuhigung
aufgebaut werden. Dies ist aber ein langsamerer und zeitintensiverer Lernprozess, mit dem
der BPS-Patient – wenn diese unkontrollierbaren, unberechenbaren Spannungszustände
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ihn in Angst, Panik, und Ohnmacht versetzen - anfangs bei der Selbstanwendung
überfordert ist.
Wie es die eine BPS-Patientin aus unserem Praxisbeispiel am Anfang ihrer Therapie
treffend ausgedrückt hat: „Sie müssen sich vorstellen, wenn diese unerträgliche
Anspannung und Nervosität kommt, dann ist das so, als würden Sie in einem Urwald
unerwartet vor einem Tiger stehen, der Sie angreift. Sie müssen in Todesangst so reflexartig
reagieren können, obwohl Ihr Denken völlig blockiert ist. Da haben Sie keine Zeit mehr, um
Hilfe zu holen oder sich vorzubereiten. Da brauchen Sie ein Gewehr und müssen
schiessen“.
Zur Ent-Fixierung und zur Umlenkung bieten sich auf allen Lebensdimensionen des
Anthropologischen Würfelmodells IKP Interventionen und Hilfsmittel an, aus denen der
Patient seine Favoriten aussuchen und mit diesen täglich Üben kann (s. Kap. 9.4.3.3, z.B.
„Notfallkoffer“).
4. Veränderung durch Ressourcenaktivierung/-stärkung aller Lebensdimensionen
Persönliche Integration und Identitätsstiftung sind die Hauptziele der Psychotherapie von
BPS.
Der Identitätsbegriff ist wissenschaftlich je nach Gebiet unterschiedlich definiert und es
existieren auch zahlreiche synonyme Begriffe wie Selbstbild und Selbstheit. Wir halten uns
eng an die Selbstbilddefinition als Gesamtheit eigener Qualitäten, denen sich ein Mensch
bewusst ist (Whitbourne und Weinstock, 1982). Qualitäten, die unsere Identität ausmachen,
sind körperliche Erscheinungen, kognitive und emotionale Fähigkeiten, Wünsche, Ziele,
soziale Überzeugungen, Einstellungen und Werthaltungen und das System von
Rollenerwartungen, die auf uns in der Gesellschaft als Ganzes gerichtet werden.
Identitätsüberprüfungen finden bei uns laufend statt, indem wir unser Selbstbild mit
Rollenerwartungen und Fremdbildern von aussen vergleichen. Unsere früheren Identitäten
geben uns dafür ausreichende Sicherheit und Stabilität. Die Identität ist daher nichts Starres,
sondern ist in steter Erneuerung und Änderung. Sie befindet sich dabei einerseits in enger
Verbindung mit unseren früheren Erfahrungen und Identitäten, auf die wir zurückgreifen und
andererseits steht sie in ständiger Interaktion mit den Erwartungen der sozialen Umwelt (vgl,
Erikson, 1973). Bei BPS-Patienten klafft da ein grosses Spannungsfeld auf, weil der
Rückgriff auf ein defizitäres, instabiles Identitätserleben einen sehr unsicheren Boden
darstellt. Anforderungen und Erwartungen von aussen verursachen deshalb
Identitätsdiffusion, Rollenunsicherheiten in zwischenmenschlichen Beziehungen oder
Schwanken zwischen Rollen. Die Identitätsinstabilität zeigt auch auf anderen
Lebensdimensionen des Anthropologischen Würfelmodells IKP ihre Spuren: Nahziele und
kurzfristige Bedürfnisbefriedigung können nicht zu Gunsten längerfristiger Zielvorstellungen
aufgegeben oder zurückgestellt werden; dauerhafte Beziehungen fehlen wegen spontaner
Gefühlsorientierung; tragfähige Werte sind nicht existent. Schlussendlich bleibt das Gefühl
des Sich-selbst-Verlierens (des Verlierens des eigenen Raums).
Veränderungen zur Identitätsförderung und –stiftung mittels Ressourcenaktivierung/stärkung sind (wie oben zeigt) somit auf allen Lebensdimensionen indiziert.
Der Therapeut ermöglicht über eine aktive Hilfestellung mittels Ressourcenförderung eine
Reaktivierung von nicht mehr genutzten Ressourcen und Aufbau neuer Ressourcen. Damit
lernt der Patient Folgendes:
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Zeitdimension und psychisch-geistige Dimension: Die Qualitäten seiner Identität (von
Vergangenheit bis Jetzt) aus einer anderen Perspektive betrachten und erleben (über
Konfrontation mit verleugneten Inhalten und Abwehrmassnahmen)
Körperliche Dimension: Seine körperliche Identität erhält Substanz (Körpersensibilität,
-wahrnehmung, Körperbild) und er kann mit ihr Kontakt schliessen und darauf vertrauen
Bestehende affektiv-emotionale, kognitive und Handlungs-Muster werden umstrukturiert
Psychisch-geistige Dimension: Seine Gefühle kann er beobachten, benennen,
unterscheiden, akzeptieren und im Körper integrieren (insbesondere Aggression)
Soziale Dimension: Im sozialen Austausch baut er eine adäquate Grenzsetzung und ein
flexibles Nähe-Distanz-Verhältnis auf
Spirituelle Dimension: Eigene tragfähige und stabile Werte werden entwickelt
Spirituelle Dimension: Wieder an sich und andere glauben und vertrauen
Der Therapeut übernimmt hier auch die Rolle des Spiegels, an dem der BPS-Patient die
Realitätsüberprüfung vornehmen kann.
Es empfiehlt sich, bei BPS-Patienten nicht bei kognitiven Umstrukturierungen anzusetzen,
da, wie Forschungen zeigen (s. Kap. 7), die Reflexionsfähigkeit bei diesen aus
verschiedenen Gründen beeinträchtigt ist. Aktive Körperinterventionen hingegen eignen sich
sehr zum Therapieeinstieg bei BPS-Betroffenen, um körperliche Identität neu erfahrbar zu
machen und über das Körpererleben zu den psychischen Problemen vorzudringen. Seinen
Körper annehmen und sich darin wohlfühlen zu lernen, heisst letztendlich, „ein Zuhause“ zu
finden. Je mehr der BPS-Patient seinen Körper derart wertschätzen lernt, umso mehr
gewinnt er an Identität.
5. Regression: Bewusstmachen und Aufarbeitung unbewusster Problemursachen und
deren Integration
Das Aufarbeiten der lebensgeschichtlichen Problemursachen durch regressionsorientierte
Arbeit erfolgt in der Körperzentrierten Psychotherapie IKP in der Regel bedürfnisorientiert,
flexibel, punktuell und gezielt, wird vorwiegend aber dann angestrebt, wenn der Patient
durch Ressourcenaktivierung schon genügend Stabilität erreicht hat (s. Maurer, 2002). Eine
Vertiefung in einem bestimmten Verhaltens- oder Beziehungspunkt mit zunehmender
Regression und verstärkten Übertragungsmustern des Patienten erfolgt gemäss IKP-Ansatz
in einer Tiefung, wenn der Patient zunehmend in Gefühle involviert ist (Maurer, 2002, S.
105). Dabei wird versucht, in Entspannung über das Körpergedächtnis zu früherem Erleben
zu gelangen (s. Kap. 7.4, Maurer, 1999, S. 163). Bei Regressionsarbeit muss in der gleichen
Sitzung das alte Erleben bedürfnisorientiert zu einer korrigierenden Erlebensweise führen,
damit der Patient die Neuorientierung verankern kann (Maurer, 2002, S. 104).
Regressionsarbeit ist aus dieser Sicht nie Selbstzweck, nie nur einsichtsorientiert, sondern
dient der Progression. Und ein Stück Progression muss dem Patienten, wenn er aus der
Sitzung geht, erfahrbar sein. Im Gegensatz zur Bewusstmachung von allen möglichen
unbewussten Inhalten in der Psychoanalyse findet die Regressionsarbeit in der
Körperzentrierten Psychotherapie IKP punktuell und über das Körpergedächtnis statt (s.
Maurer, 1998, 1999). Das Verständnis über den „Entwicklungsprozess des Menschen in 8
Entwicklungsphasen“ (Maurer, 1999, Abb. 3, S. 57) hilft dem Therapeuten, den Patienten in
seinem bedürfniszentrierten Restrukturierungsprozess der Gedächtnisinhalte zu
unterstützen.
Bei BPS-Patienten zeigen sich in Regressionen die Ursprünge der Entstehungsgeschichte
extremer Persönlichkeitsmerkmale im Kern als fehlendes Grundvertrauen (bedingt durch
unsichere Bindungsstrukturen zu früheren Bindungspersonen) und verletzte Liebe.
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Ohne lebensgeschichtliche Bewusstseinsarbeit und Integration früherer Erfahrungen bleibt
der „gestörte“ Teil in der Psyche des BPS-Patienten vom reaktivierten und neu entwickelten
„gesunden“ Teil (z.B. von Ressourcen, Skills) scharf getrennt. Das ist die entscheidende
Kritik, die gegen die DBT-Therapie angeführt werden kann. Das verletzte Kind von früher mit
seinen Schutzmechanismen erlebt die Welt noch immer auf seine Weise und ist unberührt
von den Skills des Erwachsenen. Die Tendenz zu blitzschnellem Wechsel vom Modus
kompetenten Erlebens und Verhaltens in jenen des „Gestörten“ bleibt und die Patienten
können von einem Modus keinen Zugang zum anderen finden (Young, Klosko & Weishaar,
2003). Erst die Bewusstheit über früher störungsproduzierende Erfahrungen befähigt den
BPS-Patienten, neue aktuelle Situationen und Menschen von den früheren zu unterscheiden
und daraus persönliche Veränderungsziele abzuleiten. Dazu braucht aber das verletzte Kind
von früher Verständnis und Liebe, was nicht allein vom Therapeuten als nachnährender Teil
kommen kann. Der BPS-Patient braucht die Rückverbindung zum „inneren Kind“, zu dem,
was es früher gebraucht hätte. Dem verletzten Kind können auch bei schlechten
Elternerfahrungen u.a. durch die Recall-Change-Methode (s. Kap. 9.4.3.3) innere
Repräsentanten einer liebevollen Mutter oder eines einfühlsamen Vaters als „Secure Base“
(Bowlby, 1988) zur Hand gegeben werden, bis dies der „erwachsene“ Persönlichkeitsanteil
des Patienten übernehmen kann. Eigene Erfahrungen zeigen, dass auch der Therapeut bis
dahin häufig die Qualitäten guter Elternfiguren oder guter Partnerschaftlichkeit übernimmt:
Einfühlsamkeit, emotionales Mitschwingen bei gleichzeitiger Abgrenzung gegenüber
Konfluenz und Eigenübertragung.
Gute Elternqualitäten resp. das Angebot von korrektiven und alternativen
Beziehungserfahrungen durch den Therapeuten werden v.a. im Übertragungsgeschehen
eingesetzt (vgl. Grawe, 1992). Übertragungen können in jeder Therapiestunde vorkommen,
mehr aber, wenn an früheren schmerzlichen Erfahrungen gearbeitet wird. Negative
Übertragungen lösen wir nach dem IKP-Ansatz, indem möglichst die Verwechslung erahnt
oder identifiziert werden soll und bei Wiedererscheinen in späteren Sitzungen schneller
erkannt werden kann.
Dazu ein Beispiel aus eigener Erfahrung, wie mit Übertragungsgeschehen umgegangen
werden kann: Die BPS-Patientin äussert beim Fragen nach ihrer Befindlichkeit gegenüber
der Therapeutin schnippisch: „Wen interessiert das schon, immer das grosse Bla-Bla. Wenn
ich in der stationären Behandlung bin, fragen mich alle nach meinem Wohlergehen, danach
bin ich wieder allein.“ Die Therapeutin stellt einen leeren Stuhl neben sich: „Schau mal, wem
möchtest du das eigentlich sagen?“ Patientin: „Weiss nicht. Vielleicht meiner
Mutter.“…Therapeutin: „Stell dir mal deine Mutter auf dem Stuhl sitzend vor, wie sie aussieht
und dich anschaut. Was möchtest du ihr schon lange sagen…“ usw.
Um das häufig stark gestörte Grundvertrauen in sich selbst von BPS-Patienten zu vertiefen,
reichen häufig rein verbale regressive Interventionen bei BPS-Patienten alleine nicht aus.
Berührungen als leibliche Zuwendung „mütterlicher Zärtlichkeit“ (z.B. Atemmassage,
Selbstberührungen des Körpers als Interventionen) oder gute, identiätsstiftende Blicke
vermögen die Defizite des leiblichen Carings (s. Petzold, 1996, S. 240) sukzessive
aufzufüllen und die Zentrierung und das eigene Zugehörigkeitsgefühl aufzubauen.
6. Transfer, Stabilisierung und Verstärkung der Behandlungserfolge
Beim Transfer von integrativen Erkenntnissen und neuen Erfahrungen auf allen
Seinsdimensionen des Anthropologischen Würfelmodells IKP ist bei BPS-Patienten eines
generell festzuhalten: Patienten mit einer BPS haben oft ein starke Angst vor
Veränderungen (s. auch Fiedler, 2003). Diese werden aus eigenen Praxiserfahrungen v.a.
dann stark erlebt, wenn Ereignisse aus subjektiver Sicht heraus nur schwer vorhersagbar
oder kontrollierbar sind (z.B. Zukunftsängste bei Stellen- oder Wohnungswechsel,
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Ferienabwesenheit des Therapeuten, Anlässe mit unbekannten Personen). Wenn sich in der
Therapie diese Ängste dank Integration unterschiedlicher Identitätsanteile allmählich legen,
werden BPS-Patienten aus unserer Sicht vermutlicherweise in ihrem weiteren Leben immer
eine gewisse „Angstvulnerabilität“ gegenüber Veränderungen behalten.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, warum Behandlungserfolge stabilisiert und verstärkt
werden sollen.
Aus psychodynamischer Sicht (TFP) beispielsweise erfolgt die „Integration abgespaltener
Teilobjekte“ während den Therapiestunden. Auf eine Transfersicherung von
Behandlungserfolgen wird in der TFP-Therapie (zumindest bis jetzt) verzichtet. Anders die
DBT-Therapie, bei der Hausaufgaben zwischen den Therapiesitzungen mit dem Patienten
vereinbart werden, um erlernte neue Fertigkeiten (Umgang mit Stress, Gefühlen etc.) zu
vertiefen und zu festigen. Dasselbe bezwecken die PITT und körperpsychotherapeutische
Ansätze.
Verschiedene BPS-Therapierichtungen haben somit unterschiedliche Betrachtungsweisen
betreffend Stabilisierung der Behandlungserfolge zwischen den Therapiesitzungen.
Aus Sicht der Körperzentrierten Psychotherapie IKP wird der Zeit zwischen den
Therapiesitzungen eine wichtige Bedeutung für eine Ressourcenaktivierung ausserhalb der
therapeutischen Sitzungen und zur Verstärkung therapeutischer Änderungen beigemessen.
Hausaufgaben wie ein gezielter Einsatz von Übungen (wie z.B. Bedürfnisse gegenüber
Eltern äussern lernen oder Übungen zur Verbesserung von Körper- und Selbsterleben,
Körperbild) können entscheidend zum Wiedergewinn von Selbstsicherheit und
Selbstvertrauen beitragen. Bei Borderline-Patienten sind Hausaufgaben und Wiederholen
von neu Gelerntem auch zur Einübung in vermehrter Selbstkontrolle aus unserer Sicht
unverzichtbar (s. Kap. 9.3).
Im einfachsten Falle können BPS-Patienten zunächst auch angeregt werden,
Problemsituationen und Veränderungen, die sich im Alltag zwischen den Therapiesitzungen
ereignen, genau zu registrieren. Dies fördert die „Jetzt-Bewusstheit“ der Patienten
einerseits, aber auch die spätere Erinnerung in den Therapiefolgesitzungen. Das schriftliche
Festhalten von Ereignissen und Beobachtungen in (Therapie-)Tagebüchern hat gegenüber
nur Gedachtem oder Ausgesprochenem einen weiteren verstärkenden Bedeutsamkeits- und
Erinnerungseffekt. Emotional Bedeutsames und Interessantes werden im (Langzeit-)
Gedächtnis gespeichert.
Kanfer, Reinecker und Schmelzer (1991) machen zudem darauf aufmerksam, dass die
therapeutisch
geplante
Selbstbeobachtung
ausgewählter
Handlungen,
Impulskontrollstörungen oder neuer Interaktionsformen unmittelbar – und zwar ohne weitere
therapeutische Besprechung bereits durch sich selbst - zu wesentlichen Korrekturen und
positive Veränderungen beim Patienten führen. Dieses Prinzip kennen wir auch aus der
ganzheitlich-integrativen Atemtherapie IKP (Maurer, 1993b). Durch die Lenkung der
Aufmerksamkeit auf die Atmung kommt es zu einer Veränderung der Atmung.
Aus einer ressourcenorientierten Sicht erscheint es uns wichtig, dass die Selbstbeobachtung
nicht vorwiegend auf „störende“ Ereignisse fokussiert, sondern vielmehr den Blick des
Patienten auf die Möglichkeiten neuer und wünschenswerter Veränderungen im Alltag weitet
(s. Kap. 8.3.).
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9.4.3.3 BPS-spezifische Techniken und Interventionen
Einige BPS-spezifische Techniken und Interventionen werden im Folgenden geschildert. Auf
eine detaillierte Darstellung wird verzichtet. Sie sollen als Anregung in der Behandlung von
BPS-Patienten dienen und werden zukünftig erweitert und weiterentwickelt werden müssen.
Im Kap. 8 sind bereits einige erwähnt und anhand von den zwei Fallbeispielen veranschaulicht dargestellt worden.
1. Emotionale Stütze und Sicherheit
Dabei geht es um den Aufbau von Sicherheit durch positive Erfahrungen sowohl von aussen
wie auch von innen heraus und die Erfahrung von emotionaler Unterstützung. Beides erfährt
der Pat. zuerst innerhalb des geschützten Rahmens mithilfe des Th. innerhalb der Therapiesitzungen. Dann wird das neu Erfahrene und Erlernte als Hausaufgaben mitgegeben und im
Alltag erprobt und geübt. Die positiven Erfahrungen sollen sich wiederholen.
a) Das haltgebende „Containment“ durch den Therapeuten hat nachnährenden Charakter.
Die emotionale Stütze realisiert sich sowohl psychisch als auch körperlich. Beim körperlichen Containment muss der Therapeut abschätzen können, welche Art der Nähe sinnvoll und unterstützend für den BPS-Patienten ist. Es gibt verschiedene Formen des
„Holdings“ und „Containments“:
• Rücken an Rücken, stehend oder sitzend, im gleichen Rhythmus atmen
• Hände des Th. sind auf dem Rist der beiden Beine des Pat.. Der Th. folgt den Atembewegungen des Pat. mit unterstützendem Druck auf die Füsse beim Ausatmen und
Drucklockerung beim Einatmen des Patienten.
• Der Th. legt eine Hand auf den Rücken oder den Bauch des Pat.: Vorher-NachherWahrnehmungsübung für den Pat.
• Vertrauensübungen. Bsp. Pat. lässt sich langsam nach hinten fallen und Th. fangt
ihn auf. Eher zu einem fortgeschritteneren Therapiezeitpunkt.
• Atemmassage. Eher zu einem späteren Therapiezeitpunkt, wenn der Pat. den eigenen Körperkontakt schon gefestigt hat und sich im positiven Sinne abgrenzen kann.
b) Die wiederholt durch Containment erfahrene Sicherheit von aussen wird mit der Zeit
verinnerlicht. Zum weiteren Aufbau der inneren Sicherheit helfen folgende Übungen, die
der Patient durch wiederholtes Üben als eigene Kompetenz aufbaut:
• „Safe-Place-Übung“ (innerer sicherer Ort, Wohlfühlort)
• Übung der inneren hilfreichen Wesen, der inneren Helfer
• Tresor-Übung (etwas Belastendes wegpacken können)
• Grounding-Übungen (z.B. Baumübung)
2. Psycho-physische Entspannung, Aufbau, Aktivierung und Förderung der Selbstregulation
Ein Problem bei emotionaler Erregung ist, dass sich das intelligente Gehirn ausschaltet (s.
Goleman, 2001). Ziel ist es, möglichst früh erkennen und wahrnehmen zu können, welches
die Auslöser dafür sind, wann ein solcher Prozess in Gang kommt und wie sein weiterer
Verlauf ist. Werden die ersten Anzeichen (Bsp. Körperliches Signale: Verflachung der
Atmung, Druck-, Einengungsgefühl, Muskelanspannung) dafür erkannt, kann und soll dieser
Prozess möglichst früh gestoppt werden. Dazu verhelfen Techniken und Interventionen zur
Selbstregulation (wie z.B. Gedanken-Stopp, Sensory Awareness, s.u.). Einem zunächst
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klärungsorientierten
Vorgehen
Bewältigungsmöglichkeiten.
folgt
die
Erarbeitung
individuell
angepasster
Durch Instrumente zur aktiven und adäquaten Bewältigung, Verminderung und
Verhinderung von quälenden Spannungszuständen, Dissoziationen und Impulsivität (der
Affekte und des Verhaltens) erlernt und erfährt der Pat. eine aktive
Beeinflussungsmöglichkeit auf seine Befindlichkeit und ist diesen Zuständen nicht mehr
hilflos ausgeliefert.
Das Erarbeiten eines individuellen „Notfallkoffers“ empfiehlt sich als einer der ersten
Therapieschritte, um dem Patienten schnell wirksame Instrumente zur Krisenbewältigung zu
vermitteln. Aktives inter- und intradimensionales Shiften (s. Maurer, 1993a, 1998, 1999,
2002) spielt hier aus unserer Sicht die tragende Rolle. Es verhilft zur Selbstregulation und
gleichzeitig zur Ressourcenaktivierung auf allen sechs Lebensdimensionen. Durch aktives
Shiften kommt zudem das „Je mehr, desto mehr-Energieprinzip“ (Maurer, 1993a, 1998,
1999, 2002) in Gang. D.h. Shiften bringt Energie und setzt Kräfte für Problembewältigungen
frei. Das Hin- und Herwechseln führt schliesslich auch zu einer Ent-Fixierung, z.B. weg vom
Aufmerksamkeitsfokus auf Negatives (Störung, Symptomatik etc., s. Kap. 8.3) und weg von
der Einseitigkeit hin zur Ganzheitlichkeit. Mögliche Interventionen aus dem Notfallkoffer
könnten sein:
• Aktives VAKO-Shiften zum Umgang mit Dissoziationen:
Erfahrungsgemäss hilft der visuelle Kanal als Erste-Hilfe-Massnahme zu wenig. Bspe.
Körper abstreifen/abklopfen, heisse/kalte Dusche, Körper massieren, sich in die Haut
kneifen, Gummiband, „Finalgon“-Salbe, Joggen, Seilspringen, Jonglieren mit den Bällen,
über einen Besenstil gehen, Antidissoziations-Druckpunkte (Nerv am Ellbogen,
„Schwimmhäute“ zw. den Fingern), Ammoniak, Juckpulver, Niespulver, Brausetablette,
Eiswürfel, Tabasco, Duftöle, Starke Pfefferminz-Kaugummis
• Aktives Shiften zwischen (=interdimensional) und innerhalb (=intradimensional) der
sechs Lebensdimensionen des Anthropologischen Würfelmodells IKP:
Körperlich: Spaziergänge, Joggen, Hände und Beine kombiniert mit Atmung
ausschütteln, progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training. Körper-/Fussmassage
mit
Massage-Noppen-Bällen
(„Igelbälle“),
Bälle
drücken,
weitausholende
raumschaffende Atemübungen (z.B. Atemzählen), Gärtnern (mit Finger in der Erde
graben), (meditativ-energetische) Übungen aus dem Tai Chi und Qi Gong.
Intrakorporeller Dialog (s.u.).
Psychisch-geistig: Lesen, Musikhören (karibische Musik, Rock n’ Roll??),
Fernsehschauen. positive und konstruktive Gedanken aufschreiben und sprechen
(Mantras), (Therapie)Tagebuch, Phantasie(reisen).
Sozial: Mit einer Freundin telefonieren, in die Massage gehen (ist auch körperlich),
Haustiere streicheln oder mit ihnen spazieren gehen.
Raum: Zur Musik tanzen, ins Freie und in die Natur gehen, Distanzierungs-Techniken,
Abgrenzungsübungen (z.B. mit Seil)
Zeit: körperzentrierte IKP-Erfahrungsübungen finden vorwiegend im Hier-und-Jetzt statt
(Bsp. Sensory Awareness).
Spirituell-transzendent: sich in grosse Decke einkuscheln und mit dem Körper
schaukeln, Meditation: sich mental mit der Sonne verbinden, Übung „Reise in die
Sonne“, Körperübung („Baumübung“), Phantasiereise (Botschaften der vier Elemente
abholen, Begegnung mit der stützenden Urkraft der Liebe etc.), Verbindung zu
Hilfswesen, inneren Helfern und Begleitern, herstellen (z.B. Schutzengel, Verstorbene).
• Persönliche VAKO- und Ressourcenliste/-tabelle für den Einsatz im Notfall. Welche
Ressourcen haben früher/heute Entspannung gebracht. Alle Lebensdimensionen
durchgehen und Ressourcen sammeln.
• Aktives Shiften zwischen und innerhalb der vier psychischen Funktionen, also im
Wahrnehmen (VAKO-Shiften, s.o.), Denken, Fühlen und Handeln. Bsp:
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•
•
Perspektivenwechsel, Wechsel vom Fokus auf Negatives hin zum Fokus auf Positives
(s. Kap. 8.3).
Übungen aus den 15 Erfahrungs-Übungsgruppen und deren Erweiterung um drei
Gruppen der Körperzentrierten Psychotherapie IKP (Maurer, 2005). Vor allem Übungen
zur Entspannung, Grounding, Zentrierung, Abgrenzung, Kraft, Leichtigkeit, Loslassen.
Ausnahme: passive Körperarbeit zu Beginn der Therapie (s.o.).
Übungen von 1b) (s.o.)
3. Erkennen eigener Bedürfnisse
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Liste positiver Aktivitäten
Introversionsübungen (z.B. Zentrierung, Meditation)
Sensory Awareness
Unterscheidung der psychischen Funktionen: „ich nehme war – ich fühle – ich denke“
Übung: „Ich muss…“ und „ich sollte…“ durch „ich will…“, „ich entscheide mich für…“, „ich
mache…“ ersetzen
IKP-Bedürnisdiagramm
4. Aufbau und Förderung des Körperbewusstseins
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Übungen aus den 15 Erfahrungs-Übungsgruppen der Körperzentrierten Psychotherapie
IKP und deren Erweiterung um weitere drei Gruppen (s. Maurer, 2005)
Übungen aus dem Tai Chi, Qi Gong und weitere Körper-Meditationsformen
Hausaufgaben: Sport, Spaziergänge und andere, die körperliche Dimension betreffende
Übungen
Intrakorporeller Dialog (s.u.)
Imagination: Reise durch den Körper
Somatographie
Erfahrungsübungen finden im Hier-und-Jetzt statt. Ausnahme: Übungen in der zeitlichen
Dimension.
5. Hilfe zum Annehmen der Realität, realistische Wahrnehmungsüberprüfung
•
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Selbst- und Fremdwahrnehmungs-Übung. Überprüfung der Diskrepanz zwischen Selbstund Fremdwahrnehmung als Hausaufgabe
Übungen zur Verhinderung von Dissoziationen (s.o., 1.)
Achtsamkeitstraining als Hilfe zur Realitätsüberprüfung (Sensory Awareness, VAKO).
Nur wahrnehmen ohne Bewertungen und Interpretationen. Achtsamkeitsübung: Was
beobachte ich an mir? Was nehme ich wahr, fühle, spüre, denke ich?
Aussen-Innenperspektiven-Wechsel
Alle Wahrnehmungsübungen finden im Hier-und-Jetzt statt.
6. Förderung der Gefühlsdifferenzierung und des emotionalen Ausdrucks
•
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•
Panoramaarbeit: z.B. „Gefühls-Panorama“, um eigenes Gefühlsspektrum kennen zu
lernen und um Gefühle differenzieren und beschreiben zu lernen.
Märchen: Wie gehen Märchenfiguren mit Gefühlen um?
Arbeit mit Tarot-Karten (Maurer, 2001)
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Arbeit mit dem inneren Kind
Recall-Change: Emotionales Leiden loslassen
ein bestimmten Gefühl körperlich darstellen: entsprechende Körperhaltungen, Gestik,
Mimik, Bewegungen, Skulptur
Th. als Vorbild, als Hilfs-Ich: Th. macht Übersetzungsarbeit, d.h. versucht in Worte zu
fassen, was der Pat. fühlt oder: „Was Sie mir da eben erzählt haben, macht mich
traurig/wütend.“ oder „Sie haben mir eben Dinge aus Ihrem Leben erzählt, die ganz
schrecklich für Sie waren. Dabei haben Sie gelächelt.“
Intrakorporeller Dialog: Bsp. „Sie äusserten jetzt gerade eine schnelle Zunahme der
Anspannung und befinden sich in einem quälenden Spannungszustand. Ich möchte
gerne mit Ihnen herausfinden, wie das gerade entstanden ist, was der Auslöser dafür
war und was dieser Spannungszustand für eine Funktion hat und ihn dann auflösen. Verstärken Sie diesen Spannungszustand, indem Sie eine ihm entspr. Körperhaltung,
Gestik, Mimik, Bewegung ausführen. – Wechseln Sie nun in das pure Gegenteil, also in
einen totalen Entspannungszustand wiederum mit entsprechendem körperlichem
Ausdruck. – Was nehmen Sie war, fühlen Sie? Was ist jetzt? – Nun wiederum Wechsel
in den Spannungszustand – wiederholtes Oszillieren zwischen diesen beiden
Zuständen, jeweils mit Nachfragen, was jetzt ist…
Thymographie
7. Bearbeitung von Abwehrmechanismen (wie z.B. Spaltung, Projektion)
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Gestalttherapeutische Interventionen (z.B. heisser Stuhl)
Arbeit mit dem inneren Team (Schulz von Thun, 1998; Reddemann, 2001, 2006; kombiniert mit gestalttherapeutischen Techniken und mit VAKO)
Perspektivenwechsel (Bsp. bei Opfer-Täter-Dynamik die Perspektive des Opfers übernehmen)
Rollenspiele
Intrakorporeller Dialog (Oszillieren, Shiften zwischen Dichotomien, z.B. gut-böse)
Extrempole/Dichotomien (entweder-oder) symbolhaft als Kissen dargestellt, dazwischen
ein Seil als Symbol für den Weg dazwischen. Pat. geht ganz langsam von einem Pol
zum anderen und spürt das Dazwischen, die Übergänge.
Traumarbeit (Maurer, 1993a)
8. Gezielte, punktuelle, kurzfristige Regressionsarbeit
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Dialogtechiken
IKP-Recall-Change-Methode (Maurer, 1998, 1999, 2002): multidimensionaler (Aufmerksamkeit auf alle sechs Lebensdimensionen des Anthropologischen Würfelmodells IKP
richten und diese in die Vergangenheit zurückverfolgen) und multimodaler (entlang der
verschiedenen Sinneskanäle, VAKO) Recall. Präzise und gezielte Bewusstmachung,
punktueller Rückgriff auf biographische Gedächtnisinhalte, von früheren, ungewünschten
Gedächtnisinhalten, die zur heutigen Problematik beigetragen/geführt haben. Bewusstwerdung von früherem Material über das Körpergedächtnis (s. Kap. 7.4). Change: Veränderung, Umstrukturierung der Gedächtnisinhalte.
Familienstellen
Arbeit mit Familienfotos
Lebenspanorama
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9. Förderung der Selbstakzeptanz, des Selbst- und Identitätserlebens
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Intrakorporeller Dialog
Aufbau von positiven inneren Elternrepräsentanten
Aussen-Innenperspektiven-Wechsel
Abgrenzungsübungen
Durchsetzungsübungen (Bsp. Ja-Nein-Übung)
Gestalttherapeutische Interventionen (Dialoge mit dem Ziel der Integration von Persönlichkeitsanteilen, v.a. Arbeit mit dem „inneren Kritiker“ und Aufbau einer wohlwollenden,
fördernden Stimme)
10. Förderung kommunikativer Kompetenzen und Beziehungsfähigkeit
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Rollenspiele, z.B. zum Umlernen von dysfunktionalen zwischenmenschlichen
Verhaltensweisen
Märchen-/Metapherarbeit. Verdeutlichung von Beziehungsdynamiken anhand von
Symbolen, Märchenfiguren usw. und Ausarbeitung eines neuen Wunschverhaltens
Hausaufgaben: in Therapiesitzungen Erlerntes/Erfahrenes in sozialen Situationen
üben/umsetzen
Einsatz von kreativen Medien zur Steigerung der Ausdrucksfähigkeit
Kommunikationsregeln: Ich-Botschaften, Feedback, Ich bin o.k. – du bist o.k.
Kommunikationsmodell „Die vier Seiten der Nachricht“ von Schulz v. Thun
Nur wahrnehmen ohne bewerten
Zuhörübung: der Pat. wiederholt, was er gehört hat
Lob aussprechen lernen
Arbeit mit dem inneren Team
IKP-partner-paardiagramm
11. Erarbeitung von positiven Zukunftsperspektiven
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Imaginative Techniken (Zeitreisen: Begegnung mit der eigenen Person in 3 Jahren,
Wunder-Übung: morgen ist alles anders)
Arbeit mit dem inneren Team (Aufbau der wohlwollenden, fördernden Stimme)
Zukunfts-Panorama
Arbeit mit positiven Affirmationen, Visualisierungen (sich erwünschtes Ziel vorstellen)
und Spiegelarbeit (sich vor den Spiegel stellen und Positives laut aussprechen)
12. Förderung von Sinnerleben und Erarbeitung von positiven persönlichen Wertebezügen
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Eigene Bedürfnisse wahrnehmen, mitteilen und erfüllen lernen
Wiederholung von positiven Erfahrungen, von Erfolgserlebnissen (Hausaufgaben)
Ressourcen leben und nutzen
Spirituelle Ressourcen reaktivieren und aufbauen (Natur, Vipassana, Kraftorte)
(Therapie)Tagebuch
Kreative Medien nutzen: Kreatives Schreiben, Malen, etc.
Werte nach Rokeach (1973, zit. nach Maurer, 2002)
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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13. Weitere Techniken
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(Therapie)Tagebuch: Mithilfe eines fortlaufenden Therapietagebuchs wird das Erarbeitete, Erfahrene und Erlernte nachbearbeitet und weiter verarbeitet. Durch das schriftliche
Festhalten erhält dies „mehr Gewicht“, wird als wichtig, als emotional bedeutsam festgehalten und dadurch auch (viel eher) im Langzeitgedächtnis gespeichert. Das Führen
eines Therapietagebuchs betrifft alle oben genannten Punkte.
Arbeit mit Ritualen: persönliche Rituale herausfinden, um unerledigte belastende Situationen abzuschliessen. Vor allem in Bezug auf Herkunftsfamilie, bei traumatischen Erlebnissen und Verlust von nahe stehenden Personen. Bsp. Brief schreiben, in Therapiestunde vorlesen, be- und verarbeiten. Danach je nach Bedürfnis Brief zerreissen,
verbrennen, ein Papierschiffchen basteln und in einen Fluss geben, Zuhause in eine
Schachtel legen und Deckel zu machen, etc.
Selbstwertsteigernde Techniken: (s. o.) Hausaufgabe: abends schriftlich festhalten, was
heute positiv verlief. Was war da? Wie hat sich das angefühlt? Wie ist es dazu gekommen? Wie könnte dies wiederholt werden?
Strukturbildene Ressourcenarbeit IKP (s. Maurer, 2005): Je nachdem, was dem Pat.
fehlt, z.B. Mut, (Ur)Vertrauen, Willen, Freude, Leichtigkeit, Im-Fluss-Sein, werden körperzentriert Strukturen durch entsprechende Übungen aufgebaut. Bsp. fehlendes Einheits-Erleben: Sprünge und Schwünge.
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
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10. Zusammenfassung und Ausblick
Psychotherapeuten im ambulanten Setting sehen sich meist mit der Tatsache konfrontiert,
dass BPS-Patienten sie erst in grosser Not mit einer bereits weitreichenden
multidimensionalen Vernetzung der Symptomatik und häufig in einem Zustand mehr oder
weniger starker akuter Suizidalität aufsuchen. Dann ist es hilfreich, dank eines
Therapiekonzeptes einen „roten Faden“ für die BPS-Behandlung zur Hand zu haben und die
ersten Therapieschritte schnell und kompetent angehen zu können. Während der
Behandlung von unseren BPS- Patienten haben wir nebst regelmässigen Supervisionen und
Intervisionen viele Stunden für Literaturrecherchen zur BPS (Diagnostik, Ätiologie, Therapie
etc.) investiert, um mit Hilfe bestehender BPS-Konzepte aus anderen Therapierichtungen
einen Behandlungsweg zu suchen, der mit der Körperzentrierten Psychotherapie IKP
vereinbar ist. Ein intensiver Erfahrungsaustausch und gemeinsame Diskussionen wiesen
uns letztendlich auf Ähnlichkeiten in unserem bisherigen Behandlungsvorgehen mit BPSPatienten hin und führte zur Idee und Umsetzung, unsere Erkenntnisse in Form eines
Therapiekonzeptes BPS der Körperzentrierten Psychotherapie IKP darzulegen.
Wie bereits schon an anderer Stelle erläutert, liefert das nun vorliegende Therapiekonzept
BPS der Körperzentrierten Psychotherapie IKP ein ganzheitlich-integratives Konzept, bei
dem der humanistische Hintergrund der Verfasserinnen und der Körperzentrierten
Psychotherapie IKP deutlich wird. Es bildet einen Grundstein für weitere Untersuchungen
und bedarf weitere empirische Forschung, um Aussagen darüber zu machen, ob sich das
Konzept in der Praxis bewährt.
Vielfach wurde in der Körperpsychotherapie ohne Überprüfung behauptet, dass diese
besser seien als andere Verfahren. Empirische Forschung kann helfen, zu realistischen
Einschätzungen der Möglichkeiten und Grenzen zu kommen und Behandlungshypothesen
zu überprüfen. Häufig liegen gute Ansätze und Unbrauchbares innerhalb einer
Behandlungsrichtung eng beieinander und die empirische Forschung könnte zu einem
Aufräumprozess derselben beitragen.
Zudem sind zahlreiche Aspekte des Therapiekonzepts BPS der Körperzentrierten
Psychotherapie IKP erst ansatzweise ausformuliert und erfordern eine weit detailliertere
Betrachtung als die Diplomarbeit es hier zulässt. Sabine Gerber, wird in ihrer Masterarbeit
im Rahmen ihrer Weiterbildung zum Master of Science in Psychotherapeutischer
Psychologie die (körperpsychotherapeutischen) Interventionen des vorliegenden Konzepts
weiter bearbeiten und sich mit diesen intensiver beschäftigen. Ebenso planen die Autorinnen
den Inhalt des Kapitels 9 der Diplomarbeit in einem Fachartikel zu veröffentlichen.
Obwohl es bereits zahlreiche Literatur zur BPS gibt, sind noch etliche Fragen betreffend
Therapie und deren Wirksamkeit unbeantwortet. Im Folgenden sind einige spezifische
Fragen aufgeführt, die aus unserer Sicht von der Forschung in Zukunft aufgenommen
werden sollten:
•
•
•
•
Welche Patiententypen sprechen auf welche BPS-spezifischen Therapieformen an?
Auf welche Komponenten bestehender BPS-Therapieformen (DBT, TFP,
Körperpsychotherapie etc.) ist ihre Wirksamkeit zurückzuführen? Welche allgemeinen
Elemente dieser Therapieformen sind bestimmend für ihre Wirksamkeit?
Welches sind die Indikationen zum Einsatz verschiedener BPS-Therapieformen? Wie
beeinflusst das Vorliegen bestimmter klinischer Merkmale (z.B. deutlich schädigendes
Verhalten oder dissoziative Züge) die Wirkung der Behandlungsmethoden?
Was ist die optimale Behandlungsdauer einer Psychotherapie für Patienten mit BPS?
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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•
•
•
•
Gibt es eine Form von Kurztherapie (12-30 Sitzungen), die sich bei der BPS bewährt?
Was sind die optimalen Behandlungsfrequenzen bei der BPS?
Welches Behandlungssetting ist optimal bei der BPS?
Wie ist die relative Wirksamkeit einer Kombination von Psychotherapie und
psychopharmakologischer Behandlung gegenüber der Behandlung mit nur einer dieser
Behandlungsformen?
Diplomarbeit Körperzentrierte Psychotherapie IKP
Gerber Sabine + Maag Diana
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