1 ___________________________________________________________________________ 2 Musikstunde mit Werner Klüppelholz Das Leben! ist die Kunst John Cage zum 100. Geburtstag SWR 2, 3. – 7. September 2012, 9h05 – 10h00 V Indikativ Jeder Mensch ist das Zentrum des Universums: Für solchen Glauben muss man nicht Buddhist, da genügt es schon, Komponist zu sein. Beethoven wollte so komponieren wie Wagner – behauptet Richard Wagner, Webern wollte so komponieren wie Stockhausen – behauptet Karlheinz Stockhausen und der atonale Anton Webern wittert Atonalität hinter jedem dritten Takt seit dem 16. Jahrhundert. Die Komponisten hören nur das aus fremder Musik heraus, was sie hören wollen, da gleichen sie ganz den Kritikern. John Cage macht darin keine Ausnahme, zumindest in jungen Jahren. „Es handelt sich um ein Konzert, bei dem der Solist nicht bloß seine Virtuosität entfaltet, sondern um eines, in dem die musikalischen Beziehungen auch Beziehungen zwischen Menschen sind. Besonders klar wird dies im letzten Satz, wo das Orchester sich martialisch aufspielt, während das Cello für sich bleibt, abseits, poetisch, und nicht marschiert, da es nun einmal einen anderen Standpunkt vertritt. Das Cello behauptet den Standpunkt des Individuums mit wachsender Intensität, und dies bis zum letztmöglichen Augenblick. Danach scheint es klar, dass zwischen Wahnsinn und Anpassung zu wählen ist. Der letztere Kurs wird eingeschlagen und das Cello wird ein untergeordneter Teil des triumphierenden Orchesters.“ Das hören Cages Ohren im Finale des Cellokonzerts von Paul Hindemith aus dem Jahr 1940, ausgerechnet ein Marsch. Betrachtet man das Individuum im Europa jener Zeit unterm Terror der Nazis, so wäre Cages Analogie einer Wahl zwischen Wahnsinn und Anpassung und dem Untergang des Individuums im 3 marschierenden Kollektiv nicht ganz von der Hand zu weisen. Bleibt die Frage, ob die Musik tatsächlich so verläuft. Paul Hindemith: Konzert für Violoncello und Orchester, 3. Satz 7‟32“ J. Moser, Deutsche Radiophilharmonie Saarbrücken, Ltg. C. Poppen M0279479 006 Wir hörten den dritten Satz aus dem Cellokonzert von Paul Hindemith. Der Solist war Johannes Moser, Christoph Poppen leitete die Deutsche Radiophilharmonie Saarbrücken. John Cage hat die Analogien zwischen Musik und Realität so weit getrieben wie kein Zweiter. Die Grenze zwischen beiden muss er nicht aufheben, denn für ihn hat sie nie existiert. „Eine Fuge ist ein kompliziertes Spiel, doch es kann durch einen einzigen Klang abgebrochen werden, etwa einer Feuerwehr.“ Erleben wir solches nicht täglich, aus dem Lautsprecher tönt Brahms und wir hacken dazu Petersilie? „Die Kunst“, spricht Cage weiter, „kann als eine Art Labor fungieren, in dem man das Leben ausprobiert.“ Satie, Duchamp und Joyce gehören schon früh zu Cages geistiger Familie, doch spät erst entdeckt er nachgerade einen Zwillingsbruder in Lebens- und Musikanschauung, Henry David Thoreau. Jeden eigenen Gedanken von einigem Wert, bekennt Cage, habe er bei ihm wiedergefunden. Thoreau war um die Mitte des 19. Jahrhunderts Lehrer in Massachusetts, quittierte den Schuldienst, weil er keine Kinder prügeln wollte, zog für zwei Jahre in eine Waldhütte um herauszufinden, ob das Leben großartig sei oder das Gegenteil, weigerte sich, Steuern zu zahlen und landete im Gefängnis, erfand den Bleistift in heutiger Form und als man ihm einflüsterte, mit der Massenproduktion von Bleistiften könne er viel Geld verdienen, entgegnet Thoreau, er benötige nur einen einzigen. Den Zeitgenossen galt er als Spinner, freilich einer, der die Weltgeschichte beeinflusst hat. Auf Thoreaus Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat““ berief sich der dänische Nazi-Widerstand, Martin Luther 4 King und die schwarze Bürgerrechtsbewegung ebenso wie Mahatma Gandhi, ohne den es das heutige Indien nicht gäbe. Musik ist für Thoreau „Gottes Stimme, der hörbar gewordene göttliche Atem.“ Daher klingt Musik auch unendlich, nur das menschliche Hören ist zeitlich begrenzt. Zugleich ist Stille für ihn „ein himmlisches Meer der Ewigkeit, das Geistige und Unveränderliche, und Klang nur eine kurzlebige Blase an der Oberfläche.“ Gleich Cage findet Thoreau Musik in den Klängen seiner Umwelt. Er zieht das Summen der Telegraphenleitung oder den Gesang einer Walddrossel dem Auftritt der „schwedischen Nachtigall“ - Jenny Lind - in der Bostoner Oper vor. Nur gegen den Lärm der Eisenbahn, die unweit an seiner Hütte vorbeifährt, ist Thoreau weniger tolerant als Cage hundert Jahre später. Wie dieser meint auch er, Musik solle von allen gemacht werden, und Thoreau beschafft sich eine Querflöte. Nackt auf einem Boot im Teich vor seiner Hütte sitzend, bläst er sie, erfreut sich am Echo und fühlt sich wie der Halbgott Pan mit seiner Syrinx. Debussys gleichnamiges Stück war noch nicht erfunden, doch Thoreau hätte es – nach einigem Üben – sicher gern gespielt, zumal, wenn er erfahren hätte, dass Debussy ebenfalls die Natur den musikalischen Regeln der Menschen vorzog. Unsere Aufnahme würde Thoreau ebenfalls gefallen, denn sie stammt von der Firma „Celestial Harmonies“, himmlische Akkorde. Claude Debussy: Syrinx 2‟32” W. Dowdall M 0242270 005 William Dowdall spiele “Syrinx” von Claude Debussy. “Die beste Regierung ist keine Regierung”, sprach Thorau, was Cage in einem Vokalwerk zitiert und worüber ja vielleicht einmal nachzudenken wäre. Für ihn haben sich Nationalstaaten überholt, denn durch die Vernetzung mittels Medien – und heute durchs Internet – leben wir alle längst in einem globalen Dorf. Parallele zur Musik: „Ich glaube, die 5 ganze harmonische Struktur der westlichen Musik beruht darauf, dass sie ein Zuhause hat. Sich davon entfernen und wieder heimkehren. Eine Tonart vermittelt das Gefühl eines angestammten Platzes.“ Kein Heimatort mehr in der globalisierten Welt, mithin brauchen wir auch nicht länger eine musikalische Heimat in der Tonalität. Wie träumte doch Lehrer Schönberg um 1920: In fünfzig Jahren würden seine atonalen Melodien von den Leuten auf der Straße gepfiffen. Da waren die Beatles vor. Sehr viel aktueller ist Thoreaus Bleistift. Lese ich gerade in einem Artikel des Ökonomen Sedlacek: „Jeder Japaner hat zwei iPhones, zwei Autos – mehr geht nicht. Eigentlich ist das eine gute Nachricht. Wir haben das gelobte Land erreicht, jetzt lasst uns innehalten. Aber nein: Für uns ist das eine Tragödie, weil es kein Wachstum mehr gibt.“ Doch nicht nur die überhitzte Massenproduktion, auch die Frage, wie die vorhandenen Güter sinnvoll zu verteilen sind, stellt sich neu. Die Dinge benutzen, nicht sie besitzen, predigt Cage immer wieder. Autos werden mittlerweile von mehreren Menschen geteilt, und das scheint weiterzugehen. Jemand hat errechnet – soweit ist es dank Cage in der „Musikstunde“ gekommen -, in jeder deutschen Großstadt befänden sich mindestens zweihunderttausend Bohrmaschinen, dabei genügten zehntausend. Wenn ich an mein eigenes verstaubtes Gerät denke, muss ich dem zustimmen. Wie den Bohrmaschinen, so ergeht es den Bibeln. „Die Menschen sollten sich fragen“, O-Ton Cage, „ob sie die Dinge benutzen, die sie zu verlieren fürchten. Sehr häufig benutzen sie sie nämlich gar nicht. Sie reden über die Bibel, aber sie lesen sie nicht. Und Shakespeare und so weiter. Und haben trotzdem das Gefühl, dass sie besitzen. Das ist ein Irrtum.“ Und an anderer Stelle: „Ich kann nicht verstehen, warum Menschen vor neuen Ideen Angst haben. Ich habe Angst vor den alten.“ Die Abschaffung des Privateigentums, der Nationalstaaten, des Hungers und der Kriege, das müsste doch möglich sein mit der Anwendung menschlicher Intelligenz, meint Cage und möchte mit Musik ein Modell dafür geben. „Ich wollte auf das Unmögliche zugehen, um zu zeigen, dass das Unmögliche möglich ist“, so kommentiert er die eigentlich unspielbaren „Freeman Etudes“. Und nach einem Jahr Arbeit berichtet ihm der Geiger Paul Zukovsky, „dass manche Passagen, 6 die am Abend vor dem Schlafengehen unspielbar waren, am Morgen nach dem Aufwachen auf geheimnisvolle Weise plausibel und praktikabel waren.“ Freuen wir uns hier an der Virtuosität von Irvine Arditti. John Cage: Freeman Etudes, Nr. 18 3‟10“ I. Arditti WDR 5034623 Irvine Arditti spielte die achtzehnte der „Freeman Etudes“, benannt nach der Auftraggeberin Betty Freeman. „Aber ich dachte beim Titel auch“, ergänzt Cage, „an Thoreau, dessen Freiheit nicht verlorenging, als er im Gefängnis eingesperrt war.“ Bei allem kalifornischen Optimismus war Cage nicht naiv. Er sieht, dass die Welt – wenn überhaupt – sich nur sehr langsam verändert. „Wir wissen genau, dass wir es anders machen sollten, wenn wir auf diesem Planeten noch länger existieren wollen, doch keiner tut etwas. Wir machen weiter mit diesem unglaublich verrückten Gebrauch von fossilen Brennstoffen, obwohl wir doch seit Jahren wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es keine mehr gibt. Und wir machen dieses Zeug auch noch zum Grund für Kriege unter uns, die dann wieder Energie verschleißen, es ist einfach verrückt. Und die Musik hat nur wenig Einfluss auf diese Situation.“ Mit zunehmendem Alter wächst Cages Ruhm. Kamen früher durchschnittlich einhundert Menschen zu seinen Konzerten, so sind es ab den 70er Jahren bis zu neuntausend. Manche Orchester proben mittlerweile seine Werke gewissenhaft, Solisten ohnehin, und Cage kann sich vor Kompositionsaufträgen kaum retten. Damit fließt Geld in seine Tasche, doch alles, was er nicht zu seinem bescheidenen Leben braucht, verschenkt er an Künstler, die so arm sind wie Cage selbst es jahrzehntelang war. Der Dirigent Seiji Ozawa bittet ihn um ein Orchesterstück, das seine Boston Symphony, das älteste Orchester des Landes, zur 7 Zweihundertjahrfeier der USA aufführen soll. Darin zitiert Cage die Musik wichtiger Teile der amerikanischen Bevölkerung, Gesänge von Protestanten, sephardischen Juden, Indianern und Schwarzen. Letztere sind der schwarzen Jazzsängerin Jeanne Lee zugeteilt, hier zu hören mit einem Schlager der Broadway-Komponisten Hart & Rodgers. Lorenz Hart / Richard Rodgers: I could write a Book 4‟00“ J. Lee, M. Waldron OWC 077 LC 00699 Jeanne Lee sang „I could write a Book“; der Pianist war Mal Waldron. Nun ist es etwas heikel, einen Komponisten, die die Nationen abschaffen möchte, bei der Feier nationaler Gedenktage einzusetzen. Als der Staat Kanada das Unabhängigkeitsjahr 1776 feiern wollte, greift Cage auf Thoreau zurück und seinen Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Cage liefert das Radiostück „Lecture on the Weather“, Vortrag über das Wetter. „Die Sprecher sollten vorzugsweise Amerikaner sein, die die amerikanische Staatsbürgerschaft aufgegeben hatten und Kanadier werden wollten.“ Für einen anderen Beitrag zur Feier der Unabhängigkeit der USA benutzt Cage Zeichnungen von Thoreau. Eine weitere Beziehung zwischen beiden, denn Cage hat nebenbei ein größeres Œuvre an Zeichnungen, Aquarellen und Lithographien hinterlassen, die einmal in der Münchner Pinakothek und neulich in Berlin zu sehen waren. Cage zerschneidet Kopien von Thoreaus Zeichnungen und bildet aus den Schnipseln eine graphische Partitur für Orchester. Dieses Stück heißt „Renga“. Das ist in Japan der Name für eine alte kollektive Form von Dichtung, wo jeder aus einer Gruppe von Dichtern die nächste Zeile schreibt, die mit der vorangehenden inhaltlich nicht den geringsten Bezug haben darf; Surrealismus auf Japanisch. Das zweite Stück, gleichzeitig mit „Renga“ zu spielen, heißt „Apartmenthouse 1776“. Hier sitzen sozusagen die genannten amerikanischen Bevölkerungsgruppen in ihren Wohnungen 8 und singen, selbstverständlich gleichzeitig, bloß bei Cage nicht durch schallschluckende Mauern getrennt. So sind die protestantischen, sephardischen und schwarzen Lieder nicht nur zu hören, sondern man kann auch sehen, wie der Indianerhäuptling rhythmisch seinen Bauch bearbeitet. Der Erfolg in Boston war nicht allzu durchschlagend. „Ich dachte“, spricht Cage, „es sei ein fröhliches Stück und der Zweihundertjahrfeier durchaus würdig. Es hat mich überrascht, dass die Leute das nicht merken.“ Dabei wusste er doch schon längst, Musik ist nicht zu verstehen und fröhliche gibt es erst recht nicht. Es singen Jeanne Lee und der Häuptling Swift Eagle, es spielt das Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester unter Leitung von Dennis Russell Davies. John Cage: Renga with Apartmenthouse 1776 1„55 J. Lee, H. Schneyer, N. Castel, Chief Swift Eagle, KRSO, Ltg. D. R. Davies WDR 5064297 Cages Credo: „Früher war man gewohnt, Kunst als etwas zu begreifen, das besser organisiert war als das Leben, etwas, wohin man sich vor dem Leben flüchten konnte. Der Wandel, der in diesem Jahrhundert stattgefunden hat, ist jedoch derart, dass Kunst keine Flucht, sondern eher eine Einführung in das Leben bedeutet.“ Cage hat diesen Wandel bewirkt, hat seine Komponistenkollegen beeinflusst und zur Freiheit ermutigt, hat die Grundlagen der akustischen Medienkunst gelegt, Happenings und Klanginstallationen angestoßen und als Vater der Geräusche ist er der Großvater der DJs. Wenn sich in Berlin eine Gruppe junger Komponisten „Musik der Diesseitigkeit“ nennt, wenn andernorts Orchester aus Gemüse oder Plastikbechern gegründet werden oder wenn die Beethovenstadt 2012 das Projekt „Bonnhoeren – Interaktive Klangkunst im öffentlichen Raum“ durchführt, so ist all das Cage pur. Man muss nehmen, was man von ihm braucht, aber ohne ihn wäre es ein ödes Jahrhundert geworden, meint der amerikanische Komponist Morton Feldman. So weit würde 9 ich nicht gehen, zumindest musikalisch nicht, doch unverzichtbar bleibt die Schärfung der Wahrnehmung und die Befreiung des Denkens inner- wie außerhalb der Musik durch John Cage; er kann helfen gar im Stau auf der Autobahn, I welcome whatever happens next. Cage ist das englische Wort für Käfig, und befragt, welches Ziel er im Leben verfolgt habe, antwortet er: „In welchem Käfig man sich auch befindet – man soll ihn verlassen.“ Zum 75. Geburtstag 1987 fand etwa in Köln ein riesiges Festival statt und das Kulturradio WDR 3 sendete ein Cage-Programm 24 Stunden lang. Zum 80. Geburtstag waren noch mehr Veranstaltungen geplant, doch der Geehrte nimmt es wie immer ganz pragmatisch: „Jeder Geburtstag, der mit einer 5 oder einer 0 endet, ist Anlass zu irgendeiner Feier. Wenn man solche Feiern überall auf der Welt hat, kostet einen das gewöhnlich ein Jahr vorher und ein Jahr nachher, um sie hinter sich zu bringen. Das lässt mir alle fünf Jahre höchstens ein oder zwei Jahre für meine Arbeit.“ Das letzte solcher Jahre hat er nicht mehr erlebt, denn John Cage starb drei Wochen vor seinem 80. Geburtstag; keine Pilzvergiftung, sondern ein Schlaganfall. Da die makrobiotische Diät seine Gebrechen allmählich heilen konnte, hatte er zuvor bemerkt: „Ich glaube, wenn ich sterbe, werde ich bei bester Gesundheit sein.“ Eines seiner Stücke aus den letzten Jahren heißt „Postcards from Heaven“, für eine bis zwanzig Harfen. Im Allgemeinen waren freilich die Titel seiner Stücke schon immer schlicht, im Spätwerk werden sie ausgesprochen karg. Ziffern sind es, wobei die erste angibt, wie viele Interpreten beteiligt sind und die zweite, hochgestellte, das wievielte Stück es für diese Spielerzahl ist. Im Todesjahr vollendet Cage „Two6“, also das sechste Stück für zwei Spieler, in diesem Fall Geige und Klavier. Tönt die gesamte Neue Musik seit den 70er Jahren immer harmloser, so macht selbst Cage dabei keine Ausnahme. Am Ende von „Two6“ klingt gar das Hauptmotiv aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ an. 10 John Cage: Two6 , Schluss 5‟15“ D. und G. Simonacci Brillant 8850/3 LC 09421 David Simonacci, Violine, und Giancarlo Simonacci, Klavier, spielten den Schluss von „Two6“ aus Cages Todesjahr 1992. John Cage, der Erzrealist, und Robert Schumann, der Erzromantiker, scheinen wenig gemeinsam zu haben. Dabei schließen sich Realismus und Romantik keineswegs aus, wie jeder Ehevertrag einer Prominentenhochzeit zeigt. Cage und Schumann schließen sich ebenso wenig aus, wie dessen Worte nahelegen: „Es affiziert mich alles, was in der Welt vorgeht, Politik, Literatur, Menschen; über alles denke ich in meiner Weise nach, was sich dann durch die Musik Luft machen, einen Ausweg suchen will.“ Schumann hatte ebenfalls wunderbar verrückte Einfälle, einhundertdreißig Jahre seiner Zeit voraus, beispielsweise „Oper ohne Text“ oder „Konzert ohne Orchester“ oder einmal beim Tempo. Über den Kopfsatz seiner zweiten Klaviersonate schreibt Schumann „So rasch wie möglich.“ Später fordert er „Rascher“ und wenn das Hauptthema wiederkehrt „Noch rascher“. Er muss Cage und seine Idee, am scheinbar Unmöglichen das Mögliche aufzuzeigen, vorausgeahnt haben. Oder es ist bloß der Nachklang einer Fahrt mit der Dampfkutsche bei überhöhter Geschwindigkeit. Robert Schumann: Klaviersonate Nr. 2 op. 22, 1. Satz E. Gilels, Klavier Brillant 92615 LC 09421 5‟58“ 11 Emil Gilels spielte den Kopfsatz der Klaviersonate g-Moll op. 22 von Robert Schumann. „As slow as possible“, so langsam wie möglich, schreibt Cage einmal über ein Klavierstück, das er auf Wunsch des Organisten Gerd Zacher für Orgel bearbeitet. Bei ihm dauern vier Seiten Notentext 29 Minuten. Wer als Erster die Idee hatte, ist nicht mehr zu ermitteln, sie hätte jedenfalls von Cage selber stammen können. In Halberstadt am Harz steht eine Kirche, die seit Napoleons Zeiten als Schweinestall und in der DDR als Schnapsbrennerei genutzt wurde. Ungeachtet ihrer musikgeschichtliche Bedeutung, denn 1361 wird hier die erste Großorgel in Betrieb genommen, die überdies zum ersten Mal alle Halbtöne besitzt. Cages „As slow as possible“ soll ab 5. September 2000 dort zur Aufführung kommen, und zwar in einem Tempo, das dem Titel alle Ehre macht und wo das Stück 639 Jahre dauert; die Orgelpfeifen werden nach und nach komplettiert. Die Musik beginnt mit einer Pause von 17 Monaten, zu hören ist lediglich das Zischen der Blasebälge, dann erklingen Anfang 2003 die ersten drei Töne, indem kleine Sandsäcke an die Tasten gehängt werden. Der Ton c wird 36 Jahre lang ausgehalten, das des fast 60 Jahre lang, 2072 ist der erste Teil des Stückes zu Ende, falls kein Erdbeben dazwischenkommt. Durch mancherlei Schwierigkeiten bedingt, musste alles um ein Jahr verschoben werden, auf den 5. September 2001. Dadurch wurde nicht allein die Symmetrieachse der Jahreszahl 639 ruiniert, sondern auch das Tempo. Die Organisatoren hatten nämlich das fehlende Jahr in ihren Berechnungen vergessen, und momentan läuft daher „So langsam wie möglich“ zu schnell. Ab 2013 soll allerdings ein Ritardando eingebaut werden, so dass im Jahr 2020 das korrekte Tempo wieder erreicht ist. Ob um Mitternacht des 4. September 2640 Da Capo-Rufe laut werden, wird sich zeigen. John Cage: Organ2 / ASLSP Privataufnahme 1‟20“