Inhalt - Pädagogische Hochschule Karlsruhe

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Inhalt
Vorwort ................................................................................................................
7
Teil A: Voraussetzungen ..............................................................................
9
1.
Joachim Weinhardt
Elementare Hinführung zum naturwissenschaftlichtheologischen Dialog .................................................................................
9
Tilman Schröder
„Es ist die Wissenschaft für uns Religion geworden“ –
Triumph und Krise des naturwissenschaftlichen Weltbildes
im 19. Jahrhundert .....................................................................................
21
Rainer Mogk
Eigenständigkeit durch Abschottung?
Hauptttendenzen evangelischer Theologie gegenüber
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen im 19. und
frühen 20. Jahrhundert ..............................................................................
37
Teil B: Mensch .................................................................................................
53
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Klaus Peter Rippe
Ethik und die Herausforderung des ontologischen Naturalismus .....
53
Günter Altner
Der „kleine“ Unterschied – die Genstruktur und die
Vieldimensionalität des Menschen. Ethische und
methodische Fragen ..................................................................................
69
Thomas Junker
Wer hat Angst vor der Evolution? Oder:
Was sagt die Biologie zum Sinn des Lebens? .........................................
83
Günter Altner
Schöpfungstheologie – unerlässlicher Störfaktor im Betrieb der
Naturwissenschaften, aufgezeigt am Streit um die Evolutionstheorie
99
6
8.
Inhalt
Dirk Evers
Neurobiologie und die Frage nach der Willensfreiheit ........................
107
Teil C: Welt .......................................................................................................
125
9.
Dirk Evers
Die Rezeption physikalischer Kategorien in der Theologie .................
125
10. Joachim Weinhardt
Eschatologie und physikalische Kosmologie .........................................
143
Die Autoren .........................................................................................................
Sachregister ..........................................................................................................
Namensregister ....................................................................................................
169
Teil B: Mensch
4. Ethik und die Herausforderung des
ontologischen Naturalismus
Klaus Peter Rippe
In diesem Aufsatz befasse ich mich mit der Frage, wie die philosophische Ethik
auf die Herausforderung des ontologischen Naturalismus zu reagieren hat. Als
Herausforderung des ontologischen Naturalismus verstehe ich den Gedanken,
dass ein naturalistisches Weltbild auch ein Umdenken innerhalb der Ethik zur
Folge haben müsse. Grundprämissen wie etwa die Willensfreiheit oder die Sonderstellung des Menschen müssten angesichts neuer naturwissenschaftlicher
Erkenntnisse aufgegeben werden und eine Ethik entwickelt werden, welche sich
nicht auf Illusionen, sondern auf Fakten stützt.
Um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ethik und Naturalismus zu
beantworten, muss zunächst geklärt werden, was unter einem ontologischen
Naturalismus zu verstehen ist (Abschnitt 1). In einem zweiten Schritt muss dieser vom methodologischen Naturalismus und Szientismus abgegrenzt werden.
Ferner müssen Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Naturalismus und
Agnostizismus bzw. Naturalismus und Atheismus herausgearbeitet werden
(Abschnitt 2). In einem kurzen dritten Abschnitt stelle ich Hoffnungen bzw.
Befürchtungen vor, welche damit verbunden sind, wenn auch ethische Überlegungen auf einem ontologischen Naturalismus fußen. Im vierten Abschnitt
diskutiere ich positiv den Zusammenhang zwischen Ethik und ontologischem
Naturalismus und arbeite heraus, wieso letzterer wirklich eine Herausforderung
darstellt.
1. Was heißt Naturalismus?
Naturalismus gilt im Allgemeinen als eine Position innerhalb der Ontologie, also
als eine Auffassung darüber, was existiert und wie die Welt beschaffen ist. Die
naturalistische Position ist in diesem allgemeinen Verständnis durch zwei The-
54
Teil B: Mensch
sen gekennzeichnet, erstens diejenige, dass das, was wir Natur nennen, existiert,
und zweitens jene, dass es ausschließlich diese Natur gibt. Dabei sind zwei
Punkte erklärungsbedürftig. Zum einen muss näher erörtert werden, was unter
dem Begriff „Natur“ zu verstehen ist; zum anderen, welchen systematischen Sinn
es überhaupt hat, diese ontologische Position einzuführen. Beginnen wir bei
letzterem. Wenn man fragt, was in der Welt existiert, gibt es sechs mögliche
Antworten. Nach der ersten wissen wir nicht, ob etwas außerhalb unseres
Bewusstseins besteht und dürfen nur die Existenz des eigenen Bewusstseins annehmen (Solipsismus). Die fünf anderen gehen davon aus, dass verlässliche Aussagen darüber getroffen werden können, was wirklich ist und was nicht. Es handelt sich um Spielformen des Realismus, und zwar um folgende: Alles, was ist,
besteht (1) nur aus Materie, diese Auffassung wird Physikalismus oder Materialismus genannt. Alles, was ist, besteht (2) aus nicht-materiellen etwa geistigen
Entitäten bestehen (Idealismus) oder (3) aus nicht-materiellen wie materiellen
(Dualismus). Zudem gibt es (4) den neutralen Monismus, wonach Materie und
Geist aus Elementen bestehen, die ihrerseits weder Geist noch Materie sind und
(5) pluralistische Theorien, wonach neben physischen zahlreiche nicht-physische
Entitäten wie etwa Geist, Zahlen oder moralische Werte existieren. Die Einführung einer weiteren realistischen Position, dass das, was wir Natur nennen, real
existiert, hilft auf den ersten Blick wenig. Denn auch wenn die Rede von der
Natur wohl kaum mit einer idealistischen Position zu vereinbaren ist, so doch
sowohl mit einem Materialismus, Dualismus, neutralen Monismus oder Pluralismus. Wieso braucht es dann also eine Position des Naturalismus?
Wenn man das Anliegen der Naturalisten in den Blick nimmt, ist es stets auch
negativ bestimmt. Ein Naturalist bestreitet die Existenz von Wundern, also von
Phänomenen, die im Widerspruch zu Naturgesetzen stehen, und er verzichtet
auf die Annahme übernatürlicher Entitäten. Dies ist auch jener Weg, auf dem
etwa John Dupré diesen Begriff einführt:
„Ich für meinen Teil meine damit (unter Naturalismus) etwas relativ einfaches,
etwas, das man eindeutiger, wenn auch weniger elegant als anti-supernaturalistisch beschreiben könnte. Dieser Ausdruck soll deutlich machen, dass mein Naturalismus sich weigert, die Existenz von Geistern, Seelen und (…) von Göttern anzuerkennen. (…) Mein Widerstand gegen Seelen, Gottheiten und ähnliches ist
allerdings kein bloßes Vorurteil, sondern fußt in einem Prinzip – dem Prinzip,
dass unser Glaube an die Existenz von Dingen letzten Endes in der Erfahrung
gründen sollte.“1
Eine wirkliche Klärung ist damit jedoch nicht erreicht. Zusätzlich zum Begriff
des „Natürlichen“ muss nunmehr auch geklärt werden, wie der Begriff „über1
John Dupré: Darwins Vermächtnis, Die Bedeutung der Evolution für die Gegenwart des Menschen, Frankfurt: Suhrkamp, 2005, S. 50 f.
4. Ethik und die Herausforderung des ontologischen Naturalismus
55
natürlich“ zu verstehen ist. „Übernatürlich“ mit „religiös“ gleichzusetzen, hilft
nicht. Gläubige etlicher Religionen unterscheiden nicht zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Welt. Für Animisten sind Geister genauso natürliche Phänomen wie Katzen und Tische, und auch viele polytheistische Religionen sehen Götter als Entitäten, die in derselben Zeit und im selben Raum
agieren wie Menschen. Der Unterscheidung in „natürlich“ und „übernatürlich“
scheint bereits ein spezifisches Weltbild zugrunde zu liegen, in dem es neben der
durch Naturgesetze bestimmten Welt eine andere Sphäre gibt, die nicht durch
diese bestimmt ist, ja, deren Entitäten sogar innerhalb der naturgesetzlich bestimmten Welt Wunder bewirken.
Nimmt man das Zitat von Dupré, muss ferner erklärt werden, was der Naturalismus als ontologische Position darüber, was in der Welt vorhanden ist, mit der
erkenntnistheoretischen Frage zu tun hat, wie wir etwas über die Welt erfahren.
Positive ontologische Aussagen müssen nach Auffassung des Naturalismus auf
Erfahrung gründen. Es wäre naiv zu denken, dass alles, was wir sehen oder zu
sehen meinen, existiert. Dann gäbe es rosa Elefanten, Nessie, Bigfoot und all
andere Wesenheiten, die irgendwann einmal jemand zu sehen meinte. Der Empirist geht aber davon aus, dass sich Erfahrungen in der Regel auf etwas beziehen, das außerhalb von uns selbst existiert. Zudem stellen Erfahrung und Beobachtung für den Empiristen den einzigen Weg dar, etwas über die Außenwelt
zu erfahren. Es muss nur ein Weg ausgewiesen werden, auf dem man von einem
naiven zu einem kritischen Empirismus gelangt. Dieser Weg ist – und damit
haben wir die Kernthese des Naturalismus – durch die naturwissenschaftliche
Methodik vorgegeben, welche Hypothesen über die Welt methodisch prüft, und
es ermöglicht, dass ihre Ergebnisse von anderen Forschenden überprüft werden
können. Auch wenn jede naturwissenschaftliche These im Prinzip widerlegt
werden und somit nur vorläufige Geltung beanspruchen kann, nähert man sich
insgesamt doch, folgt man der naturwissenschaftlichen Methodik, so die naturalistische These, mehr und mehr gültigen Annahmen über das, was in der Welt
besteht.
Ontologische Aussagen über die Außenwelt sind nach Auffassung des Naturalismus nur dann wahrheitsfähig, wenn sie direkt auf Erfahrung beruhen. Denn
nur dann können Urteile im Rahmen naturwissenschaftlicher methodischer
Untersuchungen systematisch überprüft werden. Wird Gott als etwas aufgefasst,
das nicht an die Bedingungen von Raum und Zeit gebunden und das dem Erfahrungswissen entzogen ist,2 können und dürfen wir, so der Naturalismus, keine
Aussage über Gottes Existenz treffen. Die Ablehnung der Supernaturalismus ist
nicht Grundprämisse, sondern Konsequenz der erkenntnistheoretischen Annahmen, welche den Naturalismus charakterisieren. Zudem erklären diese er2
So etwa: Wolfgang Huber: Der christliche Glaube.
56
Teil B: Mensch
kenntnistheoretischen Annahmen auch, was als Natur zu bezeichnen ist. Natur
ist nichts anderes als der Gegenstandsbereich der Erfahrung oder spezifischer
jener, welcher der naturwissenschaftlichen Methodik zugängig ist.
Der Naturalismus ist damit eine ontologische Position, aber eine, in der erkenntnistheoretische Überlegungen bestimmen, was als existierend angenommen werden darf. Er vertritt folgende ineinander verschränkte Thesen: Nur Erfahrung und Wissenschaft verhelfen uns (i) zu verlässlichen Erkenntnissen über
die Wirklichkeit; die Naturwissenschaft beschreibt (ii) auf immer verlässlichere
Weise, wie die Außenwelt wirklich ist. Nimmt man dies, wird auch deutlich,
warum der Naturalismus eine eigenständige ontologische Position ist. Der Naturalist bekennt sich nicht zu der Aussage, dass der Materialismus, neutrale Monismus, Dualismus oder eine andere ontologische Theorie wahr ist. Eine solche
These ist nicht mit den erkenntnistheoretischen Grundsätzen des Naturalismus
zu vereinbaren. Würde mittels naturwissenschaftlicher Methoden nachgewiesen,
dass physische Phänomene auf selbst weder materielle noch geistige Entitäten
zurückgehen, wäre der Naturalist neutraler Monist. Tendiert der Naturalist heute
zum Physikalismus, so nimmt er damit eine vorläufige Position ein. Aussagen
prinzipieller Art wie jene, dass es ausschließlich Materie geben kann, sind dem
Naturalisten verboten. Aufgrund dieser Abgrenzung zu rationalistischen Positionen mag man es als sinnvoll erachten, den Naturalismus als eigenständige
ontologische Position zu führen. Ob es wirklich sinnvoll ist, sei dahin gestellt. Es
wäre wohl ehrlicher, würden heutige Naturalisten sagen, welche der klassischen
ontologischen Positionen sie derzeit vertreten.
2. Zur Beziehung zwischen Naturalismus, Szientismus und Agnostizismus
Naturalisten betonen den Goldstandard der naturwissenschaftlichen Methodik,
aber müssen alle Naturwissenschaftler Naturalisten sein? Mitunter wird gesagt,
dass die moderne Naturwissenschaft selbst nicht durch einen ontologischen
Naturalismus gekennzeichnet ist, sondern „nur“ durch einen methodologischen.
Die Naturwissenschaft verzichte zwar aus methodischen Gründen auf allgemeine
ontologische und damit auch religiöse oder theologische Annahmen, sage aber
nichts über deren Geltung. Als Biologin, Physikerin oder Chemikerin müssten
Forschende ihren Glauben an Gott ausklammern und sich im Rahmen ihrer
naturwissenschaftlichen Tätigkeit bemühen, die Welt so zu beschreiben und zu
erklären, als ob es Gott nicht gäbe („etsi deus non daretur“). Aber die naturwissenschaftliche Tätigkeit steht in keinem Konflikt zum eigenen religiösen Glauben. Der methodische Naturalismus wäre in diesem Sinne theologisch wie ontologisch neutral.
Gegen diese Beschreibung kann eingewandt werden, dass hier ein Missver-
4. Ethik und die Herausforderung des ontologischen Naturalismus
57
ständnis vorliegt, was unter dem methodologischen Naturalismus zu verstehen
ist. Der methodologische Naturalismus wird auch als jene Position bezeichnet, in
der die naturwissenschaftliche Methodik den einzigen Weg darstellt, die Welt zu
beschreiben und zu erklären.3 Insbesondere lehnt der methodologische Naturalist dann ab, dass es neben oder der Naturwissenschaft vorgelagert philosophische Erkenntnismöglichkeiten gibt. Dieser methodische Naturalismus entspricht
dem, was andere als szientistischen Naturalismus oder Szientismus bezeichnen.
Der szientistische Naturalist muss sagen, dass auch Ethik, Wissenschaftstheorie,
Ästhetik oder Epistemologie naturwissenschaftlich erarbeitet werden müssten,
sollen dortige Stellungnahmen nicht rein subjektiv sein. Neben Naturwissenschaft gibt es keine andere menschliche Betätigung, welche den Namen Wissenschaft verdient. Das Problem dieser Position ist freilich, dass die Theorie auch
den erkenntnistheoretischen Unterbau leugnet, auf den die naturwissenschaftliche Methodik notwendig angewiesen ist. Denn es bedarf stets einer Theorie, die
erklärt wieso Naturwissenschaften ein verlässliches Bild über die Außenwelt
vermittelt. Die wenigsten Naturalisten teilen daher diese Position.
Betrachten wir das obige Verständnis von methodologischem Naturalismus.
Wie sieht es nun aber mit der ontologischen bzw. theologischen Neutralität der
Naturwissenschaften aus? Dass es psychologisch möglich ist, die Gottesannahme
und naturwissenschaftliche Tätigkeit zu verbinden, wird niemand bestreiten.
Viele Forschende der Vergangenheit und Gegenwart waren gleichzeitig Deisten
oder Theisten. In der Regel ist es möglich, naturwissenschaftliche Erkenntnisse
in ein religiöses Weltbild zu integrieren.4 Wenn man den methodischen vom
ontologischen Naturalismus abhebt, geht es weder um eine psychologische
These, noch darum, ob sich naturwissenschaftliches Wissen in den Glauben
integrieren lässt. Vielmehr muss die inhaltliche Frage beantwortet werden, ob
Naturwissenschaften durch einen ontologischen Naturalismus charakterisiert
sind, ob also die Methodik der Wissenschaft mit dem Glauben an übernatürliche
Phänomene logisch zu vereinbaren ist. Dass hier ein Problem vorliegen könnte,
mag zuerst erstaunen. Denn eine Methodik kann man im Allgemeinen anwenden, egal, was man glaubt oder nicht. Dies ist hier aber anders: Wesentlicher Teil
der naturwissenschaftlichen Methodik ist, dass Existenzaussagen nur getroffen
werden dürfen, wenn ein empirisch valider Nachweis vorliegt oder ein (mit den
empirischen Daten kohärentes) Theorem die Existenz einer Entität beweist. Die
Methodik der Naturwissenschaften ist daher in keinerlei Hinsicht ontologisch
neutral. Sie ist notwendig durch einen ontologischen Naturalismus gekennzeichnet
3
4
Vgl. Keil, Naturalismus und menschliche Natur, S. 197–202.
Ob sich der Gedanke einer zielgerichteten Schöpfung mit der Annahme eines ungeleiteten, nicht
geplanten Prozesses von zufälliger Mutation und Selektion vereinbaren lässt, ist auch dann fraglich. Vgl. Altner, in diesem Band.
58
Teil B: Mensch
Der ontologische Naturalist ist aber prinzipiell nicht theologisch neutral. Er
bestreitet die Existenz von Wundern, also von Ereignissen, die Naturgesetzen
widersprechen. Denn alle Ereignisse in Raum und Zeit unterliegen nach derzeitigem Stand des Wissens spezifischen Naturgesetzen. Theistische Konzeptionen,
in denen Gott in Raum und Zeit eingreift und Wunder wirkt (sich Menschen
offenbart, Menschen auferstehen lässt, Ungeborenen eine unsterbliche Seele
verleiht oder die Substanz von Brot in die menschlichen Fleischs umwandelt)
stehen damit im Widerspruch zum Naturalismus. Ferner darf der Naturalist
keine Existenzaussagen über Entitäten treffen, die jenseits von Raum und Zeit
oder in einer jenseitigen, transzendenten Welt bestehen. Diesen Entitäten gegenüber ist er zu einem Agnostizismus verpflichtet. Das heißt, er muss sagen, dass
man von diesen Entitäten nichts wissen kann und dass man keine Aussage über
ihre Existenz machen darf. Denn es gibt keine valide Methode, die es erlaubte,
diesbezüglich wahrheitsfähige Aussagen zu machen und diese intersubjektiv zu
überprüfen.
Agnostizismus ist dabei keineswegs eine schwächere Position als jene, welche
die Existenz solcher Wesen verneint. Wenn (wie in diesem Band von Altner)
darauf verwiesen wird, dass Darwin ja kein Atheist, sondern „nur“ Agnostiker
gewesen ist, klingt dies danach, als sei dies eine zurückhaltende Position, als sei
der Agnostizismus eine Mittelposition zwischen Theismus und Atheismus, in
welcher Gott weder bejaht noch verneint wird. Teilweise wird sogar gesagt, ein
solcher Agnostiker gehe von einer 50 : 50 Chance aus, dass es Gott gibt. Dies ist
falsch. Denn wenn er eine 50 : 50 Prognose machen könnte, müsste der Agnostiker ja etwas in der Hand haben, was eine solche Prognose stützt. Da er aber über
das Jenseitige überhaupt nichts wissen kann, muss er jede Wahrscheinlichkeitsannahme als sinnlos ablehnen. Bedeutet „Atheismus“, dass jemand nicht an Gott
glaubt und ohne Gott lebt, so ist der Agnostiker ein Atheist. Aber er sagt nicht,
dass es Gott (im deistischen Sinne) nicht gibt. Vielmehr hält er jede Rede über
unserer Erfahrung prinzipiell entzogene Entitäten für sinnlos. Er muss für
Theologen sogar der weit unangenehmere Gegner sein als ein Atheist, der die
Annahme eines Gottes für sehr unwahrscheinlich hält. Der Agnostiker sagt letztlich, dass jede systematische Theologie – sei sie positiv oder negativ – Unsinn ist.
Denn hier wird versucht, über etwas zu reden, über das man nicht reden kann.
Mit Atheisten, welche die Existenz Gottes negieren oder zumindest für unwahrscheinlich halten, können Theologen noch streiten. Gegenüber dem Agnostiker
ist aber jede Rede von Gott etwas Irrationales und Unsinniges. Das Beste, was der
Agnostiker hoffen kann, wenn er mit einem Theologen zusammen ist, ist
Schweigen. Genau dies wird von Altner denn auch berichtet, wenn er von Darwin und dem Dorfgeistlichen berichtet.5
5
Altner, in diesem Band „„„.
4. Ethik und die Herausforderung des ontologischen Naturalismus
59
Gläubige Forschende müssen somit notwendig ein anderes Verständnis der
naturwissenschaftlichen Methodik haben als Naturalisten. Sie müssen von der
Existenz Gottes ausgehen und vor diesem Hintergrund die Welt erforschen.
Schon der methodische Rat, so zu forschen, als ob es Gott nicht gäbe, impliziert
ja bereits, dass Gott existiert. Aus methodologischen Gründen kann die Naturwissenschaft eine solche ontologische These aber eigentlich nicht zulassen.
3. Wieso der ontologische Naturalismus als Herausforderung
für die Ethik angesehen wird
Die These, dass der Naturalismus auch hinsichtlich des moralisch Gebotenen
Folgen hat, ist alt. Immer wieder wird eingefordert, dass man auch in der Ethik
die Welt so zur Kenntnis nehmen solle, wie sie ist. Es gehört zu den Standardthesen naturalistischer Autoren, dass ein moralisches Umdenken erforderlich sei.
Sehr prägnant wird dies von Clarence Darrow ausgedrückt, der als Strafverteidiger unter anderem im Scopes-Prozess wirkte.6 Jahre vor diesem Prozess schrieb
er: „Wissenschaft und Evolution lehren uns, dass der Mensch – auch wenn er ein
wenig höher einzuordnen ist als die anderen Ordnungen der Tiere –durch die
gleichen natürlichen Gesetze beherrscht wird, die auch den Rest des Universums
lenken. So ist der freie Wille ein Mythos, eine Täuschung und Betrug.“7 Kann
aber kein Mensch frei zwischen gut und schlecht wählen, sind ihm keine Handlungen moralisch zuzurechnen. Es gibt keine Schuld, und demnach ist es auch
sinnlos, jemanden für eine Schuld zahlen zu lassen. Die Konsequenz ist nach
Darrow eine grundlegende Reform des Strafrechts. Darrow zeigt sich hier von
der Richtigkeit eines Programms überzeugt. Es ist nicht so, dass der freie Wille
naturwissenschaftlich widerlegt wäre. Vielmehr ist es Teil des naturalistischen
Programms, dass eine besondere „Agent Causality“, die nicht den Naturgesetzen
unterliegt, nicht existieren kann.
Sieht Darrow es als selbstverständliches Element fortschrittlichen Denkens an,
ein naturalistisches Weltbild auch auf Fragen der Moral zu übertragen, sehen
andere darin eine Gefahr für die Moral. Wird der Mensch nur noch als Produkt
seiner Gene, als reine Natur, als Tier betrachtet, so geht damit, so die These,
etwas Wichtiges verloren, die Menschenwürde. Dies darf aber nicht geschehen.
Ethik ist damit, so die These, notwendig darauf angewiesen, auch supernaturalistische oder nicht-naturalistische Ansichten zuzulassen.
6
7
Er verteidigte dort den Schullehrer John Thomas Scopes, der sich von den Honoratioren der
Stadt Dayton 1925 überreden ließ, die Evolutionstheorie im Schulunterricht zu behandeln. Dies
war im selben Jahr in Tennessee durch den „Butler Act“ verboten wurden.
So äußert sich Darrow 1915 in der populären Zeitschreift „Everyman“. Die Übersetzung stammt
vom Verfasser dieses Artikels.
60
Teil B: Mensch
4. Wieso der Naturalismus eine Herausforderung für die Ethik ist
a) Die Notwendigkeit ontologischer Aussagen
Ethik befasst sich als Wissenschaft von der Moral mit der Interaktion von Menschen und deren Umgang mit anderen Lebewesen und der natürlichen Umwelt.
Selbst wenn Ist- und Sollensaussagen strikt auseinander zu halten wären, ist die
Wahrheit bestimmter Annahmen über die Außenwelt notwendige Bedingung
der Gültigkeit spezifischer moralischer Urteile. Wendet man moralische Normen
nämlich auf konkrete Situationen an, kommt man nicht umhin, Aussagen über
die Welt zu machen. Ob ein medizinischer Eingriff moralisch zulässig ist, hängt
auch von Diagnose und Prognose ab und z. B. davon, ob die vorgeschlagene
Therapie überhaupt wirken könnte. Verurteilt jemand konkrete beim Fischfang
angewandte Tötungsformen als unmoralische Tierquälerei, ist notwendige Bedingung für die Gültigkeit dieses Urteils, dass Fische leiden können. Wären
Fische nicht leidensfähig, machte es schließlich keinen Sinn, von Quälerei zu
sprechen. Spätestens bei Anwendung moralischer Normen nehmen ethische
Urteile Bezug auf die Wirklichkeit und sind damit auch darauf angewiesen, dass
diese die Welt betreffenden Urteile richtig sind.
Religiöse Moralsysteme zeichnen sich zudem dadurch aus, dass ontologische
Aussagen nicht nur im Anwendungs-, sondern auch im Begründungszusammenhang eine Rolle spielen. Nehmen wir zum Beispiel eine moralische Aussage
wie P1: „Da Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde schuf, hat man alle Menschen als Gleiche zu achten und zu respektieren.“ Gottes Existenz ist hier notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung dafür, dass P1 moralisch gültig ist.
Auch im sogenannten „ethischen Naturalismus“ sind ontologische Aussagen Teil
des Begründungszusammenhangs. Der ethische Naturalismus sagt, dass wir das,
was moralisch richtig bzw. was gut ist, aus der Natur selbst erfahren können.
Eine mögliche ethisch naturalistische Position wäre: Da der Mensch von Natur
her eine bestimmte Entwicklung durchläuft und bestimmte Fähigkeiten verwirklicht, ist gut, wenn er diese Fähigkeiten entwickelt, und schlecht, wenn dies nicht
geschieht. Vorausgesetzt wird hier notwendig die These, dass Menschen von
ihrer Natur her darauf ausgerichtet sind, eine bestimmte Entwicklung zu durchlaufen.
Sind bestimmte ontologische Annahmen notwendige Bedingung für die Gültigkeit moralischer Urteile, bedarf es auch in der Ethik eine Theorie darüber,
welche Annahmen über die Außenwelt erlaubt sind und welche nicht.
4. Ethik und die Herausforderung des ontologischen Naturalismus
61
b) Die Forderung der intersubjektiven Begründbarkeit
Moralische Urteile betreffen nicht nur das eigene Handeln und die eigene Person, sondern auch das Tun und Unterlassen anderer. Schon die Sprache der
Moral, die durch „Du sollst“, „Du darfst nicht“, „Du musst“ geprägt ist, zeigt auf:
Andere Personen werden darauf hingewiesen, ihre Pflicht zu tun. Da Pflichtverletzungen moralisch sanktioniert werden, liegt sogar eine Form von Zwang vor.
Personen erzwingen durch die Moral, dass andere auf einen Teil ihrer Freiheit
verzichten, etwa, nicht stehlen, nicht lügen, gleichgeschlechtliche Partnerschaften tolerieren, keine Millionengehälter zahlen, oder den zeitlichen und finanziellen Aufwand auf sich nehmen, anderen zu helfen. Moralische Forderungen
können dabei auf eine Weise erfolgen, dass der andere ihre Berechtigung nachvollziehen und überprüfen kann, oder so, dass dies nicht möglich ist. Einen verbindlichen Grund, moralische Forderungen zu beachten, haben die Normadressaten nur dann, wenn ersteres der Fall ist. Da sie die Autorität, die hinter dem
moralischen Urteil des anderen stehen soll, nicht auf ihre Berechtigung prüfen
können, haben die Normadressaten im zweiten Fall keinerlei Grund, der Forderung des anderen zu folgen. Moralische Urteile können nicht intersubjektiv verbindlich sein, wenn sie nicht nachvollzogen und überprüft werden können.
Damit müssen auch jene empirischen Sätze, die im Anwendungs- und Begründungszusammenhang eine Rolle spielen, nachvollziehbar und überprüfbar.
c) Naturwissenschaftliche Erkenntnisse als Basis
Ethik muss daher auf der Höhe naturwissenschaftlichen Wissens sein. Denn hier
werden Aussagen über die Außenwelt getroffen, die intersubjektiv nachvollziehbar und überprüfbar sind. Sicherlich könnte man eine skeptische Position einnehmen und bezweifeln, dass unsere Sinneswahrnehmungen wirklich die
Außenwelt abbilden. Allerdings wäre dann fraglich, wie man überhaupt moralische Forderungen aussprechen kann, die sich an andere Personen richten. Ist
man im Alltag genötigt, die Außenwelt als real anzusehen, bleibt die Notwendigkeit, auch innerhalb der Ethik auf die Einsichten der Naturwissenschaft zu vertrauen.
Nicht erlaubt ist dagegen, in moralischen Urteilen einfach unbewiesene oder
unbeweisbare Behauptungen über die Außenwelt aufzustellen. Nehmen wir zum
Beispiel die Forderung, bei der Erziehung von Kindern müsse die Jahrsieblehre
berücksichtigt werden, nach welcher der Mensch mit einem physischen Leib
geboren wird und ab dem 8. Lebensjahr den Ätherleib und dem 15. Lebensjahr
den Astralleib entwickelt. Diese Lehre zu berücksichtigen ist nicht nur eine
pädagogische, sondern auch eine moralische Forderung. Denn wer sich nicht
62
Teil B: Mensch
nach dieser Lehre richte, schade dem Kind und handele somit moralisch falsch.
Da aber weder die Existenz eines Ätherleibs noch eines Astralleibs intersubjektiv
nachgewiesen ist,8 es sich mithin um blosse Existenzbehauptungen handelt, ist
eine notwendige Bedingung für die Gültigkeit der moralischen Forderung nicht
erfüllt: Die Aussagen über die Außenwelt sind nicht begründet. Also ist diese
moralische Forderung selbst abzulehnen.
Genausowenig wie man die Existenz eines Astralleibs oder einen Ätherleibs in
ethischen Urteilen voraussetzen darf, so auch nicht, dass der Mensch eine unsterbliche Seele besitzt oder Pflanzen ein Selbstbewusstsein. Diese Thesen über
die Außenwelt dürften erst dann in moralische Urteile einfliessen, wenn die
Existenz einer Seele oder eines pflanzlichen Selbstbewusstseins intersubjektiv
nachvollziehbar begründet würde.
Auch religiöse Überzeugungen erfüllen die Bedingung der intersubjektiven
Überprüfbarkeit nicht. Wenn eine Person an eine übernatürliche Entität glaubt,
steht es ihr im Prinzip frei, gemäß dieser Überzeugung zu leben. Aber ihr Glaube
gibt ihr nur dann ein Recht, von anderen moralisch zu fordern, ebenfalls gemäß
dieser Auffassung zu leben, wenn sie den anderen einen verbindlichen Grund
liefern kann, warum sie ihr folgen sollen. Sagt mir ein Cousin, ich solle dem
Willen des Heiligen Vasenschlurupfels folgen und auf das Pflücken von Blumen
verzichten, so gibt mir diese Aufforderung nicht den geringsten Grund, irgendetwas an meinem bisherigen Handeln zu ändern. Erst müsste ich durch gute
Gründe überzeugt werden, dass es besagtes Wesen gibt, und überdies auch noch
davon, dass mein Cousin mit Recht beansprucht, für es zu sprechen. Dass mein
Cousin selbst das Vasenschlurupfel persönlich erfahren zu haben meint, seine
Existenz als gewiss ansieht oder darüber Sinn in seinem Leben gefunden hat, gibt
mir keinerlei Grund, ebenfalls an dieses Wesen zu glauben. Seine Forderung hat
für mich keinerlei argumentative oder moralisch verbindliche Kraft. Religiöse
Glaubensannahmen dürfen in der Ethik keine Rolle spielen.
d) Die Absage an den ethischen Naturalismus
Ist man als Ethiker bei Aussagen über die Außenwelt auf einen ontologischen
Naturalismus verpflichtet, ist vom ethischen Naturalismus Abstand zu nehmen.
Beschreibt man nämlich die Natur mit den methodischen Anforderungen des
8
Dass diese Lehre bei Rudolf Steiner nachzulesen ist und er die Jahrsieblehre aufgrund seines
angeblichen Zugangs zu höherem Wissen entwickelte und sie in seiner Lehre Eingeweihten zugänglich ist, ändert hier nichts. Zugängigkeit ist nur eine Bedingung von Begründung. Denn
ohne Zugang kann man die Lehre nicht einmal verstehen (nachvollziehen). Aber Verstehen
heisst nicht, dass sie auch begründet ist., Eine Lehre muss von allen Menschen, nicht nur für die
Eingeweihten, geprüft werden können und muss diese kritische Prüfung bestehen.
4. Ethik und die Herausforderung des ontologischen Naturalismus
63
Naturalismus, muss man notwendig bei rein beschreibenden Thesen bleiben.
Der Sprung in die Normativität gelingt nicht. Vertritt man jedoch die These,
man könne in der Natur „moralische Orientierungen“ erkennen, werden Auffassungen über die Außenwelt vertreten, die nicht dem Maßstab der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit genügen. Der ontologische Naturalist darf also kein
ethischer Naturalist sein, und dieser kein ontologischer Naturalist
Beginnen wir bei ersterem. Wir dürfen daraus, dass der Mensch dies und jenes
„von seiner Natur her“ tut oder sich so und so evolutionär entwickelte, nicht
folgern, dass er gemäss dieser „Natur“ oder gemäss seiner evolutionären Dispositionen handeln sollte. Denn stets bleiben die Fragen „Wieso ist dies moralisch
gut?“ oder „Warum soll ich mich danach ausrichten“ offen. Der Ausdruck „moralisch gut“ kann nicht ohne Bedeutungsverlust auf natürliche Ausdrücke oder
Urteile zurückgeführt werden. Und aus einer „Ist“ Aussage kann nicht gefolgert
werden, dass es so sein soll. Nehmen wir nur den Schadensbegriff, eine wesentliches Element ethischer Theorien. Mittels naturwissenschaftlicher Methoden
lassen sich nur Änderungen eines Zustands feststellen, aber nicht, dass diese
Änderungen positiv oder negativ zu bewerten sind. Genauso wenig kann man
naturwissenschaftlich feststellen, dass eine moralische Forderung besteht, diese
Änderung herbeizuführen oder zu beheben. Sagt ein Naturwissenschaftler, man
müsse die Klimaänderung verhindern, interpretiert er naturwissenschaftliche
Daten auf eine Weise, die gerade nicht mehr naturwissenschaftlich ist, sondern
Bewertungen und moralische Forderungen umfasst. Dasselbe geschieht beim
Arzt, der von der moralischen Forderung spricht, er müsse eine Operation
durchführen, um Schlimmeres zu verhindern. Arzt und Naturwissenschaftler
müssen hier auf Ressourcen zurückgreifen, die nicht der Naturwissenschaft entstammen. Aus der systematischen Beobachtung und methodischen Erforschung
der Natur lassen sich keine Sollens-Sätze ableiten.
Der ethische Naturalist könnte einwenden, dass wir unmittelbar erfahren, was
moralisch geboten und gut ist. Wir „sehen“, dass es gut ist, wenn sich Menschen
so und so entwickeln. Die hier behauptete Normativität muss irgendwo herkommen. Nach dem ethischen Naturalismus liegt sie in dem, was man sieht,
begründet; die Natur vermittelt selbst moralische Orientierungen. Dann gäbe es
etwas in der Welt, was zusätzlich zu den sonstigen Eigenschaften auch normative
Eigenschaften hat, oder etwas, das nur solche Eigenschaften hat. Damit vertritt
man eine wertrealistische These und erhöht die Zahl der ontologischen Entitäten
um diese objektiven Werte. Nur zu behaupten, dass solche objektive Werte bestehen, reicht nicht aus. Man müsste eine Methode benennen, wie man intersubjektiv nachvollziehbar nachweisen kann, dass solche objektiven Werte bestehen. Der ethische Naturalist könnte versucht sein, auf moralische Intuitionen zu
verweisen, also auf spontane moralische Überzeugungen. Aber selbst wenn (nahezu) alle Menschen dieselben moralischen Intuitionen hätten, reichte dies nicht
64
Teil B: Mensch
aus, um die These des ethischen Naturalismus zu begründen. Denn bei dem
Argument, dass eine Überzeugung wahr ist, weil sie (nahezu) alle Menschen für
wahr halten, handelt es sich um einen genetischen Fehlschluss, also um eine
Vermengung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang einer Aussage, Spezifischer handelt es sich um das „Argumentum ad populam“. Die
Wahrheit einer Aussage hängt aber, deshalb ist das „Argumentum ad populam“
ein Fehlschluss, nicht davon ab, wie viele Menschen diese Aussage für wahr halten. Will der ethische Naturalist keinen Fehlschluss begehen, müsste er nachweisen, dass Intuitionen eine Begründungsfunktion haben. Weil wir etwas intuitiv
für wahr halten, ist es wahr. Wir wären dann bei der Annahme eines moralischen
Sinnes, der die moralische Wahrheit erschließt. Im Gegensatz zur Annahme
moralischer Gefühle oder zur Annahme von Empathie ist die Hypothese eines
solchen Sinnesvermögens wiederum eine ontologisch starke Annahme. Da moralische Intuitionen einfach in der Erziehung und Sozialisation erworbene Überzeugungen widerspiegeln könnten, besteht kein Grund, eine solche Entität anzunehmen. Die methodischen Anforderungen, die auch innerhalb der Ethik angelegt werden müssen, sofern ontologische Annahmen getroffen werden, verbieten
es, objektive Werte oder einen moralischen Sinn anzunehmen.
Man mag einwenden, dass dies zu sehr klingt, als ob übernatürliche Entitäten
beschworen oder spirituelle Erkenntnisse behauptet würden. Intuitionen bezögen sich etwa auf Gesundheit, Liebe, Wissen oder Interessen – und diese vorauszusetzen erhöhe die Zahl der ontologischen Entitäten nicht unnötig. Allerdings
übersieht dieser Einwand die Frage nach der Quelle der Normativität. Auch
wenn das, was wertvoll ist, im Rahmen des ontologischen Naturalismus als existent anerkannt wird wie etwa Liebe oder Interessen, so erschließt die Intuition
zugleich, dass beides „in sich“ gut ist und damit „in sich“ erstrebenswert bzw.
ablehnenswert ist. Wir nehmen an Liebe und Interessen etwas wahr, das uns zum
Lieben und zur Befriedigung von Interessen auffordert. Damit geht es aber nicht
um jene Liebe und jene Interessen, die auch in naturalistischen Philosophien
vorkommen. Man hat diese um normative Eigenschaften angereichert. Die einzige Alternative wäre zu sagen, die Normativität entstehe durch die Art der moralischen Wahrnehmung. Damit wäre man erneut bei der Annahme eines geheimnisvollen moralischen Sinnes, der ohne Bezug auf die Natur eine moralische
Wahrheit erschließt. In beiden Fällen argumentiert der ethische Naturalist aber
auf eine Weise, welche der ontologische Naturalist zurückweisen würde. Der
ethische Naturalist kann kein ontologischer Naturalist sein.
4. Ethik und die Herausforderung des ontologischen Naturalismus
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e) Ethik, Qualia und Naturalismus
Dass Liebe und Interessen im Rahmen des ontologischen Naturalismus als existent anerkannt werden, ist erläuterungsbedürftig: Im ontologischen Naturalismus wird im Gegensatz zum methodologischen Naturalismus anerkannt, dass es
philosophische Erkenntnismöglichkeiten gibt. Der ontologische Naturalist lehnt
nur die Annahme ab, dass wir allein durch logische Überlegungen oder durch
angeborenes Wissen verlässliches Wissen darüber erlangen können, was außerhalb des Bewusstseins existiert und wie diese Wirklichkeit aufgebaut ist.
Der ontologische Naturalismus muss daher keine Schwierigkeit mit der These
haben, dass es Interessen gibt oder Qualia. Unter „Qualia“ versteht man den
subjektiven Erlebnisgehalt mentaler Zustände. Es handelt sich um Phänomene,
die intersubjektiv nachvollziehbar sind, aber derzeit oder vielleicht sogar prinzipiell nicht durch die naturwissenschaftliche Methodik erfasst werden können.
Wie es sich anfühlt, gestreichelt oder geküsst zu werden, kann aus einer Beobachtungsperspektive, wie sie die Naturwissenschaft einnimmt, nicht beantwortet werden. Mit Hilfe von Messungen, bildgebenden Verfahren und Experimenten kann man erklären, was beim Küssen im Körper geschieht, was sich auf
hormoneller oder neuronaler Ebene abspielt, aber dies kann noch nicht, ja vielleicht nie erfassen, wie es sich anfühlt. Dennoch ist dieses Gefühl sehr wohl etwas
Natürliches, ein Teil der Natur.
Qualia sind ein zentrales Thema der Philosophie des Geistes. Dort geht es
insbesondere darum, ob solche phänomenalen Bewusstseinszustände auf Hirnprozesse reduziert werden können. Wäre dies prinzipiell unmöglich, wäre das
reduktionistische Programm einiger Neuro- und Kognitionswissenschaftler zum
Scheitern verurteilt. Wenn der Antireduktionismus bewiesen wäre, hätte man
jedoch kein Argument, dass der Dualismus richtig wäre. Denn sowohl ein antireduktionistischer Materialismus wie ein neutraler Monismus blieben möglich.
Allerdings sollen Qualia hier aus einem anderen Grund interessieren.
Mentale Zustände wie Leiden und Freude, Schmerz und Lust verhelfen zu
einer Schadenstheorie, die mit dem (ontologischen) Naturalismus zu vereinbaren ist. Schmerz und Lust sind nicht Empfindungen, die positiv oder negativ
beurteilt werden, sondern Empfindungen, die als Empfindungen in sich als positiv oder negativ erfahren werden. Schmerz ist ein intrinsisch schlechtes Erleben,
Lust ein intrinsisch Gutes. Genauso ist Leiden notwendig ein als schlecht erlebter
mentaler Zustand, Freude ein notwendig als positiv erlebter mentaler Zustand.
Freude zu erleben, ist für den, der Freude erfährt, etwas in sich Gutes. Da sie
intrinsisch wertvoll ist, wird Freude um der Freude willen gewünscht. Sie verdient, gewünscht zu werden. Im Hedonismus entsteht auch nicht das Problem,
auf die Frage „Warum ist dies gut für mich?“ am Ende ohne Antwort dazustehen. Die Frage, ob es schlecht war, Schmerzen erlebt zu haben, kann jeder be-
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Teil B: Mensch
antworten, der je Schmerzen hatte. Es ist schlecht. Natürlich kann der Leidende
geistig einen Schritt neben sich treten und sagen, dass das Leid in einem größeren Zusammenhang, etwa in Bezug auf künftige Freuden, positiv zu bewerten sei.
Aber auch wenn dies so ist, ändert sich nichts daran, dass das Leid selbst als
schlecht erfahren wird. Auch wenn man sagt, es sei gut gewesen, zum Zahnarzt
zu gehen, heißt dies nicht, dass eine schmerzhafte Behandlung gut war. Sie
wurde als schlecht erfahren. Die mit dem Zahnarztbesuch verbundenen Schmerzen nimmt man nur in Kauf, um spätere stärkere Schmerzen und größeres Leid
zu verhindern.
Es besteht kein Grund, Qualia aus ethischen Argumenten auszuschließen. Dass
auch andere Personen und andere Lebewesen z. B. Schmerzen oder Leiden empfinden, kann zwar – selbst bei anderen Menschen, die über ihre Erfahrungen
berichten – nur durch Analogieargumente ermittelt werden, aber diese sind doch
nachvollziehbar und überprüfbar. Analogieargument heißt hier: Sind bestimmte
Umstände bei mir selbst mit einem inneren Erleben verbunden, so kann ich mit
einer großen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass dieselben oder ähnliche
Umstände auch bei anderen Wesen mit einem inneren Erleben verbunden sind.
Wenn ein Stich in den Finger bei mir Schmerz auslöst, muss ich mit einer großen Wahrscheinlichkeit annehmen, dass der Stich in den Finger auch bei einem
anderen Wesen, das physiologisch so aufgebaut ist wie ich, eine Schmerzempfindung auslöst. Ob es dieselbe Schmerzempfindung ist, die ich erlebe, kann ich
niemals mit Sicherheit annehmen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass der andere
etwas Analoges erlebt, ist so groß, dass ich davon ausgehen muss, dass eine
Schmerzempfindung vorliegt.
Nicht erlaubt wäre dagegen, bloß zu spekulieren oder zu behaupten, dass ein
mentaler Zustand bei einer anderen Person oder einem anderen Wesen vorliegt.
Wenn man sich aber bei der Begründung moralischer Normen nicht auf Feen
und Götter beziehen darf, dann muss man auch auf jede Spekulation etwa über
pflanzliches Empfinden oder ein Selbstbewusstsein von Pflanzen verzichten.
Dass nicht ausgeschlossen ist, dass Pflanzen etwas empfinden oder Selbstbewusstsein haben, reicht dann nicht aus, eine moralische Norm zu begründen. Es
muss positive Argumente geben, wieso Pflanzen etwas empfinden können oder
wieso sie ein Selbstbewusstsein haben.
f) Die Frage des Beweisstandards
Wenn wir bezüglich fremden Bewusstseins nie sicher sein können, ob ein mentaler Zustand vorliegt und – selbst bei anderen Menschen – auf Analogieschlüsse
angewiesen sind, stellt sich die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit zu sein
hat, dass ein mentaler Zustand bei einem anderen Wesen vorliegt. Naturwissen-
4. Ethik und die Herausforderung des ontologischen Naturalismus
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schaftlich wäre es falsch, etwas als gegeben anzunehmen, für dessen Existenz
wenige Indizien sprechen. Wenn man Indizienbeweise vorlegt, muss eine überzeugende Indizienkette dargelegt werden. Moralisch sind wir dagegen aufgefordert, bereits ersten Indizien, dass Schmerz oder Leiden vorliegt, Bedeutung zu
geben. Eine Zahnärztin ist aufgefordert, aufgrund erster Indizien zu handeln, die
auf ein Schmerzempfinden hindeuten. Der Grund ist der Folgende: Haben wir
eine moralische Pflicht, anderen Menschen oder anderen Lebewesen kein Leid
zuzufügen, bezieht sich dies stets auf die Situation vor der Handlung, also auf
einen Zeitpunkt, wo wir in der Regel nicht sicher wissen, ob der Schaden wirklich eintreffen wird oder nicht. Das Nicht-Schadensprinzip fordert auf, Handlungen zu unterlassen, die wahrscheinlich Leid zufügen werden. Sind wir unsicher, ob eine Handlung einem anderen Leid zufügt, haben wir die Handlung zu
unterlassen oder zumindest moralisch zu rechtfertigen. Es spielt aber eine Rolle,
ob es nur unsicher ist, ob unsere Handlung dem anderen Leid zufügen wird,
oder ob Unsicherheit darüber besteht, dass der andere dies als Leid empfinden
wird. Ist der Erwartungswert der Schadenszufügung gleich, haben wir beide
Handlungen gleich zu beurteilen. Dies heißt, dass die Ethik einen anderen Beweisstandard anlegt als die Naturwissenschaft. Dieser Punkt wird auch von David Dennett, einem ontologischen Naturalisten, festgehalten: „The dictates of
morality and scientific method pull in opposite directions here. The ethical
course is to err on the side of overattribution, just to be safe. The scientific course
is to put the burden of proof on the attribution.“9
Sind wir im Zweifel, ob ein Lebewesen leidet oder nicht, sollten wir moralisch
davon ausgehen, dass dies so ist. Aber „im Zweifel“ sein, heißt, dass es Gründe
für und gegen eine Auffassung gibt und wir unsicher sind, in welche Richtung
die Wahrheit weist. Nicht immer, wenn ein kleiner Zweifel an der Richtigkeit
einer Aussage besteht, können wir daher sagen, wir seien „im Zweifel, was richtig
ist.“ Wenn es um die Empfindungsfähigkeit der Pflanze geht, haben wir keine
positiven Indizien, die dafür sprechen, sondern können die Möglichkeit nur
nicht ausschließen. Der Zweifel, um den es hier geht, ist rein spekulativ. Bloße
Existenzbehauptungen und Spekulationen, dass etwas nicht logisch auszuschließen sei und der Fall sein könnte, dürfen in ethischen Argumenten keine Rolle
spielen.
g) Fazit
Die Herausforderung des ontologischen Naturalismus besteht nicht zuletzt
darin, dass auch Ethik als Wissenschaft der Moral auf Kriterien angewiesen ist,
welche Annahmen über die Außenwelt zulässig sind und welche nicht. Da mo9
Vgl. Dennett, Kinds of Mind, S. 6.
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Teil B: Mensch
ralische Urteile nur dann intersubjektive Verbindlichkeit beanspruchen können,
wenn sie nachvollziehbar und überprüfbar sind, muss sich auch die Ethik auf
einen ontologischen Naturalismus verpflichten. Sie darf sich nicht auf übernatürliche Entitäten berufen, deren Existenz nicht beweisbar ist, noch darf sie rein
spekulative Annahmen über die Welt in moralische Argumente einbeziehen.
Ethik muss naturwissenschaftliche Fakten berücksichtigen. Vorsicht ist jedoch
geraten, wenn es um die Interpretation der Fakten geht. Die Daten der Experimente von Benjamin Libet sind zu berücksichtigen, aber Ethiker müssen sich
nicht notwendig jenen Interpretationen anschließen, gemäss welchen diese Experimente die Willensfreiheit widerlegen.10 Gänzlich losgelöst von der Naturwissenschaft ist die Ethik, wenn es darum geht, welche moralische Bedeutung bestimmte Annahmen über die Außenwelt haben. Ist intersubjektiv bewiesen, dass
Fische empfindungsfähig sind und Leiden können, ist noch nichts darüber gesagt, ob eine Pflicht besteht, dieses Leiden moralisch zu berücksichtigen. Die
Notwendigkeit, innerhalb der Ethik einen ontologischen Naturalismus einzunehmen, engt freilich das Kandidatenfeld möglicher ethischer Theorien ein.
Welche Theorie zu wählen ist, muss an anderer Stelle erörtert werden.
Literatur
Altner, Günter: (Aufsatz in diesem Band „„„).
Dennett, Daniel C.: Kinds of Mind, Towards an Understanding of Consciousness, New
York: Basic Books, 1996
Dupré, John: Darwins Vermächtnis, Die Bedeutung der Evolution für die Gegenwart des
Menschen, Frankfurt: Suhrkamp, 2005
Huber Wolfgang; Der christliche Glaube, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008.
Mele, Alfred R: Effective Intentions, The Power of Conscious Will, Oxford: Oxford University Press 2009.
Keil,, Naturalismus und menschliche Natur, in: Wolf-Jürgen Cramm und Geert Keil
(Hg.), Der Ort der Vernunft in einer natürlichen Welt. Logische und anthropologische
Ortsbestimmungen, Weilerswist (Velbrück Wissenschaft) 2008, 192–215.
10
Vgl. hierzu insbesondere Mele, Effective Intentions.
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