M E D I Z I N KURZBERICHT Christine Zühlke1 Marit Otto2 Karl Wessel2 Eberhard Schwinger1 ie Friedreich-Ataxie (FRDA), die 1863 durch den Heidelberger Arzt Nikolaus Friedreich (4) erstmals beschrieben wurde, ist die häufigste Form der erblichen Ataxien. Die Inzidenz der Erkrankung wird für die europäische Bevölkerung auf 1 : 50 000 geschätzt. Erste Symptome im Sinne eines Ver- D Klinik und Genetik der Friedreich-Ataxie antwortlich. So wurden klinisch atypische Fälle mit Krankheitsmanifestationen in der dritten oder vierten Lebensdekade („Late onset FRDA“) (3) und benignem Verlauf sowie FRDA-Phänotypen mit erhaltenen Muskeleigenreflexen (5) beschrieben, bei denen durch Kopplungsanalysen eine Ko-Segregation mit Markern der FRDA-Region auf Chromosom 9 gezeigt werden konnte. Klinik (deutlich überproportional starke Zunahme der Standataxie bei geschlossenen Augen, verglichen mit offenen Augen). Störungen der Hinterstrangfunktionen (Lagesinnstörung, Pallhypästhesie) und eine Areflexie sind frühe Symptome. Häufig entwickelt sich insbesondere an den Beinen eine Spastik mit positivem Babinski-Zeichen. Als Korrelat der Pyramidenbahnschädigung ist die mittels transkranieller Magnetstimulation gemessene zentrale motorische Leitungszeit in der Regel deutlich verzögert. Als Zeichen der axonalen und sekundär demyelinisierten Degeneration des peripheren Neurons entwickelt sich eine sensomotorische Polyneuropathie mit, zusätzlich zur Spastik, distal betonten atrophisierenden Paresen. Außerhalb des Nervensystems manifestiert sich die FRDA fakultativ mit Skelettdeformitäten wie Kyphoskoliose und einer Die Krankheit beginnt gewöhnlich zwischen dem 8. und 15. Lebensjahr (7) mit breiter Streuung vom Kleinkind- bis ins junge Erwachsenenalter. Nach zunächst normaler Entwicklung werden Abbildung 1: Friedreich-Fuß mit Hohlfußbildung, Fußverkürzung die Betroffenen meist mit ataktischer Gangstöund Hammerzehen. rung auffällig, die im lustes der Muskeleigenreflexe, einer Dunkeln zunimmt. Oft, erst Stand- und Gangataxie, gefolgt von Jahre später, breitet sich die einer Dysarthrie, werden zwischen ataktische Störung auf die dem 8. und 16. Lebensjahr beobachtet oberen Extremitäten aus, es (6). Die FRDA wird autosomal rezes- entwickeln sich dann auch eisiv vererbt und tritt mit gleicher Fre- ne Dysarthrie und Rumpfataquenz in beiden Geschlechtern auf. xie. Der Verlauf ist durch stetiDie Eltern eines erkrankten Kindes ge Progredienz gekennzeichsind gesund, da sie neben dem mutier- net, in Ausnahmefällen kann ten auch das Wildtyp-Gen besitzen die Symptomatik allerdings (heterozygot für den Gendefekt). Die auch über Jahre stabil bleiFrequenz dieser (gesunden) Anlage- ben. Die Patienten sind nach Abbildung 2: Medio-saggitale MRI-Schnitte in T1-Gewichtung bei träger wird auf ein Prozent geschätzt. durchschnittlichem Krank- einer normalen Kontrollperson (links) und einem Patienten mit Die Häufigkeit der Heterozygoten heitsverlauf von 15 Jahren an FRDA (rechts). Im Vergleich ist eine deutliche Atrophie zervikaler (2pq) läßt sich mit der Formel für die den Rollstuhl gebunden. Ein Rückenmarksabschnitte bei dem Patienten sichtbar. Binomialverteilung p2 + 2pq + q2 = 1 frühes Manifestationsalter bebestimmen, wenn die Homozygoten- deutet meistens ein relativ rasches Fußdeformität mit Hohlfußbildung, frequenz (p2 oder q2) bekannt ist. In Fortschreiten der Erkrankung. Bei der Fußverkürzung und Hammerzehen Familien, in denen beide Eltern he- neurologischen Untersuchung findet (Abbildung 1) sowie mit einer Karterozygot für das defekte Allel sind, sich eine afferente Ataxie als Folge ei- diomyopathie und Diabetes mellitus. beträgt das Risiko für ein Kind mit ner Läsion der Hinterstränge und zen- Schädelcomputertomographisch zeigt FRDA 25 Prozent. Betroffene sind tripetaler Kleinhirnbahnen. Der Rom- sich meist nur nach längerem Krankhomozygot für den Gendefekt, das berg-Versuch ist demzufolge positiv heitsverlauf eine leichte infratentorielheißt, beide Kopien des FRDA-Gens le Atropie. Mediosaggitale MRIsind im Vergleich zum Wildtyp-Gen 1 Institut für Humangenetik (Direktor: Prof. Dr. Schnitte weisen aber schon in frühen verändert. Für die sehr variablen med. Eberhard Schwinger) und Krankheitsstadien eine Atrophie zerKrankheitsverläufe sind wahrschein- 2 Klinik für Neurologie (Direktor: Prof. Dr. vikaler Rückenmarksabschnitte auf lich Mutationen in unterschiedlichen med. Detlef Kömpf) der Medizinischen Uni- (Abbildung 2), was dem pathomorBereichen eines einzigen Gens ver- versität zu Lübeck phologischen Substrat einer primären Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 47, 22. November 1996 (63) A-3127 M E D I Z I N KURZBERICHT Degeneration von Hintersträngen, spinozerebellären Bahnen und der Pyramidenbahnen entspricht (10). Eine krankengymnastische Behandlung hauptsächlich in Form eines Koordi- den (9). Seit 1991 wurden für mindestens neun Loci auf verschiedenen Chromosomen diese sogenannten dynamischen Mutationen beschrieben, die mit einer spezifischen Erkrankung assoziiert sind (Tabelle). Der Grafik 1 Mutationstyp „Trinukleotid-Expansion“ scheint ein genereller biologischer Exon Exon Mechanismus zu sein, der dominant Intron Intron oder rezessiv, innerhalb oder außer5' 3' halb der Proteinkodierregion (Grafik I I 1) schwere Erkrankungen verursaStart Stop chen kann, wenn eine bestimmte Kopienzahl überschritten wird. Die FRDA ist die erste autosoI II III IV mal-rezessiv vererbte Erkrankung, für Genstruktur und Lokalisation von Trinukleotid-Repeats. Die Proteinkodierregion (Start- bis Stoppkodon) ist die eine Repeat-Expansion beschrieschraffiert dargestellt. Die Exons, in denen Aminosäureabfolge kodiert ist, können durch Introns (nicht-kodie- ben wird. Die repetitive (GAA)n-Serend) unterbrochen sein. Trinukleotid-Repeats können sowohl in der Proteinkodierregion (II) als auch in den quenz im Gen für FRDA liegt im Intron (nichtkodierende Region) zwinicht-kodierenden 5’- und 3 ‘- Bereichen (I und IV) sowie im Intron (III) liegen. schen den Exons 1 und 2 (Grafik 1). nationstrainings ist für die Patien- belläre Ataxie Typ 1) und SCA3/MJD Für Chromosomen gesunder Personen ten von erheblicher Bedeutung. Eine (Machado-Joseph-Disease) beschrie- kann eine Kette von 9 bis 22 (GAA)wirksame medikamentöse Therapie ben. Bei diesen Erkrankungen liegt Elementen im FRDA-Gen nachgewiedie Mutation (Expansion von sen werden, auf Chromosomen von der Ataxie gibt es derzeit nicht (11). (CAG)n) in der kodierenden Region Betroffenen liegen im allgemeinen 700 (Grafik 1) und führt zu der Synthese bis 800 (GAA)-Kopien in einer Reihe eines veränderten Proteins. Auch in vor. Diese extreme Verlängerung der FRDA-Gen und Mutation Deutschland sind diese Gendefekte (GAA)-Sequenz bewirkt eine ausge1988 wurde das Gen für FRDA bei Ataxie-Patienten identifiziert wor- prägte Verringerung der Transkripte durch die Arbeitsgruppe um S. Chamdes FRDA-Gens. Die Grafik 2 berlain auf Chromosom 9 des MenAnzahl der vorhanschen (Chromosom 9q13) lokalisiert denen Transkripte (2). Nach dieser Genkartierung wurkorreliert jedoch im de eine indirekte DNA-Diagnostik allgemeinen mit der mit gekoppelten Markern möglich. Menge des zu syntheSolche indirekten Diagnose-Verfahtisierenden Proteins. ren können jedoch generell nur im Es kann dementspreRahmen von Familienuntersuchunchend postuliert werF/ F M K kb kb gen durchgeführt werden. Voraussetden, daß bei FRDA23,0 zung für eine indirekte Diagnostik ist, Patienten das Protein 9,0 daß sicher gesunde und eindeutig erFrataxin entweder 6,0 F 3,5 krankte Familienmitglieder in die nicht oder nur in 4,0 2,3 Untersuchung einbezogen werden minimalen KonzenN 1,5 2,0 können (12). Bei unsicherer klinitrationen vorhanden 0,5 scher Diagnose kann dieses Verfahist. Die Expansion ren nicht angewendet werden. des (GAA)n-Elementes kann in den Im März 1996 wurde das KandiFRDA-Genen zahldaten-Gen X25 für die FRDA publiDirekte DNA-Diagnostik in einer Familie mit Friedreich-Ataxie. Unterhalb des reicher Patienten ziert (1). Das Gen erstreckt sich über 6 Stammbaumes sind die PCR-Produkte dargestellt. Beide Eltern sind heterozygoExons, die für ein Protein von 210 te Anlageträger und besitzen neben dem Normalallel (N) ein expandiertes nachgewiesen werAminosäuren kodieren. Die Funktion „Friedreich-Allel“ (F). Die Tochter trägt wie die Kontrolle (K) ausschließlich Nor- den. In einzelnen Fäldieses Proteins, das Frataxin genannt malallele; sie hat kein mutiertes Gen geerbt. Der betroffene Sohn ist homozygot len zeigt jedoch nur der beiden wurde, ist derzeit nicht bekannt. Die für die Mutation. Da die Expansionen in beiden Allelen annähernd gleich sind, eine Expression ist jedoch nicht auf das wird bei diesem Patienten lediglich ein Signal sichtbar, während bei der Kontrol- FRDA-Kopien die Nervensystem beschränkt, sondern le F/F die mutierten Allele als zwei diskrete Banden dargestellt werden können. Expansion, während konnte auch in Herz- und Skelettmus- Der zweite Sohn ist wie seine Eltern heterozygoter Anlageträger für die FRDA- die zweite Kopie kel, Leber und Pankreas nachgewie- Mutation. (M = Längenstandard; Fragmentgrößen in kb; Kreis = weiblich; Qua- durch eine Punktsen werden. Als krankheitsverursa- drat = männlich; vollständige Schraffur = homozygot betroffen; halbseitige mutation inaktiviert chende Mutation wurde bei FRDA- Schraffur = heterozygoter Anlageträger; keine Schraffur = keine Expansion.) wird (1). Patienten eine Expansion des Trinukleotidrepeats (GAA)n nachgewiesen. Verlängerte Trinukleotidrepeats wurden bereits für die dominant vererbten Ataxien SCA1 (spinozere- A-3128 (64) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 47, 22. November 1996 M E D I Z I N KURZBERICHT Molekulargenetische Diagnostik Der direkte Mutationsnachweis ermöglicht nun die molekulargenetische Diagnose. Für diese wird eine EDTA-Blutprobe benötigt, aus der zunächst die DNA isoliert wird. Mit der PCR-Technik kann die Länge der repetitiven Sequenz im Gen für FRDA untersucht werden (Grafik 2). Aus der Zahl der expandierten Allele (0, 1 oder 2) kann geschlossen werden, ob der Proband homozygot gesund, heterozygoter Anlageträger (asymptomatisch) oder homozygot für die FRDA-Mutation und somit von der Erkrankung betroffen ist. Über 70 genetischen Beratung kann die direkte Diagnostik zur Risikopräzisierung beitragen. So kann auf Wunsch bei Geschwistern von Betroffenen festgestellt werden, ob sie – wie ihre Eltern – heterozygote Anlageträger für die FRDA-Mutation sind oder nicht. Bei Kinderwunsch kann diese Untersuchung auch den Partnern der Ratsuchenden angeboten werden, deren Heterozygotenrisiko für die Expansion statistisch 1 : 100 beträgt. Dieses geringe Heterozygotenrisiko gilt nur dann, wenn in der Familie des Partners kein FRDA-Fall aufgetreten ist und keine Blutsverwandtschaft zwischen den Ratsuchenden besteht. Durch die direkte DNA-Diagnostik kann das a-pri- Tabelle Erkrankungen mit Repeat-Expansionen Bereich Erkrankung I 5’ nicht-kodierend Fragiles X-Syndrom (FRAXA, FRAXE) II Kodierregion Huntington-Krankheit (HK) Spinozerebelläre Ataxie Typ 1 (SCA1) Machado-Joseph-Erkrankung (MJD; SCA3) Spinale und bulbäre Muskelatrophie (SBMA) Dentatorubrale-Pallidoluysiane Atrophie (DRPLA) III Intron Friedreich-Ataxie (FRDA) IV 3’ nicht-kodierend Myotone Dystrophie Prozent der von uns untersuchten Patienten mit Verdacht auf FRDA sind homozygot für die Expansion im Intron 1 des FRDA-Gens, das heißt, die klinische Diagnose konnte durch die DNAAnalyse bestätigt werden. Bei einigen Patienten konnten nur ein expandiertes Allel sowie ein Normalallel, bei anderen sogar zwei Normalallele in bezug auf die (GAA)-Kopienzahl gezeigt werden. Möglicherweise liegen bei Patienten, die heterozygot für die Expansion sind, bisher unbekannte Mutationen im FRDA-Gen auf Chromosom 9 vor („compounds“). Von Campuzo et al. (1) wurden beispielsweise Punktmutationen in den Exons 3 und 4 beschrieben. Bei Patienten, die homozygot für das Normalallel sind, könnte ein Defekt in einem anderen Gen vorliegen. Beim momentanen Stand des Wissens lassen sich jedoch Punktmutationen im FRDA-Gen nicht ausschließen. Bei einer human- ori-Risiko von 1 : 600 für betroffene Kinder der Ratsuchenden modifiziert werden. Es beträgt 1 : 4, wenn beide Elternteile Anlageträger sein sollten, oder nahezu null, wenn der Ratsuchende mit dem betroffenen Geschwister nicht Anlageträger ist. Sind beide Ratsuchende heterozygot für die Mutation, so kann ihnen im Fall einer Schwangerschaft eine pränatale Diagnostik angeboten werden. Mit Hilfe der molekulargenetischen Verfahren kann auch postnatal präsymptomatisch untersucht werden. Fraglich ist, ob eine solche „vorhersagende“ Diagnostik für Kinder aus FRDA-Familien, die noch keine Symptome zeigen (Risikopersonen), angeboten werden soll. Die Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische Fragen der Gesellschaft für Humangenetik hat sich eindeutig gegen eine prädiktive genetische Diagnostik bei Minderjährigen ausgesprochen, solange keine präventiven Maßnahmen eingeleitet werden können (8). Da noch keine ursächlichen Therapien verfügbar sind, birgt diese prädiktive Untersuchung für FRDA-Familien kaum einen Vorteil. Anschrift der Selbsthilfegruppe für erbliche Ataxien: Deutsche Heredo-Ataxie Gesellschaft, Haußmannstraße 6, 70188 Stuttgart Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1996; 93: A-3127–3129 [Heft 47] Literatur 1. Campuzo V et al.: Friedreich’s Ataxia: Autosomal recessive disease caused by an intronic GAA triplet repeat expansion. Science 1996; 271: 1423–1427 2. Chamberlain S et al.: Mapping of the mutation causing Friedreich ataxia to human chromosome 9. Nature 1988; 334: 248–249 3. De Michele G et al.: Late onset Friedreich’s disease: clinical features and mapping of the mutation to the FRDA locus. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1994; 57: 977–979 4. Friedreich N: Ueber degenerative Atrophie der spinalen Hinterstränge. Virchows Archiv der Pathologischen Anatomie 1863; 26: 433–459 5. Harding AE: Early onset cerebellar ataxia with retained tendon reflexes: a clinical and genetic study of a disorder distinct from Friedreich’s ataxia. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1981; 44: 503–508 6. Harding AE: The hereditary ataxias and related disorders. Edinburgh, 1984 7. Harding AE: Clinical features and classification of inherited ataxias. In: Harding AE, Deufel T (eds): Advances in Neurology. Advances in Neurology 1993; 61: 1–14; 1993; 61: 1–14 8. Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische Fragen der Gesellschaft für Humangenetik e V: Stellungnahme zum Heterozygoten-Bevölkerungsscreening. Medizinische Ethik 1991; 3 (2): 10–11 9. Rieß O et al.: Machado-Joseph-Erkrankung in Deutschland. Dt Ärztebl 1996; 93: 1108–1110 10. Wessel K et al.: Significance of MRI-confirmed atrophy of the cranical spinal cord in Friedreich’s ataxia. European Archive of Psychiatry and Neurological Science 1989; 238: 225–230 11. Wessel K et al.: Double-blind crossover study with Levorotatory form of hydroxytryptophane in patients with degenerative cerebellar disease. Archives of Neurology 1995; 52: 451–455 12. Zühlke C et al.: DNA-Diagnostik bei Friedreich’scher Ataxie. Aktuelle Neurologie 1991; 18: 216–222 Anschrift für die Verfasser: Dr. rer. nat. Christine Zühlke Institut für Humangenetik Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 47, 22. November 1996 (65) A-3129