Thieme: Physiologie

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707
21
21.1
Sehsystem und
Augenbewegungen
Visuell-visuomotorisches System ... 708
21.2
Auge und optische Abbildung
auf der Netzhaut ... 708
21.2.1 Licht und Abbildung ... 708
21.2
Auge und optische Abbildung
auf der Netzhaut ... 708
21.2.1 Licht und Abbildung ... 708
21.2.2 Akkommodation ... 710
21.2.3 Abbildungsfehler des optischen Apparates ... 711
21.2.4 Refraktionsfehler ... 711
21.2.5 Regelung der Pupillenweite ... 712
21.2.6 Kammerwasser und Augeninnendruck ... 712
21.2.7 Tränen ... 713
Zusammenfassung Kap. 21.2 ... 713
21.3
Okulomotorik ... 714
21.3.1 Augenmuskeln und ihre Zugrichtungen ... 714
21.3.2 Eigenschaften und Steuerung von Augenbewegungen ... 714
Zusammenfassung Kap. 21.3 ... 718
Ulf Eysel
21.4
Die Netzhaut: primäre sensorische Prozesse
und neuronale Signalverarbeitung ... 718
21.4.1 Augenhintergrund ... 718
21.4.2 Funktionelle Anatomie der Netzhaut ... 719
21.4.3 Phototransduktion ... 720
21.4.4 Photochemische Adaptation ... 721
21.4.5 Signalverarbeitung in der Netzhaut ... 722
21.4.6 Objektive Messung der Netzhautfunktion ... 724
21.4.7 Sehschärfe ... 725
Zusammenfassung Kapitel 21.4 ... 726
21.5
Das zentrale Sehsystem ... 727
21.5.1 Topographie der primären Sehbahn ... 727
21.5.2 Subkortikale Zentren der Sehbahn ... 728
21.5.3 Die primäre Sehrinde ... 730
21.5.4 Höhere visuelle Kortexareale ... 731
21.5.5 Visuell evozierte Potenziale ... 732
21.5.6 Räumliches Sehen ... 734
21.5.7 Farbensehen ... 736
Zusammenfassung Kap. 21.5 ... 738
aus: Klinke u. a., Physiologie (ISBN 9783137960065) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
21
708
21 Sehsystem und Augenbewegungen
21
Sehsystem und
Augenbewegungen
Häufig klagen ältere Menschen über Blendung: Nachts stören
sie die Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge, tags bevorzugen sie Hüte mit breiten Krempen, um die direkte Sonneneinstrahlung zu vermeiden. Sie klagen über eine schneller
abnehmende Sehschärfe, verschwommene Bilder und zunehmenden Verlust der Farbwahrnehmung. Bei meiner Mutter
zum Beispiel war es so.
Die augenärztliche Untersuchung des vorderen Augenabschnitts mit der Spaltlampe zeigte eine fortgeschrittene Trü-
21.1
Visuell-visuomotorisches System
Die Augen zeichnen sich unter den Sinnesorganen durch
größte Reichweite und Adaptationsfähigkeit aus, sie sind
durch einen eigenen Bewegungsapparat selbstbeweglich
und zielgerichtet. Die zweidimensionale Abbildung von
Sehdingen auf der Netzhaut (Retina) ist die Grundlage für
eine massiv parallele, neuronale Verarbeitung der Sehinformation, die bereits im neuronalen Netzwerk der Retina beginnt. Dieses Netzwerk von Nervenzellen ist entwicklungsgeschichtlich ein Teil des Zentralnervensystems, das die
Reizaufnahme sowie eine erste Analyse der Sehdinge vornimmt. Die Aufgabe des gesamten Systems, bestehend aus
dem sensorischen Teil mit Auge und nachgeschaltetem zentralen Verarbeitungssystem (visuelles System) sowie einem
die Augenbewegungen kontrollierenden Teil (visuomotorisches System), ist die explorative Orientierung in der Umwelt und die Ortung, Verfolgung und Klassifizierung von
Sehdingen auf der Basis von Form, Farbe, Bewegung und
Tiefe. Dabei arbeiten vielfältige Regionen des Gehirns aufmerksamkeitsgesteuert zusammen. Das visuell-visuomotorische System ist funktionell eng mit anderen Sinnessystemen und Systemen der Motorik verzahnt. Sehen ist nicht
zuletzt auch eine wichtige Grundlage der menschlichen
Kommunikation durch Schrift und Bild.
Ulf Eysel
bung der Linse, die Untersuchung der Netzhaut ergab eine
ungestörte Netzhautfunktion. Die notwendige Kataraktoperation war einfach und komplikationslos: Die getrübte Linse wurde
entfernt und durch eine Kunststofflinse mit angepasster Brechkraft ersetzt. Für die Patientin war der Erfolg überwältigend:
von einem Tag auf den anderen wieder leuchtende Farben
und eine scharfe Abbildung – vielleicht zu scharf: „Ich habe
gar nicht gewusst, dass Du schon so viele graue Haare hast.“
21.2
Auge und optische Abbildung auf der
Netzhaut
21.2.1
Licht und Abbildung
Elektromagnetische Strahlen mit Wellenlängen zwischen
400 und 750 nm sind der adäquate Reiz für die Photorezeption im Auge. Treffen sie auf unsere Netzhaut, nehmen wir
sie als Licht wahr und ordnen die ausgelöste Empfindung
der Sinnesmodalität „Sehen“ zu.
Funktionell kann man das Auge aufteilen in den physikalisch-optischen Teil (dioptrischer Apparat) und die Rezeptorfläche der Netzhaut, in der die Umsetzung des optischen
Reizes in Erregung neuronaler Elemente erfolgt (Transduktion; s. Kap. 17.4, S. 636). Abb. 21.1 zeigt den Aufbau des Auges. Der Augapfel (Bulbus oculi) eines rechten Auges ist horizontal durch den Ort des schärfsten Sehens (Fovea centralis) und den nasal austretenden Sehnerv (N. opticus) geschnitten. Das Licht tritt durch die Hornhaut (Kornea) ein
und erreicht über vordere Augenkammer, Linse und Glaskörper die Netzhaut (Retina).
Der dioptrische Apparat entwirft ein verkleinertes, umgekehrtes Bild auf der Netzhaut. Prinzipiell entsteht das Bild
durch Brechung von Lichtstrahlen an Grenzflächen zwischen Medien mit unterschiedlicher optischer Dichte
(Abb. 21.2 A). Ein Maß für die optische Dichte ist der Brechungsindex n (dimensionslos; für Luft gilt n = 1,0). Optische Dichte, geometrische und andere physikalische Eigenschaften bestimmen die Brechkraft eines optischen Systems, die in Dioptrien als dem Kehrwert der Brennweite
(in Metern) angegeben wird:
D ½dpt ¼ 1/f ½1/m
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21.2 Auge und optische Abbildung auf der Netzhaut
Kornea
vordere Augenkammer
709
Iris
Schlemm-Kanal
hintere Augenkammer
Linse
Ziliarkörper
Zonulafasern
Musculus rectus medialis
Ora serrata
Musculus rectus lateralis
Sklera
Chorioidea
Licht
Äquator
Pigmentepithel
Glaskörper
Retina
vergrößerter
Ausschnitt
der Retina
Papille
Nervus opticus
5°
Sehachse
optische Achse
Fovea
temporal
Abb. 21.1 Horizontalabschnitt durch das menschliche Auge. Die
Schnittebene verläuft durch die Fovea und den austretenden N. opticus. Die optische Achse des Auges verläuft durch die Mitte der
Pupille, die Krümmungsmittelpunkte der Linse und den Augenmittelpunkt. Sie weicht um einen Winkel von 5° von der Sehachse ab, die
durch die Fovea verläuft und die Blickrichtung angibt. Der vergrößerte Ausschnitt zeigt die Schichten der Netzhaut im Auge mit der
lichtabgewandten Orientierung der Photorezeptoren (siehe
Abb. 21.11).
Eine optische Linse mit einer Brennweite von 0,2 m hat
demnach eine Brechkraft von 5 dpt. Linsen mit positiver
Brechkraft (+dpt) bündeln die Lichtstrahlen (Sammellinsen), Linsen mit negativer Brechkraft (–dpt) streuen die
Lichtstrahlen (Zerstreuungslinsen).
Für die Abbildung eines Gegenstandes gilt bei achsennahen Strahlen und Winkeln unter 10° vereinfacht:
in der vorderen Augenkammer zwischen Kornea und Linse
(– 3 dpt). Zur leichteren Konstruktion der Abbildung auf der
Netzhaut kann dieses komplexe System näherungsweise auf
ein wassergefülltes System (n = 1,333) mit nur einer brechenden Oberfläche (Krümmungsradius 5,5 mm) vereinfacht werden („reduziertes Auge“‚ Abb. 21.2 B).
Retina
Linse
10,0 1,414
A
Kornea
Dabei ist B die Bildweite, G die Gegenstandsweite und f die
Brennweite, jeweils in Metern. Bei einem sehr weit entfernten Gegenstand geht 1/G gegen 0, und die Bildweite wird
damit gleich der Brennweite. Deshalb vereinen sich beim
normalsichtigen oder richtig korrigierten, in die weite
Ferne blickenden Auge die parallel einfallenden Strahlen
fokussiert auf der Netzhaut (Abb. 21.3 A). Bei näheren Gegenständen muss nach derselben Formel die Brennweite
kürzer werden, wenn das Bild mit konstanter Bildweite
weiterhin scharf auf der Netzhaut abgebildet sein soll. Die
dazu notwendige Variabilität der Gesamtbrechkraft des
Auges erfolgt durch die Akkommodation.
Der dioptrische Apparat des Auges ist ein zusammengesetztes optisches System, bei dem mehrere Übergangsflächen zwischen brechenden Medien verschiedener Dichte
aufeinander folgen. Die Gesamtbrechkraft von rund 59 dpt
(bei fernakkomodiertem Auge, s. u.) ergibt sich aus den Einzelbeiträgen der Brechwerte von Kornea (43 dpt, Brechkraft
von Vorderfläche minus Hinterfläche) und Linse (19 dpt),
vermindert um den optischen Beitrag des Kammerwassers
7,7 1,376
6,8 1,376
1/B þ 1/G ¼ 1/f ½1/m
Glaskörper
optische Achse
Brechungsindices
Krümmungsradien (mm)
Distanz vom Hornhautscheitel (mm)
1,336
–6,0
0 3,6 7,2
24,4
B
Bild
2,992 mm hoch
17 mm
1000mm
Gegenstand
176 mm groß
K
(Knotenpunkt)
Abb. 21.2 Der optische Apparat des Auges (Vertikalschnitt).
A Wichtige Maße und Werte des menschlichen Auges (nach 6).
B Konstruktion der Abbildung im reduzierten Auge.
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Sehsystem und
Augenbewegungen
nasal
21
21 Sehsystem und Augenbewegungen
Der für die Berechnung der Bildgröße wichtige Knotenpunkt (K) liegt
7,4 mm hinter dem Korneascheitel nahe dem hinteren Linsenpol und
17 mm vor der Netzhaut. Die Größe einer Abbildung auf der Netzhaut
kann abgeschätzt werden, wenn man entweder Bild- und Gegenstandsweite (für die Berechnung nach dem Strahlensatz) oder die
Bildweite und den Sehwinkel α (für die Berechnung nach dem Tangens) kennt (Abb. 21.2 B). Ein Gegenstand von 176 mm Größe in 1000
mm Entfernung vor dem Auge erzeugt bei der Bildweite von 17 mm
ein Bild von 2,992 mm Größe. (Führt man eine beispielhafte Berechnung nach dem Tangens mit α = 10° durch, ergibt sich [tg α = 176/
1000 = 0,176] als Bildgröße B = tg 10° · 17 mm = 0,176 · 17 mm = 2,992
mm). Aus der Bildgröße von etwa 3 mm bei 10° Sehwinkel folgt, dass
1° Sehwinkel auf der Netzhaut 0,3 mm = 300 µm entspricht.
21.2.2
Akkommodation
Die Fokussierung von unterschiedlich entfernten Gegenständen auf der Retina erfolgt durch Änderung der Linsenbrechkraft (Akkommodation, Abb. 21.3). Die Linse ist elastisch und nimmt, wenn keine äußeren Zugkräfte auf sie
einwirken, eine mehr kugelförmige Gestalt an. Am Linsenäquator setzen jedoch die Zonulafasern an, die ihrerseits
indirekt an Sklera und Chorioidea aufgehängt sind. Der Augeninnendruck spannt die Sklera und damit die Zonulafasern und flacht dadurch die Linse ab. Dies ist der Zustand
der Fernakkommodation (Abb. 21.3 A), bei der (theoretisch
unendlich) ferne Gegenstände scharf auf der Retina abgebildet werden. Die Aufhängung der Zonulafasern an der
Sklera wird über den Ciliarmuskel vermittelt. Dieser Muskel
kann durch parasympathische Innervation zur Kontraktion
gebracht und damit seine Öffnung schließmuskelartig verkleinert werden (Näheres zur parasympathischen Regulati-
on in Kap. 24, S. 800 ff.). Dadurch werden die Zonulafasern
entspannt (Abb. 21.3 B), die Linsenkrümmung nimmt zu, besonders an der Linsenvorderfläche. Die resultierende Änderung von physikalisch-optischen Eigenschaften der Linse
(Reduktion des Radius, Erhöhung des Brechungsindex) bewirkt eine Steigerung ihrer Brechkraft, der zufolge nahe
Gegenstände scharf auf der Retina abgebildet werden können. Dieser Zustand wird als Nahakkommodation bezeichnet. Bei maximaler Nahakkommodation wird ein Gegenstand, der sich im Nahpunkt befindet, scharf abgebildet.
Die mögliche Veränderung der Brechkraft bei Akkommodationsvorgängen wird als Akkommodationsbreite (A) bezeichnet.
A = Dn – Df [dpt]
Df =
(dabei ist Dn =
1
Nahpunkt
und
1
, jeweils gemessen in m)
Fernpunkt
Diese in Dioptrien angegebene Differenz der Brechkraftwerte bei Nah- und Fernpunkteinstellung kann beim jugendlichen Auge bis 14 dpt betragen. Das entspricht beim normalsichtigen Auge einem Bereich scharfer Abbildung von
7 cm bis unendlich (Akkommodationsbereich).
Zusätzlich zur parasympathischen Innervation besitzt
der Ciliarmuskel noch eine schwache sympathische Innervation, die antagonistisch wirkt. Im Ruhezustand (bei völliger Dunkelheit) ist der Ciliarmuskel leicht kontrahiert und
das Auge eines Normalsichtigen ist auf eine Entfernung von
etwa 0,5 – 2 m eingestellt (Nachtmyopie, 2 – 0,5 dpt).
Ziliarmuskel entspannt
Zonulafasern gespannt
Fernpunkt
Nahpunkt in m
Linse
14
0,08
12
A Fernakkommodation
0,10
10
Ziliarmuskel kontrahiert
Zonulafasern entspannt
Nahpunkt
Dioptrien
710
Abb. 21.3 Mechanismus der Nah- und Fernakkommodation und
Altersabhängigkeit der Akkommodationsbreite. A Fernakkommodation mit Strahlengang für einen Normalsichtigen. Der Fernpunkt
liegt im Unendlichen. B Nahakkommodation um 8 dpt. Der Nahpunkt
0,15
6
4
0,25
2
0,50
1,00
0
B Nahakkommodation
0,12
8
10
20
30
40
50
60
70
Alter in Jahren
C Akkommodationsbreite
liegt bei 0,125 m. C Die Akkommodationsbreite in Dioptrien ist mit
ihrer Streubreite (grün) über dem Lebensalter aufgetragen. Die entsprechenden Nahpunkte in m sind für den Normalsichtigen (oder
vollständig korrigierten Fehlsichtigen) angegeben.
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21.2 Auge und optische Abbildung auf der Netzhaut
21.2.3
Abbildungsfehler des optischen Apparates
Bei der Bildentstehung im Auge treten verschiedene optische Abbildungsfehler auf, die im Prinzip alle dazu führen,
dass keine genau punktförmige Abbildung erfolgt.
Sphärische Aberration. Strahlen aus der Nähe der optischen
Achse werden schwächer gebrochen als achsenferne Strahlen (Randstrahlen), die stärker gebrochen werden. Durch
Verkleinerung der Blendenöffnung (Pupille) wird die sphärische Aberration funktionell verringert.
Chromatische Aberration. Die Lichtbrechung ist von der
Wellenlänge abhängig. Kurzwelliges Licht wird stärker gebrochen als langwelliges. Da die Fovea aber keine Blaurezeptoren enthält, wird dieser Abbildungsfehler biologisch
korrigiert.
Ablenkung des Lichts an den Rändern der Pupille (Beugung) und Schatten von Glaskörpertrübungen, die als „fliegende Mücken“ („mouches volantes“) gesehen werden, verschlechtern ebenfalls die Abbildung.
Eine schwere Form der Störung der Optik des Auges ist die
Katarakt (Linsentrübung, grauer Star), die am häufigsten als
Altersstar (Cataracta senilis) auftritt. Tritt ein Star bei Kindern
auf, muss er bereits in den ersten Lebensmonaten operiert
werden, da sonst schwere Entwicklungsfehler der zentralen
Sehbahn zu erwarten sind. Durch physikalische Einwirkung
von Infrarotstrahlen kann auch schon im früheren Erwachsenenalter eine Katarakt entstehen (Glasbläser- oder Feuerstar);
diese arbeitsplatzbedingten Erkrankungen sind durch vorgeschriebene Maßnahmen am Arbeitsplatz (Schutzbrillen)
sehr selten geworden. Der relativ häufige Altersstar (20 –
30 % der über 60-Jährigen) beruht vermutlich auf Enzymdefekten, Mangelernährung und Einfluss von UV-Licht. Radiäre Wasserspalten in der Linsenrinde führen zu diffuser Lichtbrechung,
die Patienten sind oft geblendet, die Farbwahrnehmung verblasst und es tritt eine zunehmend verschwommene Abbildung auf. Bei intakter Netzhautfunktion ist die komplikationsarme Staroperation die einzige wirksame Behandlung. Bei der
Operation wird die Linse entfernt und durch eine in der Brechkraft entsprechend angepasste Kunststofflinse ersetzt.
Astigmatismus. Diese „Brennpunktlosigkeit“ beruht auf unterschiedlich starker Brechung in verschiedenen Ebenen des
dioptrischen Apparates (Abb. 21.4 unten). Dabei wird ein
Punkt nicht punktförmig, sondern als Linie abgebildet. Normalerweise ist durch die dauernde Krafteinwirkung der
Lider die Hornhaut in vertikaler Richtung stärker als in horizontaler Richtung gekrümmt (Astigmatismus nach der Re-
gel). Weichen die Brechkraftwerte der Achsen nicht über
0,5 dpt voneinander ab, handelt es sich um einen physiologischen Astigmatismus, der keiner Korrektur bedarf.
Wenn der Astigmatismus höhere Werte erreicht und die Achsen maximaler und minimaler Brechkraft senkrecht zueinander stehen (regulärer Astigmatismus), so muss und kann er
durch zylindrische Korrekturlinsen ausgeglichen werden
(Abb. 21.4 unten). Der irreguläre Astigmatismus ist in der
Regel durch Verletzungen bedingt und beruht auf einer unregelmäßigen Korneaoberfläche. Hier kann nur die Korrektur
durch eine Kontaktlinse helfen, die wieder eine gleichmäßige
optische Oberfläche herstellt.
21.2.4
Refraktionsfehler
Refraktionsfehler sind Abweichungen von der Normalsichtigkeit (Emmetropie). Am häufigsten sind Myopie („Kurzsichtigkeit“), Hyperopie (Hypermetropie, „Weitsichtigkeit“)
und Astigmatismus. Bei Kurz- und Weitsichtigkeit besteht
in der Regel ein Missverhältnis zwischen Bulbuslänge und
Bulbus zu lang: Kurzsichtigkeit
Korrektur: Zerstreuungslinse
Bulbus zu kurz: Weitsichtigkeit
Korrektur: Sammellinse
falsche Hornhautkrümmung:
Astigmatismus
Korrektur:
zylindrisch konvexe Linse
Abb. 21.4 Refraktionsanomalien. Oben: Myopie mit Korrektur durch
eine Zerstreuungslinse. Mitte: Hyperopie mit Korrektur durch eine
Sammellinse. Unten: Astigmatismus mit zu schwacher Brechung in
der horizontalen Ebene und Korrektur durch eine zylindrische, konvexe Linse mit entsprechend stärkerer Brechung in der Horizontalebene.
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Sehsystem und
Augenbewegungen
Mit zunehmendem Alter nimmt die Elastizität des Linsenkerns
ab. Dabei verringert sich die Akkommodationsbreite bei über
40-jährigen auf unter 3 dpt (Abb. 21.3 C). Bei dieser Alterssichtigkeit (Presbyopie) liegt der Nahpunkt bei 33 cm oder noch
weiter entfernt, und müheloses Lesen von Kleingedrucktem ist
nicht mehr möglich. Zur Unterstützung der Nahakkommodation werden Lesebrillen mit Sammellinsen verwendet, die den
Nahpunkt wieder in den Bereich von 25 cm bringen.
711
21
712
21 Sehsystem und Augenbewegungen
Brennweite des dioptrischen Apparates des Auges. Die Refraktionsanomalien werden durch zusätzliche Linsen im
Strahlengang („Brillengläser“) korrigiert. Bei der Myopie
ist der Bulbus im Verhältnis zu lang (Abb. 21.4 oben). Es
entsteht ein unscharfes Bild, weil die Bildebene vor der
Netzhaut liegt. Die bei Myopie relativ zu starke Brechkraft
wird durch Vorsetzen von Zerstreuungslinsen (negative Dioptrienzahl) ausgeglichen. Bereits bei einer Verlängerung
des Augapfeldurchmessers von 0,1 mm (ca. – 0,3 dpt) kann
man eine Verschlechterung der Sehschärfe bemerken;
1 mm entspricht dann schon ca. – 3 dpt. Bei der Hyperopie
ist der Bulbus zu kurz (Abb. 21.4 Mitte), und die Abbildung
entsteht hinter der Netzhaut. Die zu niedrige Brechkraft bei
Hyperopie wird durch Sammellinsen mit positiver Brechkraft korrigiert.
Refraktionsfehler und Akkommodation. Myope können
zwar sehr nahe liegende Gegenstände scharf abbilden,
sehen in der Ferne jedoch immer unscharf. Hyperope können ihre Hyperopie durch Nahakkommodation kompensieren und ferne Gegenstände ohne Brille scharf sehen, solange ihre Akkommodationsbreite dazu ausreicht, allerdings
ist das wegen der Koppelung von Nahakkommodation und
Konvergenzreaktion der Augen (s. Kap. 21.2.5 und 21.3.2)
bei starker Weitsichtigkeit dann mit Einwärtsschielen verbunden.
Wegen der Möglichkeit der Nahakkommodation müssen Hyperope mit der stärksten+dpt-Brille korrigiert werden, mit der
sie in der Ferne noch scharf sehen können, während Myope
die schwächste mögliche –dpt-Brille bekommen (bei Überkorrektur würden sie funktionell hyperop, könnten dies aber
durch Nahakkommodation kompensieren).
Refraktionsanomalien werden von Umwelteinflüssen mitbestimmt. Bei der Geburt ist das Auge zu klein, es liegt eine
Hyperopie vor, die normalerweise in der frühkindlichen Entwicklung durch Bulbuswachstum ausgeglichen wird; das Auge
„wächst in Fokus“ und wird damit emmetrop. In der Entwicklung wird dieses Wachstum des Auges besonders durch unscharfe Abbildung naher Gegenstände ausgelöst und erfolgt
nur in Helligkeit. Die letztgenannte, experimentelle Beobachtung wird durch ein höheres Vorkommen von Myopie bei
Kindern bestätigt, bei denen nachts das Licht im Schlafzimmer
angelassen wurde. Neben Störungen des Wachstums, die zur
Hyperopie oder Myopie führen, kann häufige und extreme
Nahakkommodation auch später noch einen Wachstumsreiz
darstellen, der zur Ausprägung einer Myopie führen kann
(z. B. Uhrmacher-Myopie).
Bei der malignen Myopie (Myopia maligna) ist der Augapfel extrem vergrößert, und die Gefahr einer Netzhautablösung (Ablatio retinae) ist deutlich erhöht.
21.2.5
Regelung der Pupillenweite
Die Iris stellt eine Blende dar, die Blendenöffnung ist die
Pupille. Helligkeitszunahme führt zur Verkleinerung der Pupille im Sinne einer Konstanterhaltung der Leuchtdichte auf
der Netzhaut. Dieser Pupillenreflex ermöglicht auch einen
relativ schnellen Schutz vor Blendung (die Verkleinerung
beginnt nach 0,2 – 0,5 s und dauert je nach Größe des Helligkeitssprunges zwischen 0,5 und über 1 s). Die ins Auge
eintretende Lichtmenge hängt linear von der Pupillenfläche
(π ⋅ r2) und damit quadratisch vom Radius ab. Bei Verminderung des Pupillendurchmessers von 7,5 auf 1,5 mm
nimmt die einfallende Lichtmenge demzufolge um den Faktor 25 ab.
Bei Beleuchtung nur eines Auges verengt sich nicht nur
die beleuchtete Pupille (direkte Lichtreaktion), sondern
auch die Pupille des anderen Auges (konsensuelle Lichtreaktion). Bei der komplexen Naheinstellungsreaktion verringert sich die Pupillenweite ebenfalls und zwar direkt gekoppelt mit der Nahakkommodation und einer Konvergenzstellung der beiden Augenachsen. Dabei bedingt die geringere
Pupillenweite eine Erhöhung der beim Nahsehen wichtigen
Tiefenschärfe.
Die Rezeptoren für den Pupillenreflex sind nach neuen
Erkenntnissen spezialisierte Ganglienzellen der Netzhaut,
die Melanopsin enthalten und intrinsisch lichtempfindlich
sind (s. Kap. 21.4.2 und 21.5.2). Ihre kaum adaptierenden
Signale werden über Abzweigungen aus dem Tractus opticus zur prätektalen Region (s. Abb. 21.19) fortgeleitet. Von
dort verläuft eine parasympathische, pupillenkonstriktorische Bahn über den Edinger-Westphal-Kern und das Ganglion ciliare zum M. sphincter pupillae. Eine sympathische,
dilatatorische Bahn geht vom Hypothalamus aus und zieht
über das ziliospinale Zentrum des Rückenmarks und das
Ganglion cervicale superius zum M. dilatator pupillae.
Die neuronale Kontrolle der Lichtreaktion der Pupille
hängt maßgeblich von den parasympathischen Fasern ab,
bei deren Erregung sich die Pupille verengt (Miosis) und
bei deren Hemmung sie sich, unterstützt durch die sympathische Innervation, erweitert (Mydriasis). Die Sympathikuserregung (abhängig vom Wachheitsgrad sowie von psychischen oder emotionalen Reizen) gibt dabei zugleich die
maximale Pupillenweite vor, die bei Hemmung des Parasympathikus erreicht werden kann.
Bei einer Blockade des Sympathikus im Bereich des Ganglion
cervicale superius, von dem aus auch die Öffnung der Lidspalte innerviert wird, tritt das Horner-Syndrom auf, das mit einer
Verengung von Pupille und Lidspalte (Ptosis) einhergeht. Der
Pupillenreflex bleibt dabei jedoch erhalten. Eine wichtige klinische Rolle spielt die Pupillenreaktion für die objektive Prüfung der afferenten Leitung im ersten Abschnitt der Sehbahn
vom Auge bis zum Zwischenhirn und für die Beurteilung von
Narkosestadien oder der Tiefe einer Bewusstlosigkeit. Weite
reflexlose Pupillen sind dabei, außer bei Unterkühlung, ein
alarmierendes Zeichen.
21.2.6
Kammerwasser und Augeninnendruck
Das Kammerwasser baut den Augeninnendruck auf. Es wird
im Bereich der hinteren Augenkammer vom Epithel des
Ziliarkörpers gebildet und tritt durch die Pupille in die vordere Augenkammer über, wo es im Kammerwinkel durch
das Trabekelwerk und den Schlemm-Kanal in den intra- und
episkleralen Venenplexus abfließt. Wenn sich Produktion
aus: Klinke u. a., Physiologie (ISBN 9783137960065) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
21.2 Auge und optische Abbildung auf der Netzhaut
Beim Krankheitsbild des Glaukom (grüner Star) ist der Augeninnendruck durch eine Abflussbehinderung am Kammerwinkel
oder eine gesteigerte Kammerwasserproduktion pathologisch
erhöht, was zur Schädigung der Sehnervenfasern im Bereich
der Papilla nervi optici führen kann. Eine Behinderung des
Abflusses durch eine Verlegung des Kammerwinkels (Winkelblockglaukom) kann zu einem akuten Glaukomanfall führen.
Hierbei spielt die Weite der Pupille eine wichtige Rolle: die
Verdickung der Iris bei Pupillenerweiterung ist ein Faktor der
Abflussbehinderung beim Winkelblockglaukom. Deshalb ist
eine medikamentöse Pupillenerweiterung bei Patienten mit
flacher Vorderkammer ein ärztlicher Kunstfehler. Als Therapie
werden lokal Miotika (0,5 % – 1 % Pilocarpinlösung) zur Pupillenverengung und systemisch Carboanhydrasehemmer (z. B.
Acetazolamid) zur Hemmung der Kammerwasserproduktion
eingesetzt. Anders als das durch Anfälle gekennzeichnete
akute Glaukom verläuft das chronische Offenwinkelglaukom
(Glaucoma simplex) schleichend. Hier ist der Abflusswiderstand andauernd erhöht, und der N. opticus wird durch lang-
zeitige Augeninnendruckerhöhung an seinem Austrittsort geschädigt. Es treten typische Gesichtsfeldausfälle (Skotome;
s. Kap. 21.5.1) auf, die erst spät bemerkt werden, weil sie in
der mittleren Peripherie liegen und die Sehschärfe primär
nicht beeinträchtigen. Als Therapie werden primär Augeninnendruck-senkende Medikamente (Miotika, Beta-Blocker,
Carboanhydrasehemmer) verwendet. Auch Operationen zur
Wiederherstellung des Kammerwasserabflusses kommen in
Betracht.
21.2.7
Tränen
Die Tränenflüssigkeit wird von den Tränendrüsen sezerniert
(je Auge etwa 1 ml/Tag). Die Tränen werden durch Lidschläge mit dem Schleim aus den Becherzellen der Bindehaut
vermischt und gleichmäßig verteilt. Der entstehende,
dünne Flüssigkeitsfilm schützt die Kornea vor dem Austrocknen.
Die Tränenflüssigkeit ist leicht hyperton (salziger Geschmack) mit
einem höheren Kalium- und niedrigerem Natriumgehalt als das Blutplasma. Fremdkörper zwischen Augenlidern und Kornea regen über
Rezeptoren des N. trigeminus die Tränensekretion reflektorisch an,
was zum Ausspülen des Fremdkörpers beiträgt. Die zentralen Neurone
dieses Reflexes liegen im pontinen Bereich des Hirnstamms, von wo
auch die emotionale Auslösung von Tränen über Verbindungen mit
dem limbischen System (s. Kap. 25.3.1, S. 821 ff.) möglich ist. Der pontine Hirnstamm innerviert das Ganglion pterygopalatinum, dessen
parasympathische Fasern die Tränensekretion an den Tränendrüsen
auslösen.
Sehsystem und
Augenbewegungen
und Abfluss (etwa 2 mm3/min) die Waage halten, besteht
ein konstanter Augeninnendruck. Er kann durch die Tonometrie festgestellt werden, deren Funktionsprinzip auf der
Messung der Verformbarkeit des Auges beruht. Dazu wird
bei der Applanationstonometrie die Kraft gemessen, die
aufgewendet werden muss, um eine definierte Korneafläche abzuflachen. Bei der Impressionstonometrie wird der
Grad der Korneaeindellung bei Aufsetzen eines Stiftes (definierter Druck) ermittelt. Normale Augeninnendruckwerte
liegen zwischen 10 und 20 mmHg (1,33 – 2,66 kPa).
713
21
Zusammenfassung Kap. 21.2
Auge und optische Abbildung auf der Netzhaut
Elektromagnetische Strahlung mit Wellenlängen von 400 –
750 nm empfinden wir als Licht. Die Lichtstrahlen müssen zur
Bildentstehung im Auge gebrochen und auf der Netzhaut (Retina) scharf abgebildet werden. Dabei entsteht ein verkleinertes
umgekehrtes Bild, bei dessen Größe 1° Sehwinkel 300 µm auf
der Netzhaut entspricht. Der dioptrische Apparat des Auges
stellt ein zusammengesetztes optisches System dar, das als
reduziertes Auge vereinfacht dargestellt werden kann. Die
Hornhaut (Kornea) trägt den größten Teil der Brechkraft bei,
die Linse ermöglicht zusätzlich durch ihre Eigenelastizität eine
Änderung ihrer Krümmung und die Scharfeinstellung auf verschiedene Entfernungen (Nah- und Fernakkommodation).
Unter Parasympathikuseinfluss erfolgt Nah-, unter Sympathikuseinfluss Fernakkommodation. Die Akkommodationsbreite von
maximal 14 dpt verringert sich mit dem Alter (Presbyopie)
und der Nahpunkt wird mit Hilfe einer Sammelinse korrigiert.
Abbildungsfehler des optischen Apparates beinhalten die sphärische und die chromatische Aberration sowie den durch unterschiedliche Hornhautkrümmung in verschiedenen Ebenen
bedingten Astigmatismus.
Refraktionsfehler (Kurz- und Weitsichtigkeit) beruhen in
der Regel auf Missverhältnissen zwischen der Brechkraft des
Auges und der Länge des Augapfels. Kurzsichtigkeit (Myopie)
beruht auf einem relativ zu langen Augapfel, die Bildentstehung
entfernter Gegenstände erfolgt vor der Netzhaut und muss
durch korrigierende Zerstreuungslinsen auf die Netzhaut fokussiert werden. Bei Weitsichtigkeit (Hyperopie) aufgrund eines
relativ verkürzten Augapfels erfolgt die Bildentstehung naher
Gegenstände hinter der Netzhaut und wird durch Sammellinsen korrigiert.
Die Pupille wirkt als variable Blende, verringert Abbildungsfehler und reguliert den Lichteinfall über einen sympathisch/
parasympathisch regulierten Reflexkreis. Der Augeninnendruck wird durch Produktion und Abfluss von Kammerwasser
bestimmt, er stabilisiert die Form des Auges und kann bei
akutem oder chronischem Anstieg zum Krankheitsbild des
Glaukoms führen. Die Tränenflüssigkeit und der Lidschlag
schützen die Hornhaut vor Austrocknung.
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714
21 Sehsystem und Augenbewegungen
optische
Achse
21.3
Okulomotorik
21.3.1
Augenmuskeln und ihre Zugrichtungen
Sechs Muskeln bewegen das Auge (Abb. 21.6): vier gerade
(M. rectus superior und inferior; M. rectus lateralis und
medialis) und zwei schräg verlaufende Muskeln (M. obliquus superior und inferior). Diese Muskeln werden durch
den N. oculomotorius (M. rectus superior, inferior, medialis;
M. obliquus inferior) , den N. trochlearis (M. obliquus superior) und den N. abducens (M. rectus lateralis) innerviert.
Ein Motoneuron innerviert ca. 5 – 10 Muskelfasern. Diese
kleinen motorischen Einheiten erlauben eine feine Regulation der Kontraktionskraft, wie sie für die Ausführung der
äußerst präzisen Augenbewegungen notwendig ist.
Die Zugrichtungen der Augenmuskeln werden in einem
Bezugssystem beschrieben (Abb. 21.5), dessen Koordinaten
mit den von der Natur gewählten nur teilweise übereinstimmen (Abb. 21.6). Die Kontraktion der medialen und lateralen geraden Augenmuskeln bewirkt eine Adduktion
bzw. Abduktion des Bulbus. Die Kontraktion der geraden
bzw. schrägen oberen und unteren Augenmuskeln resultiert
in Augenbewegungen, die eine Kombination aus Elevation
und Depression mit Intorsion (gerade Augenmuskeln) bzw.
Extorsion (schräge Augenmuskeln) darstellen. Die Zugrichtungen der Augenmuskeln entsprechen näherungsweise
den Ebenen der Bogengänge des Gleichgewichtsorgans
(Abb. 21.6 unten). Die Anordnung von Bogengängen und Augenmuskeln in näherungsweise gleichen Raumebenen vereinfacht die Übertragung von sensorisch-vestibulären in
okulomotorische Koordinaten (zum Aufbau des Vestibularorgans, s. Kap. 20.2.1, S. 696 f.).
Abduktion
Elevation
Extorsion
Intorsion
Zugrichtung des
M. obliquus superior
linkes Auge
von oben
M. obliquus superior
M. rectus medialis
M. rectus superior
M. rectus inferior
M. rectus lateralis
Zugrichtung des
M. rectus superior
linkes Vestibularorgan
von oben
horizontaler
Bogengang
anteriorer
vertikaler
Bogengang
posteriorer
vertikaler
Bogengang
Abb. 21.6 Zugrichtungen der Augenmuskeln und Ebenen der Bogengänge im Innerohr. Die Zugrichtungen der Mm. rectus lateralis
und medialis liegen ebenso in der Ebene des Papiers wie der horizontale Bogengang des ipsilateralen und (nicht gezeigt) des kontralateralen Labyrinths. Senkrecht dazu und näherungsweise in einer
gleichen Ebene liegen die Zugrichtungen der Mm. rectus superior und
inferior, der anteriore vertikale Bogengang des ipsilateralen und der
posteriore vertikale Bogengang des kontralateralen Labyrinths. Eine
entsprechende räumliche Orientierung existiert für die Zugrichtungen
der Mm. obliquus superior und inferior mit der Ebene des ipsilateralen
posterioren bzw. des kontralateralen anterioren vertikalen Bogengangs. Die Zugrichtungen von funktionellen Augenmuskelpaaren und
die Ebenen der entsprechenden funktionellen Bogengangspaare weisen näherungsweise jeweils die gleiche Orientierung auf.
optische
Achse
linkes Auge
Depression
Adduktion
Abb. 21.5 Koordinatensystem zur Benennung von Augenbewegungen um 3 Achsen. Die Torsionsachse (rot) entspricht der optischen Achse des Auges. Horizontalachse (blau), Vertikalachse (grün)
und Torsionsachse stehen im Drehmittelpunkt des Auges senkrecht
zueinander.
21.3.2
Eigenschaften und Steuerung von
Augenbewegungen
Augenbewegungen unterstützen die visuelle Orientierung
und Wahrnehmung.
Foveales Sehen und Explorieren wird durch motorische
Programme ermöglicht. Diese lenken die Fovea (der Ort des
schärfsten Sehens, s. Kap. 21.2.1 und 21.4.1) mit Hilfe
schneller Augenbewegungen (Sakkaden) rasch auf einen
ausgewählten Fixationspunkt, behalten ihn im Blick (Fixationsperioden) bzw. führen bei einem bewegten Objekt den
Fixationspunkt ruckfrei nach (Zielfolgebewegung). Solange
sich die Distanz zwischen dem betrachteten Gegenstand
und den Augen nicht ändert, bewegen sich beide Augen
konjugiert, d. h. gleich schnell und in die gleiche Richtung.
Beim Blickwechsel auf einen näher oder ferner gelegenen
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21.3 Okulomotorik
Sakkaden. Wir verlagern das Ziel unseres Blickes mit Hilfe
von schnellen Augenbewegungen (Sakkaden). Diese Bewegungen sind vorprogrammiert, d. h. während ihres Ablaufs
nicht mehr veränderlich (sie sind ballistisch). Sakkaden gehören zu den schnellsten Bewegungen, die wir ausführen
können (bis 700°/s) und haben Amplituden von bis zu 90
Winkelgrad [°], sind aber dennoch sehr präzise (auf 1 – 2°
genau). Während einer Sakkade ist die visuelle Bewegungswahrnehmung eingeschränkt (sakkadische Suppression).
Durch die hohe Geschwindigkeit wird die Dauer einer Sakkade (30 – 70 ms) kurz gehalten und damit auch die Zeit der
unterdrückten Bewegungswahrnehmung. In der Retikulärformation des Hirnstamms entstehen horizontale und vertikale Komponenten von Sakkaden an getrennten Stellen
(Abb. 21.7):
▬ Horizontale Komponenten werden in der paramedianen
pontinen retikulären Formation (PPRF) programmiert,
▬ vertikale Komponenten hingegen in der mesenzephalen
retikulären Formation (MRF).
Die beteiligten Neurone der PPRF und der MRF sind über
den medialen longitudinalen Faszikel (MLF) miteinander
verbunden. Bei einer Sakkade werden die geforderten Augenmuskeln mit einer hochfrequenten Salve (engl. „burst“)
von Aktionspotenzialen zur Kontraktion gebracht, während
gleichzeitig die Antagonisten gehemmt werden. Die Frequenz der Salve kodiert die Geschwindigkeit, die Dauer
der Salve bestimmt die Amplitude der Sakkade.
Sakkaden können reflektorisch oder willkürlich ausgelöst werden.
Reflektorische Sakkaden: Direkte Verbindungen von der
Retina über den kontralateralen Colliculus superior zu den
blickmotorischen Kernen in der PPRF und MRF stellen die
anatomische Basis für reflektorische Sakkaden dar. Diese
Sakkaden entstehen, wenn plötzlich ein bewegtes Objekt
in der Peripherie des Gesichtsfelds auftaucht. Mit diesem
sog. visuellen Greifreflex wird das Objekt zur genaueren
Identifikation auf die Fovea abgebildet. Entsprechend den
zusätzlichen auditorischen und somatosensorischen Eingängen des Colliculus superior können plötzliche Geräusche
oder Berührungen ebenfalls einen sakkadischen Greifreflex
auslösen.
Willkürliche Sakkaden: Beim Explorieren unserer Umgebung machen wir ca. 3 willkürliche Sakkaden pro Sekunde,
an die sich eine Fixationsperiode von mindestens 0,2 s an-
Thalamus
Edinger-Westphal-Kern
rostraler
interstitieller
Kern des MLF
Okulomotoriuskern (III)
mesenzephale
retikuläre
Formation (MRF)
Zerebellum
Trochleariskern (IV)
medialer
longitudinaler
Faszikel (MLF)
Mesenzephalon
NIII
pontine Kerne
Pons
paramediane pontine
retikuläre Formation
(PPRF)
Abduzenskern (VI)
NVI
Medulla
oblongata
Oliva inferior
motorische Kerne
prämotorische Kerne
Nucleus
praepositus
hypoglossi
Abb. 21.7 Medianansicht der blickmotorischen Kerne im Hirnstamm des Menschen. Horizontale Komponenten von Sakkaden
werden in der paramedianen pontinen retikulären Formation generiert, vertikale und torsionelle Komponenten im rostralen interstitiellen Kern des medialen longitudinalen Faszikels in der mesenzephalen
retikulären Formation. Der mediale longitudinale Faszikel stellt reziproke Verbindungen zwischen diesen beiden Kerngebieten sowie
zwischen dem Abduzens- (VI), dem Trochlearis- (IV) und dem Okulomotoriuskern (III) her. (Modifiziert nach 3).
schließt. Die Sakkaden werden auf Objekte gerichtet, die
vom zerebralen Kortex als Ziele für die Fovea ausgewählt
wurden. Die effiziente Exploration einer visuellen Szene,
wie z. B. in der Abb. 21.8 A, erfordert, dass die visuelle Aufmerksamkeit auf markante Objekte (z. B. Köpfe bei Personen, Augen-Mund bei Gesichtern) gelenkt wird
(Abb. 21.8 B), um möglichst rasch die wesentlichen Details
zu erfassen. Gleichzeitig werden relektorische Sakkaden
unterdrückt. Bei dieser Orientierung der visuellen Aufmerksamkeit spielt der posterior-parietale Kortex (Area 7) mit
seinen Projektionen zum Colliculus superior wie auch zum
frontalen Augenfeld eine wichtige Rolle (die aufmerksamkeitsbezogenen Funktionen des parietalen Kortex sind in
Kap. 25.2.2, S. 819 dargestellt).
Das frontale Augenfeld (Area 8) ist an der Planung von
Sakkaden beteiligt (zur Organisation des motorischen Kortex, s. Kap. 23.5.1, S. 779 ff.). Es erhält Eingänge u. a. vom
posterioren parietalen Kortex und projiziert direkt zu den
blickmotorischen Kernen des Hirnstamms (PPRF und MRF).
Eine weitere direkte erregende Verbindung erreicht den
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Sehsystem und
Augenbewegungen
Punkt müssen die Sehachsen der beiden Augen konvergieren bzw. divergieren, damit der fixierte Gegenstand auf den
Foveae beider Augen abgebildet bleibt. Durch diese Vergenzbewegungen der Augen wird verhindert, dass Doppelbilder entstehen (s. Kap. 21.5.6). Bei Eigenbewegung oder
Bewegung der Umwelt halten kompensatorische Augenbewegungen das Abbild der Umwelt auf der Netzhaut
stabil. Die entstehenden Bildverschiebungen werden hierbei durch entgegengerichtete Augenbewegungen kompensiert. Diese Vorgänge beruhen auf vestibulären Reflexen
(s. Kap. 20.3.3, S. 702 ff.) und visuellen (optokinetischen) Reflexen (nachfolgend beschrieben).
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