«der glückliche phantasiert nicht» MELANCHOLIE UND MUSIK VON HELGA DE LA MOTTE-HABER ANTIKE WURZELN «Der Glückliche phantasiert nicht.» Dieser Satz, mit dem Sigmund Freud seine Künstlerpoetik zusammenfasste,1 knüpft an die antike Verbindung zwischen Melancholie und Genialität an. Sie ist in Frageform in den aristotelischen Problemata (Nr. XXX, wahrscheinlich von Theophrast) formuliert. Grundlage dafür bildet die Beobachtung, dass der Ausfluss der schwarzen Galle krankhafte Erscheinungen hervorrufe, allerdings Philosophen und Dichter besonders oft von dieser Krankheit befallen seien. Wie bei Freud, der zwischen Neurosen und künstlerischem Tun differenzierte, wird zwischen dem Melancholiker, der ins Krankhafte spielt, und dem außerordentlichen Menschen unterschieden, bei dem sich die schwarze Galle im Übermaß in der Nähe des Gehirns ansammelt.2 In eine moderne Lesart übersetzt bedeutet dies, dass außergewöhnliche Melancholiker eine höheres Selbstzutrauen, Ichstärke und ein größeres Ausmaß an Frustrationstoleranz haben, zugleich aber doch ‹dunkle› Gedanken ihre Imagination stimulieren. DER MUSIKER ALS INBEGRIFF DES MELANCHOLIKERS 12 Im Mittelalter teilte man die antike Auffassung des genialen Melancholikers nicht. Eher des Teufels (im Zeichen des Saturns stehend) waren solche Menschen. Die «Mönchskrankheit» (Acedia), die die damaligen Intellektuellen in den einsamen Klosterzellen befallen konnte, scheint noch Albrecht Dürers brütendem Engel der Melencolia I ins Gesicht geschrieben. Acedia, das Erlebnis von Traurigkeit, Zeitstillstand und Sinnlosigkeit, galt im Mittelalter als Todsünde, weil es nichts mehr zum Ausdruck zu bringen schien als Misstrauen gegen das Heilsversprechen. Zu Beginn der Neuzeit wurde jedoch die Verbindung von Genialität und Melancholie intensiviert – Letztere angereichert um Platons ManieBegriff, der den göttlichen Wahnsinn meint. Das Zeitalter der Empfindsamkeit festigte dann die Vorstellung des Leidens als Quelle künstlerischer Produktivität und der Erlösung von der irdischen Qual durch die Kunst. Dabei prägte sich zunehmend die Auffassung aus, dass eine die Realität übersteigende transzendente Realität am reinsten in der absoluten Musik zum Vorschein käme. Musik und Melancholie treten in eine davor nicht gekannte enge Verbindung. Musikalisierung war von den anderen Künsten gefordert, als deren Folge Malerei und Dichtung zunehmend abstrakter wurden. Die Komponisten ihrerseits scheinen vor allem im 19. Jahrhundert sehr an der Welt gelitten zu haben. Bei ihren Selbstbild-Konstruktionen spielten im Zeitalter, das Cesare Lombrosos Buch Genie und Irrsinn (Genio e follia, 1864) zu Ruhm verhalf, Krankheiten eine große Rolle. Gesunde Komponisten sind im 19. Jahrhundert die Ausnahme. Sie bedurften für ihre Nervenleiden wenigstens – wie etwa Richard Wagner – der Badekuren und dennoch spricht aus Briefen und Biografien vielfach Stolz über ihre Werke. Thomas Mann folgte mit der Hauptfigur seines Romans Doktor Faustus dem Zwölftonkomponisten Adrian Leverkühn, einem Künstlerstereotyp, das den Musiker explizit als Melancholiker begriff; er brachte es mit dem faustischen Prinzip des Transzendierens aller Grenzen in Einklang. Jedoch schuf er damit kaum einen Vorentwurf für das künstlerische Selbstverständnis der letzten hundert Jahre. Möglicherweise erlaubt der Blick auf die nähere Gegenwart keine klare Typisierung eines Künstlerstereotyps, weil nur Einzelindividuen sichtbar werden, die sich nicht so recht dem Strukturmodell der Melancholie fügen. Welcher Komponist ließe sich auch gern als pathologischer Sonderfall beschreiben, nachdem sich die traditionellen Vorstellungen von Genie und Transzendieren längst aufgelöst haben und nur Katastrophen und Leid geblieben sind? Die Fragen haben sich geändert. Der Melancholiebegriff, der einmal als Charakterbegriff diente, wurde Gegenstand verschiedener Wissenschaften: der Psychologie (vor allen der Persönlichkeitstheorie von Hans-Jürgen Eysenck), der ■ THEMA 13 medizinischen Psychiatrie, der Philosophie und der kunstgeschichtlichen Ikonografie bzw. allgemeiner der Betrachtung von künstlerischen Produkten. Letztere erwies sich auch als fruchtbar für die Musik. MODALITÄTEN DER DARSTELLUNG 14 Musik war seit jeher zum Ausdruck von Trauer geeignet, im Bereich der Oper auch die Furchtsamkeit. Trauermärsche oder Elegien sind bekannte Satztypen. Jedoch wurden mit der engen Verbindung von Musik und Melancholie immer differenziertere Ausdrucksmöglichkeiten sichtbar, ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen scheint. Eine Bedeutungsnuance scheint die Melancholie jedoch verloren zu haben, die das im © SCHOTT MUSIC, MAINZ PAUL HINDEMITH: «NACHTSTÜCK» AUS DER SUITE «1922» 18. Jahrhundert entstandene MelancholieGedicht prägte: ihre einstmals empfundene Süße. Die Anrufung «Komm, heilige Melancholie»,3 die typisch war, resoniert kaum noch in Paul Celans Worten: «Ich bin der Immerdüstere.» Faszination auf das zeitgenössische Komponieren strahlen auch weniger die Spielanweisungen Gustav Mahlers wie «grave, malinconico», «mit schwermütigem Ausdruck» oder «leise und traurig» aus, auch nicht «lent et doulourex», die sich öfter bei Claude Debussy oder Erik Satie finden. Franz Schuberts Winterreise entspricht hingegen immer noch einer modernen Befindlichkeit, wie sich nicht nur an der Auseinandersetzung von Wolfgang Rihm oder Hans Zender mit diesem Zyklus zeigt. Das lyrische Ich, das Wilhelm Müller konzipierte, flieht vor der idyllischen bürgerlichen Liebesheirat, es ist fremd in dieser Welt; die anderen Wege, die es gehen muss, führen nicht einmal zum erlösenden Tod, es muss seine Leier weiter drehen, auch wenn niemand diese Musik hören will. Theodor W. Adorno hat solche Entfremdung von der Welt als notwendige Voraussetzung des künstlerischen Schaffens thematisiert. Die Erfahrung des Exils macht einen Teil der Daseinsberechtigung des Künstlers aus. Als reale Erfahrung hat das Exil Werke stimuliert wie die Hollywooder Elegien von Hanns Eisler, die von jener «Nostalgia» zeugen, die im Schweizerischen ein Lehnwort für Heimweh ist. Im Horizont des Begriffs von Melancholie verschwimmen die Vorstellungen von Einsamkeit, Leid, Sinnlosigkeit, Trauer, Unruhe, Verzweiflung, Kleinmut, Leere, Schwärze, Nacht und tiefsinniger Kontemplation. Diese komplexe Erscheinung der Melancholie, die in Luigi Nonos Streichquartett mehrfach, markiert durch unterschiedliche Hölderlin-Zitate, auftaucht, erfährt dort auch verschiedenartige musikalische Ausformungen. Das Fragment «… Allein …» wirkt mit den unterbrechenden, von fis nach a sich bewegenden Unisonoklängen wartend, während das Ockeghem-Zitat «malor me bat» sotto voce hinter seiner zerfaserten, aufgerauten Oberfläche den verbalen Inhalt eines anderen Fragmentzitats «trauernd versank … Das zweifelnde Haupt» kodiert. Unterschiedliche Vorstellungen von Melancholie konvergieren im Feld der Nacht … … mehr erfahren Sie in Heft 2006/6