Realismus und Antirealismus II - UK-Online

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Naturalismus und Menschenbild
Kölner Forum
für Psychotherapie, Kunst und Philosophie
12. Januar 2009
Thomas Grundmann, Universität zu Köln
1
Das Manifest der Neurowissenschaftler
 Gehirn & Geist 6/2004:
„man wird widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte
und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen, denn sie
beruhen auf biologischen Prozessen.“
„Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns also in absehbarer
Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus.“
 Credo der Autoren: Die Naturalisierung des Geistes erfordert eine
Revision unseres Menschenbildes und Selbstverständnisses.
 Meine Gegenthese: Das ist ganz falsch! Nur die Realisierung des
naturalistischen Programms kann unser Menschenbild bewahren!
2
Überblick
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Alltägliches Weltbild und Wissenschaft
Alltägliches Selbstverständnis und naturwissenschaftliches
Menschenbild
Der Konflikt beider Perspektiven
Konsequenzen für unser Selbstverständnis
Drei mögliche Auswege: Kant – Habermas - Naturalismus
Das Programm und die Aussichten des Naturalismus
Schlussbemerkung zu Libet
Fazit
3
1-1 Alltägliches Weltbild und Wissenschaft





Die Welt ist an sich (objektiv) nicht immer so, wie sie uns alltäglich
und vortheoretisch erscheint.
Die Erscheinung der Welt beruht auch auf
 perspektivischen Verzerrungen
 Ideologien und psychologischen Voreingenommenheiten
 Beitrag unserer Sinnesphysiologie zum Wahrnehmungsbild
Die Wissenschaft soll die Verzerrungen des alltäglichen Weltbildes
korrigieren und zugleich erklären, welche Ursachen diese
Verzerrungen haben (Objektivierung).
Dabei kann es sich um kollektive Verzerrungen handeln, in denen alle
Menschen übereinstimmen.
Die Objektivierung ist wünschenswert, weil wir ein wahres Bild der
Welt anstreben.
4
1-2 Alltägliches Weltbild und Wissenschaft
 Beispiele für fehlerhafte Aspekte unseres alltäglichen
Weltbildes:
1.
2.
„Die Sonne dreht sich um die Erde. Sie geht morgens auf und
abends unter.“
Erst Kopernikus entdeckt, dass die Erde um die Sonne kreist und das
sich der alltägliche Eindruck durch die Eigenbewegung des
Beobachters erklären lässt.
„Die Dinge sind farbig, haben Geschmack und Geruch in genau
demselben Sinne wie Form, Größe oder Festigkeit.“
Das wissenschaftliche Weltbild eliminiert sekundäre Eigenschaften aus
der Außenwelt (sie haben keinen physikalischen Erklärungswert) und
sieht in ihnen unsere Projektionen aufgrund unserer anthropologischen
Wahrnehmungsausstattung.
5
1-3 Alltägliches Weltbild und Wissenschaft
 Beispiele für fehlerhafte Aspekte unseres alltäglichen
Weltbildes (Fortsetzug)
3.
4.

„Eine Erkältung bekomme ich, weil ich kalt geworden bin.“
Tatsächlich sind Frösteln und Fieber beides Symptome eines zugrunde
liegenden Krankheitsgeschehens. Fehlschluss von der regelmäßigen
Abfolge auf eine Kausalbeziehung.
„Auf der rechten Seite sind qualitativ bessere Waren ausgelegt.“
Psychologischer Positionseffekt: Alltagsmenschen erscheint Ware
gleicher Qualität besser, wenn sie rechtsseitig ausliegt. Qualitätsurteile
werden durch räumliche Position beeinflusst.
Wir sollten unser alltägliches Weltbild durch Einsichten der
Wissenschaften korrigieren.
6
2-1 Alltägliches Selbstbild
 Aus der Perspektive der ersten Person erleben wir uns
alltäglich als Subjekte:





Wir haben intentionale Zustände (Gedanken, Meinungen,
Wahrnehmungen, Wünsche, Absichten).
Viele intentionale Zustände sind ich-zentriert („Vor mir sehe ich
das interessierte Publikum“)
Ich habe phänomenales Bewusstsein (das eine subjektive
Erlebnisqualität besitzt).
Wir sind Akteure: unser Verhalten wird durch unsere intentionalen
Zustände verursacht und kontrolliert.
Wir sind verantwortliche Personen, die zwischen verschiedenen
Optionen frei aufgrund von Gründen entscheiden.
7
2-2 Naturwissenschaftliches Menschenbild
 Das naturwissenschaftliche Menschenbild beruht auf der
Beobachterperspektive der 3. Person:




Der Mensch ist Teil der materiellen/physikalischen Welt.
Der Mensch ist ein körperliches Ding, das sich in seiner
Umgebung verhält.
Sein Verhalten wird kausal durch neuronale Prozesse erklärt, die in
ihm ablaufen und deren Strukturen durch biologische Prozesse und
Umwelteinflüsse geformt werden.
Der Kausalzusammenhang der natürlichen Welt ist geschlossen:
Prinzip kausaler Geschlossenheit: Jedes Ereignis in der natürlichen
Welt (einschließlich des menschlichen Verhaltens) wird kausal
vollständig durch natürliche Ursachen erklärt.
8
2-3 Naturwissenschaftliches Menschenbild
 Ist das Prinzip der kausalen Geschlossenheit (PKG) der
natürlichen Welt an eine deterministische Physik
gebunden?




Determinismus: Die Vorgeschichte und die Naturgesetze
erzwingen alle weiteren Ereignisse in der Welt.
Quantentheorie ist indeterministisch (nur
Ereigniswahrscheinlichkeiten werden bestimmt).
Deterministische Version des PKG: Jedes natürliche Ereignis hat
eine hinreichende natürliche Ursache.
Interdeterministische Version des PKG: Die Wahrscheinlichkeit,
mit der ein natürliches Ereignis auftritt, wird hinreichend durch die
natürliche Ursache bestimmt.
9
3-1 Konflikt der Perspektiven
1.
Die objektive naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt ist nicht
vollständig. Nagel 1986, S. 5f.:
„A succession of objective advances may take us to a new conception
of reality that leaves the personal or merely human perspective further
and further behind. But if what we want is to understand the whole
world, we can‘t forget about those subjective starting points
indefinitely; we and our personal perspectives belong to the world.
One limit encountered by the pursuit of objectivity appears when it
turns back on the self and tries to encompass subjectivity in its
conception of the real. The recalcitrance of this material to objective
understanding requires both a modification of the form of objectivity
and a recognition that it cannot by itself provide a complete picture of
the world.“
10
3-2 Konflikt der Perspektiven
Argumente für die Unvollständigkeit der objek. Beschreibung:
A1 Fehlende Zentrierung (Lewis):
Nehmen Sie an, ich wäre gottgleich darin, dass ich alle objektiven
Tatsachen der Welt kenne. Ich würde alle Gesetze kennen, alle
singulären Tatsachen in der belebten und unbelebten Welt,
einschließlich ihrer ganzen Geschichte. Ich würde alle Menschen
kennen, darunter eine namens Thomas Grundmann. Ich wüsste von
dieser Person, genau wie von jeder anderen, welche Biografie,
Geschichte und welche gegenwärtigen Gedanken, Wünsche und
Empfindungen sie hat. Ích wüsste aber eines nicht: dass ich Thomas
Grundmann bin. Im Rahmen der objektiven Weltbeschreibung hätte
ich micht nicht lokalisiert. Dass ich eine bsetimmte Person in der Welt
bin, ist nichts, was die objektive Beschreibung der Welt enthält.
11
3-3 Konflikt der Perspektiven
Argumente für die Unvollständigkeit der objek. Beschreibung:
A2 Fehlen von phänomenalem Bewusstsein in der objektiven
Beschreibung (Chalmers Zombie Argument).
A3 Die objektive Beschreibung der Tatsachen lässt die
Bedeutung unerfasst.
Aber: Selbst wenn die objektive naturwissenschaftliche Weltbeschreibung
unvollständig ist und wichtige Aspekte unseres Selbstverständnisses
außer Acht lässt, bedeutet das nicht, dass beide Perspektiven im
Konflikt steht. Das würde sich nur ergeben, wenn das
naturwissenschaftliche Weltbild Vollständigkeit beansprucht
(Naturalismus).
12
3-4 Konflikt der Perspektiven
2.
Wenn subjektive Tatsachen nicht in den Bereich der natürlichen Welt
gehören, dann sind sie kausal unwirksam.
Das widerspricht unserem Selbstverständnis als Akteure.
Arg.
(P1) Subjektive Tatsachen gehören nicht in den Bereich der natürlichen
Tatsachen.
(P2) Die natürlichen Tatsachen (einschließlich des menschlichen
Verhaltens) sind kausal geschlossen.
---(K) Subjektive Tatsachen sind keine Ursachen von Verhalten.
(Es ist eine Illusion, dass wir Akteure sind.)
13
3-5 Konflikt der Perspektiven
3.
Alle bewussten Entscheidungen sind Wirkungen von
unbewussten Gehirnprozessen und deshalb nicht frei.
Das widerspricht unserem Selbstverständnis als
verantwortliche Personen.
Aus 2. und 3. zusammen ergibt sich, dass bewusste
Entscheidungen epiphänomenal sind: Wirkungen von
neuronalen Prozessen, die selbst keine Wirkungen
haben.
14
3-6 Konflikt der Perspektiven
Wolfgang Prinz 2004:
 „Wir glauben, dass wir, wenn wir handeln, uns erst entscheiden und
dann tätig werden. Ich als mentaler Akteur kommandiere meinen
physischen Körper: Ich tue, was ich will. Die Wissenschaft erklärt
unser Handeln anders. Der Interpretation des Libet-Versuchs zufolge
findet eine Entscheidung früher im Gehirn als Im Bewusstsein einer
Person statt.“
 „Die Idee eines freien menschlichen Willens ist mit wissenschaftlichen
Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren. Wissenschaft geht
davon aus, dass alles, was geschieht, seine Ursachen hat (…).“
 Die Alltagspsychologie ist dualistisch: Sie unterscheidet zwischen
mentalen und physischen Sachverhalten, und sie glaubt, dass der Geist
den Körper regiert. Wenn wir wissenschaftlich denken, ist diese
dualistische Position unhaltbar.“
15
4 Wie schlimm wäre die Revision unseres
Menschenbildes?
1.
2.
3.
4.
Verantwortlichkeit wäre problematisch (Strafen ließe sich
nur als Sozialtechnik rechtfertigen).
Im strengen Sinne gäbe es keine Handlung mehr (sondern
nur Verhalten).
Wir wären nachträglich rationalisierende Beobachter
unseres eigenen Verhaltens.
Epiphänomenalismus bewusster Gedanken ist keine stabile
Position:



Es gibt keine echte Rationalität.
Unsere Aussagen über eigene mentale Zustände verlieren ihren
Gehalt.
Selbstwissen wird problematisch.
16
5-1 Mögliche Lösungen des Konflikts
(A) Kants Kompatibilismus der Perspektiven:
(P1) Subjektive Tatsachen gehören nicht in den Bereich der natürlichen
Tatsachen.
(P2) Die natürlichen Tatsachen (einschließlich des menschlichen
Verhaltens) sind kausal geschlossen.
---(K) Subjektive Tatsachen sind keine Ursachen von Verhalten.
(Es ist eine Illusion, dass wir Akteure sind.)
 Nach Kant ist das Argument gar nicht gültig: Auch wenn die
natürlichen Tatsachen kausal geschlossen (und sogar determiniert
sind), kann es dennoch zugleich übernatürliche (freie) Ursachen
natürlicher Tatsachen (Verhalten) geben.
17
5-2 Mögliche Lösungen des Konflikts
(A) Kants Kompatibilismus der Perspektiven (Fortsetzung):
Kant hält eine kausale Überdeterminierung des Verhaltens durch zwei
voneinander unabhängige, jeweils hinreichende Ursachen für möglich.
„Die Wirkung (das Verhalten, TG) kann also in Ansehung ihrer
intelligiblen Ursache als frei, und doch zugleich in Ansehung der
Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der
Natur, angesehen werden.“ (KrV, B 565)

Für Kant ist Kausalität aus Freiheit möglich, aber nicht erkennbar.
18
5-3 Mögliche Lösungen des Konflikts
Warum Kants Kompatibilismus nicht funktioniert:
(1) Wenn Verhalten X durch die Natur kausal determiniert wird, dann ist
es unmöglich, dass es (gegeben die natürliche Vorgeschichte) anders
ausgefallen wäre.
(Prämisse von Kant)
(2) Jedes Verhalten wird durch die Natur kausal determiniert.
(Prämisse von Kant)
(3) Es ist unmöglich, dass (gegeben die natürliche Vorgeschichte) das
Verhalten X anders ausgefallen wäre. (1), (2)
(4) Wenn das Verhalten X durch eine intelligible Ursache (frei) verursacht
wird, dann wäre es anders ausgefallen, wenn (trotz konstanter
natürlicher Vorgeschichte) die intelligible Ursache (Entscheidung)
anders ausgefallen wäre.
(5) Verhalten X kann nicht durch eine intelligible Ursache verursacht
werden.
(3), (4)
19
5-4 Mögliche Lösungen des Konflikts
(B) Habermas (2008) attackiert Prämisse (2):
(P1) Subjektive Tatsachen gehören nicht in den Bereich der natürlichen Tatsachen.
(P2) Die natürlichen Tatsachen (einschließlich des menschlichen Verhaltens) sind
kausal geschlossen.
---(K) Subjektive Tatsachen sind keine Ursachen von Verhalten.
(Es ist eine Illusion, dass wir Akteure sind.)


Habermas 1: Die derzeitige Naturwissenschaft gibt noch keine
lückenlose Kausalerklärung und hängt immer noch von
lebensweltlichen Hintergrundannahmen ab. Deshalb ist (P2) falsch.
Habermas 2: Wenn wir ein monistisches Weltbild anstreben, dann
wenigtens kein naturalistisches.
20
5-5 Mögliche Lösungen des Konflikts
 Die Hintergrundargumentation von Habermas
1.
2.
K
Rationalität und Begründung lässt sich nicht naturalistisch
objektivieren.
Rationalismus und Begründung werden aber von jeder
wissenschaftlichen Theorie performativ vorausgesetzt.
Also ist eine vollständige wissenschaftliche Objektivierung der
Welt (Naturalismus) nicht konsistent möglich.
Kr. Dass (1) richtig ist, müsste erst noch gezeigt werden. Dagegen
spricht der erkenntnistheoretische Naturalismus!
21
5-6 Mögliche Lösungen des Konflikts
Warum Habermas‘ Argument gegen (P2) nicht überzeugt:
 Die Wissenschaft ist niemals vollständig abgeschlossen.
Daraus folgt aber nicht, dass die natürlichen Tatsachen
kausal nicht geschlossen sind.
 Für die kausale Geschlossenheit sprechen zwei Argumente:


Energieerhaltungssatz der Thermodynamik (2. Hauptsatz).
Methode der Physik: Es wird immer nur nach physikalischen
Ursachen für physikalische Wirkungen gesucht.
22
5-7 Mögliche Lösungen des Konflikts
(C) Naturalismus greift (P1) an:
(P1) Subjektive Tatsachen gehören nicht in den Bereich der natürlichen Tatsachen.
(P2) Die natürlichen Tatsachen (einschließlich des menschlichen Verhaltens) sind
kausal geschlossen.
---(K) Subjektive Tatsachen sind keine Ursachen von Verhalten.
(Es ist eine Illusion, dass wir Akteure sind.)

Wenn sich subjektive Tatsachen (Intentionalität, phänomenales
Bewusstsein und freie Entscheidungen) ontologisch auf natürliche
Tatsachen zurückführen lassen (obwohl ihre Beschreibung sich nicht
aus der objektiven Weltbeschreibung ableiten lässt), dann könnten sie
auch Ursachen unseres Verhaltens sein.
23
5-8 Mögliche Lösungen des Konflikts
(C) Bemerkungen zum Naturalismus:
1.
2.
Ontologischer Naturalismus: alle Tatsachen hängen ab von natürlichen
(materiellen, physikalischen) Tatsachen.
Keine Identität, sondern Supervenienz (lässt vielfache Realisierung zu).
Supervenienz: Als Gott alle natürlichen Tatsachen geschaffen hatte, war er
mit der Schöpfung fertig.
Ontologische Supervenienz impliziert nicht, dass alle Sätze ableitbar sein
müssen aus physikalischen Sätzen.
Bewahrender Naturalismus (im Unterschied zum eliminativen
Naturalismus): alle Tatsachen haben eine physikalische Realisierung.
Nicht: Es gibt nichts als physikalische Tatsachen.
24
5-9 Mögliche Lösungen des Konflikts
(C) Bemerkungen zum Naturalismus:
3.
Fehler von Wolfgang Prinz (2004):
 Prinz nimmt einfach an, dass unsere Alltagspsychologie
dualistisch ist.
 Dafür wäre erst einmal eine Begriffsanalyse nötig, die gar nicht
vorgenommen wird.
 Prinz setzt auch voraus, dass Willensfreiheit das neue Anfangen
einer Kausalkette impliziert (Erstursache).
4.
Fazit:
Unser Selbstverständnis und Menschenbild aus der Perspektive der
ersten Person lässt sich nur retten, wenn sich das Programm des
bewahrenden ontologischen Naturalismus für die subjektive
Perspektive erfolgreich durchführen lässt.
25
6-1 Programm / Aussichten des Naturalismus
 Naturalisierung der Bedeutung
1.
2.
3.
Basale Geist-Weltbeziehung beruht auf Kausalrelationen zwischen
Vorstellungen und Gegenständen.
Problem der Fehlrepräsentation oder Fehlanwendung von Begriffen: Die
Repräsentation FLIEGE kann fälschlich auf eine kleine schwarze Kugel
angewandt werden. Das lässt sich kausal nicht erklären (normative
Dimension der Bedeutung).
Lösungsvorschlag: Repräsentationen erwerben ihre Bedeutung dadurch,
dass sie in der Vergangenheit mit einer Tatsache korreliert waren, und
davon der Benutzer (phylogenetisch oder ontogenetisch) profitiert hat.
Weil der schwarze Punkt auf der Retina des Frosches immer mit Fliegen
korreliert war, hat er ein erfolgreiches Fliegenfangverhalten des Frosches
ausgelöst. Dadurch hat der Punkt auf der Retina historisch die Funktion
erworben FLIEGEN anzuzeigen. Und zwar auch dann, wenn tatsächlich
gar keine Fliege in der Umgebung vorhanden ist. (Biosemantik, Millikan
2004)
26
6-2 Programm / Aussichten des Naturalismus
 Naturalisierung der Bedeutung (Fortsetzung)



Bedeutungen sind nicht im Gehirn!
Wenn die geistige Bedeutung von Beziehungen zwischen
neuronalen Zuständen und der Außenwelt abhängt
(Kausalbeziehungen, evolutionäre Geschichte), dann ist die
Bedeutung (der Geist) nicht im Gehirn (allein).
Die Supervenienzbasis schließt (historische) Beziehungen zur
Umwelt mit ein.
Erklärungsversuche können also nicht an die Neurowissenschaften
deligiert werden.
27
6-3 Programm / Aussichten des Naturalismus
 Naturalisierung der Willensfreiheit
1.
Freie Entscheidungen sollen Verantwortlichkeit der Person
erklären. Wenn jedoch eine freie Entscheidung ein neuer Anfang
einer Kausalkette wäre, die zur Handlung führt, dann wäre die
Entscheidung gegenüber den rationalen Überlegungen der Person
rein zufällig.
Der Akteur kann für seine Entscheidung und die daraus
resultierende Handlung nur dann verantwortlich gemacht werden,
wenn sie durch seine eigenen Überlegungen gebunden ist und ihm
zuschreibbar ist.
Das schließt Erstursächlichkeit aus!
28
6-4 Programm / Aussichten des Naturalismus
 Naturalisierung der Willensfreiheit (Fortsetzung)
2.
Normalerweise nehmen wir an, das folgendes Prinzip alternativer
Möglichkeiten gilt:
(PAP) Eine Person S ist für ihre Handlung X nur dann verantwortlich,
wenn sie auch anders hätte entscheiden und handeln können.
 PAP ist in einer kausal geschlossen natürlichen Welt nicht erfüllt.
29
6-5 Programm / Aussichten des Naturalismus
 Naturalisierung der Willensfreiheit (Fortsetzung)

PAP ist unplausibel (Frankfurt 2001; S. 59ff)
Ein Auftragsmörder Jones wird von Black beauftragt, einen Mord
zu begehen. Um sicherzustellen, dass Jones den Mord in jedem
Fall begeht, wird Jones, ohne dass er es merkt, ein Gerät ins
Gehirn eingesetzt, mit dem Black die Entscheidung von Jones
direkt manipulieren kann, wenn dieser die Entscheidung nicht von
allein trifft. Nun trifft Jones seine Entscheidung von sich aus. Jede
andere Entscheidung würde Black aber durch Manipulation
verhindern. Wenn Black nicht eingreift, scheint Jones
verantwortlich, obwohl er nicht anders entscheiden könnte.
30
6-6 Programm / Aussichten des Naturalismus
 Naturalisierung der Willensfreiheit (Fortsetzung)



Negativ: Für Willensfreiheit sind also weder Erstursächlichkeit
noch alternative Entscheidungsmöglichkeiten erforderlich.
Positiv: Eine Entscheidung ist frei, wenn sie dem entspricht, was
eine Person wirklich will. Das hängt von ihren Gründen zum
Zeitpunkt ihrer Entscheidung und von ihrer Biografie ab.
Das schließt die Willensfreiheit in folgenden Fällen aus:
 Sucht- oder Triebhandlung
 Manipulation durch Gehirnwäsche
31
7-1 Schlussbemerkung zu Libet
 Das klassische Experiment:
Probanden werden gebeten, zu einem beliebigen Zeitpunkt die rechte
Hand zu bewegen. Über EEG wird das Bereitschaftspotential im
Kortex gemessen, das die Ursache für die Handlung sein soll.
Gleichzeitig sollen sich die Versuchspersonen auf einer schnell
laufenden Uhr merken, wann sie sich für die Bewegung entscheiden.
 Überraschendes Resultat:
Das Bereitschaftspotential tritt deutlich früher auf (-550ms) als die
bewusste Entscheidung (-200ms).
 Nahe liegende Interpretation:
Die bewusste Entscheidung wird erst getroffen, nachdem das Gehirn
unbewusst bereits die Handlung ausgelöst hat.
32
7-2 Schlussbemerkung zu Libet
 Kritik dieser Interpretation:
E1
E2
Wenn das Bereitschaftspotential eine Ursache in der Kausalkette ist,
dann schließt das die bewusste Entscheidung als Ursache nicht aus.
Vielleicht ist das Bereitschaftspotential gar nicht hinreichend für die
Handlung, sondern nur eine Motivation, die Entscheidung zu treffen
(steigender Erwartungsdruck etc.)
Libet zeigt nicht, dass bewusste Entscheidungen Epiphänomene sind!
33
8 Fazit




Unser alltägliches Selbstverständnis von bewussten und freien
Akteuren lässt sich nur dann bewahren, wenn sich das Programm des
Naturalismus durchführen lässt.
Der bewahrende Naturalismus bedroht unser herkömmliches
Menschenbild nicht, sondern stabilisiert es.
Wenn sich die wesentlichen Aspekte unseres alltäglichen
Selbstverständnisses allerdings nicht naturalisieren lassen, dann stehen
uns erhebliche Erschütterungen des Menschenbildes bevor.
Ob die Naturalisierung gelingt oder nicht, hängt nicht nur von den
empirischen Tatsachen ab, sondern vor allem auch von der
philosophischen Analyse der grundlegenden Aspekte der Subjektivität.
34
Literatur






Frankfurt, H.G. 2001: „Alternative Handlungsmöglichkeiten“ (1969),
in: M. Betzler & M. Guckes, Freiheit und Selbstbestimmung, Berlin,
53-64.
Habermas, J. 2008: „Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft.
Probleme der Willensfreiheit“, in: P. Janich, Naturalismus und
Menschenbild, Hamburg: Meiner, 15-29.
Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und
Zukunft der Hirnforschung, in: Geist und Gehirn 6/2004, 30-37.
Millikan, R. 2004: Varieties of Meaning, MIT.
Nagel, T. 1986: The View from Nowhere, Oxford UP.
Prinz, W. 2004: „Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch“, in: C.
Geyer, Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt: suhrkamp, 20-26.
35
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