Geisteswissenschaft Iris Gorke Sozialpädagogische Unterstützung bei depressiver Verstimmung und Depression Bestandsaufnahme und Entwicklung Diplomarbeit Sozialpädagogische Unterstützung bei depressiver Verstimmung und Depression: Bestandsaufnahme und Entwicklung Diplomarbeit an der Fachhochschule München Fachbereich 11 Sozialwesen vorgelegt von: Iris Gorke Abgabedatum: 20. März 2006 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Einleitung .............................................................................................................. 3 I. DEPRESSIVE VERSTIMMUNG UND DEPRESSION 1. Melancholie- ein gesellschaftshistorischer Begriff ........................................... 7 2. Abgrenzung der Depression zu Stimmungstiefs und Trauer .......................... 10 3. Definition der Depression ................................................................................... 13 4. Phänomenologie ................................................................................................... 15 4.1 Symptomatik ......................................................................................... 15 4.2 Depressionsformen und ihre Klassifikation .......................................... 17 5. Komorbidität........................................................................................................ 24 6. Epidemiologie....................................................................................................... 26 7. Ätiologie................................................................................................................ 29 7.1 Risikofaktoren ....................................................................................... 30 7.2 Genetik ............................................................................................. 32 7.3 Biochemische Theorien......................................................................... 33 7.4 Endokrine Theorien............................................................................... 35 7.5 Psychoanalytische Theorie .................................................................... 38 7.6 Kognitive Theorie.................................................................................. 39 7.7 Das Modell der erlernten Hilflosigkeit.................................................. 40 7.8 Das verstärkungstheoretische Erklärungsmodell .................................. 43 II. HILFSANGEBOTE FÜR DEPRESSIVE 8. Aktuell angewandte Therapieformen ................................................................ 47 8.1 Somatische Therapien ........................................................................... 49 8.1.1 Medikamentöse Behandlung................................................ 49 8.1.2 Schlafentzug- Wachtherapie ................................................ 53 8.1.3 Weitere Behandlungsmöglichkeiten .................................... 55 8.2 Psychotherapien..................................................................................... 57 8.2.1 Tiefenpsychologische Verfahren ......................................... 58 8.2.2 Interpersonale Therapie (IPT) .............................................. 61 8.2.3 Verhaltenstherapie und kognitive Verhaltenstherapie ......... 62 Inhaltsverzeichnis 9. Sozialpädagogische Hilfen und Methoden bei depressiven Störungen ......... 69 9.1 Beratung ................................................................................................ 72 9.2 Krisenintervention ................................................................................. 78 9.3 Begleitung ............................................................................................. 81 9.4 Angehörigenarbeit ................................................................................. 83 9.4.1 Angehörigengruppen............................................................ 84 9.4.2 Hilfs- und Unterstützungsangebote für die Kinder von Menschen mit einer depressiven Störung ..................... 88 9.5 Soziotherapie ......................................................................................... 90 10. Das Versorgungssystem .................................................................................... 95 10.1 Gemeinde-integrierte und stationäre Angebote des Versorgungssystems...................................................................... 96 10.2 Defizite bei der Prävention und der Vernetzung der Hilfsangebote .............................................................................. 105 10.3 Exkurs: Die gesundheitsökonomische Relevanz von Depressionen .............................................................................. 108 11. Entwicklungsprozess und Perspektiven ........................................................ 110 11.1 Das Kompetenznetz „Depression, Suizidalität“................................ 112 11.2 Der salutogenetische Ansatz ............................................................. 117 12. Zusammenfassung ........................................................................................... 123 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 126 Abbildungsverzeichnis .................................................................................... 132 Einleitung WAHRLICH, KEINER IST WEISE, DER NICHT DAS DUNKEL KENNT, DAS UNENTRINNBAR UND LEISE VON ALLEM IHN TRENNT. Herrmann Hesse Einleitung Auf einer internationalen Tagung bezeichnet die WHO Depressionen als eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Zeitbombe. Es wird davon ausgegangen, dass Depressionen im Jahr 2020 nach Herz- Kreislauferkrankungen die zweithäufigste Erkrankung weltweit sein werden. Besonders in den Industriestaaten werden depressive Störungen aufgrund ihrer Auswirkungen auf die individuelle, familiäre, soziale und berufliche Funktion des Betroffenen eines der gravierendsten Probleme darstellen.1 Das heutige Wissen über eine erfolgreiche Versorgung auf psychischer, sozialer und medizinischer Ebene, aber auch Prävention und Förderung seelischer Gesundheit, ist sehr umfangreich. In der praktischen Umsetzung zeigen sich jedoch Mängel, die dazu führen, dass vorhandene Kompetenzen und Ressourcen nicht genutzt werden. Ziel dieser Arbeit ist es, die Bedeutung sozialpädagogischer Unterstützung in einem krankheitsorientierten, kurativ agierenden Gesundheitssystem stärker in den Blickpunkt zu stellen. Die Behandlung einer „Volkskrankheit“ erfordert Interventionen auf allen Ebenen, auf denen sie entsteht und auf die sie sich auswirkt. Vor allem aber darf darüber der Einzelne mit seinen persönlichen Bedürfnissen nicht vergessen werden. Vor diesem Hintergrund soll in dieser Arbeit eine Bestandsaufnahme sozialpädagogischer Unterstützung bei depressiven Störungen durchgeführt und die Entwicklung der Versorgungssituation diskutiert werden. 1 Vgl. Bundesvereinigung für Gesundheit e.V.: „Weltgesundheitstag 2001.“, www.who-tag.de/2001themen_hi-depression.htm , o. S. , Zugriff am 02. 11. 2005 3 Einleitung Die Arbeit setzt sich aus einem ersten und einem zweiten Teil zusammen. Depressive Störungen stellen ein komplexes Krankheitsbild dar. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, diese im ersten Teil der Arbeit zunächst umfassend darzustellen. Der erste Teil bildet somit die Grundlage für ein Verständnis der Hintergründe der unterschiedlichen Interventionsmöglichkeiten und der gesellschaftlichen Relevanz der Erkrankung. Depressive Erkrankungen besitzen immer auch eine interaktionelle Dimension und der Helfer findet den depressiven Menschen in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext vor. Daher sollen zu Anfang aus psychohistorischer Perspektive charakteristische Tendenzen des gesellschaftlichen Verständnisses von Melancholie betrachtet werden. Darauffolgend werden alltägliche Befindlichkeitsstörungen und Zustände von Trauer von der Depression als Erkrankung abgegrenzt, da sich die Begrifflichkeiten im alltäglichen Sprachgebrauch oftmals überschneiden. Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen depressiver Störungen ist eine allgemeingültige Definition dieser kaum möglich. Daher werden weiter unterschiedliche Definitionen der Depression gegenübergestellt. Häufig wird auch von den „vielen Gesichtern einer Depression“ gesprochen, was auf die individuelle Symptomatik zurückzuführen ist. Die verschiedenen Symptome, die Erscheinungsformen und die veränderte Klassifikation werden im darauffolgenden Kapitel erörtert. Daraufhin wird auf das Problem der Komorbidität eingegangen. Depressionen treten häufig im Zusammenhang mit Angststörungen auf, als Begleiterscheinung somatischer Erkrankungen und stellen per se ein Risiko für Folgeerkrankungen dar. Im nächsten Kapitel über die Epidemiologie soll die Verbreitung der „neuen Volkskrankheit“ behandelt werden. Schließlich werden unterschiedliche Theorien aus der Soziologie, Biologie und Psychologie voneinander unabhängig dargestellt, denen jedoch allen ein Bezug zum Phänomen Stress gemein ist. Heute sieht man die Ursachen einer Depression in einem multifaktoriellen Geschehen, bei dem sich ungünstige biologische, psychologische und soziale Faktoren wechselseitig beeinflussen. Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit Hilfen für Depressive. Ein typisches Merkmal der Sozialen Arbeit ist ihre Bereitschaft, mit anderen Professionen zu kommunizieren und interdisziplinär zu arbeiten. 4 Einleitung Dies bedarf auch der Kompetenz, die Fachterminologie angrenzender Professionen zu verstehen und sprechen zu können. Daher beginnt der zweite Teil der Arbeit mit aktuell angewandten Therapieformen, die der Behandlung von Depressionen dienen. Nach der medikamentösen Behandlung, der Schlafentzug- Wachtherapie und weiteren biologischen Behandlungsverfahren, werden tiefenpsychologische Verfahren und die interpersonelle Therapie dargestellt. Besondere Aufmerksamkeit wird der kognitiven Verhaltenstherapie gewidmet, da einzelne Aspekte auch wertvolle Anregungen für die sozialpädagogische Praxis liefern. Die Kapitel Beratung und Begleitung im nächsten Abschnitt der Arbeit nehmen Bezug darauf. Zusammen mit der Krisenintervention, der Angehörigenarbeit und der Soziotherapie bilden sie eine Auswahl an Unterstützungsmöglichkeiten aus der Vielzahl sozialpädagogischer Hilfen und Methoden und werden im Rahmen einer Bestandsaufnahme beschrieben. Da Beratung eine klassische Methode der Einzelfallhilfe darstellt, wird sie zu Anfang erläutert. Dabei soll speziell auf die Beratungssituation mit depressiven Klienten eingegangen und Unterschiede und Ähnlichkeiten zur Psychotherapie diskutiert werden. Bei depressiven Klienten kann es außerdem zu krisenhaften Zuspitzungen kommen. Mit der Intervention bei Krisen beschäftigt sich der folgende Abschnitt. Im Anschluss wird auf die Begleitung Depressiver eingegangen, die in manchen Fällen die einzige Möglichkeit der Intervention darstellt, mit der der Betroffene erreicht werden kann. Soziale Arbeit unterstützt nicht nur den Betroffenen, sondern bezieht auch seine Umwelt mit ein. Aus diesem Grund wird weiter die besondere Situation der Angehörigen Depressiver beleuchtet. Im Rahmen des Kapitels über Angehörigenarbeit, soll auch auf Projekte eingegangen werden, die speziell für die Kinder Depressiver konzipiert und von präventivem Charakter sind. Schließlich soll die Soziotherapie erläutert werden, die in der gängigen Literatur zu Depressionen immer wieder in verschiedenen Bedeutungszusammenhängen erwähnt wird. Die Bestandsaufnahme sozialpädagogischer Unterstützung wird in einem anschließenden Überblick über gemeinde-integrierte und stationäre Angebote fortgeführt. Dabei sollen sozialpädagogische und medizinische Einrichtungen des Versorgungssystems für Depressive dargestellt werden. 5 Einleitung Zudem wird auf zwei wesentliche Probleme in der derzeitigen Versorgungssituation aufmerksam gemacht. Zum einen soll dargelegt werden, weshalb trotz der Vielzahl der Angebote aus dem Sozial- und Gesundheitswesen eine kontinuierliche Behandlung und Betreuung Depressiver nicht gewährleistet ist. Zudem sollen Versäumnisse in der Prävention diskutiert werden. Dabei stellt sich auch die Frage, inwieweit eine Depressionsprävention, auch im Hinblick auf subklinische Formen depressiver Verstimmungen, möglich ist. Weiter setzt sich der letzte Teil der Arbeit mit der aktuellen gesundheitspolitischen Entwicklung auseinander und zeigt Perspektiven auf. In einem Exkurs soll auf die gesundheitsökonomische Relevanz von Depressionen aufmerksam gemacht werden, die die Dringlichkeit neuer Wege in der Versorgungssituation Depressiver unterstreicht. Um diesen Problemen zu begegnen, hat es sich das Kompetenznetz „Depression, Suizidalität“ zur Aufgabe gemacht, die Situation depressiver Menschen zu verbessern. Dies geschieht vor allem durch eine Vernetzung unterschiedlichster Einrichtungen und durch Präventionsmaßnahmen. Nach der Darstellung dieses Projektes soll erörtert werden, inwiefern pathogentisch orientierte Handlungsansätze bei depressiven Verstimmungen und Depressionen an ihre Grenzen stoßen. Schließlich wird der salutogene Ansatz mit seiner engen Korrelation zur Sozialen Arbeit vorgestellt und im Hinblick auf die Umsetzung in der Praxis betrachtet. Aus Gründen der Lesbarkeit wird in dieser Arbeit für den Sozialpädagogen, den Klienten usw. die männliche Wortform verwendet. Selbstverständlich ist sowohl die männliche als auch die weibliche Form damit gemeint. 6 1. Melancholie- ein gesellschaftshistorischer Begriff I. DEPRESSIVE VERSTIMMUNG UND DEPRESSION 1. Melancholie- ein gesellschaftshistorischer Begriff Der historische Depressionsbegriff „der Melancholie“ wurde bereits in der Antike durch den griechischen Arzt HIPPOKRATES (460- 377 v.Chr.) geprägt. Dies zeigt, dass Menschen in allen Zeiten, Kulturen und Gesellschaftsformen von Depressionen begleitet wurden.1 FAUST stellt fest, dass depressive Menschen heute, den damals als Melancholikern bezeichneten Depressiven und den Depressiven noch vor 50 Jahren vieles voraushaben: sie sind, außer einem Rückhalt durch Familie und Freunde, nicht mehr auf sich alleine gestellt. Der enorme Wissenszuwachs der Erkrankung in den letzten Jahrzehnten führte dazu, dass den Betroffenen wirksame Hilfen zur Verfügung stehen, um ihr Leiden zu mildern.2 Dazu gehören Medikamente, Psychotherapie und die Unterstützung erkrankter Menschen unter sozialen Gesichtspunkten. Auf letzterer soll der Fokus dieser Arbeit liegen. Soziale Arbeit im Allgemeinen beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Prozessen und findet den Klienten in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext vor. Die Lebenswelt des Melancholikers veränderte sich gesellschaftsgeschichtlich entsprechend des vorherrschenden Zeitgeistes. VELTIN erklärt, dass die Verknüpfung einer psychischen Störung eines Individuums mit seinem gesellschaftlichen Umfeld nicht nur in der Lebens- und Krankheitsgeschichte des Betroffenen deutlich wird, sondern auch in der Art und Weise, wie die Gesellschaft auf den kranken Menschen reagiert.3 Aus psychohistorischer Perspektive ist das Bild des Melancholikers einem Wandel von der Idealisierung hin zur Stigmatisierung unterworfen. Auf eine globale Darstellung des gesellschaftshistorischen Verständnisses von Depressionen wird im Rahmen dieser Arbeitet verzichtet, hingegen sollen vielmehr charakteristische Tendenzen skizziert werden. 1 Vgl. Földenyi, Laszlo: Melancholie. München: 1988, S, 62 Vgl. Faust, Volker: Depressionsfibel. Stuttgart, New York: 1995, S. 81 3 Vgl. Veltin, Alexander: „Sozialpsychiatrie- ein mehrdeutiger Begriff.“ jetzt will ich´s wissen. Rat und Hilfe für Angehörige psychisch Kranker. Hg. Heinz Deger- Erlenmeier, E. Titze u. K. Walter. Bonn: 1997, S. 77 2 7 1. Melancholie- ein gesellschaftshistorischer Begriff Nach FÖLDENYI führt HIPPOKRATES die andauernde Niedergeschlagenheit im Rahmen der humoralpathologischen Säftelehre auf körperliche Ursachen zurück. Er geht davon aus, dass sich die Galle schwarz verfärben kann. Mischt sich diese schwarze Galle (melaina chole) mit den anderen Säften des Körpers so, dass sie Dominanz erlangt, vergiftet sie das Blut. Dieses wiederum ist die Wiege der Vernunft und des Geistes, so HIPPOKRATES. Nicht die schwarze Galle alleine ist demnach bereits eine Krankheit. Erst das schlechte Mischungsverhältnis macht den Menschen zum Melancholiker, bei dem sich die körperliche Verfassung mit Angst und Niedergeschlagenheit vereint. Diesen Zustand bezeichnet er als „Schwarzgalligkeit“.4 Der Philosoph ARISTOTELES (384 - 322 v. Chr.) geht über den Grundgedanken Hippokrates´ hinaus und schreibt dem Melancholiker herausragende Fähigkeiten zu.5 Mit dem vielzitierten Satz aus „Problemata Physica“: „Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?“, wird erstmals die dialektische Sichtweise der Melancholie deutlich. Genialität und Melancholie werden in einen 6 metaphorischen Zusammenhang gebracht. Sogar hellseherische Fähigkeiten würden demnach durch die Melancholie begünstigt.7 Die hippokratische Jahrhundert. Wie Theorie der schwarzen Galle dominiert bis weit ins 18. BENJAMIN beschreibt, spricht selbst noch Kant von „...Eingebungen, Erscheinungen...bedeutenden Träumen...und Wunderzeichen.“8 Ein zweiter Entwicklungsstrang der Spätantike beginnt mit kosmologischen Spekulationen. Nach BÖHME wird mit der astralmedizinischen Temperamentenlehre den Säften je ein Temperament und schließlich auch Gestirne zugeordnet. Der Saturn gilt als Unglücksgestirn und Regent der schwarzen Galle.9 Um es mit den Worten von BÖHME auszudrücken: „(...) setzte im Mittelalter (...) die negative Bewertung der Melancholie ein“. Der dem Einfluss des Saturns unterworfene Melancholiker wird nach der vorherrschenden christlichen Lehrmeinung zum Sünder. 4 Vgl. Földenyi: Melancholie. a. a. O. , S. 62 Vgl. ebd. , S.16ff 6 Vgl. ebd. , S.14 7 Vgl. Benjamin, Walter: „Exkurs über die Melancholie.“ Melancholie oder vom Glück, unglücklich zu sein. Ein Lesebuch. Hg. Peter Sillem. München: 1997, S. 191 8 ebd. , S. 191 9 Vgl. Böhme, Hartmut: „Kritik der Melancholie und Melancholie der Kritik.“ Natur und Subjekt. Frankfurt am Main: 1988, o. S. 5 8 1. Melancholie- ein gesellschaftshistorischer Begriff Damit bezeichnet er einen in allen Gesellschaftsformen wiederkehrenden Abwehrmechanismus. Trauer und Stumpfsinn werden als Revolte gegenüber Gott, zumindest aber gegen die geltenden Normen und Werte der religiösen Gesellschaft verstanden. Dass der Melancholiker zudem über Intellekt verfügt, macht ihn wenn nicht potentiell gefährlich, so doch zumindest verdächtig, da dieser zu gesellschaftskritischem Denken und Handeln befähigt. Vom leidenden, außergewöhnlichen Intellektuellen wird er zum Außenseiter gemacht und vom sozialen Mitgefühl ausgeschlossen. Die Melancholie wird zur Todsünde „Acedia“ (Trägheit) erklärt. BÖHME vertritt die Auffassung, dass die Melancholie im 18. Jahrhundert die Gesellschaft spaltet. Diejenigen, die zu religiös, zu abergläubisch, zu phantastisch und zu enthusiastisch sind, also den Zielen der Vernunft und humanen Moral nicht entsprechen, werden als Melancholiker bezeichnet und gelten als Gegner der Aufklärung. Die bürgerliche Aufklärung stellt Melancholie und Vernunft einander diametral entgegengesetzt gegenüber. Alle Negativstereotypen, wie z.B. Hochmut, List, Argwohn, werden auf den Melancholiker projiziert. Gleichzeitig nehmen in der bürgerlichen Gesellschaft die Neurosen zu. Hysterie und Hypochondrie häufen sich analog zum Übergang von der Humoralpathologie zur Naturwissenschaft. Mit letztgenannter ist jetzt auch gleichzeitig die Möglichkeit gegeben, die „melancholia nervosa“ medizinisch zu erklären. Der ältere Begriff der Melancholie, der versucht, ihr Wesen umfassend zu beschreiben, weicht dem Begriff der Depression als Bezeichnung für eine spezifische Erkrankung. Die Tatsache, dass um 1900 die ersten großen psychiatrischen Kliniken errichtet wurden, erklärt BÖHME als Versuch, zur Abwehr der gesellschaftlichen Angst vor dem Wahnsinn, die sie selbst hervorbringt.10 In den damaligen „Irrenanstalten“ lebten hauptsächlich schwer Erkrankte. Daher prägten primär die schweren Formen das Bild der Depressionen. Unter diesem Einfluss entwickelte der Münchner Psychiater und Anstaltsdirektor EMIL KRAEPELIN das zum Teil heute noch gültige Klassifikationssystem psychischer Störungen.11 10 Vgl. Böhme: „Kritik der Melancholie und Melancholie der Kritik.“ a.a.O., o. S. Vgl. Hell, Daniel: Welchen Sinn macht Depression? Ein integrativer Ansatz. Reinbek bei Hamburg: 1992, S. 26f 11 9 2. Abgrenzung der Depression zu Stimmungstiefs und Trauer 2. Abgrenzung der Depression zu Stimmungstiefs und Trauer Allgemein wird unter einer Depression ein Zustand von Traurigkeit, Enttäuschung und Niedergeschlagenheit verstanden. Der Terminus „Depression“ wird in den letzten Jahren deprimierendes populärwissenschaftlich Erlebnis oder Buch, geradezu das inflationär depressiv verwandt. stimmende, Ein triste Novemberwetter, die Wirtschaft, die sich in einer Depression befindet: der Name einer ernsten Erkrankung hat sich im heutigen Sprachgebrauch als Modewort etablieren können. Die Erfahrung, hin und wieder einen „depressiven Tag“ zu haben, ist Menschen gemein. In der Regel handelt es sich hierbei jedoch um ein Stimmungstief, das von äußeren Einflüssen abhängig ist, wie beispielsweise negativen zwischenmenschlichen Erfahrungen oder beruflichem Stress. Auch unser momentaner körperlicher Zustand, sei es körperliche Übermüdung oder mangelnde Fitness, nehmen Einfluss auf unsere Stimmung. Diese Befindlichkeitsstörungen sind Varianten menschlichen Erlebens und gehören ebenso wie positive Gefühle zu unserer emotionalen Grundausstattung. Fachleute sprechen hier von der Schwingungsfähigkeit zwischen positiven und negativen Gefühlen hin und her zu pendeln. Diese Fähigkeit macht unsere emotionale Gesundheit aus.1 Stimmungen dauern beschränkt an. Durch angenehme Ereignisse lösen sich Stimmungstiefs wieder auf und weichen anderen Gefühlen, sodass notwendige Lebensbedürfnisse befriedigt werden können.2 Eine Verstimmung ist deutlich von einer psychiatrischen Erkrankung abzugrenzen und bedarf keiner professionellen Behandlung.3 Das FORUM FÜR SEELISCHE GESUNDHEIT ist ein gemeinnütziger Verein namhafter Forscher und Klinikleiter, der zum Ziel hat, die Integration seelisch erkrankter Patienten zu fördern. Der Verein fügt hierzu an, dass die hinter der Verstimmung stehenden Lebensprobleme, wie z.B. finanzielle, familiäre, partnerschaftliche oder berufliche Schwierigkeiten sowie Stress oder Mobbingerfahrungen durchaus so belastend sein können, dass der Einzelne sich nicht mehr selbst helfen kann und Unterstützung benötigt. 1 Vgl. Niklewski, Günther u. Riecke- Niklewski, Rose: Depressionen überwinden. Hg. Stiftung Warentest. Berlin: 2003, S. 23ff 2 Vgl. Dinner, Pierre: Depression. 100 Fragen 100 Antworten. Hintergründe- Erscheinung- Therapie. Bern: 2005, S. 14 3 Vgl. Niklewski u. Riecke- Niklewski: Depressionen überwinden. a. a. O. , S. 23ff 10