Tagungsberichte Innensichten. Über Krankheiten der Seele Zu Beginn des Jahres 2014 weckte die Veranstaltungsreihe „Innensichten. Über Krankheiten der Seele“ des Deutschen Hygiene-Museums Dresden in Kooperation mit dem Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden und der Sächsischen Landesärztekammer ein besonders großes Besucherinte­ resse. In einer Reihe von sieben Veranstaltungen kamen Betroffene zu Wort, die ihre Erfahrungen mit der Diagnose einer psychischen Erkrankung und ihren Weg zur Heilung oder zu einem neuen Leben mit der Erkrankung künstlerisch verarbeitet haben. Ihre Erfahrungen stellten sie in ihren Kunstwerken und im Gespräch mit einem Arzt oder Therapeuten vor. Die Veranstaltungen waren mit insgesamt 1.490 Teilnehmern sehr gut besucht. In der Eröffnungsveranstaltung am 9. Januar fragten Prof. Dr. phil. habil. Hans-Ulrich Wittchen, Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden, und Prof. Dr. Dipl.-Psych. Thomas Bock, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum HamburgEppendorf, unter dem Titel „Werden wir alle verrückt?“ nach der Entwicklung und Wahrnehmung psychischer Erkrankungen. Prof. Dr. Wittchen, der seit mehr als zehn Jahren anhand großer Bevölkerungsstudien die Verbreitung psychischer Störungen in Europa verfolgt, beschrieb zunächst die definitorischen und diagnostischen Schwierigkeiten bei der Betrachtung solcher Störungen. So kennt man beim Versuch der Einordnung im Gegensatz zur somatischen Medizin meist nicht die Ursache, sondern nur Verlauf und Eigenschaften. Und auch die mit dem einheitlichen Diagnosesystem (aktuell: DSM 5) erreichte bundesweite Einheitlichkeit bei den Störungsbezeichnungen verhindert nicht, dass eine diagnostizierte psychische Krankheit somit eigentlich 156 Prof. Dr. phil. habil. Hans-Ulrich Wittchen © Oliver Killig Prof. Dr. Dipl.-Psych. Thomas Bock © Oliver Killig nicht mehr ist als das Erfüllen be­­ mit psychischen Störungen deutlich. stimmter wissenschaftlicher Kriterien, Sein Plädoyer galt der Sensibilisiedie sich im Laufe der Zeit auch rung für Abstufungen bei den Stöändern. rungsbildern und einer vorsichtigeDie im Zentrum der ersten Veranstal- ren Zuweisung der Begriffe. tung stehende Frage nach der – Interessant waren zum Ende auch medial oft attestierten – Zunahme die Einblicke in die aktuellen Entpsychischer Störungen beantwortete wicklungen im Umgang mit psychiProf. Dr. Wittchen anhand der aus- schen Erkrankungen. Für Prof. Dr. gewerteten Studien übrigens eher Wittchen sind es vor allem Angebote mit nein. Festzustellen ist aber in der Früh-Intervention, die er für jedem Fall eine gestiegene Wahrneh- immer wichtiger hält. Prof. Dr. Bock mung dafür, die nicht zuletzt aus hingegen machte unter dem Sticheiner höheren Bereitschaft resultiert, wort recovery auf einen Trend aufsich Hilfe zu suchen, und aufgrund merksam, der eine Vorstellung von der besseren Möglichkeiten eine „gesund mit Krankheit“ vertritt und Behandlung zu finden. Prof. Dr. Bock, den Patienten hilft, mit einem Tick der stärker die anthropologische zu leben, anstatt ihn unter stark Dimension psychischer Erkrankun- medikamentöse Behandlung zu setgen im Fokus hat, stimmte dem zen. Auch Angebote wie die „Peergrundsätzlich zu. Doch auch wenn Beratung“, bei der Betroffene andedie eigentlichen Störungen nicht ren Betroffenen helfen, passen in wirklich zunehmen, gab er kritisch diese neue Vorstellung einer sinnvolzu bedenken, dass die Behandlungs- len Behandlung. zunahme eventuell auch durch die Die zweite Veranstaltung hatte am Ärzte ausgelöst wird, die vielfach der 16. Januar eine Lesung mit Gespräch Macht des Marktes unterliegen. zum Thema bipolare Störung zum In seiner für die Diskussion sehr Inhalt. Der Dramaturg und Autor anregenden Funktion als Antipode Sebastian Schlösser las aus seinem zum empirisch-statistisch argumen- Buch „Lieber Matz, dein Papa hat tierenden Dresdner Wissenschaftler, ’ne Meise!“ und diskutierte mit Dr. stellte Prof. Dr. Bock nicht nur die med. Thomas Stamm, Leiter des Sinnhaftigkeit eines Diagnosemanu- Bereichs Bipolare Störungen, Klinik als in Frage, wenn es eine länger als und Poliklinik für Psychiatrie und Psyzwei Wochen andauernde Trauer als chotherapie der Charité-Universitätsneue Krankheit definiert. Mit dem medizin Berlin, über seine ErfahrunHinweis auf das deutliche Mehran- gen mit der Krankheit. gebot an Psychotherapeuten in rei- In der Lesung beeindruckte besonchen Gegenden machte er auch die ders die enorm dynamische Schil­ soziale Komponente beim Umgang derung einer manischen Phase des Ärzteblatt Sachsen 4 / 2014 Tagungsberichte Thea­­ terdramaturgen kurz vor der Pre­miere seines Stücks in Berlin. Im Gegensatz zum eigentlich ernsten Thema der Veranstaltung sorgten die teilweise abstrusen Berichte des selbsterlebten Größenwahns im Publikum durchaus für gute Stimmung. In der Diskussion mit Dr. Stamm kamen dann aber auch die düsteren Aspekte der bipolaren Störung, die ja aus dem Wechsel von manischer Phase und Depression besteht, in den Blick. So weist diese Störung eine der höchsten Mortalitätsraten unter den psychisch Erkrankten auf. Auch die Wahrscheinlichkeit für Blick in den gut gefüllten Zuhörerraum. Rund 1.500 Gäste besuchten die andere – somatische – Erkrankungen Veranstaltungsreihe. © SLÄK ist sehr hoch. Die Diagnosestellung geschieht auch bei bipolaren Störungen rein klinisch, tiven Potenziale in vielen Fällen bes- tiv beschwerdefrei sein Leben mit wobei die Depression leichter ser abrufen können als „Gesunde“. einer festen Arbeit und selbst Autoerkennbar ist als die manische Phase. Am dritten Vortragsabend wurde der fahren in den Griff bekommen hat. Das kann auch zu Fehldiagnosen Film „Zivot heißt Leben“ – Leben mit Die Krankheit kann in jedem Lebensführen, da bei der Ausprägung der der Diagnose Schiziphrenie gezeigt. alter beginnen. Am häufigsten fällt bipolaren Störung II die manische Egal wie die Diagnose lautet, Gesun- die erste akute Krankheitsepisode Phase diskreter verläuft. Die Gefahr dung ist möglich! Ein Mutmacher- aber in die Zeit zwischen 18. und 35. ist dann, dass eine als Depression Film! „Zivot heißt Leben“ ist der Lebensjahr. Männer erkranken im diagnostizierte Krankheit behandelt Abschluss eines sechsjährigen Projek- Durchschnitt etwas früher als Frauen. wird, obwohl eine bipolare Affekt- tes zwischen dem Leipziger Verein Die meisten Ersterkrankungen treten störung vorliegt. „Irrsinnig Menschlich“ und der Pati- bei Männern zwischen 20 und 25 Dr. Stamm machte in diesem Zusam- entenorganisation Integra in Micha- Jahren auf, bei Frauen zwischen 25 menhang deutlich, dass es für den lovce, einer kleinen Stadt im Osten und 30 Jahren. Behandlungserfolg grundlegend sei, der Slowakei. Dort haben beide Part- Unter dem Titel „Sonnengrau. Ich dass Einweisung und Therapie ner die erste internationale Medien- habe Depressionen – Na und?“ ging zwangfrei geschehen. Die medika- werkstatt für Menschen mit psychi- die Veranstaltungsreihe am 30. mentöse Behandlung erster Wahl ist scher Erkrankung aufgebaut. Diese Januar ihrer Suche nach den Innenimmer noch Lithium. Dieses schlägt ganz neue Arbeit ermutigte Milan, sichten psychisch Erkrankter wieder bei etwa einem Drittel der Patienten Martinka, Lubomir, Lenka und Imrich über das Medium Literatur nach. In mit bipolarer Störung I so optimal an, sich zu öffnen und sehr persönliche einer Lesung der freien Journalistin dass Sie sich selbst wie früher fühlen Einblicke in ihr Leben zu geben. und Autorin Tanja Salkowski aus und auch auf ihr Umfeld so wirken. Anstelle finanzieller Mittel ist der ihrem titelgebenden Buch ging es Deutlich machte sich der Berliner innere Reichtum die Ressource der um die eigene Auseinandersetzung Arzt für ambulante Formen der Integration. Weg vom Krankenhaus mit der Diagnose Depression und Behandlung stark. Die stationäre und Heilanstalten, Integration in den ihren Kampf gegen die StigmatisieBehandlung hält er – außer bei Arbeitsprozess, statt Vorwürfe mehr rung und Ausgrenzung von depressiEigen- und Fremdgefährdung – eher Akzeptanz und Mitgefühl sowie An­­ onserkrankten Menschen. Vertieft für ungünstig was die Arzt-Patient- nahmen von Hilfen zum selbstständi- und um medizinisches Fachwissen Beziehung und die angestrebte Wie- gen Leben war der Tenor des Films. erweitert, wurden diese Erfahrungen derteilnahme am Alltag betrifft. Die Initiatoren dieses filmischen Pro- dann im Gespräch mit Prof. Dr. IsaDie gute Botschaft lautete, dass ein jekts MUDr. Pétr Nawka, Facharzt für bella Heuser, Direktorin der Klinik für störungsfreies Leben für Betroffene Psychiatrie und Psychotherapie, und Psychiatrie und Psychotherapie der möglich sei. Voraussetzung ist dabei der Filmemacher Norbert Göller, die Charité-Universitätsmedizin Berlin. allerding das Vorhandensein stabiler dieses Projekt begleiteten, standen War es eben noch der Zugang über privater Netzwerke. Mit einem den Besuchern der Abendveranstal- das Beschreiben der eigenen ErfahAugenzwinkern gab Dr. Stamm am tung nach Filmende zur Diskussion rungen, widmete sich die fünfte VerEnde zu verstehen, dass die Krankheit zur Verfügung. anstaltung der Reihe „Innensichten“ nicht, wie viele glauben, zur Geniali- Patient Peter Schneider erzählte über dem Medium der Bildenden Kunst. tät befähige, musste aber auch ein- seine Erfahrunen mit der Diagnose Martin Beier stellte am 5. Februar gestehen, dass Betroffene ihre krea- Schizophrenie und wie er heute rela- unter dem Titel „Woher regnen die Ärzteblatt Sachsen 4 / 2014 157 Tagungsberichte Die gesamte Veranstaltungsreihe über waren es besonders die Erfahrungsberichte Betroffener, die den Zuschauer so nah an das Leben mit den verschiedenen Störungsbildern ließen. Auch in diesem Fall beeindruckten die Berichte der jungen Frauen, die sich einig waren, dass sie die Krankheit als solche ab dem Zeitpunkt warnahmen, als ihr Tagesablauf durch die Essstörung so eingeschränkt war, dass alles sich unterordnet oder der Arzt durch Krankschreibung eine deutliche Zäsur setzte. Dr. Hiddemann, der die Veranstaltung wieder feinsinnig modeDiskussionsrunde mit Prof. Dr. rer. medic. Franziska Einsle, Moderator Dr. Frank rierte, brachte zum Schluss die nicht Hiddemann und Frau Julia Eichler zum Thema „Angststörungen“ (v.l.) © SLÄK immer einfach Erkenntnis auf den Bilder?“ seine Bilder vor und sprach kannten Hauptstörungsbildern – Punkt, dass man niemandem helfen mit der Kunsttherapeutin Katrin Anorexie, Bulimie und Binge-Eating- kann, der es nicht auch selbst will. Neumann und Prof. Doris Titze, die Störung – verschiedene weitere, Das Thema Angststörungen bildete den Studiengang Kunsttherapie an weniger erforschte, Formen gibt. den Abschluss der Reihe zu psychischen Erkrankungen. Angststörunder Hochschule für Bildende Künste Hierzu zählt etwa die Orthorexie, bei in Dresden leitet, über sein Leben der es um ein krankhaftes Gesund- gen gehören zu den häufigsten psymit Autismus. In gewohnter Weise Essen, ein fast religiöses Konzeptes- chischen Erkrankungen, rund 15 Prowurden die kunsttherapeutischen sen oder Weglassen des Essens geht. zent der Bevölkerung sind davon Gespräche erweitert um den medizi- Frau Wolff-Stephan machte deutlich, betroffen. Wie man sie bewältigen kann, schilderte die Psychologin Prof. nischen Zugang zu dieser Entwick- dass es sich bei Anorexie und Bulimie Franziska Einsle, die Selbstporträts lungsstörung. Hier war es diesmal Dr. tatsächlich um schwere chronische Katja Albertowski, die als Oberärztin Krankheiten handelt, die beide töd- von Menschen mit Angststörungen der Klinik und Poliklinik für Kinder- lich enden können. Die Langwierig- vorstellte. Am Beispiel von Filmen Betroffener im Internet wurden und Jugendpsychiatrie und -psycho- keit und Schwere der Störungen therapie am Universitätsklinikum bedingen, dass es keine einzelne Krankheitsbilder und Auswege mit Carl Gustav Carus ihre klinischen Therapie als Lösung gibt. Die Psycho- Frau Prof. Franziska Einsle, Gera, disErfahrungen sowie aktuelle Thera- login bevorzugt eine Kombination kutiert. Welche Behandlungsmögpie-Entwicklungen schilderte. aus Körpertherapie, Kunsttherapie lichkeiten Selbstzeugnisse und Ge­­ „Fressen Lieben Kotzen“ am 11. Feb- und Familientherapie, wobei im Zen- spräche mit den Betroffenen eröffruar widmete sich dem Thema Ess- trum und am Anfang einer erfolgrei- nen, legte Prof. Dr. Franziska Einsle störung über ein Theaterstück von chen Therapie ein striktes Esspro- dar. Als Studiengangsleiterin PsychiCornelia Gellrich. Das unter der gramm mit Lockerung bei Zielerrei- sche Gesundheit und Psychotherapie Regie von Clara Helfmann entstan- chung steht, welches die Eigenver- SRH an der Fachhochschule für dene Stück der Theatergruppe antwortung für den Umgang mit der Gesundheit Gera ist die Psychologin Panoptischau beeindruckte durch ­ Krankheit erhöht. Die Ursachen für mit den Besonderheiten verschiedener Angststörungen vertraut. Eine eine kraftvolle Umsetzung der zent- eine Essstörung findet man wie bei ralen Themen wie Liebesentzug, Sehn- so vielen anderen psychischen Er­­ Patientin im Podium schilderte sehr authentisch den Beginn ihrer Angstsucht nach Anerkennung, krank- krankungen in einer Mischung aus hafte Körperfixierung, Kindheits- bio-psycho-sozialen Komponenten. störung mit 17 Jahren, die Odyssee trauma, Ekel und Auto­aggression. Auslöser ist jedoch oft eine Schwel- durch mehrere Therapien mit dem Im Gespräch mit Silvia Wolff-Ste- lensituation wie die der Pubertät. Ergebnis, heute fast angstfrei zu phan, leitende Psychologin der Klinik Besonders wichtig ist Frau Wolff-­ leben, ihrem Beruf nachzugehen und und Poliklinik für Psychosomatik und Stephan auch eine strukturierte eine Familie gegründet zu haben. Psychotherapie am Universitätsklini- Nachsorge mit regelmäßigen Gesprä- Die rege Diskussion, die sich daraus kum Carl Gustav Carus der Techni- chen und Kunst­ therapieangeboten. mit den Zuhörern entwickelte, kennschen Universität Dresden, und drei Ziel muss es sein, dass die Patientin- zeichnete die gesamte Veranstaltungsreihe. betroffenen jungen Frauen ging es nen und Patienten – immerhin sind danach um die Ausprägungen, The- zehn Prozent der Betroffenen männrapieformen und Heilungschancen lich – wegkommen von der Fixierung Ingrid Hüfner der Krankheit. So erfuhren die Zuhö- auf Essen und einfach wieder Freude Martin Kandzia M.A. rer, dass es neben den drei aner- am Leben empfinden können. Presse- und Öffentlichkeitsarbeit 158 Ärzteblatt Sachsen 4 / 2014