Powerpointpräsentation - Theaterwissenschaft München

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1. Realismus und Naturalismus
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Theater des Realismus und
Naturalismus
PD Dr. Andreas Englhart
Inhalt der heutigen Vorlesung
1. Realismus und Naturalismus
2. Zeiten und Orte
3. Der Naturalismus in der Mediengeschichte
4. Avantgarde damals und heute und der Naturalismus
5. Naturalistische ‚Wirklichkeit‘ auf der Bühne
6. Gründungsinstitutionen
7. Programmatische und theoretische Positionen
8. Positivismus, Naturwissenschaft und Soziologie
9. Das naturalistische Drama
10. Die naturalistische Inszenierung und Aufführung
11. Folgen in Kunst und Gesellschaft
12. Naturalismus heute zwischen Postdramatik und Neorealismus
• Bsp.: William Shakespeare: Hamlet, R: Thomas Ostermeier,
Schaubühne Berlin 2008; Thomas Ostermeier: Erkenntnisse über
die Wirklichkeit menschlichen Miteinanders. Plädoyer für ein
realistisches Theater (2009; zu finden unter:
http://www.schaubuehne.de/uploads/Realistisches-Theater.pdf)
• Der theatrale Naturalismus ist auch ein theatraler Realismus, aber
in deutlich prägnanterer, übersteigerter bzw. programmatisch
zugespitzter Form
• Die Dramen Georg Büchners, vor allem sein Woyzeck aus dem
Jahr 1836, und Friedrich Hebbel mit seinem Stück Maria
Magdalena (1843) stellen so etwas wie die realistischen
Vorläufer der naturalistischen Dramatik dar
• Im Gegensatz zu dem im Dienste einer idealen Idee stehenden
Realismus schließt der Naturalismus das ‚Untere‘‚ ‚Negative‘,
‚Niedere‘ nicht aus
2. Zeiten und Orte
• Hochzeit des deutschen Naturalismus: etwa von
1890 bis 1900
• Die Auseinandersetzungs- und Durchsetzungszeit
wird durch Aufführungen zweier naturalistischer
Dramen von Gerhart Hauptmann, 1889 Vor
Sonnenaufgang und 1893 Die Weber, eingerahmt
• Unterschiedliche Publikumsreaktionen auf Vor
Sonnenaufgang (Skandalstimmung, Aufgeregtheit,
Zwischenrufe, erkennbar geteilte Meinungen) und
Die Weber (angepasstes, zustimmendes und
beeindrucktes Zuschauverhalten)
2. Zeiten und Orte
3. Der Naturalismus in der Mediengeschichte
• Wichtige Orte: in Deutschland Berlin und
München; europaweit Paris, London, Berlin und
Moskau
• Vgl. lokale Geschichte der Münchner
Kammerspiele; Kammer(!)-Spiele als Hinweis auf
Bezug zwischen Dramaturgie und Theaterbau
• Zum Münchner Naturalismus als wichtiger Teil
einer lokalen Theatergeschichte ist sehr zu
empfehlen (Sie finden es in unserer Bibliothek!):
Rainer Hartl: Aufbruch zur Moderne.
Naturalistisches Theater in München, 2 Bände,
München 1976
• Von Moskau über die Schauspielästhetik Stanislavskijs
nach den USA und über den populären Hollywoodfilm
globale Verbreitung
• Das neue Medium Film orientierte sich am
naturalistischen Stil so weit, dass man den heutigen
populären Film und die Fernsehästhetik als legitime
Erben des Naturalismus bezeichnen kann
• Mit dem Aufstieg des neuen Mediums Film hatte das
Theater als ‚realistisches‘, direkt ‚abbildendes‘ Medium
sowohl aus ästhetischen wie auch aus
produktionstechnischen und ökonomischen Gründen
wenig Chancen, die mediale und institutionelle
Konkurrenz auf dieser Ebene für sich zu entscheiden
2. Zeiten und Orte
4. Avantgarde damals und heute und der Naturalismus
• Paris als kulturelle Hauptstadt des
19. Jahrhunderts
• Man übernahm in Berlin eine naturalistische
Ästhetik, die sich zuvor in Paris ausgeprägt
hatte. Und in München orientierte man sich an
Berlin. Zugleich beeinflusste der Pariser
Naturalismus ähnliche Entwicklungen in London
und Moskau etc.
• In diesem Sinne war folgerichtig, dass sich die
Theaterreform nach der Jahrhundertwende, die
Theateravantgarde des frühen 20. Jahrhunderts und das
politische Theater etwa Piscators und Brechts gegen die
Ästhetik des Naturalismus im engeren Sinne
ausgesprochen haben
• Dieses Verdikt liegt noch heute allen Absetzbewegungen
vom Naturalismus der mehr oder weniger aktuellen
Theaterästhetiken wie der Postdramatik zugrunde
• Negatives Image des Naturalismus: Er markiert heute die
Positionen der ‚Mimesis‘ und der ‚Repräsentation‘ als
das, was man in performativen oder postdramatischen
Theaterformen auf jeden Fall nicht oder stark
zurückgenommen sehen will
4. Avantgarde damals und heute und der Naturalismus
5. Naturalistische ‚Wirklichkeit‘ auf der Bühne
• Um 1890 war der Naturalismus jedoch höchst
revolutionär, modern und markierte die Position, die
sich ganz ‚vorne‘ sah
• Skandal, durch naturalistische Dramatik und
Aufführungspraxis ausgelöst
• Man orientierte die naturalistische Abbildung der
sozialen ‚Realität‘ nicht am Mittelmaß, an der
gemäßigten Abbildung oder Einrichtung, sondern
vielmehr an spannenden, im Sinne von sensationellen
sozialen Umständen
• Der Naturalismus auf der Bühne wurde entgegen der
naturalistischen Theorie nicht unbedingt von allen
Zeitgenossen als der sozialen ‚Realität‘ angemessen
oder adäquat bewertet
• Es stellte sich die Frage, inwieweit das sogenannte
Hässliche oder Abartige der naturalistischen Bühne
wirklich der sozialen ‚Realität‘ entsprach oder nicht
einer theatralen Überbietungsstrategie der Naturalisten
geschuldet war
• Auf jeden Fall erst mal Skandal, da einige Zuschauer
regelmäßiges, dem Ideal der klassischen Schönheit
verpflichtetes Theater erwarteten. Man reagierte
teilweise schockiert auf das Eindringen der hässlichen
‚Wirklichkeit‘
5. Naturalistische ‚Wirklichkeit‘ auf der Bühne
6. Gründungsinstitutionen
• Äußerliches Elend und moralische Verkommenheit in
bestimmten Großstadtregionen
• Sog. Kranke, Geistesgestörte, Alkoholiker, Prostituierte
• Außenseiterfiguren erregten Mitleid, erzeugten vielleicht
Aufregung, provozierten das bürgerliche Publikum entgegen
den Befürchtungen der Obrigkeit jedoch nicht zu wirklich
revolutionären Aktionen
• Kritik am Naturalismus: Man präsentiere den Arbeiter nur im
Bordell, im Asyl und in der Kneipe, man inszeniere nicht den
selbstbewussten Arbeiter, sondern den Lumpenproletarier
• Bitte darüber nachdenken, ob nicht auch heutige Formen des
theatralen sozialen Bezugs der Ensemble- und
Repertoirebühnen als bürgerliche Zurschaustellung und
Vorführung von Unterschichten kritisiert werden könnten
(reiche Maximilianstraße und Hasenbergl)!
• Eingeschränkte Öffentlichkeit des Vereins als
institutioneller Rahmen
• Notwendigkeit, die innovative theatrale Ästhetik zuerst
nicht im öffentlichen Raum des allgemein zugänglichen
Theaters, sondern innerhalb der geschlossenen
Gesellschaft des Vereins auf die Bühne zu bringen
6. Gründungsinstitutionen
• 1889 Gründung der Freien Bühne in Berlin, eine
Einrichtung von Kritikern und Literaten (Theodor
Wolff, Maximilian Harden, Otto Brahm [der
Vorsitzende], Paul Schlenther, Heinrich und Julius Hart,
Julius Stettenheim, der Verleger Samuel Fischer und der
Rechtsanwalt Paul Jonas)
• 1887 gründete André Antoine in Paris das Théâtre Libre
als ersten europäischen Theaterverein, von dort aus
gelang es, den Naturalismus in Frankreich mit
Aufführungen von Leo Tolstoi, August Strindberg,
Gerhart Hauptmann und v. a. Henrik Ibsen zu verbreiten
7. Programmatische und theoretische Positionen
Zwei theaterrelevante Innovationen:
1. Modernes Drama, das der aktuellen
naturalistischen Ästhetik zuarbeitete
2. Eine spezifisch naturalistische Inszenierungsund Aufführungspraxis
Der Naturalismus hatte einen programmatischen
Anstrich; die Freie Bühne eröffnete am
29. September 1889 mit Henrik Ibsens
Gespenstern und nicht, wie oft üblich, mit einem
Stück von Schiller oder Goethe
6. Gründungsinstitutionen
7. Programmatische und theoretische Positionen
Antoine und sein Théâtre Libre wurden zum Vorbild für alle
ähnlich eingerichtete Institutionen in den anderen europäischen
Ländern:
• Independent Theatre Society, London (gegr. 1891)
• Moskauer Künstlertheater (gegr. 1898 durch Vladimir
Nemirovic-Dancenko und Konstantin Stanislavskij)
Im primär juristischen, dann aber auch soziologisch-politischen,
soziologisch-institutionellen und theaterästhetischen Sinne
wichtig war, dass die ersten naturalistischen Aufführungen nur in
geschlossenen Mitgliederversammlungen stattfinden konnten.
Die Unternehmung war letztlich elitär und führte keineswegs zur
Integration derjenigen Bevölkerungsschichten, die auf der Bühne
zu sehen waren
• Dieser programmatische Anstrich ergibt sich als
Eindruck vor allem durch die Vielzahl an theoretischen
Positionen, die mit der Hochzeit des Naturalismus
verbunden sind
• Empfehlung: Theorie des Naturalismus, hg. v. Theo
Meyer, Stuttgart 1986
• Die grundlegendste Schrift des Naturalismus ist Émile
Zolas Le naturalisme au théâtre (1879), die etwa zehn
Jahre später in Deutschland von Otto Brahm produktiv
aufgenommen und in seiner Abhandlung Der
Naturalismus und das Theater (1891) weitergeführt
wird
8. Positivismus, Naturwissenschaft und Soziologie
8. Positivismus, Naturwissenschaft und Soziologie
• Besonderes Merkmal des Naturalismus:
Naturwissenschaftlicher Kontext oder zwingender
Bezugspunkt in den wichtigsten bzw. einflussreichsten
wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit, die eine eher
materialistische und positivistische Perspektive auf die
Umwelt vertraten
• Evolutionstheorie, Physiologie, Soziologie und
Psychologie
• Versus[!] Idealismus (Kant, Schiller, Hegel, Schelling)
• Um diese Exaktheit zu erreichen, orientierte man sich
an der naturwissenschaftlichen Methode
• Auguste Comtes Positivismus; man ging von einem
empirischen Naturbegriff aus; Experiment
• Für Zola wurde insbesondere Claude Bernards 1865
erschienene Einführung in das Studium der
experimentellen Medizin zum Vorbild, er übertrug so
weit wie möglich die streng wissenschaftlich im Sinne
von experimenteller Methode Bernards auf die Literatur
8. Positivismus, Naturwissenschaft und Soziologie
8. Positivismus, Naturwissenschaft und Soziologie
• Alle wissenschaftliche Erkenntnis arbeitet innerhalb der
naturalistischen Ästhetik dem sogenannten Milieu als
die den Naturgesetzen unterworfene Umwelt auf der
einen und dem von der Umwelt direkt, erkennbar und
gesetzmäßig determinierten Menschen auf der anderen
Seite zu
• Auf der Bühne sollte eine der sozialen und
naturwissenschaftlichen ‚Realität‘ adäquate
Milieudarstellung zu sehen sein
• Der Begriff des Milieus ist eigentlich der zentralste
ästhetische Begriff
• Das richtige Milieu auf der naturalistischen Bühne
meinte die wissenschaftlich exakte Darstellung der
Wirklichkeit
• Wie ein Mediziner in der Anatomie die Leichen seziere,
so habe auch der Dramatiker den physiologischen und
psychologischen Menschen zu sezieren, um ihm in
seinem Erleben und vor allem Verhalten auf die
richtige, also wissenschaftlichen Gesetzen unterworfene
Spur zu kommen
• Ermittelt werden soll wie in einem Experiment, welchen
starken Determinationen der Mensch von außen, also
durch die äußeren Umstände des Milieus, wie auch von
innen, also durch vererbte Anlagen, unterworfen ist
8. Positivismus, Naturwissenschaft und Soziologie
• Aufgrund der starken Determination des Menschen
Gefahr des Rassismus, zumal für die Naturalisten neben
dem Milieu und die Zeit die Rasse der dritte wichtige
Determinationsfaktor für den Menschen war
• Man orientierte sich dabei an Comtes Schüler Hippolyte
Taine, der den Menschen als Produkt seines Milieus,
seiner Zeit und seiner Rasse betrachtete
• Arno Holz: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze
(1891). Da „[d]ie Kunst die Tendenz [hat], wider die
Natur zu sein䇾, muss gelten: „Kunstwerk = Natur minus
X䇿
9. Das naturalistische Drama
Georg Büchner: Woyzeck (1836) – Maxim Gorki: Nachtasyl
(1902) – Max Halbe: Jugend (1890) – Gerhart Hauptmann: Vor
Sonnenaufgang (1889) – Gerhart Hauptmann: Fuhrmann Henschel
(1889) – Gerhart Hauptmann: Die Weber (1892/93) – Gerhart
Hauptmann: Biberpelz (1893) – Gerhart Hauptmann: Florian
Geyer (1896) – Friedrich Hebbel: Maria Magdalena (1843) –
Arno Holz und Johannes Schlaf: Familie Selicke (1889) – Henrik
Ibsen: Die Stützen der Gesellschaft (1877) – Henrik Ibsen: Nora
oder Ein Puppenheim (1879) – Henrik Ibsen: Gespenster (1881) –
Henrik Ibsen: Ein Volksfeind (1882) – Henrik Ibsen: Die Wildente
(1884) – Henrik Ibsen: Hedda Gabler (1890) – August Strindberg:
Der Vater (1887) – August Strindberg: Fräulein Julie (1888) –
Hermann Sudermann: Die Ehre (1890) – Anton Tschechow: Die
Möwe (1896) – Anton Tschechow: Onkel Wanja (1897) – Anton
Tschechow: Drei Schwestern (1901) – Anton Tschechow: Der
Kirschgarten (1904) – Émile Zola: Thérèse Raquin (1867)
9. Das naturalistische Drama
• Eigenart der naturalistischen Dramatik, Dramaturgie;
Mensch handelt nicht selbstverantwortlich (vgl.
Goethes Götz oder Schillers Wilhelm Tell)
• Die Handlung wird stark zurückgenommen
zugunsten der Darstellung des relevanten Milieus
• Aus der Tat des Helden wird der Zustand des Opfers
• Der Mensch ist weitgehend unfrei, er wird bestimmt
durch die soziale, psychologische und physiologische
Umwelt
• Der Nebentext mit seinen Details wird wichtiger, da
er Ort, Zeit und Verhalten der Figuren oft genau
vorgibt
9. Das naturalistische Drama
• Zudem wird im naturalistischen Drama der Dialog
problematisch; die Figuren, die oft einen starken Dialekt
sprechen, verstehen sich zuweilen nicht oder reden wie in
Anton Tschechows Drei Schwestern ständig aneinander
vorbei
• Vgl. hierzu Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas
(1956), gehört zu den wichtigsten Büchern in Ihrem Studium!
• Die Handlung ist im naturalistischen Drama nicht mehr
geschlossen oder abgerundet
• Anfang und Ende bleiben häufig offen
• Folge aneinandergereihter Szenen, die eher das Milieu
darstellen und weniger im Dienst einer linearen Handlung
stehen
10. Die naturalistische Inszenierung und Aufführung
• Die inszenierten Orte und Menschendarstellungen sollten
möglichst ‚authentisch‘ wirken
• Die SchauspielerInnen sollten nicht in das traditionelle,
gewohnheitsmäßige, effektvolle Virtuosentum
zurückfallen, sondern sich in eine alles umfassende
Bühnenästhetik einordnen
• Das Bühnenbild hatte sich zu integrieren
• Typische und institutionell gewohnte Ausstattungen, die
ökonomisch günstig und institutionell effizient eingesetzt
wurden, sollte es nicht geben
• Für jede einzelne Inszenierung sollte ein
charakteristischer, am Milieu und den
Naturgesetzmäßigkeiten orientierter Bühnenraum
geschaffen werden
10. Die naturalistische Inszenierung und Aufführung
• Das Theater der Naturalisten könnte (mit aller
Vorsicht!) genauso wie das Theater der Meininger
als so etwas wie frühes Regietheater bezeichnet
werden
• Das Theater Georg II., Herzog von SachsenMeiningen (1826–1914) als Vorbild
• Das Bühnenbild wurde nicht mehr nur auf Kulissen
gemalt, sondern um dreidimensionale Objekte
erweitert
• Tendenz vom Bühnen-Bild zum Bühnen-Raum
10. Die naturalistische Inszenierung und Aufführung
• Nicht der Produktionszufall bzw.
institutionelle Zwänge sollten die Regie
übernehmen, sondern dass alles nach gewissen
Naturgesetzmäßigkeiten, die wissenschaftlich
ermittelbar waren, ablief
• So wie in der Natur die Naturgesetze regieren
und das Leben der Menschen weitgehend
determinieren, so hatten sich auch die
SchauspielerInnen, die Kostüme, die
Requisiten und der Bühnenraum in die
Gesamtinszenierung einzufügen
10. Die naturalistische Inszenierung und Aufführung
• Die Umwelt der Handelnden - in der Inszenierung
umgesetzt in die naturalistische Ästhetik des
Bühnenraums - gewinnt dramatische Qualitäten,
wird Teil des performativen Ausdrucks
• Das Verhalten und das Erleben der Figuren
erklären sich oft nicht mehr durch die Aussagen
der Personen, die ja zuweilen selbst nicht wissen,
was und warum sie etwas tun. Sondern sie
werden zu einem großen Teil durch die Umwelt,
auch ausgedrückt im Bühnenbild, erklärt
10. Die naturalistische Inszenierung und Aufführung
• Zola forderte bereits in seiner programmatischen
Schrift Le naturalisme au théâtre (1879), dass die
SchauspielerInnen nicht mehr, wie bisher, in ihrer
Rollendarstellung künstlich, übertrieben oder
unnatürlich spielen sollten
• Das konnte bis zur Forderung Antoines nach
LaiendarstellerInnen gehen; vgl. heute ‚Experten
des Alltags‘ bei Rimini Protokoll oder
Integrierung von ‚echten‘ Arbeitslosen und
Prostituierten bei Volker Lösch
10. Die naturalistische Inszenierung und Aufführung
• Aber nicht nur die SchauspielerInnen hatten das Milieu
einzurichten, sondern auch deren Kostüme
• Unerwünscht waren effektvolle, prachtvolle Kostüme
• Besonders wichtig: erkennbarer Bezug zwischen
Schauspielkunst und Bühnenraum (Gesamterleben und
Gesamteindruck!)
• Alles sollte darauf hinarbeiten, dass das weitgehendste
Abbild eines den Zuschauern bekannten Milieus zu
rezipieren ist
• SchauspielerInnen sollten im Bühnenraum ihre Rollen
‚leben können‘ und möglichst wenig ‚spielen‘ müssen
10. Die naturalistische Inszenierung und Aufführung
• Von Brahm bis Stanislawskij (und bis Thomas
Ostermeier heute!): Das Drama war notwendiger
Ausgangspunkt der Inszenierung, der Schauspieler
• SchauspielerInnen sollten sich nicht an den
traditionellen Rollenklischees,
Darstellungsstereotypen und Theaterkonventionen
orientieren, sondern mithilfe der neuen Dramatik zur
‚natürlichen‘ Darstellung gelangen
• Hinzu kamen das individuelle Erleben und
Empfinden, der Charakter und die Persönlichkeit der
SchauspielerInnen (vs. effektvolles Deklamieren der
VirtuosendarstellerInnen)
10. Die naturalistische Inszenierung und Aufführung
• Der Bühnenraum und die Kostüme wurden im
naturalistischen Theater zum Mit-Spieler
• Dass mehr vom Bühnenraum als vom Bühnenbild
gesprochen wird, hat damit zu tun, dass im naturalistischen
Theater die sogenannte Vierte Wand besonders wichtig
wird
• Für die Zuschauer bedeutete die Vierte Wand, dass sie auf
die Bühne wie in ein Aquarium blickten, oder, wie es im
1890 an der Freien Bühne Berlin uraufgeführten Stück
Familie Selicke von Arno Holz und Johannes Schlaf hieß:
Man solle hineinsehen „in ein Stück Leben wie durch ein
Fenster“ (vgl. Filmästhetik)
• Bsp.: Gerhart Hauptmann: Die Ratten (1911), R.: Michael
Thalheimer, Deutsches Theater Berlin 2007
10. Die naturalistische Inszenierung und Aufführung
Zum Vergleich: Die Bühne im heutigen Regietheater,
hier Anton Tschechow: Drei Schwestern, R.: Andreas
Kriegenburg, Münchner Kammerspiele 2006
Die Initiatoren, Darsteller und Produzenten des
Naturalismus waren fast ausschließlich bürgerlicher
Herkunft. Nachdem man sich erst um die unteren
Schichten bemühte (zumindest ließ man das
verlauten), hielt das in den 1890er Jahren
eingegangene Bündnis von Moderne und
Sozialdemokratie nicht lange
11. Folgen in Kunst und Gesellschaft
• Obwohl von den staatlichen Institutionen
befürchtet, kam es niemals zu revolutionären
Umtrieben. Der Naturalismus wirkte vor allem im
Bereich der Kunst
• Symbolismus, Theaterreform, Avantgarde,
episches Theater
• U. a. Brecht und Piscator zogen aus dieser
Folgenlosigkeit die Konsequenzen: episches
Theater (siehe Vorlesung hierzu im SS)
• Heute Gefahr des hippen Unterschichtenguckens
im angeblich sozial grundierten
Gegenwartstheater
12. Naturalismus heute zwischen Postdramatik und
Neorealismus
• Aktuell: Vehemente Kritik des postdramatischen Theaters
und der postmodernen Philosophie
• In der Philosophie Neuer Realismus, etwa Markus Gabriel
oder Maurizio Ferrari
• Thomas Ostermeier: Erkenntnisse über die Wirklichkeit
menschlichen Miteinanders. Plädoyer für ein realistisches
Theater (2009)
• Bernd Stegemann: Kritik des Theaters, Berlin 2013
• Milo Rau: Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft,
Zürich 2013
• Bsp.: Jens Hillje / Nurkan Erpulat: Verrücktes Blut, R.:
Nurkan Erpulat, Ballhaus Naunynstraße 2010
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