Schriftliche Hausarbeit im Studienfach Differentielle und Persönlichkeitspsychologie Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression - Autor: Anja Koch Betreuer: Dr. Michael Knuth Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg - Institut für Psychologieim Juni 2002 Anja Koch Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 2 2. Die Klassiker der Psychoanalytiker 3 2.1 Karl Abraham 3 2.2 Sigmund Freud 5 3. Die Bewertung der Klassiker durch die modernen Psychoanalytiker 9 3.1 Die Klassifikation der Depressionen 10 3.2 Psychogenese – Zentrale Konflikte und Mechanismen 10 3.2.1 Die prädepressive Persönlichkeit 11 3.2.2 Objektverlust 13 3.2.3 Narzissmus und Selbstwertkonflikte 14 4. Einsichten und Ausblicke 15 Literaturangabe 17 1 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch 1. Einleitung „Depressive Störungen zählen weltweit zu den häufigsten Erkrankungen. Trotz unterschiedlicher Zahlenangaben schätzt man die Lebenszeitprävalenz [...] auf 15% [...]. Geschlechtsspezifisch sollen 5 bis 12 % der Männer und 10 bis 25 % der Frauen irgendwann im Laufe ihres Lebens unter einer depressiven Episode zu leiden haben. Die Punktprävalenz für depressive Störungen (Anzahl der für einen bestimmten Zeitpunkt als krank, in diesem Fall depressiv angetroffenen Personen) lag nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) früher zwischen 3 und 5 % der Weltbevölkerung, heute bei über 10 %.“ (Faust, 2002) Auch wenn in der Alltagssprache die Depression zum Modewort verkommen ist, schockieren diese statistischen Angaben und suggerieren, dass niemand vor einer depressiven Erkrankung sicher ist. Dabei ist die Depression mehr als eine Befindlichkeitsstörung. Sie ist eine Gemütskrankheit, die ihre Opfer tief greifend verändert und es in allen Lebensbereichen stark beeinträchtigt. Die Symptome der Depression sind mannigfaltig, ebenso zahlreich sind auch die Erklärungsansätze, die sich mit der Entstehung von Depressionen auseinandersetzen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Konzepte und Erklärungsansätze Karl Abrahams und Siegmund Freuds vorzustellen, die sich mit der Ätiologie der Melancholie1 auseinandersetzen. Ebenso wird kommentiert, inwieweit sich die Schriften und Gedanken der beiden Urväter der Psychoanalyse in den heutigen Genesemodellen und klinischen Studien der Depression wieder finden lassen. Wie und warum ursprüngliche Annahmen neu interpretiert und bewertet werden, wird in dieser Arbeit ebenso erörtert. Am Ende meiner Ausführungen wird die Grundlage für die Diskussion gelegt, inwieweit einzelnen Konzepten der Psychoanalyse bezüglich ihrer Interpretation der Genese der Melancholie zu gesprochen werden kann. Diese Hypothesen sollen dabei interessante Ansätze für eine Untersuchung bieten können. 1 Die Bezeichnung Melancholie wird hier als Synonym für die Depression verwendet, auch wenn seit der Einführung des Terminus des „manisch-depressiven Irreseins“, 1899 durch Emil Kraepelin, ersterer Begriff weitgehend aus dem klinischen Sprachgebrauch verschwunden ist (Marneros, 2002). 2 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch 2. Die Klassiker der Psychoanalyse Die Behauptung, psychopathologische Erkrankungen sind mehr als die Manifestation organischer Schädigungen oder biophysiologischer Insuffizienzen, stellt seit den Anfängen der Psychoanalyse einen wesentlichen Streitpunkt in der Psychiatrie dar. Können die diversen Symptome psychischer Erkrankungen wirklich seelischen Ursprungs sein und eine eigene tiefe Bedeutung besitzen? Für Psychoanalytiker haften den Worten und Handlungen der Menschen bestimmte Bedeutung an. Wenn man diese Verhaltensweisen genau beobachtet, hinterfragt und erforscht, enthüllen jene eine eigene Logik, einen bedeutungsvollen Sinn. Auch die Symptome der schweren Melancholie sollen sich mit psychoanalytischem Einfallsreichtum erklären lassen. 2.1 Karl Abraham Es war Karl Abraham, der 1911 die ersten Theorien über die Genese der Depression aus psychoanalytischer Sicht beschrieb. Herbert Will (2000) ehrte diese „innovative Studie“, welche „die dunklen triebpsychologischen Aspekte der Depression“ demaskierte und als erster erfolgreicher Versuch gelten kann, die Bedeutung der Melancholie mittels psychoanalytischen Grundverständnisses zu enträtseln. Ebenso heben Arieti & Bemporad (1983) die Überlegungen Abrahams hervor und stellen dessen Ergebnisse klinischer Beobachtungen folgendermaßen dar: Die Depression gilt ebenso wie die Angst als eine Folge der Unterdrückung der Libido. Aber zu einer affektiven Erkrankung führt diese Suppression erst, wenn der Mensch jede Hoffnung auf Erfüllung der Triebbefriedigung aufgeben hat. Der Depressive unterdrückt seine Begierden dabei so sehr, dass er sich letztendlich außerstande sieht zu lieben oder geliebt zu werden. Durch diese gestörte Liebesfähigkeit wird der Patient in die Projektion getrieben, dass er unfähig ist die Menschen zu lieben, seiner Umwelt also nur Abscheu und Verbitterung entgegenbringen kann. Derartige Hassgefühle sind für den Betroffenen aber inakzeptabel. Folglich werden diese Aversionen wiederum auf die Mitmenschen projiziert. „Die Menschen hassen mich, ich bin nicht liebenswert.“ Bestätigt wird 3 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch diese Annahme des Kranken auch dadurch, dass der Hass der Umwelt durch seinerseits imaginär empfundene körperliche oder geistige Minderwertigkeiten gerechtfertigt ist. In diesem Punkt spiegelt sich auch die von Abraham beobachtete und postulierte exzessive Selbstbezogenheit und Selbstbeobachtung der Depressiven wieder. Neben enttäuschten Liebeswünschen, gelten laut Abraham auch mächtige Schuldgefühle, die auf der Unterdrückung aggressiver Triebe beruhen, als eine weitere wesentliche Ursache für Depressionen. Durch den Verlust eines Liebesobjektes werden Aggressionen geschürt, die entweder verdrängt oder aber als sadistische Rachsucht nach innen gewendet werden. Siegmund Freud war mit Karl Abraham freundschaftlich und geistig eng verbunden, so dass die Konsequenzen dieser gegenseitigen Einflussnahme vor allem in Abrahams späteren Werken zu finden sind. Mit seinen Veröffentlichungen von 1916 und 1924 wollte Abraham mittels klinischer Daten Freuds Sexualtheorien stützen. Abraham war der Meinung, dass sich die Depression als Regression auf die orale Phase erklären lässt. Orale Introjektion, der unbewusste Wunsch „das Objekt zu verschlingen, zu vernichten“ (Abraham, 1916, zitiert in Arieti & Bemporad, 1983) spiegelt sich in dem von ihm beobachteten Symptomen der Nahrungsverweigerung wieder. Er interpretierte diesen Zustand folgendermaßen: Die Nahrung wird mit dem Liebesobjekt gleichgesetzt, welches der Patient aber durch die Prozesse des Kauens und Schluckens zu zerstören fürchtet oder aber glaubt, das Liebesobjekt auf diese Art und Weise für immer zu verlieren. Auch die Angst zu verhungern und die Tatsache, dass sich manche Depressive nach der Nahrungsaufnahme weniger deprimiert und schwermütig fühlen, gilt für Abraham als ein Indiz des Zusammenhang zwischen Oralität und Depressionen. In einem späteren Werk (1924) postuliert Abraham den Zusammenhang zwischen Liebesenttäuschungen und der Entstehung von Depressionen. Ein in der Kindheit erlittener Verlust eines Liebesobjektes und eine dann im späteren Leben erfahrene Zurückweisung oder Schmähung können unweigerlich zu Depressionen führen. Ursachen sollen hierbei eine Störung des kindlichen Narzissmus sein, die als Folge eines Kindheitstraumas auf Basis mangelhafter mütterlicher Umsorgung und 4 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch Liebe, im Unbewussten ruhen. Wenn ein derart verstoßenes Individuum im weiteren Verlauf seines Lebens mit Zurückweisungen oder Abscheu seitens seiner Mitmenschen zu kämpfen hat, dann wird dieses im Unbewussten jene Schmähung als Wiederholung des Verlustes des Liebesobjektes aus der Kindheit sehen. Diese neuen erlittenen Ablehnungen weisen eine hohe psychopathogene Wirkung auf, die dann erneut in der Urverstimmung gipfeln. Abraham prägte 1924 den Begriff der Urverstimmung, er beschreibt den kindlich depressiven Zustand, der nach einer Enttäuschung durch die Eltern und innerer Vereinsamung auftritt (Will, 1998). Kritiker unterstellen Karl Abraham eine „mechanistisch- metapsychologische“ (Arieti & Bemporad, 1983) Sichtweise der Melancholie. Er beschreibt in Einklang mit Freud einflussreiche intrapsychische Instanzen und deren Bedeutung für die Ätiologie der Depressionen. Aber er unterlässt es, bedeutende Krankheitszeichen der Melancholie erklärend zu beschreiben. Welche Bedeutung hat die von einem Depressiven empfundene tiefe Leere, Gleichgültigkeit oder Antriebshemmung? Wie ist Suizidalität zu deuten? Karl Abraham bleibt diese Antworten schuldig. 2.2 Siegmund Freud Bereits 1911 hat Karl Abraham die Genese der Depression an der Abnahme der Liebesfähigkeit und dem aufkeimenden Gefühl des Nicht-geliebt-werdens festgemacht. Siegmund Freud griff in seinem 1915 verfassten, 1917 veröffentlichten Essay „Trauer und Melancholie“ ähnlich Gedanken auf. Die Melancholie definiert Freud als eine „tiefe schmerzliche Verstimmung“, die gepaart ist mit „Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, [...] Verlust der Liebesfähigkeit, [...] Hemmung von Leistung und Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert“ (Freud, 1917). Freud weist in seinem Essay darauf hin, dass die schwere Trauer die selben Züge aufweist wie die Melancholie. Aber die Störung des „Selbstgefühls“ und die „Selbstbeschimpfungen“, die sich bis zu „wahnhafter Erwartung von Strafe“ und Suizid steigern können, sind reiner Ausdruck der Melancholie, die Freud als „großartige Ichverarmung“ beschreibt. Er dokumentiert weiter, dass die Melancholie 5 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch eine Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder eines ideellen Wertes (z.B. Freiheit oder Vaterland) sein kann. Diese tatsächlichen Verlusterscheinungen stellen aber nur in wenigen Erkrankungsfällen die Hauptursache dar, denn selten ist sich der Melancholiker bewusst darüber, welches Liebesobjekt er wann verloren hat. Er ist sich über die Art des erlittenen Verlustes nicht im klaren und er kann auch nicht orten, worauf seine tiefe Niedergeschlagenheit und Verzweiflung beruhen. Die Melancholie ist „auf einen dem Bewusstsein entzogenen Objektverlust zu beziehen, zum Unterschied von der Trauer, bei welcher nichts an dem Verluste unbewusst ist“ (Freud, 1917). Wie erklärt Freud das Gefühl des inneren Verlustes in der Depression? Freud schreibt, dass bei der Trauer die schmerzliche Verstimmung und die Hemmung der Leistung „durch die das Ich absorbierende Trauerarbeit restlos aufgeklärt“ werden. Einen ähnlichen Prozess unterstellt er auch dem Melancholiker. Aber hierbei stellt sich die Frage, welchen Absorptionsprozessen der Melancholiker ausgesetzt ist. Diese Rätsel verknüpft Freud mit der Beobachtung, dass sich bei den Kranken eine „außerordentliche Herabsetzung des Ichgefühls [und] eine großartige Ichverarmung“ zeigen. „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst“ (Freud, 1917). Diese „innere Verarmung“ (Arieti & Bemporad, 1983) basiert auf dem totalen Verlust der Selbstachtung. Der Kranke lamentiert, er schreit in die Welt hinaus, was für ein moralisch verdorbener Mensch er ist, schildert sein Ich als frevelhaft, charakterlos und leistungsunfähig. „Er erniedrigt sich vor jedem anderen, bedauert die Seinigen, [...] erwartet Ausstoßung und Strafe“ (Freud, 1917). Dieser moralische Wahn, verflochten mit Schlaflosigkeit und Nahrungsverweigerung stellt eine sonderbare Unterdrückung des Überlebenstriebes dar. Nach Freud basiert dieser selbst zerstörerische Prozess auf der Spaltung des Ichs. Ein Teil des Ichs, das Gewissen, setzt sich über den anderen Anteil. Aufgrund dieser Feststellung entwickelt Freud den Gedanken, die Selbstvorwürfe sind Beschuldigungen gegenüber einem Liebesobjekt. Denn durch klinische Beobachtungen und Patientengespräche ist leicht zu erkennen, dass diese negativen Selbstdarstellungen nicht mit Charakter und Persönlichkeit der erkrankten Person zu vereinbaren sind. Es offenbart sich in Anamnesegesprächen, dass diese Anklagen eher einer geliebten, nahe stehenden Person gelten. Stellt sich die Frage, 6 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch wie sich dieser intrapsychische Prozess der Verlagerung des Liebesobjektes auf das eigene Ich vollzieht? Ähnlich wie Karl Abraham behauptet Freud (1917), dass als Vorraussetzung für die Melancholie seitens des betroffenen Individuums eine starke Fixierung an ein Liebesobjekt bestehen muss. Zum anderen aber weist diese Objektbesetzung eine schwache Resistenz auf, eine Anfälligkeit für Unzufriedenheit, Spannungen und Vertrauensbrüche. Aber die Objektwahl basiert aus narzisstischer Veranlassung heraus. Wenn also Schwierigkeiten bei der Objektbesetzung auftreten, regrediert jene auf den „natürlichen Narzissmus“ zurück. „Die narzisstische Identifizierung mit dem Objekt wird dann zum Ersatz der Liebesbesetzung, was den Erfolg hat, dass die Liebesbeziehung trotz des Konfliktes mit der geliebten Person nicht aufgegeben werden muss.“ Der gesamte Vorgang lässt sich so beschreiben: Am Anfang, sowohl in der Kindheit als auch in späteren Beziehungen, steht die Objektwahl, eine Bindung der Libido an eine bestimmte Person, in diesem Fall allerdings narzisstischer Art. Durch reale Kränkung seitens der geliebten Person tritt eine Erschütterung der Beziehung auf. Dabei wird aber nicht wie bei der Trauerarbeit die gesamte Libido von dem verloren gegangenen bzw. enttäuschenden Objekt abgezogen und auf ein neues Objekt verschoben. Die durch die ruinierte Objektbeziehung freigewordene Libido wird wegen der Objektwahl narzisstischer Art von einem Teil des Ichs erneut absorbiert. Durch diese Regression der Libido ins Ich findet eine „Identifizierung [...] mit dem aufgegebenen Objekt“ statt. Freud (1917) beschreibt diesen Vorgang mit folgenden Worten weiter: „Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt beurteilt werden kann.“ Der Objektverlust verwandelt sich auf diese Art und Weise in einen Ichverlust. Der eigentliche Konflikt zwischen dem Individuum und dem Liebesobjekt, mutiert zu einem Zwiespalt zwischen Ich und der Ichkritik, dem Gewissen, oder wie Freud 1924 revidieren wird, dem Überich. (Arieti & Bemporad, 1983). Damit ist ein Teil des Ichs, das verinnerlichte Bild des Liebesobjektes, den Gefühlen, dem Hass, der Verachtung und Abscheu ausgesetzt, die sich ursprünglich auf das verlorene Objekt, die enttäuschende Person, richten sollte. Der Patient zeigt dadurch die klassische 7 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch Symptome der Depression, wie Verzweiflung, Schuldgefühle oder Selbstaggressivität. Wie bereits erwähnt, spricht Freud davon, dass der Anlass für eine Melancholie nicht allein in einem Realverlust durch Tod zu finden ist. Er hält die Ambivalenz, das nebeneinander existierende Gefühl des Liebens und des Hassens, welche zwischen einem Individuum und einem Liebesobjekt bestehen kann, als wichtigen Faktor für die Genese von Depressionen. Die Ambivalenz kann dabei konstitutioneller Art sein. Das heißt, „sie hängt jeder Liebesbeziehung an“ (Freud, 1917) und wurde durch traumatische Erlebnisse in der Kindheit geprägt. Sie kann aber auch realer Natur sein. Letzteres umfasst „alle die Situationen von Kränkung, Zurücksetzung und Enttäuschung, durch welche ein Gegensatz von Lieben und Hassen in die Beziehung [zwischen Individuum und Liebesobjekt] eingetragen [...] werden kann“ (Freud, 1917). Durch die Vielzahl der Auseinandersetzungen fällt das Individuum in einen Zustand, in welchem die Gefühle des Liebens und des Hassen miteinander um die Vorherrschaft kämpfen. Soll die Libidoposition gegen alle Konflikte behauptet werden oder soll die Libido vom Objekt gelöst werden? Dieser Ambivalenzkonflikt realer Natur spielt sich nur im Unbewussten ab, die konstitutionelle Ambivalenz findet sich im Vorbewussten wieder. Jegliche endogenen Auseinandersetzungen bleiben dem Bewusstsein verborgen, bis sie die für den Melancholiker typische Eröffnung finden, indem die gestörte Libidobesetzung aufgegeben wird und aufgrund der narzisstischen Objektwahl eine Regression der freien Libido ins Ich stattfindet. Freud erläutert diese mit folgenden Worten: „Hat sich die Liebe zum Objekt, die nicht aufgegeben werden kann, während das Objekt selbst aufgegeben wird, in die narzisstische Identifizierung geflüchtet, so bestätigt sich an diesem Ersatzobjekt der Hass, indem er es beschimpft, erniedrigt, leiden macht [...]“(1917). Auch wenn die ursprünglich einem Objekt geltenden Hasstendenzen beim Melancholiker ins Ich regredieren und eine Wendung gegen die eigene Person erfahren, so gelingt es dem Kranken über einem Umweg Rache beim Auslöser zu nehmen. Der Kranke zeigt seine Feindseligkeit nicht in direkter Konfrontation, sondern versucht durch sein Kranksein zu quälen. Freud nimmt hierbei als gegeben bzw. Vorraussetzung, dass die Person, welche die Ursache für die Depressionen 8 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch darstellt, sich in unmittelbarer Nähe zum Kranken befindet. Freud stellt die mutige These auf, dass Antriebsarmut (der Patient erfüllt alltägliche Aufgaben nicht mehr), Verlust des sexuellen Interesses (der depressive Partner verweigert den Geschlechtsakt) oder Gleichgültigkeit gegen die mit dem Partner gemeinsamen Kinder oder Hobbys als Waffen bzw. subversive Mittel eines Depressiven angesehen werden können. Die Objektbesetzung des Melancholikers erlebt unter dem Einfluss des Ambivalenzkonfliktes auch eine Versetzung auf den Sadismus. Dieser Umstand kann laut Freud das Phänomen des Suizids erklären. Aber warum kann das Individuum all seine Selbstliebe verlieren und welche Gründe veranlassen das Ich seiner Selbstzerstörung zu zustimmen? Selbstmordabsichten sind laut Freud auf das Ich gespiegelte Mordimpulse gegen andere. Durch die Regression der Objektbesetzung kann sich das betroffene Individuum selbst wie ein Objekt behandeln. Es wendet alle Feindseligkeiten, die ursprünglich dem Liebesobjekt galten, gegen sich. Das Objekt erweist sich mächtiger als die Selbstliebe und überwältigt das Ich. Das Resultat ist ein für den Patienten lebensbedrohlicher Zustand. Abschließend lässt sich sagen, dass Freud die Ursachen der Depression auf drei wesentliche Faktoren begrenzt: Objektverlust, Ambivalenz und Regression der Libido ins Ich. Interessant ist Freuds Vorstellung, dass die Melancholie eine Gefühlsäußerung gegenüber dem enttäuschenden Mitmenschen ist und das äußerlich geliebte Objekt letztlich durch das Kranksein bestraft werden soll. 3. Die Bewertung der Klassiker durch die modernen Psychoanalytiker Seit Jahrzehnten wird die Depression von Klinikern überwiegend als metabolische Störung angesehen, die ausschließlich oder zumindest vorwiegend medikamentös behandelt wird. Doch Psychoanalytiker, die psychiatrische Erkrankungen in der Tradition Freuds und Abrahams erklären und behandeln, fordern stets Respekt und Glaubwürdigkeit ihrer alternativen Sichtweise ein. Sie bemühen sich, „weithin Gehör zu verschaffen, weil ihre Vertreter der Ansicht sind, dass sie [im Sinne des Patienten] eine wichtige Botschaft [...] an die Adresse jener Psychiater zu verkünden 9 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch haben, die einen völligen anderen Ansatz [verfolgen]“ (Arieti & Bemporad, 1983). Ziel ist es, auf die Vorgeschichte des Erkrankten, auf die Bedeutung bestimmter psychischer Faktoren und auf den pathogenen Verlauf intrapsychischer Prozesse hinzuweisen. Dabei greifen die geistigen Erben Freuds sowohl traditionelle, als auch eigene Konzepte und Erklärungen auf, von denen einige im weiteren Verlauf dargestellt werden. 3.1 Die Klassifikation der Depressionen Die klassischen psychoanalytischen Untersuchungen von Abraham und Freud setzten sich ausschließlich mit der Analyse manisch-depressiver Patienten auseinander. Sie postulierten indirekt, dass die Psychogenese der Melancholie auf alle Depressiven zu träfe (Will, 1998). Unterschiede in Symptomen und Krankheitsdauer sind laut dieser Erklärung allein quantitativer Natur. Sowohl Silvano Arieti und Jules Bemporad (1983), als auch Herbert Will (1998) heben an dieser Stelle die herausragende Bedeutung von Edith Jacobson hervor. Aufgrund intensiver klinischer Beobachtungen aus psychoanalytischer Perspektive kam sie zu der Feststellung, dass der depressive Grundkonflikt in allen depressiven Zuständen gleich sei. Parallel zu dieser Konkordanz entdeckte Jacobson aber ebenso wesentliche Unterschiede im Krankheitsbild Depression. Laut Will (1998) bildeten vor allem die beobachteten Verschiedenheiten in der Entwicklungsdynamik, den Abwehrmechanismen und in der Anzahl der Rückfälle, die Grundlage für die von Jacobson eingeführte und auch heute in der Psychiatrie noch gültige Differenzierung der Melancholie in neurotische, psychotische und Borderline-Depression. Diese drei Niveaus der Depression weisen Unterschiede in der Prognose und der Ausprägung der Symptome auf und werden letztendlich auf Basis dieser Klassifizierung unterschiedlich behandelt. 3.2 Psychogenese – Zentrale Konflikte und Mechanismen Die depressive Erkrankung stellt kein einheitliches Krankheitsbild dar, sondern untersteht einer strengen Differenzierung. ICD-10 und DSM-IV unterteilen die 10 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch Depression nach Symptomen, Verlauf und Schweregrad. Psychoanalytische Diagnostik umfasst sowohl die Symptomdiagnose (klinische Symptomatik), als auch Strukturdiagnose, welche die Ausprägung der Persönlichkeit, die psychische Konstitution (z.B. Angstniveau, Triebintegration, Narzissmus) und die Abwehrmuster genauer untersucht. Aufgrund diverser Besonderheiten, die das Krankheitsbild einer Depression bestimmen, kann man nicht von „der“ Psychodynamik oder von „der“ Depression sprechen. Trotzdem werden nachfolgend einzelne zentrale Merkmale, Konflikte und Mechanismen genannt, die das Essentielle im Krankheitsbild der Depression bestimmen. 3.2.1 Die prädepressive Persönlichkeit Karl Abraham und Siegmund Freud sehen die Entwicklung einer Melancholie grundsätzlich als psychodynamischen Prozess. Von beiden werden schwerwiegende Trennungserlebnisse, Kränkungen oder Enttäuschungen, mit nachfolgender Verdrängung als Grundmotive für die Ausbildung einer Depression gesehen. Auch die Ausbildung eines hohen Ichideals mit überstarkem Gewissen wird als Ursache für affektive Störungen festgemacht. Daraus resultierende Folgen, wie die Störung des Selbstwertgefühls, narzisstische Regression, Aggressionshemmung, Schulgefühle und Ambivalenzkonflikte, gipfeln letztendlich in den Symptomen der manifesten Depression. Tellenbach (1988, ebenso zitiert in Arieti & Bemporad, 1983) wirft an dieser Stelle die Frage auf, ob bestimmte Menschen durch Veranlagung und Schicksal von vorneherein prädestiniert sind, an schweren Depressionen zu erkranken? Arieti schreibt, dass die Persönlichkeit eines Menschen durch seinen Lebensweg geprägt wird. Jenes bedeutet, dass zwischen dem Individuum und seinen Mitmenschen interaktionistische Beziehungen bestehen: Prägen und geprägt werden. Auf diese Weise bildet jedes Individuum „ein inneres Konstrukt, [welches] das damit zusammenhängende Lebensmuster bestimmt“. Lebensmuster ist an dieser Stelle definiert als vorherrschende Taktik, mit der sich das Individuum seiner Umwelt stellt. Diese handelsübliche Strategie führt zu einer gewissen Starrheit der Persönlichkeit und lässt eine gesicherte Voraussage darüber zu, wie das Individuum 11 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch in Zukunft handeln wird. Auf diese Art und Weise lässt sich laut Arieti auch die Persönlichkeit der Patienten beschreiben bzw. hervorsagen, die eine affektive Störung entwickelt haben oder werden. Ein großer Teil depressiver Menschen zeigt vor ihrer Erkrankung spezifische Charaktereigenschaften und bestimmte Verhaltensmuster. Durch spezifische Reifungsschritte, konstituiert sich so eine melancholische Struktur. Beim Versuch der Beschreibung einer prämorbiden depressiven Persönlichkeit, postulierte Hubert Tellenbach den „Typus melancholicus“ (Arieti & Bemporad, 1983). Das Naturell des potentiell Depressiven ist geprägt durch Überkorrektheit, Zuverlässigkeit, und Aufopferungsbereitschaft. Gruppenloyalität, Patriotismus oder Religiosität spielt im Leben dieser Menschen ebenso eine bedeutende Rolle. Arieti betont an dieser Stelle, dass der Betroffene bezüglich dieser ausgeprägten Gruppenzugehörigkeit seine Einsamkeit verbergen will. Tellenbach erwähnt das hartnäckige Bestreben der später Depressiven nach Regelmäßigkeit und Kontinuität. Zugleich soll der potentiell Kranke hohe Ansprüche an sich stellen und sein Leben lang danach streben, diese Ideale zu erfüllen oder besser, noch zu überbieten. Ebenso hat er festgesetzte Vorstellungen und Grundsätze, ist aber keineswegs ein glücklicher Mensch. Er verfolgt das extreme Ziel, anderen gefällig zu sein, ohne dabei auf die Erfüllung eigener Wünsche hinzuarbeiten. Der Patient verliert die Fähigkeit zur autonomen Befriedigung. Häufig liegt die Ursache dieser Probleme darin, dass der Leidende in seiner Kindheit einer dominanten Bezugsperson unterstand. Stellt sich die Frage, inwieweit das Konstrukt des Typus melancholicus empirisch abgesichert ist. M. Enns und B. Cox publizierten 1997 einen Artikel über die Bedeutung von spezifischen Persönlichkeitseigenschaften und dem Erkranken an einer Depression. Neurotizismus gilt in dieser klinischen Studie als ein wesentlicher Prädiktor für das mögliche Erleiden einer depressiver Störungen. Ebenso besteht zwischen Extroversion und Melancholie ein negativer Zusammenhang. Als signifikant für Depressivität erwiesen sich ebenfalls ein hohes Maß an emotionaler Abhängigkeit und Zwanghaftigkeit. Ferner gelten auch Selbstkritik und Perfektionismus als prämorbide Risikofaktoren. Trotz dieser aussagekräftigen Ergebnisse lehnen es Enns und Cox ab, mit Hinweis auf weitere klinische 12 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch Untersuchungen, von einer für Depressionen prädisponierten Persönlichkeit zu sprechen. Tellenbach (1988) zitiert an dieser Stelle U. H. Peters:„Obwohl der Typus melancholicus bei endogen Depressiven fast hundertprozentig nachweisbar ist, gibt es [...] den Typus melancholicus ohne Depression. Beim Vergleich depressiv Erkrankter mit Gesunden dieses Types fällt auf, dass trotz starker Ausprägung der melancholischen Struktur, sich letztere pathogenen Situationen erfolgreich erwehren ohne zu erkranken. 3.2.2 Objektverlust Für die Genese und die Auslösung psychischer Erkrankungen wird sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Psychiatrie Verlusterlebnissen eine große Bedeutung zugeschrieben. Bereits die Urväter der Depressionsforschung Freud und Abraham wiesen auf den Einfluss des Objektverlustes in der Kindheit hin, das heißt, den Verlust oder die Trennung von einer geliebten Bezugsperson. Stellt sich die Frage, ob ein äußerer oder innerer Objektverlust, vielmehr ein seelischer Schmerz, den Ausbruch einer Depression unzweifelhaft primär bedingen kann? Oder können derartige Sichtweisen allein als hilfloser Versuch beurteilt werden, dieses erschütternde und von Außen schwer nachvollziehbare Krankheitsbild rational zu erklären? Matussek (1990) untersuchte auf Basis dieser theoretischen Überlegungen den Zusammenhang zwischen Verlusten in der Kindheit, Ersterkrankungsalter und Anzahl der depressiven Phasen. Ein wesentliches Resultat seiner Untersuchung hebt Matussek besonders deutlich hervor. Das Auftreten von Verlusten, definiert als Tod oder Trennung von den Eltern, stellt keine Prädisposition für spätere depressive Störungen dar. Nicht-depressive Menschen haben im Laufe ihrer Kindheit ebenso häufig Verluste erlebt wie depressive Patienten. Jedoch postuliert Matussek ebenso, dass bei Depressiven mit Ersterkrankung vor dem 41. Lebensjahr in der Kindheit häufiger Trennungen von den Eltern zu beobachten waren als bei den gesunden Kontrollpersonen. Letzteres ließ sich Erkrankungen nach dem 41. Lebensjahr nicht beweisen. Beachtenswert ist, dass Patienten mit früher und rezidivierender 13 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch Erkrankung in ihrer Kindheit signifikant häufiger den Tod des Vaters zu beklagen hatten. Auch Herbert Will (1998) hat sich mit der pathologischen Verarbeitung frühkindlicher Liebesverluste und der Kindheit Depressiver auseinandergesetzt. Die Menge der zu diesem Thema vorliegenden klinischen Befunde fasst er in drei Thesen zusammen. Erstens: das Vorliegen signifikanter Objektverluste, zweitens: ein widrige Umwelt, die den Wünschen des Kindes nicht adäquat nachkommt und dritten: das Vorherrschen elterlicher Bedürfnisse denen sich das Kind unterzuordnen hat, gelten als Prädispositionen für Erwachsenendepressionen. Trennungstraumata, mütterliche Überbehütung bei reduzierter elterliche Zuwendung, Erfahrungen gefühlsarmer Kontrolle und Zurückweisung durch Liebesobjekte, sind Erlebnisse, die vor allem von neurotisch depressiven Patienten berichtet werden. „Depressive beschreiben häufiger als Vergleichspersonen unglückliche Erfahrungen in ihrer Kindheit und einer größeren Anzahl traumatischer Ereignisse mit wiederholten Abbrüchen emotionalbedeutsamer Beziehungen“ (Will, 1998). Wesentlich ist laut Will ebenso, dass nicht allein der Objektverlust die Basis einer späteren depressiven Erkrankung darstellt. Essentiell für die Entstehung von Depressionen sind die wahrgenommenen Qualitäten der Beziehungen zu Liebesobjekten. Verlustereignisse scheinen sich nur pathologisch niederzuschlagen, wenn dem Kind nach diesem Unglück mangelhafte emotionale Unterstützung und unzureichende Hilfeleistung zu kommt. Aus der Häufigkeit negativer Erfahrungen, die durch das Kind nicht beeinflusst werden können, und bei mangelhaftem sozialem Netzwerk entwickelt sich ein negatives Selbstbild mit dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Inkompetenz. Dieses gipfelt laut Will in der Unfähigkeit, emotional wichtige Beziehungen einzugehen oder Vertrauen in sich und seine Umwelt zu setzen. 3.2.3 Narzissmus und Selbstwertkonflikte Narzissmus spielt in der Psychodynamik Depressiver eine bedeutende Rolle. Er bezeichnet die libidinöse Besetzung der eigenen Person im Vergleich zur Objektliebe. Der Melancholiker wiederum bildet eine narzisstische Form der Objektliebe, die durch Konflikte, Enttäuschungen oder den Verlust von 14 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch Liebesobjekten in einer narzisstischen Regression in das Ich endet. Gravierende Enttäuschungen in früheren Objektbeziehungen stellen laut Edith Jacobson (zitiert in Mentzos, 1996) den Hauptgrund für Störungen des Selbstbewusstseins dar. Jacobson beschreibt den depressiven Selbstwertkonflikt „als einen Konflikt zwischen einem überhöhten Ichideal und einem entwerteten Selbstbild“ (Mentzos, 1996). Sowohl das Liebesobjekt als auch das eigene Ich werden in ihrer Leistungsfähigkeiten massiv überschätzt. Werden tagtägliche Erwartungen nicht befriedigt, bildet sich zwischen der überspannten Ansicht des Wunschbildes und der Realität eine „chronische narzisstische Differenz“ (Will, 1998). In den Vordergrund der Selbstwahrnehmung treten hierbei das Versagen und Unvermögen gestellte Ziele zu erreichen. Das häufige Scheitern gipfelt letztendlich in Scham, Selbstverachtung und heftiger Selbstentwertung. Laut Will (1998) stellt das „manifeste Kleinheitsbild“ ein wichtiges diagnostisches Kriterium dar. Die Wahrnehmung der oft unbewussten Selbstüberschätzung, die Realisierung der überhöhten Ansprüche an sich selbst und seine Umwelt bezeichnet Will als wichtige Grundlage für therapeutische Ansätze. Neben dem übermäßigen Ichideal nennt Herbert Will auch die orale Abhängigkeit, häufige Zustände von Hilflosigkeit und Selbstverurteilung durch das Überich als die Quellen der extremen Selbstzweifel der Depressiven. Zugleich kommt jedoch in den Selbstvorwürfen der Kranken auch die ursprüngliche Anklage gegen das Liebesobjekt zum Ausdruck. „Das Ausmaß der Selbstvorwürfe steht für das Ausmaß an Liebesenttäuschungen“ (Will, 1998). Arieti und Bemporad (1983) halten letzteres für empirisch nicht nachweisbar. Ihren Ausführungen nach bemühen sich Therapeuten seit Jahrzehnten ohne Erfolg, depressive Patienten dazu zu bringen, ihrem Zorn und ihren erlebten Enttäuschungen Ausdruck zu verleihen und diese in psychotherapeutischen Sitzungen nach außen abzuleiten oder aktiv zu verarbeiten. 4. Einsichten und Ausblicke Es stellen sich am Ende dieser Arbeit einige Fragen, die sich vor allem darum drehen, ob die modernen Theorien der Psychoanalyse wirklich neue Konzepte zur 15 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch Genese der Depression in sich tragen oder nur „alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen“. Die folgenden Hypothesen sollen interessante Aspekte aufzeigen, die Inhalte neuer empirischer Untersuchungen sein können. 1. Die von Karl Abraham und Siegmund Freud herangezogenen Ursachen zur Psychogenese depressiver Erkrankungen, wie Objektverlust, ausgeprägtes Überich, Selbstwertverlust, narzisstische Regression und Ambivalenzkonflikte werden von den modernen Psychoanalytikern ebenso als Hauptursachen von Depressionen ausgemacht. 2. Die Depression ist ein heterogenes Krankheitsbild. 3. Bereits vor der Manifestation einer depressiven Erkrankung ist die prämorbide Persönlichkeit des Betroffenen durch den „Typus melancholicus“ geprägt. 4. Es ist nicht allein der Objektverlust, der die Ursache depressiver Erkrankungen darstellt. Vielmehr stellt die wahrgenommene Qualität der Objektbeziehung die größere Bedeutung für die depressive Verarbeitung des Verlusterlebnisses dar. Als Basis für eine ebenso interessante Untersuchung kann der Aspekt des Selbstwertverlustes herangezogen werden. Beziehen sich die unangemessenen Selbstbeschuldigungen tatsächlich auf das Versagen eines geliebten Menschen? Sind die Selbstbeschuldigungen wirklich Beschuldigungen gegenüber einem Liebesobjekt, die auf das Ich verlagert worden sind? 16 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch Literaturangabe: Arieti, S. & Bemporad, J. (1983). Depressionen – Krankheitsbild, Entstehung, Dynamik und psychotherapeutische Behandlung. Stuttgart: Klett-Cotta Freud, S. (1982, Original 1917). Trauer und Melancholie. Berlin: Verlag Volk und Welt Marneros, A. (2000). Manisch-depressive und andere bipolare Erkrankungen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag Will, H., Grabenstedt, Y., Völkl, G., Banck, G. (1998). Depressionen – Psychodynamik und Therapie. Stuttgart: Kohlhammer Faust, V. (2002). Depressionen – Bleibt wirklich nichts zurück? www.psychosozialegesundheit.net/psychiatrie/depression2.html Mertens, W. & Waldvogel, B. (Hrsg).(2000). Handbuch der psychoanalytischen Grundbegriffe. Stuttgart: Kohlhammer Stichwort: Melancholie (Will, H.) Enns, M. & Cox, B. (1997). Personality Dimensions and Depression: Review and Commentary www.cpa-apc.org/Publications/Archives/CJP/1997/April/revpaper1_0497.htm Wolfersdorf, M., Kopittke, W. (Hrsg.).(1988). Klinische Diagnostik und Therapie der Depression Regensburg: S. Roderer Verlag Regensburg Tellenbach, H.: Verschränkung natürlichen und geschichtlichen Daseins im Typus melancholicus Matussek, P. (1990). Psychodynamik endogener Psychosen. 17 Melancholie aus der Sicht der Psychoanalyse - Erklärungen zur Psychogenese der Depression – Anja Koch Berlin: Springer Verlag 18