3 Theoretische Grundlagen mit Fallbeispielen; Erbgänge, Chromosomen, DNA, Methoden, Teratologie (Tiemo Grimm, Würzburg) Die klinische Humangenetik analysiert die genetischen Informationen auf der Ebene der DNA (Desoxyribonukleinsäure), der Chromosomen, der Genprodukte und der phänotypischen Merkmale. Ihr Ziel ist, durch ein besseres Verständnis der Ursachen genetisch und teratogen bedingter Krankheiten den Weg zur genaueren Prognose, zur Therapie und zur genetischen Beratung zu finden. 3.1 Formale Genetik Die formale Genetik hat ihre Ursprünge in den Beobachtungen von Gregor Mendel (1866), der anhand seiner Erbsenversuchen zeigte, dass Eigenschaften nach festen Regeln von Generation zu Generation weitergegeben werden. Heute weiß man, dass nicht Eigenschaften sondern die Erbanlagen (Gene) von den Eltern an die Kinder vererbt werden. Durch Mutationen können verschiedene Varianten eines Gens entstehen, die man Allele nennt. Die Vererbung von Eigenschaften bzw. Erbkrankheiten, die durch Mutationen in einem Gen verursacht werden, bezeichnet man als monogene Erbgänge. 3.1.1 Abb. 3.01 Autosomal-dominanter Erbgang (Abb. 3.01) Autosomal dominanter Erbgang; Vater erkrankt (heterozygot: D n), Mutter gesund (homozygot normal: n n), 50 % der Kinder erkrankt (heterozygot: D n) und 50 % gesund (homozygot normal: n n) (Quelle: T. Grimm) Falls ein Allel im heterozygoten Zustand allein den Phänotyp prägt, wird es als dominant bezeichnet. Autosomal-dominante Erbleiden können entweder als sporadische Fälle, als Neumutationen auftreten oder von einem der Eltern vererbt sein, wobei das Wiederholungsrisiko 50 % beträgt. Gelegentlich sind auch mehrere Kinder eines gesunden Elternpaares betroffen. Die Erklärung ist in einem Keimzellmosaik zu suchen, d. h. in einer Mutation, die bei einem der Eltern bei den mitotischen Teilungen in der Keimzellentwicklung aufgetreten ist. Solche 1 Keimzellmosaike wurden z. B. bei der Osteogenesis imperfecta oder der Neurofibromatose I nachgewiesen. Typisch ist beim autosomal dominanten Erbgang auch, dass die einzelnen Träger einer Mutation, selbst in der gleichen Familie, unterschiedlich schwer betroffen sein können (variable Expreeivität). Bei vielen autosomal dominanten Erbkrankheiten müssen nicht alle heterozygote Personen erkranken (unvollständige Penetranz). Falls Mutationsträger erst im späteren Leben erkranken (z.B. Huntington-Krankheit), liegt eine altersabhängige Penetranz vor. Beispiele für Erbkrankheiten mit autosomal dominantem Erbgang (Tab. 3.01): Erbkrankheit Huntington-Krankheit Marfan-Syndrom Myotone Dystrophie Typ 1 Achondroplasie Tab. 3.01 3.1.2 Abb. 3.02 Bemerkungen Neurodegenerative Erkrankung; Erkrankungsalter um 35 bis 60 Jahre; Mutation: CAG-Repeat im HuntingtinGen (Mutation ab 39 CAG-Repeats) Bindegewebsdefekt; Klinik sehr variabel; hohe Neumutationsrate Multisystemerkrankung, sehr variable Expressivität (nur isolierter Katarakt bis schwerer Muskelerkrankung); Mutation: CTG-Repeat im DMPK-Gen Dysproportionierter Minderwuchs; über 90 % Neumutationen Prävalenz 1 auf 15 000 1 auf 15 000 1 auf 10 000 1 auf 30 000 Beispiele für Erbkrankheiten mit autosomal dominanten Erbgang Autosomal-rezessiver Erbgang (Abb. 3.02) Autosomal rezessiver Erbgang; Vater und Mutter gesund, aber heterozygot (N r), 25 % der Kinder homozygot gesund (N N), 50 % der Kinder heterozygot gesund (N r) und 25 % der Kinder erkrankt (homozygot: r r); unter den gesunden Geschwistern sind 2/3 heterozygot. (Quelle: T. Grimm) Wenn ein Gen nur im homozygotem, nicht aber in den heterozygoten Zustand in Erscheinung tritt, wird es als rezessiv bezeichnet. Autosomal-rezessive Erbkrankheiten entstehen, wenn beide Eltern (heterozygot) einen Defekt des gleichen rezessiven Gens an ein Kind weitergeben, das Risiko für ein homozygotes krankes Kind beträgt 25 %. Hat ein Betroffener zwei verschiedene Mutationen von seinen Eltern geerbt, bezeichnet man ihn als compound heterozygot. 2 Ein rezessiver Erbgang liegt z.B. bei sehr vielen Stoffwechseldefekten vor. In heterozygotem Zustand genügt meist die genetische Information des „normalen Gens“ um z. B. eine ausreichende Enzymaktivität zu gewährleisten. Erst bei homozygotem Zustand kommt es zum völligen Ausfall der genetischen Information, z. B. zum Ausfall der Enzymproduktion. Beispiele für Erbkrankheiten mit autosomal rezessivem Erbgang (Tab. 3.02): Erbkrankheit Mukoviszidose (Zystische Fibrose; CF) Penylketonurie (PKU) Spinale Muskelatrophie (SMA) Tab. 3.02 3.1.3 Abb. 3.03 Bemerkungen Multisystemerkrankung, exokrine Schweißdrüsen sind betroffen Schwere geistige Retardierung; sofortige Therapie mit phenylalaninarmer Diät, dann normale Entwicklung Defekt der Vorderhornzellen im Rückenmark; häufig sehr schwerer Verlauf Inzidenz 1 auf 2 500 1 auf 10 000 1 auf 10 000 Beispiele für Erbkrankheiten mit autosomal rezessiven Erbgang X-chromosomal-rezessiver Erbgang (Abb. 3.03) X-chromosomal rezessiver Erbgang; Vater gesund (hemizygot: Xn Y), Mutter gesund (heterozygot: Xn Xd), 50 % der Söhne gesund (hemizygot: Xn Y), 50 % der Söhne krank (hemizygot: Xd Y), 50 % der Töchter gesund (homozygot: Xn Xn) und 50 % der Töchter gesund (heterozygot: Xn Xd) (Quelle: T. Grimm) X-chromosomal-rezessive Erbleiden treten praktisch nur bei Knaben auf, da diese nur ein XChromosom haben, also hemizygot für die X-chromosomalen Gene sind. Bei Mädchen treten X-chromosomal-rezessive Erkrankungen nur auf, wenn diese homozygot für das betreffende X-chromosomale Gen sind oder bei ihnen ein 45-X-Karyotyp vorliegt. In seltenen Fällen kann eine heterozygote Frau auch betroffen sein, wenn durch Zufall bei ihr überwiegend das jenige X-Chromosom genetisch aktiv ist, auf dem die Mutation liegt. Das Erkrankungsrisiko für Söhne heterozygoter Frauen beträgt 50 %. Töchter heterozygoter Frauen sind zu 50 % Konduktorinnen. Söhne hemizygoter Männer haben kein Erkrankungsrisiko, Töchter hemizygoter Männer sind immer Konduktorinnen. Beispiele für Erbkrankheiten mit X-chromosomal rezessivem Erbgang (Tab. 3.03): 3 Erbkrankheit Bemerkungen Hämophilie A Hämophilie B Mutationen im FVIII-Gen Mutationen im FIX-Gen; trat bei Nachkommen der Königin Victoria von England auf Progressive Muskeldystrophie; Mutationen im Dystrophin-Gen unter Männern häufigste Ursache für geistige Retardierung; Mutation CGGRepeat im FMR1-Gen Mehrere ähnliche Gene auf dem langen Arm des X-Chromosoms, Deletionen aufgrund eines ungleichen Crossing-overs Muskeldystrophie Duchenne Fragilies-X-Syndrom Rot-Grün-Sehschwäche Tab. 3.03 3.1.4 Inzidenz (Knabengeburten) 1 auf 10 000 1 auf 30 000 1 auf 3 500 1 auf 1 250 1 auf 11 (Männer) 1 auf 125 (Frauen) Beispiele für Erbkrankheiten mit X-chromosomal rezessiven Erbgang Multifaktorieller Erbgang (komplexe Vererbung) Viele Merkmale sind nicht durch ein einzelnes Gen, sondern durch eine Kombination vieler Gene und durch den Einfluss von Umweltfaktoren bedingt (z.B. koronare Herzkrankheiten, Diabetes mellitus, Psychosen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, angeborene Herzfehler, Neuralrohrdefekt). Sie folgen keinem Mendel-Erbgang. In neuerer Literatur wird auch der Begriff komplexe Vererbung benutzt. Es kann sich dabei um qualitative (z.B. angeborener Herzfehler) oder um quantitative Merkmale (z.B. Bluthochdruck) handeln. Für Wiederholungsrisiken werden in der Regel empirische Daten benutzt, wobei das Wiederholungsrisiko mit der Anzahl weiterer Fälle in der Familie ansteigt und für nah verwandte höher ist als für weiter entfernt verwandte. Bei sporadischen Fällen liegt das Wiederholungsrisiko häufig in der Größenordnung von ca. 5 %. 3.2 Zytogenetik Der Mensch hat 46 Chromosomen, von den 23 Chromosomenpaaren sind die 22 Autosomen in beiden Geschlechtern gleich. Die homologen Chromosomen der Autosomen enthalten je ein Allel desselben Gens, aber diese Allele müssen nicht identisch sein. Zusätzlich liegen zwei Geschlechtschromosomen (Gonosomen) vor, beim Mann ein X- und ein Y-Chromosom, bei der Frau zwei X-Chromosomen. In den Eizellen und in den Spermien liegen nur ein einfacher (haploider) Chromosomensatz (23 Chromosomen) vor. Die Chromosomen enthalten die Gene. Sie bestehen aus DNA (Doppelhelix) die sich um Proteine formiert. Das Metaphase-Chromosom besteht aus zwei Chromatiden, die am Centromer zusammenhängen. Den oberen kurzen Arm bezeichnet man mit p und den unteren langen Arm mit q. Die Chromosomen werden in abnehmender Größe durchnummeriert (Abb. 3.04). Die Chromosomen 13, 14, 15, 21 und 22 bezeichnet man als akrozentrische Chromosomen, da 4 sie nur einen sehr kleinen kurzen Arm haben. Abb. 3.04 3.2.1 Die menschlichen Chromosomen (G-Bänderung) (Quelle: T. Grimm) Numerische Chromosomenaberrationen Numerische Chromosomenaberrationen sind Anomalien der Zahl der Chromosomen und sie treten überwiegend sporadisch auf. Mit steigendem Alter der Mutter nimmt die Häufigkeit von Trisomien der Autosomen sowie Störungen mit zusätzlichen X-Chromosomen beim Neugeborenen zu. Sie entstehen in der Regel in der Meiose durch Nondisjunktion (Abb. 3.05). Abb. 3.05 Nondisjunction in Meiose I oder Meiose II (Quelle: Abb. A; S. 135; 3. Auflage, Passarge, Taschenatlas Humangenetik, Thieme Verlag, 2008) 5 Autosomale Chromosomenaberrationen zeigen in der Regel folgende Befunde: - Wachstumsrückstand - Dysmorphiezeichen - Fehlbildungen - Entwicklungsverzögerung und Intelligenzdefekt 3.2.1.1 Down-Syndrom (Trisomie 21) Die Inzidenz des Down-Syndroms beträgt etwa 1 auf 600 bis 1 auf 800. In der Meiose werden die beiden homologen Chromosomen 21 nicht getrennt, so dass eine Eizelle mit zwei Chromosomen 21 entsteht. Die Folge ist eine sog. freie Trisomie 21 (ca. 95 %). Etwa 3 % der Trisomien 21 entstehen durch Translokationen von einem Chromosom 21 und einem anderem akrozentrischen Chromosom (Robertsonsche Translokation). Die häufigste Form ist eine 14;21-Translokation. Die restlichen 2 % sind Mosaike Klinische Befunde des Down-Syndroms sind: – Intelligenzdefekt – fakultativ angeborene Fehlbildungen (z.B. Herzfehler wie AV-Kanal) – Wachstumsdefizit – Dysmorphiemuster (z.B. nach lateral ansteigende Lidachsen; Makroglossie; kurze, breite Hände; Vierfingerfurche; Sandalenlücke) 3.2.1.2 Edwards-Syndrom (Trisomie 18) Die Inzidenz der Trisomie 18 beträgt etwa 1 auf 2500. Es sind deutlich mehr Mädchen (ca. 80 %) als Knaben betroffen. Die Lebenserwartung ist deutlich reduziert, ca. 50 % sterben innerhalb der ersten Lebenstage, 90% versterben im ersten Lebensjahr. Klinische Befunde des Edwards-Syndrom sind: – Mikrozephalus – Hypertelorismus – tief angesetzte dysmorphe Ohren ( Faunenohren ) – Mikroretrognathie – Flexionskontrakturen der Finger mit Überlagerung von II über III und von V über IV, – niedriges Geburtsgewicht – schwerste geistige Retardierung 6 3.2.1.3 Pätau-Syndrom (Trisomie 13) Die Inzidenz der Trisomie 13 beträgt etwa 1 auf 6000. Die Lebenserwartung ist deutlich reduziert (den ersten Monat überleben weniger als 50 %) Klinische Befunde des Pätau-Syndrom sind: – Mikrozephalie – Kopfhautdefekte – Mikrophthalmie – Lippen-Kiefer-Gaumen-(LKG-)Spalte – tief angesetzte dysmorphe Ohren – postaxiale Hexadaktylie – Holoprosenzephalie – schwerste geistige Retardierung 3.2.1.4 UlIrich-Turner-Syndrom (45,X) Die Inzidenz beträgt etwa 1 auf 3000. Es besteht eine hohe intrauterine Letalität, d. h. ca. 95 % der Schwangerschaften mit 45,X-Konstitution enden mit einer Fehlgeburt (Hydrops fetalis). Postnatal tritt eine große Variabilität im Phänotyp (ca. 50 % haben 45,X; verschiedene Mosaike liegen bei ca. 50 %: z. B. mit 46,XX- oder/und 47,XXX-Zelllinien, auch Strukturaberrationen des X-Chromosoms). Klinische Befunde des Ulrich-Turner-Syndroms sind: – Ödeme an Hand- und Fußrücken – Pterygium colli – Pterygium colli – tiefer Nackenhaaransatz – Minderwuchs – Stranggonaden ohne differenziertes Ovarialgewebe (primäre Amenorrhö) – Infertilität – Herzfehler (20 %, meistens Aortenisthmusstenose) Personen mit dem Karyotyp 45,Y sind nicht lebensfähig. 7 3.2.1.5 Triplo-X-Frauen (47,XXX) Häufig sind Triplo-X-Frauen asymptomatisch ohne charakteristischen morphologischen Besonderheiten. Die Pubertät ist meist normal, oft verkürzte fertile Phase. Entwicklungsverzögerungen sind besonders im sprachlichen Bereich zu beobachten. Die Intelligenz der Mädchen ist im Vergleich zu den gesunden Geschwistern leicht erniedrigt. 3.2.1.6 Klinefelter-Syndrom (47,XXY) Die Inzidenz bei männlichen Neugeborenen beträgt etwa 1 auf 1000. Die Ursache ist ein zusätzliches X-Chromosom bei männlichem Karyotyp. Die klinischen Befunde des Klinefelter-Syndroms sind: normale Geburtsmaße, häufig liegt ein Großwuchs vor verzögerter oder ausbleibender sekundärer Geschlechtsentwicklung (kleine Hoden, Gynäkomastie, weiblicher Behaarungstyp, Infertilität) normale geistige Entwicklung, aber etwas niedriger als bei den gesunden Geschwistern 3.2.1.7 47,XYY-Männer Männer mit dem Karyotyp 47,XYY zeigen außer einer überdurchschnittlichen Körperhöhe keine charakteristischen morphologischen Besonderheiten. Die Pubertät verläuft normal. Entwicklungsverzögerungen sind besonders im sprachlichen Bereich möglich. 3.2.2 Strukturelle Chromosomenaberrationen Strukturelle Chromosomenaberrationen entstehen durch Umbauten innerhalb eines Chromosoms (z. B. Deletionen, Duplikationen) oder zwischen verschiedenen Chromosomen (z. B. Translokationen; Insertionen). 8 3.2.2.1 Deletionen (Fehlen von Chromosomenabschnitten) Ab einer Deletionsgröße von mehr als 5 Millionen Basenpaare ist sie im Karyogramm erkennbar, damit fehlen meist mehr als hundert Gene eines Chromosoms. Die andere Kopie des Chromosoms (homologes Chromosom) ist intakt, d. h. im Genom liegt eine Monosomie des deletierten Chromosomensegmentes vor. Da Deletionen auch familiär gehäuft infolge einer balancierten Translokation bei einem Elternteil auftreten können, d. h. unbalancierte Translokationsprodukte darstellen (s.u.), ist eine Untersuchung des Karyotyps der Eltern indiziert. Kleinere Deletionen, die mehrere Gene oder nur größere Abschnitte eines Gens umfassen, werden als Mikrodeletionen bezeichnet. Sie lassen sich im Fluoreszenzmikroskop mit einer speziellen Technik, der sogenannten Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) oder mit molekulargenetischen Methoden (MLPA, s.u.) nachweisen. Charakteristische, durch Mikrodeletionen verursachte Krankheitsbilder, werden als Mikrodeletionssyndrome bezeichnet (siehe Tabelle 3.04). Syndrom a Wolf-Hirschhorn-Syndrom Deletion 4p16 Symptome LKG-Spalte, faziale Dysmorphien, Kopfhautdefekte, Organdefekte, geistige Retardierung Katzenschreisyndrom (Cri-du5p15 Mikrozephalie, faziale Dysmorphien, a chat-Syndrom) charakteristischer Säuglingsschrei, geistige Retardierung Williams-Beuren-Syndrom 7q11 Herzfehler (supravalvuläre Aortenstenose), geistige Behinderung, Verhaltensauffälligkeiten WAGR-Syndrom (Wilms11p13 Wilms-Tunor, Aniridie, urogenitale Tumor-Aniridie-Syndrom) Fehlbildungen, Retardierung b Prader-Willi-Syndrom 15q12 (pat) Neonatale Hypotonie, Adipositas, Minderwuchs, Hypogenitalismus, geistige Retardierung (Inzidenz: 1 auf 10 000) b Angelman-Syndrom 15q12 (mat) Schwere geistige Behinderung, Epilepsie, Ataxie, Lachanfälle Miller-Dieker-Syndrom 17p13 Lissencepahlie (fehlende Gehirngyrierung mit schwerster geistiger Behinderung), faziale Dysmorphien DiGeorge-Syndrom 22q11 Entwicklungsstörungen von Thymus, (Velokardiofaziales-Syndrom, Nebenschilddrüse und Aortenbogen; Herzfehler Shrintzen-Syndrom) (Inzidenz: 1 auf 5 000) a = Die Mehrheit der Patienten haben größere lichtmikroskopisch sichtbare Deletionen. b = neben Mikrodeletionen können z.B. auch Punktmutationen oder Isodisomie entsprechende Krankheitsbilder verursachen. Tabelle 3.04 Beispiele von Mikrodeletionssyndromen 9 3.2.2.2 Chromosomen-Translokationen Bei einem Stückaustausch zwischen zwei Chromosomen (reziporke Translokation) ohne Verlust oder Zugewinn von genetischem Material handelt es sich um eine balancierte Translokation (Abb. 3.06), sie entsteht durch eine alternierende Segregation in der Meiose. Eine balancierte Translokation hat i.d. Regel keine pathologische Bedeutung für den Träger und kann über mehrere Generationen vererbt werden. Liegt jedoch eine nicht alternierende (adjacent-1 oder adjacent-2) Segregation vor, entstehen unbalanzierte Chromosomensätze (Deletionen und Duplikationen). Abb.3.06 Segregation bei einer reziproken Translokation (Quelle: Abb. A; S. 137; 3. Auflage, Passarge, Taschenatlas Humangenetik, Thieme Verlag, 2008) Eine Translokation, bei denen die langen Arme von zwei akrozentrischen Chromosomen (13, 14, 15, 21, 22) im Zentromerbereich unter Verlust der kurzen Arme verschmelzen, bezeichnet man als Robertsonsche-Translokation. 10 3.3 Molekulargenetik Die Molekulargenetik befasst sich mit den Vererbungsmechanismen auf molekularer Ebene. Träger der Erbinformationen sind die Nukleinsäuren, die aus Nukleotiden aufgebaut sind (Abb. 3.07). Abb. 3.07 Von der DNA-Struktur zum Chromosom (Quelle: T. Grimm) Die Einflüsse auf die Genregulation und die Genexpression untersucht die Epigenetik. 3.3.1 Grundlagen Das menschliche Genom besteht aus ca. 3,2 Milliarden Basenpaaren. Nur 1–2 % der DNA sind kodierende Abschnitte, die ca. 25.000 Gene enthalten. Diese Gene kodieren für ein oder mehrere Proteine (über die mRNA) bzw. für Ribonukleinsäuren (z. B. rRNA, tRNA), die eine regulatorische oder enzymatische Funktion haben. Insgesamt gibt es ca. 250.000 Proteine. Veränderungen in der DNA entstehen durch Mutationen, die in der Regel als Zufallsbefunde entstehen. Die Mutationsrate µ (Zahl der Neumutationen pro Gamete) liegt beim Menschen in der Größenordnung von 10-4 bis 10-6. Man unterscheidet mehrere Mutationstypen: – Substitution (Austausch) einer Base. – Deletion (Stückverlust) einer und mehrerer Basen. – Insertion (Einschub) einer oder mehrerer Basen. 11 Trinukleotid Repeats: Es liegt eine abnorme Wiederholung von 3 Basenpaaren vor. Gesunde Personen haben eine niedrige Repeatzahl. Sobald die Repeatzahl eine bestimmte Größe erreicht, werden sie instabil und können sich von Generation zu Generation vergrößern. Vergrößerte Repeats treten in der Regel mit klinischen Symptomen auf. Es sind auch Mutationen mit Tetra- oder Pentanukleotid-Repeats beschrieben worden. Eine Mutation kann in folgenden Formen auftreten: – Stille Mutation: Gleiche Aminosäure wird kodiert. – Missense-Mutation: Falsche Aminosäure wird kodiert (Sinnveränderung). – Nosense-Mutation: Stop-Codon wird kodiert (Sinnentstellung). Veränderungen in der Erbinformation (Mutationen) (3 Basen bilden ein Kodon, welches für eine Aminosäure kodiert) Wildtyp MAX HOL MIR EIN EIS Austausch einer Base (Substitution ) MAX HOL DIR EIN EIS a) Sinnveränderung MAX HOL MIR EIN EFS b) Sinnentstellung Verlust von Basen (Deletion) MAX HO*M IRE INE IS a) Deletion von 1 Base b) Deletion von 3 Basen MAX HOL *** EIN EIS Abb. 3.08 Modell für Mutationen auf DNA-Ebene (Quelle: T. Grimm) Wenn aufgrund einer Mutation das Genprodukt nur noch eine eingeschränkte oder gar keine Funktion mehr hat, bezeichnet man diese Mutationen als Funktionsverlustmutationen (loss of function). Zeigt jedoch das Genprodukt bei einer Mutation eine anomale Funktion, liegt eine Funktionsgewinnmutation (gain of function) vor. 3.3.2 Mitochondrien Neben der DNA im Zellkern gibt es Zytoplasma Mitochondrien, die ein ringförmiges DNAMolekül (mtDNA) enthalten. Die Mitochondrien dienen dem oxidativen Energiestoffwechsel. Mitochondrien werden in der Regel nur maternal weitervererbt. Mutationen in der mtDNA können zu sehr schwer verlaufenden Erkrankungen führen (z.B.Kearns-Sayre-Syndrom). 12 3.3.3 DNA-Diagnostik DNA-Analysen sind sehr aufwendige Untersuchungen, die nur aufgrund guter klinischer Voruntersuchungen eingesetzt werden sollen. In der Regel liegen bei einer Erbkrankheit sehr viele unterschiedliche Mutationen vor, so dass häufig jede Familie ihre spezifische Mutation hat. Ausnahmen sind Erbkrankheiten mit z.B. Trinukleotid-Repeat-Mutationen. Das in der DNA-Diagnostik angewendete Methodenspektrum ist sehr breit (siehe Beitrag: Methoden der genetischen Diagnostik). 3.4 Teratologie Bei der Entwicklung des ungeborenen Kindes ist das Risiko einer Schädigung der Frucht durch physikalische, chemische oder biologische Noxen ein Hauptrisiko. Die bekannteste Embryopathie ist die Schädigung der Extremitäten nach Einnahme von Thalidomid (Contergan) um den 35 – 40 Tag p.m. Neben Art und Ausmaß der Noxe ist der Zeitpunkt der Einwirkung entscheidend. In der Zeit der Blastogenese (bis 2. SSW p.c.) sind die einzelnen Zellen noch nicht determiniert, gesetzte Schäden werden entweder vollständig regeneriert oder die Blastula stirbt ab („Alles-oder-Nichts-Regel“). Die Sensibilität gegenüber teratogenen Noxen erreicht ihr Maximum in der Embryonalperiode (Embryogenese: 3.-8. SSW p.c.), in der eine intensive Organdifferenzierung stattfindet. In dieser Zeit können Fehlbildungen induziert werden. In der Fetalperiode sinkt die Sensibilität rasch ab, teratogene Wirkungen manifestieren sich in dieser Periode vor allem in Wachstums- und Differenzierungsstörungen des Gehirns. Die häufigste teratogene Noxe ist der Alkoholkonsum in der Schwangerschaft (Alkoholembryopathie). 13