Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch Vorlesung 14 ♦ Evolution der Evolutionstheorie − Die Erweiterte Synthese. Wie gesehen, ist das Evolutionstheoriegebäude nach Darwin und aber auch nach der Modernen Synthese in vielen Teilaspekten erweitert und ausgebaut worden: Das „punctuated equilibrium“, die Neutralitätstheorie der molekularen Evolution, Konzepte zur sexuellen Selektion, die Verwandtenselektion oder auch die ganz „krasse“ genozentrische Sichtweise Dawkins standen dabei mehr oder weniger im Einklang oder in Folge des Gedankenguts der (orthodoxen) Synthese (s.o.). Eine Erweiterung der Synthese, die z.T. auch deutlich veränderte Sichtweisen beinhaltet, wird seit 2010 als Erweiterte Synthese („extended synthesis“) bezeichnet (s.u.). Die Erweiterte Synthese integriert dabei insbesondere aktuellere Erkenntnisse der evolutionären Entwicklungsbiologie (Evo-Devo). ♦ Evolutionäre Entwicklungsbiologie. Evo-Devo („evolutionary developmental biology“): Analyse von individuellen (embryonalen) Entwicklungsprozessen, insbesondere mit Fragestellungen nach a) Herkunft und Evolution (embryonaler) Entwicklung, b) Änderungen von Entwicklungsprozessen im Zusammenhang mit innovativen Merkmalen, c) Bedeutung von Entwicklungsplastizität für die Evolution, d) Einfluss von (direkten) Umwelteinflüssen auf Entwicklung und damit verbunden auch auf evolutionären Wandel, d) Grundlagen von Homologien und Analogien. Zentral ist, dass Evo-Devo phänotypische Variationen nicht nur durch Mutationen, sondern auch durch veränderte Entwicklungsabläufe erklärt, die auch direkt von der Umwelt beeinflusst sein können. Dadurch ergeben sich z.T. auch Erklärungsansätze für die Möglichkeit eines größeren evolutionären Wandels in kürzeren (geologischen) Zeiträumen. (Zum Thema „Homologie“ hier noch der Titel des erwähnten, sehr empfehlenswerten, aktuellen Buch eines bedeutenden Evo-Devo-Pioniers: Günter P. Wagner. Homology, Genes, and Evolutionary Innovation.) ♦ Embryonalentwicklung & Evolution − Vorgeschichte. Anklänge an die evolutionäre Entwicklungsbiologie finden sich bereits bei Darwin, der wohl auch der Embryonalentwicklung eine Bedeutung für die Evolution beimaß. Insbesondere wurden solche Zusammenhänge aber 1866 von einem Zeitgenossen Darwins, dem deutschen Zoologen Ernst Haeckel (1834–1914) mit seiner Biogenetischen Grundregel bzw. -gesetz (Rekapitulationstheorie) formuliert: Die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese. Haeckel versuchte anhand der Ontogenie, die Phylogenie – beide Begriffe gehen auf ihn zurück (1866) – zu rekonstruieren. Dieses „Grundgesetz“ gilt in reinster Form als überholt, was auch wohl Haeckel schon seinerzeit bewusst war. Ob er nun wirklich regelrecht gefälscht hat, weil er für ähnliche frühe Embryonalstadien von Schildkröte, Huhn und Hund nur eine einzige Druckvorlage für eine Veröffentlichung verwendet hat, ist uns einfach mal egal, oder? Entscheidend ist in unserem Zusammenhang vielmehr, dass Haeckel ein bedeutender Verfechter und Popularisierer der Darwinschen Evolutionstheorie in Deutschland war. (Berühmt ist seine Buchreihe „Kunstformen der Natur“ (1899–1904) mit zahlreichen „unfassbaren“ Abbildungen von Organismen, von denen insbesondere die Darstellungen von Radiolarien sehr bemerkenswert sind: http://caliban.mpiz-koeln.mpg.de/haeckel/kunstformen/natur.html.) In gewisser Weise ein Vorläufer Haeckels war der deutsch-baltische Naturforscher Karl von Baer (1792–1876), der bereits 1828 sein „Gesetz der Embryonenähnlichkeit“ veröffentlicht: Je jünger die Embryonen von verschiedenen Wirbeltieren sind, desto ähnlicher sind sie sich. (Von Baer war übrigens der Entdecker der menschlichen Eizelle.) Darauf aufbauend entwickelte sich gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die vergleichende Embryologie: Der Vergleich von Embryogenese hatte hier insbesondere eine große Bedeutung für die Homologisierung von Tierkörperbauplänen. ♦ Moderne Synthese & Entwicklung. Bei der Etablierung der Modernen Synthese (1930er und -40er Jahre), die ja insbesondere von der Populationsgenetik (s.o.) „dominiert“ wurde, spielte die Entwicklungsbiologie faktisch keine Rolle. Eher im Gegenteil: Frühe Beobachtungen von epigenetischen Phänomenen (s.u.) widersprachen (scheinbar) dem zentralen neodarwinistischen Dogma, dass die Umwelt generell keinen Einfluss auf den Genotyp haben kann (Weismann-Barriere, s.o.). Das „Hopeful-Monster“-Konzept (1940) des deutschen Genetikers Richard Goldschmidt (1878−1958) besagt, dass kleine Mutationen unter Umständen zu großen phänotypischen Effekten führen können: "a single mutational step affecting the right process at the right moment can accomplish everything, providing that it is able to set in motion the ever-present potentialities of embryonic regulation“. So etwas hatte ebenfalls „keinen Platz“ in der Synthese, da dies nicht mit dem (Neo)Darwin'schen Grundprinzip des Gradualismus vereinbar erschien. Goldschmidt hat übrigens in Heidelberg studiert, anschließend seine „Diss.“ in München angefertigt und wurde dann 1902 in Heidelberg beim Zoologen Otto Bütschli (1848−1920) – der etwas „finstere Typ“ vor dem großen Hörsaal in INF 230 – promoviert. 1 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch ♦ Epigenetik − Epigenese. Generell bedeutet Epigenetik durch Mitosen und/oder Meiosen vererbbare Veränderungen von Genregulation bzw. - expression, die nicht auf Sequenzveränderungen der DNA beruhen. Bisher bekannte DNA-Modifikationen, die so etwas bewirken können, sind DNAMethylierungen und stabile Chromatinveränderungen, die bewirken, dass DNA-Bereiche gleichsam ausgeschaltet werden. Grundsätzlich können solche Prägungen − und das ist das Interessante in unserem Zusammenhang − auch durch äußere Umwelteinflüsse bedingt sein. Einerseits kann es also (über meiotische Gametenproduktion) zu epigenetischer Vererbung von Mutter zu Nachkomme kommen, was letztlich in gewisser Weise eine „soft inheritance“ (s.o.), zumindest für eine bzw. wenige Generationen, bedeuten kann. Einen „echten dauerhaften“ Lamarckismus bedeutet das also nicht! (Bei Lamarck ging es ja zudem eigentlich auch um Gewohnheitsänderungen.) Für epigenetische Prägungen existieren mittlerweile zahlreiche Beispiele aus dem gesamten Organismenreich. Auch zur Zeit der Etablierung der Synthese waren solche Effekte wohl auch schon bekannt, wurden aber „ignoriert“ (s.o.). Inwieweit solche epigenetischen Vererbungseffekte tatsächlich auch eine Bedeutung für Evolution haben, ist derzeit noch unklar, aber wohl naheliegend. Andererseits spielen solche „Zusatzinformationen“ eine Rolle bei den (mitotischen) Zellteilungen im Rahmen der ontogenetischen Entwicklung. Da es bei Evo-Devo um die (embryonale) Entwicklung eines Organismus bzw. generell um die Erklärung der Evolution von „Form“ geht, wird der Begriff Epigenetik hier (meist) in diesem zweiten Zusammenhang verwendet. Um zu verdeutlichen, dass es um nur diese „Art“ der Epigenetik geht, wird dann auch z.T. der Begriff Epigenese verwendet: Es geht dann ganz generell um das koordinierte Zusammenwirken von Genom, Zellen und Geweben und auch Umwelt bei der Entwicklung. Eine Betrachtungsweise, die der britische Biologe und Philosoph Conrad Hal Waddington (1905–1975) − gleichsam als ein Evo-Evo-Vorläufer − bereits in den 1940er Jahren vorwegnahm: Er legte dar, dass durch ein Zusammenspiel von Genetik und Epigenetik der „normale“ Phänotyp möglicherweise auch trotz vorhandener Mutationen oder veränderten äußeren Umwelteinflüssen gebildet werden kann (Kanalisierung). Der Genotyp ist „gepuffert“, insbesondere weil meist viele Gene an der Ausprägung von Merkmalen beteiligt sind: Waddington 1942. Canalization of development and the inheritance of acquired characters. Nature, 150: 563−565. Waddington entwickelte − hierauf aufbauend − folgendes Modell für eine mögliche evolutionäre Entstehung eines Merkmals: Zunächst verursacht ein Umweltfaktor durch direkte Veränderung der Entwicklung die Ausbildung eines bestimmten (adaptiven) Merkmals. Das Merkmal selber wird nicht vererbt, aber eben die Fähigkeit des Zusammenspiels zwischen Umwelt und Genen. Auf den Genotyp, der dieses vollbringen kann, wird dann selektiert, wenn der äußere Umwelteinfluss bestehen bleibt. Möglicherweise kann es im Rahmen dieser natürlichen Selektion auf den umweltinduzierten Phänotypen dann auch parallel zu einer genetischen Assimilation kommen, die letztlich dazu führt, dass der Phänotyp nun auch ohne äußeren Stimulus erzeugt wird. Waddington lieferte experimentelle Hinweise für dieses Modell: Die Aderung von Fliegenflügeln änderte sich nach Hitzeschockbehandlung von Fliegeneiern. In späteren Generationen zeigten sich diese Veränderungen z.T. auch ohne vorherige Behandlung: Waddington 1953. Genetic Assimilation of an Acquired Character. Evolution. 7, 118−126. Ähnliche Ergebnisse ergaben sich bei aktuelleren Experimenten zu induzierten Farbvariationen von Raupen (Suzuki & Nijhout 2006). Ob dies Modell eine wirkliche Bedeutung für die Evolution hat(te) ist unklar. ♦ Constraints. Constraints (Zwänge) auf Evolution bezogen: Evolution, in durch Physik, Morphologie oder Phylogenie vorgegebenen Schranken. Auf Entwicklung bezogen: Epigenetische Mechanismen, die verhindern, dass „unerwünschte“ Bauplanabweichungen auftreten (vgl. Kanalisierung). Das Konzept der Constraints geht bereits auf Veröffentlichungen von Ende der 1970er und der 1980er zurück (S.J. Gould). ♦ Heterochronie. Heterochronie bedeutet eine zeitliche Verschiebung von Entwicklungsprozessen, die zu deutlich veränderten Phänotypen führen können und somit (neben anderen) eine mögliche Erklärung sein können, wie Variation entsteht. Heterochronie führt z.T. zur Erhaltung juveniler Merkmale, z.B. in Form von Neotenie (Verzögerung der somatischen Entwicklung): Der (das) bekannte Axolotl (Ambystoma mexicanum, Schwanzlurch) aus Mexiko, pflanzt sich als „Dauerlarve“ fort. Krautige Pflanzen sind evtl. nur juvenil gebliebene Holzgewächse. Die These einer Bedeutung von Heterochronie für die Evolution wurde bereits in den 1950er Jahren diskutiert, die wirkliche Bedeutung für die Evolution ist noch unklar, aber naheliegend. ♦ Entdeckung der Hox-Gene − Beginn von Evo-Devo. Die Betrachtung der ontogenetischen Entwicklung im Kontext der Evolution wurde zunächst als evolutionäre Embryologie bezeichnet, 1996 wurde dafür dann der Begriff der evolutionären Entwicklungsbiologie (Evo-Devo) geprägt, der sich anschließend durchsetzte. Evo-Devo im heutigen Sinne begann 1983 mit der Entdeckung der 2 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch Hox-Gene, deren Genprodukte Ontogenie-steuernde Transkriptionsfaktoren sind und für die Identität von Tierkörpersegmenten zuständig sind sog. homöotische Gene (griech. Umwandlung). Eine bestimmte Mutation eines solchen (Steuer)Gens (Master-Kontrollgen) führt z.B. bei Drosophila zur Ausbildung von Beinen am Kopf, anstelle von Antennen (Antennapedia-Mutante). Solch eine Fehlbildung wird auch als Homöosis bezeichnet. Die Hox-Gene weisen eine Homöobox (ca. 180 Basenpaare) auf, die für einen Proteinteil kodiert, der an DNA binden kann und damit letztlich Gene an- bzw. ausschalten kann. (Die Box selber bindet unspezifisch, die Spezifität ist durch andere Bereiche des Transkriptionsfaktors bedingt.) Der unterdessen erfolgte Nachweis von homologen HoxGenen in fast allen Tierstämmen der Metazoen (nicht in Schwämmen und Rippenquallen) war gleichsam eine „revolutionäre“ Erkenntnis: Es gibt hier also offenbar eine sehr alte (Kambrium: 542– 488 Mio. Jahre) Entwicklungsverwandtschaft „aller“ (rezenten) Tierbaupläne, die während der kambrischen Radiation entstanden („deep homology“). (Andere) Gene mit Homöoboxen wurden sogar in Hefen und auch Pflanzen entdeckt, was stark vermuten lässt, dass die Homöodomäne bereits schon bei frühen Eukaryoten vorhanden war. Die Evolution des Entwicklungsgenoms ist zurzeit wohl der beliebteste Forschungszweig innerhalb von Evo-Devo. ♦ Homöotische Gene bei Pflanzen. Ubiquitär in Eukaryoten findet man DNA-bindende Transkriptionsfaktoren mit sogenannten MADS-Boxen (ca. 170 Basenpaare). Bei Tieren kommen nur wenige dieser Gene vor, bei Blütenpflanzen sind aber etwa 100 wichtige Kontrollgene MADS-BoxGene, von denen einige homöotische Funktionen (s.o.) haben. Hierher gehören z.B. die bekannten Blütenorganidentitätsgene (ABC-Modell der Blütenentwicklung). Eine Änderung im homöotischen Gen CYCLOIDEA, einem Transkriptionsfaktor in Meristemen, führte mehrmals unabhängig voneinander zur Evolution von zygomorphen Blüten. (Das Akronym MADS leitet sich aus Gennamen ab, in denen die MADS-Box zuerst gefunden wurde: MCM1 in Saccharomyces cerevisiae, AGAMOUS in Arabidopsis thaliana, DEFICIENS in Antirrhinum majus, SRFH in Homo sapiens.) ♦ “Survival of the fittest” − „Arrival of the fittest“. Der Schwerpunkt des Artenbuchs lag auf der natürlichen Selektion als Evolutionsfaktor, der adaptive Evolution erklären kann („survival of the fittest“). In Darwins Konzept spielt die Variation einerseits eine entscheidende Rolle, die er aber andererseits mehr oder weniger als gegeben ansieht. Diesen „Schwachpunkt” formulierte Hugo DeVries (s.o.) 1904 in seinem Buch „Species and Varieties: Their Origin by Mutation” – in einem von J. Arthur Harris übernommenen Zitat – klangvoll so: “Natural selection may explain the survival of the fittest, but it cannot explain the arrival of the fittest.” Die neodarwinistische Synthese hatte ihren theoretischen Schwerpunkt auf der Dynamik von Allelen, Individuen und Populationen. Die dafür notwendigen Variationen hatten ihre Ursache dabei in einzelnen (vererbbaren) Mutationen (und durch Rekombination). Evo-Devo bietet nun weitere kausal-mechanistische Ursachen für die Entstehung von Variation an, auf welche die natürliche Selektion (und die genetische Drift) wirken kann: Epigenese, Heterochronie, geringe genetische Veränderungen von Schaltergenen mit großen Auswirkungen auf Baupläne (s.o.). Das impliziert insbesondere auch die Möglichkeit, dass größere Bauplanänderungen und neue Merkmale auch in (geologisch) sehr kurzer Zeit entstehen können, was im Gegensatz zu einem „strengen Gradualismus“ der Modernen Synthese steht. Für Evo-Devo sind Genome modular und dynamisch und gleichzeitig, durch konservative Entwicklungsgene, robust und Epigenese spielt eine entscheidende Rolle. ♦ Altenberg-16. Im Juli 2008 traf sich eine Gruppe von 16 internationalen Evolutionsbiologen aus verschiedensten Fachgebieten in Altenberg (Österreich) zu einem Symposium mit der Zielsetzung, die Synthetische Evolutionstheorie insbesondere um aktuellere Evo-Devo-Aspekte zu erweitern. (Diese Gruppe von Wissenschaftlern wurde von einer Journalistin als die „Altenberg-16“ bezeichnet, die sich zu einem „Woodstock of Evolution?“ trafen.) In Anlehnung an das epochale Buch Huxleys „Evolution − The Modern Synthesis“ von 1942 erschienen die Beiträge der Altenberg-Tagung dann 2010 als Buch mit dem Titel „Evolution − The Extended Synthesis“ (Pigliucci & Müller). ♦ Darwins Erbe im Umbau. Evo-Devo und die Erweiterte Synthese haben (sehr) viele Aspekte, von denen nur einige „brutal“ knapp angesprochen wurden (s.o.), bzw. werden (s.u.). Das 2012 erschienene, empfehlenswerte populärwissenschaftliche Buch von Axel Lange mit dem Titel „Darwins Erbe im Umbau − Die Säulen der Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie“ gibt einen guten Überblick über das gesamte Thema. Der Autor bietet am Ende seines Buchs drei unterschiedlich lange Zusammenfassungen an. Hier als Zitat die kürzeste in zwei Punkten: „Nach Darwin ist die natürliche Selektion der Motor der Evolution. Sie wählt aus geringfügigen Variationen bei der Vererbung die für die Reproduktion fittesten Individuen der Population aus (Survival of the Fittest). Die Population passt sich an. Aus Sicht von EvoDevo erzeugt die embryonale Entwicklung selbstregulierend spontane Variation (arrival of the fittest). Die Selektion wirkt auf diese 3 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch Variationsformen und wählt die fittesten Individuen unter ihnen aus. Die Population passt sich an.“ (der Tippfehler im Buch ist hier korrigiert). Es gibt dort auch noch Zusammenfassungen mit vier bzw. mit 30 Punkten. ♦ Die Erweiterte Synthese. Wichtige Punkte (Auswahl) der Erweiterten Synthese − mehr oder weniger direkt aus dem „Umbau“ (s.o.) übernommen − die neben Evo-Devo-Aspekten auch andere postsynthetische Ansätze integriert: Die natürliche Selektion wirkt auf verschiedenen Ebenen (MultilevelSelektion, 1990er, s.o.). Adaptionismus sollte nicht „übertrieben“ werden: Nicht jede phänotypische Eigenschaft ist das Ergebnis von aktueller (!) Selektion, Eigenschaften können auch Erbe früherer Selektion sein, deren Drücke heute nicht mehr aktuell sind.(Gezeigtes Video zu solchen sogenannten Anachronismen: http://www.youtube.com/watch?v=A-kYjjphxJY.) Die Selektion wirkt nicht konstant gleich stark („punk eek“, 1971, s.o.). Die Allgemeingültigkeit folgender Annahmen der Synthese ist überholt: a) strenger Gradualismus, b) keine vererbbare Beeinflussbarkeit der Geschlechtszellen durch die Umwelt. Die embryonale Entwicklung spielte für die Synthese in der Evolution faktisch „keine“ Rolle, steht jetzt aber insbesondere im Fokus einer kausalen Evolutionsforschung. Morphologische Form und Körperbaupläne entstehen nicht primär durch die externe natürliche Selektion, sondern durch systemimmanente, spontane, sich selbstregulierende Vorgänge während der Embryonalentwicklung. Umwelteinflüsse können bleibende Veränderungen von Entwicklungsprozessen bewirken. Evo-Devo erklärt Evolution z.T. mit früher nicht-bekannten kausalmechanistischen Änderungen des Gesamt(!)systems „Entwicklung“. Körperbaupläne sind nicht detailliert im Genom fixiert, sondern bedürfen zur „richtigen“ Ausprägung entsprechende zelluläre und – das war aber den Modernen Synthetikern auch bereits schon klar – äußere Umwelteinflüsse. Körperbaupläne werden in der Entwicklung modular gestaltet (Kombinationen der Expressionen von Schaltergenen). Die Bedeutung des „blinden“ Zufalls für Merkmalsevolution wird relativiert und mehr oder weniger ersetzt durch erklärbare genetische/epigenetische Mechanismen der Selbstregulation. Das genozentrische Denken sensu Dawkins gilt als überholt, weil zu reduktionistisch („Postgenozentrik“). Theorie der Nischenkonstruktion: Arten wirken auf die Umwelt ein, die somit prinzipiell ihre eigene Evolution beeinflussen können. Bedeutende Systemwechsel in der Evolution entstanden möglicherweise „nicht darwinistisch“: Entstehung der Eukaryoten durch Endosymbiose, Entwicklung der Metazoen durch rein physikalische Phänomene (z.B. Adhäsion, „dynamic-patterningmodules“-Theorie). Die heutigen Körperbaupläne des Tierreichs sind möglicherweise ebenfalls nicht primär durch Selektion entstanden. ♦ Keine Atempause – Geschichte wird gemacht, es geht voran! Der holistische Ansatz einer solchen Erweiterten Synthese hat die Evolutionstheorie sicherlich entscheidend erweitert und vorangebracht. „Brandneue“ Evo-Devo-Sichten werden von den Akteuren z.T. aber manchmal einer nur sehr „eindimensional“ wiedergegebenen Modernen Synthese gegenübergestellt. (Aus didaktischen Gründen „geht das natürlich voll in Ordnung“.) In der „Modern Synthesis“ von 1942 findet man z.B. aber eben durchaus auch schon Aussagen, wie diese: „ … :characters as such are not and cannot be inherited. For a character is always the joint product of a particular genetic composition and a particular set of environmental circumstances", "Nor will general organization and mode of development be without its evolutionary consequences." oder "The simple fact that most genes must act by affecting the rate of developmental processes is reflected in the evolution of vestigal organs, in recapitulation, in neoteny.". Immer wieder interessant: Das Alte im Neuen und das Neue im Alten. ♦ Aufgaben ♦ Lesen Sie den „Altenberg-16-proofed“ Wikipedia-Artikel „Evolutionäre Entwicklungsbiologie“: http://de.wikipedia.org/wiki/Evolution%C3%A4re_Entwicklungsbiologie. ♦ Für den französischen Biologen (und Nobelpreisträger 1965) François Jacob (1920−1913) macht die Evolution gleichsam Bastlerarbeiten („tinkering“, „bricolage“). Im Science-Artikel "Evolution and Tinkering" von 1977 schreibt er: „Natural selection has no analogy with any aspect of human behavior. However, if one wanted to play with a comparison, one would have to say that natural selection does not work as an engineer works. It works like a tinkerer—a tinkerer who does not know exactly what he is going to produce but uses whatever he finds around him whether it be pieces of string, fragments of wood, or old cardboards; in short it works like a tinkerer who uses everything at his disposal to produce some kind of workable object.” Sehen Sie hier einen Bezug zu Evo-Devo-Erkenntnissen? ♦ 4