NZfM 200606 - Musik der Zeit

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«der glückliche
phantasiert nicht»
MELANCHOLIE UND MUSIK
VON HELGA DE LA MOTTE-HABER
ANTIKE WURZELN
«Der Glückliche phantasiert nicht.» Dieser Satz, mit
dem Sigmund Freud seine Künstlerpoetik zusammenfasste,1 knüpft an die antike Verbindung zwischen Melancholie und Genialität an. Sie ist in Frageform in den
aristotelischen Problemata (Nr. XXX, wahrscheinlich
von Theophrast) formuliert. Grundlage dafür bildet die
Beobachtung, dass der Ausfluss der schwarzen Galle
krankhafte Erscheinungen hervorrufe, allerdings Philosophen und Dichter besonders oft von dieser Krankheit befallen seien. Wie bei Freud, der zwischen Neurosen und künstlerischem Tun differenzierte, wird
zwischen dem Melancholiker, der ins Krankhafte
spielt, und dem außerordentlichen Menschen unterschieden, bei dem sich die schwarze Galle im Übermaß
in der Nähe des Gehirns ansammelt.2 In eine moderne
Lesart übersetzt bedeutet dies, dass außergewöhnliche
Melancholiker eine höheres Selbstzutrauen, Ichstärke
und ein größeres Ausmaß an Frustrationstoleranz haben, zugleich aber doch ‹dunkle› Gedanken ihre Imagination stimulieren.
DER MUSIKER ALS INBEGRIFF
DES MELANCHOLIKERS
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Im Mittelalter teilte man die antike Auffassung des genialen Melancholikers nicht. Eher des Teufels (im Zeichen des Saturns stehend) waren solche Menschen. Die
«Mönchskrankheit» (Acedia), die die damaligen Intellektuellen in den einsamen Klosterzellen befallen
konnte, scheint noch Albrecht Dürers brütendem Engel
der Melencolia I ins Gesicht geschrieben. Acedia, das
Erlebnis von Traurigkeit, Zeitstillstand und Sinnlosigkeit, galt im Mittelalter als Todsünde, weil es nichts mehr
zum Ausdruck zu bringen schien als Misstrauen gegen
das Heilsversprechen. Zu Beginn der Neuzeit wurde
jedoch die Verbindung von Genialität und Melancholie
intensiviert – Letztere angereichert um Platons ManieBegriff, der den göttlichen Wahnsinn meint. Das Zeitalter der Empfindsamkeit festigte dann die Vorstellung
des Leidens als Quelle künstlerischer Produktivität
und der Erlösung von der irdischen Qual durch die
Kunst. Dabei prägte sich zunehmend die Auffassung
aus, dass eine die Realität übersteigende transzendente
Realität am reinsten in der absoluten Musik zum Vorschein käme. Musik und Melancholie treten in eine davor
nicht gekannte enge Verbindung. Musikalisierung war
von den anderen Künsten gefordert, als deren Folge
Malerei und Dichtung zunehmend abstrakter wurden.
Die Komponisten ihrerseits scheinen vor allem im
19. Jahrhundert sehr an der Welt gelitten zu haben. Bei
ihren Selbstbild-Konstruktionen spielten im Zeitalter,
das Cesare Lombrosos Buch Genie und Irrsinn (Genio
e follia, 1864) zu Ruhm verhalf, Krankheiten eine
große Rolle. Gesunde Komponisten sind im 19. Jahrhundert die Ausnahme. Sie bedurften für ihre Nervenleiden wenigstens – wie etwa Richard Wagner – der
Badekuren und dennoch spricht aus Briefen und Biografien vielfach Stolz über ihre Werke. Thomas Mann
folgte mit der Hauptfigur seines Romans Doktor Faustus dem Zwölftonkomponisten Adrian Leverkühn,
einem Künstlerstereotyp, das den Musiker explizit als
Melancholiker begriff; er brachte es mit dem faustischen Prinzip des Transzendierens aller Grenzen in
Einklang. Jedoch schuf er damit kaum einen Vorentwurf für das künstlerische Selbstverständnis der letzten
hundert Jahre.
Möglicherweise erlaubt der Blick auf die nähere
Gegenwart keine klare Typisierung eines Künstlerstereotyps, weil nur Einzelindividuen sichtbar werden,
die sich nicht so recht dem Strukturmodell der Melancholie fügen. Welcher Komponist ließe sich auch gern
als pathologischer Sonderfall beschreiben, nachdem
sich die traditionellen Vorstellungen von Genie und
Transzendieren längst aufgelöst haben und nur Katastrophen und Leid geblieben sind? Die Fragen haben
sich geändert. Der Melancholiebegriff, der einmal als
Charakterbegriff diente, wurde Gegenstand verschiedener Wissenschaften: der Psychologie (vor allen der
Persönlichkeitstheorie von Hans-Jürgen Eysenck), der
■ THEMA
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medizinischen Psychiatrie, der Philosophie und der
kunstgeschichtlichen Ikonografie bzw. allgemeiner der
Betrachtung von künstlerischen Produkten. Letztere
erwies sich auch als fruchtbar für die Musik.
MODALITÄTEN DER DARSTELLUNG
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Musik war seit jeher zum Ausdruck von Trauer geeignet, im Bereich der Oper auch die Furchtsamkeit.
Trauermärsche oder Elegien sind bekannte Satztypen.
Jedoch wurden mit der engen Verbindung von Musik
und Melancholie immer differenziertere Ausdrucksmöglichkeiten sichtbar, ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen scheint. Eine Bedeutungsnuance scheint
die Melancholie jedoch verloren zu haben, die das im
© SCHOTT MUSIC, MAINZ
PAUL HINDEMITH: «NACHTSTÜCK»
AUS DER SUITE «1922»
18. Jahrhundert entstandene MelancholieGedicht prägte: ihre einstmals empfundene Süße. Die Anrufung «Komm, heilige
Melancholie»,3 die typisch war, resoniert
kaum noch in Paul Celans Worten: «Ich
bin der Immerdüstere.» Faszination auf
das zeitgenössische Komponieren strahlen auch weniger die Spielanweisungen
Gustav Mahlers wie «grave, malinconico», «mit schwermütigem Ausdruck»
oder «leise und traurig» aus, auch nicht
«lent et doulourex», die sich öfter bei
Claude Debussy oder Erik Satie finden.
Franz Schuberts Winterreise entspricht
hingegen immer noch einer modernen
Befindlichkeit, wie sich nicht nur an der
Auseinandersetzung von Wolfgang Rihm
oder Hans Zender mit diesem Zyklus
zeigt. Das lyrische Ich, das Wilhelm Müller konzipierte, flieht vor der idyllischen
bürgerlichen Liebesheirat, es ist fremd in
dieser Welt; die anderen Wege, die es gehen muss, führen nicht einmal zum erlösenden Tod, es muss seine Leier weiter
drehen, auch wenn niemand diese Musik
hören will. Theodor W. Adorno hat solche Entfremdung von der Welt als notwendige Voraussetzung des künstlerischen Schaffens thematisiert. Die Erfahrung des Exils macht einen Teil der Daseinsberechtigung des Künstlers aus. Als
reale Erfahrung hat das Exil Werke stimuliert wie die Hollywooder Elegien von
Hanns Eisler, die von jener «Nostalgia»
zeugen, die im Schweizerischen ein Lehnwort für Heimweh ist.
Im Horizont des Begriffs von Melancholie verschwimmen die Vorstellungen
von Einsamkeit, Leid, Sinnlosigkeit,
Trauer, Unruhe, Verzweiflung, Kleinmut,
Leere, Schwärze, Nacht und tiefsinniger
Kontemplation. Diese komplexe Erscheinung der Melancholie, die in Luigi Nonos Streichquartett mehrfach, markiert
durch unterschiedliche Hölderlin-Zitate, auftaucht, erfährt dort auch verschiedenartige musikalische Ausformungen. Das Fragment «… Allein …» wirkt mit den
unterbrechenden, von fis nach a sich bewegenden Unisonoklängen wartend, während das Ockeghem-Zitat
«malor me bat» sotto voce hinter seiner zerfaserten,
aufgerauten Oberfläche den verbalen Inhalt eines anderen Fragmentzitats «trauernd versank … Das zweifelnde Haupt» kodiert.
Unterschiedliche Vorstellungen von Melancholie
konvergieren im Feld der Nacht …
… mehr erfahren Sie
in Heft 2006/6
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