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09.02.2007, 12:29
Darm & Co.
Die unterschätzte Mitte
Rund um die Uhr arbeitet unser Darm und leistet dabei viel mehr als
nur Verdauungsarbeit. FOCUS Online über unser Multitalent in der
Körpermitte.
Von FOCUS-Online-Redakteurin Julia Bidder
Warum ausgerechnet jetzt? Egal, ob sich der
Darm durch Gluckern und Grummeln mitten
in der Konferenz peinlich laut meldet, oder
ob wir vor einer Prüfung Unterleibszwicken
und Durchfall bekommen: Lästig und
unangenehm fordert unser
Verdauungssystem oft genau dann
Aufmerksamkeit, wenn es uns am wenigsten
passt. „So etwas wie ein gesundes,
zufriedenes Bauchgefühl gibt es nicht. Wir
registrieren unseren Darm nur, wenn er
Ärger macht“, erklärt Professor Paul Enck
von der Klinik für Psychosomatik und
Psychotherapie der Universität Tübingen.
Polypen im Darm gelten als
Krebsrisiko. Ein Gen lässt sie
verschwinden
Corbis
Wer sich stets nur meldet, um zu meckern, macht sich unbeliebt. Kein
Wunder, dass die meisten Menschen am liebsten ihre Verdauung und alles,
was damit zusammenhängt, verdrängen. Eigentlich paradox, denn über
genussvolles Essen und Trinken sprechen wir sehr gern. Mit der Tabuisierung
tun wir dem Darm Unrecht. Denn das Multitalent in unserem Unterleib leistet
nahezu unbemerkt Tag und Nacht Schwerstarbeit: Etwa 30 Tonnen Speisen
und 50 000 Liter Flüssigkeit durchwandern in einem Menschenleben den
muskulösen Schlauch in unserem Inneren. Magen und Darm durchmischen
den Speisebrei mit Verdauungssäften und kneten ihn gründlich. EnzymCocktails spalten Eiweiße, Fette und Kohlenhydrate in kleinste Bausteine.
Darmwandzellen nehmen die Nährstoffe auf und reichen sie an Blut und
Lymphflüssigkeit weiter. Damit sichert der Darm das Überleben des ganzen
Körpers. Am Ende scheidet er nur unverdauliche Bestandteile und Zellreste
aus.
Fachliche Beratung: Prof. Paul Enck, Klinik für Psychosomatik und
Psychotherapie der Universität Tübingen sowie Prof. Michael Schemann,
Lehrstuhl für Humanbiologie an der Technischen Universität München
Evolution eines Multitalents
Der Darm ist unser ältestes Organ und entwickelte sich lange vor Haut, Herz,
Lunge oder Hirn. Schon Schwämme, die Forscher zu den primitivsten Tieren
zählen, nehmen Nährstoffe durch Einstülpungen ihrer Körperoberfläche auf.
Primitive Vielzeller wie Quallen verdauen in einem Sackdarm mit nur einem
Ein- und Ausgang. Erst höhere Tiere entwickelten eine zweite Öffnung und
trennten so den Mund vom After – ein wahres Erfolgsmodell in der Evolution.
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Auch während der menschlichen Embryonalentwicklung bildet sich der Darm
als eines der ersten Organe. Bereits zum Ende des dritten
Schwangerschaftsmonats besitzen Embryonen einen kompletten
Verdauungstrakt mit Speiseröhre, Magen, Dünn- und Dickdarm. Während der
weiteren Entwicklung wachsen die Organe lediglich.
Entwicklungsgeschichtlich betrachtet ist der Darm also ein recht betagtes
Organ. Dennoch ist er alles andere als primitiv: Mehrere hoch spezialisierte
Zellschichten kleiden ihn von innen aus. Dazu gehören eine sich ständig
erneuernde Schleimhaut, Drüsenzellen, zwei Muskelschichten und mehr als
100 Millionen Nervenzellen – mehr, als das Rückenmark besitzt. Diese
Neuronen umhüllen den Darmtrakt in einem dichten Geflecht und bilden ein
eigenes Nervensystem. Ähnlich wie im Gehirn unterstützen zudem Millionen
so genannte Glia-Zellen die Neuronen bei ihren Aufgaben. „Weil dieses
System funktionell und in seinem Aufbau unserem Gehirn ähnelt, nennen
Forscher es auch Darmhirn oder Bauchhirn“, erklärt Michael Schemann,
Professor für Humanbiologie an der Technischen Universität München.
Die Macht unseres zweiten Gehirns
Die Nervenzellen im Verdauungstrakt sprechen die gleiche Sprache wie ihre
Verwandten im Gehirn. Sie reagieren beispielsweise auch auf das
Glückshormon Serotonin oder auf den Stress-Botenstoff Adrenalin. Darüber
hinaus gibt es eine Vielzahl so genannter Neurotransmitter, das sind spezielle
Signalmoleküle, mit denen sich Neurone untereinander verständigen. So
kontrolliert das Bauchhirn die Aktivität des Verdauungstraktes.
Dazu verarbeitet es ständig eine Fülle von Informationen aus dem gesamten
Darm: Spezielle Sensoren in der Darmwand etwa geben Auskunft über
Füllungszustand und Zusammensetzung des Speisebreis. Das ermöglicht dem
Nervengeflecht, bedarfsgerecht zu steuern, wie schnell die Nahrung den Darm
durchwandert und wie viele Verdauungssäfte Pankreas und Galle produzieren.
Das Darmhirn herrscht weit gehend allein über den Verdauungstrakt. „Wenn
das Gehirn all diese Prozesse zentral steuern würde, bräuchten wir einen sehr
dicken Hals, um all die Nervenleitungen unterzubringen“, erklärt der Biologe
Schemann, der seit 1986 das Darmhirn erforscht. „Der Darm ist einfach zu
wichtig, als dass er zentral gesteuert werden könnte.“
Darm- und Bauchhirn stehen dennoch in einem ständigen Kontakt. So erhält
der Darm Signale über die „Großwetterlage“ im Körper. Stress beispielsweise
entspannt die Darmmuskeln und lähmt die Verdauung, Entspannung dagegen
aktiviert sie. Angstdurchfall, etwa vor einer Prüfung, entsteht vermutlich, weil
Stress auf die Abwehrzellen im Darm wirkt und als Folge das Bauchhirn
aktiviert wird. „Dadurch erhöhen sich Sekretion und Bewegung im Darm“,
erläutert Darmhirn-Forscher Michael Schemann.
Umgekehrt gibt das Darmhirn reichlich Feedback ans Gehirn: 90 Prozent der
Nervenverbindungen zwischen Darmhirn und Kopf verlaufen von unten nach
oben. „Das Gehirn ist wie ein Monitor ständig über den Zustand im Darm
informiert“, erklärt Michael Schemann. Die meisten Mitteilungen bleiben
jedoch unbewusst, wir nehmen meist nur Notsignale wie Übelkeit, Erbrechen
oder Schmerzen wahr. Unwichtiges „überhört“ das Gehirn gesunder Menschen
– ähnlich, wie es gleich nach dem Anziehen die Meldungen darüber ignoriert,
dass Hemd, Hose und Pullover auf der Haut aufliegen. „Wir spüren unseren
Darm nur, wenn er Ärger macht“, erklärt der Tübinger Darm-Experte Paul
Enck. Alle übrigen Meldungen werden ausgeblendet. „Das ist auch gut so, denn
würden wir alle Informationen von 100 Millionen Nervenzellen im
Verdauungstrakt ständig wahrnehmen, hätten wir nichts anderes mehr zu
tun.“
Eine eigene „Intelligenz“ kann man dem Verdauungstrakt demnach nicht
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absprechen. „Es würde aber zu weit gehen, wenn man sagt, dass das
Bauchhirn Sitz von Intuition oder „Bauchgefühl“ ist. Dafür gibt es keinerlei
Beweise“, betont Schemann. „Wir denken und entscheiden immer noch mit
unserem Gehirn!“ Andererseits kommen Forscher dem Zusammenspiel von
Bauchhirn und Kopf immer besser auf die Spur. „Möglicherweise bilden auch
unbewusste Empfindungen aus dem Darmhirn eine Art Gefühlsteppich, der uns
bei Entscheidungen beeinflusst“, erläutert der Darmhirn-Experte.
Unsere innere Verteidigungslinie
Nicht alles, was wir mit der Nahrung aufnehmen, dient unserer Gesundheit.
Auch Gifte und Krankheitserreger gelangen in den Verdauungstrakt. Damit sie
keinen Schaden anrichten, hält ein ausgeklügeltes Verteidigungssystem
Wache.
Salzsäure im Magensaft tötet die meisten Krankheitserreger ab. Im Dickdarm
tragen Billionen von Bakterien als „lebender Schutzwall“ dazu bei, dass der
Verdauungstrakt intakt bleibt: So lange ausreichend „nützliche“ Keime
wachsen, verdrängen sie krank machende Verwandte und Pilze. Gleichzeitig
halten sie das Immunsystem auf Trab, denn es muss ständig entscheiden, wer
Freund und wer Feind ist.
Rund 70 Prozent aller Abwehrzellen leben im Darm. Kein Wunder, denn seine
Oberfläche ist durch Einfaltungen stark vergrößert. Würde man sie ausbreiten,
ergäbe es bei einem Erwachsenen mehr als die Fläche eines Tennisplatzes.
Haut, Schleimhäute und selbst die Lunge bieten Krankheitserregern viel
weniger Angriffsfläche.
In der Darmschleimhaut verleiben sich so genannte Fresszellen
(Makrophagen) Eindringlinge ein und vernichten sie. Ein weiterer Typ von
Abwehrzellen, die Granulozyten, stehen ihnen zur Seite und verzehren
ebenfalls Eindringlinge oder körpereigene abgestorbene Zellen. Allergische
Reaktionen, zum Beispiel auf Nahrungsmittel, gehen auf das Wirken von
Mastzellen zurück, die den Allergie-Botenstoff Histamin ausschütten können.
Weitere Immunzellen, die so genannten B-Lymphozyten, haben sich auf
bestimmte Merkmale von Krankheitserregern spezialisiert, die sie mit
bestimmten Eiweißmolekülen verklumpen und damit unschädlich machen. Pro
Sekunde können sie bis zu 2000 solcher Immun-Proteine bilden. So genannte
T-Lymphozyten zerstören von Viren befallene Körperzellen und regulieren die
Immunantwort des Körpers. Darüber hinaus finden sich in der
Darmschleimhaut besonders viele Plasmazellen, die den Antikörper
Immunglobulin A produzieren, eine chemische Abwehrkeule speziell für
Schleimhäute.
Der Darm ist nicht nur hervorragend mit Blutgefäßen versorgt, die
aufgenommene Nahrungsmoleküle in den ganzen Körper leiten. Auch das
Lymphsystem durchzieht mit feinen Kanälen die Darmzotten. Kleine
Lymphknoten bilden dabei Reservoire für Immunzellen. Und auch
Wurmfortsatz und Blinddarm gehören zum Darm-Immunsystem. Ihre Wände
sind mit Lymphgewebe ausgekleidet und liefern wichtigen Nachschub an
Abwehrzellen.
Aus der Nahrung nur das Beste!
Durchschnittlich 70 Stunden lang dauert die Reise unserer Nahrung durch den
menschlichen Körper. Dabei holt der Organismus das Beste aus ihr heraus:
Schon im Speichel spalten Enzyme bestimmte Zucker. Die Zähne zerkleinern
Hamburger, Pommes und Salat mechanisch und schaffen damit mehr
Angriffsfläche für die Verdauungsenzyme. Durch die Speiseröhre rutscht das
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Essen in den Magen, wo sich der Speisebrei gründlich mit Salzsäure und
Verdauungssäften vermischt. Die Säure desinfiziert die Nahrung, tötet
Mikroorganismen und bereitet Eiweiße für die Verdauung vor, die bereits im
Magen beginnt. Wie lange die Nahrung dort verweilt, hängt von ihrer
Beschaffenheit ab: Kohlenhydrate wandern schnell in den Dünndarm, Eiweiß
und Fette verzögern dagegen die Verdauung. „Im Magen finden sich
Rezeptoren, die das Transporttempo regulieren. Je mehr Kalorien die Nahrung
enthält, desto langsamer passiert sie den Darm“, erklärt Darm-Experte Paul
Enck. Der Pförtnermuskel entlässt durchschnittlich pro Minute Speisebrei mit
einem Brennwert von vier Kilokalorien in den Dünndarm. Kalorienfreies wie
Wasser passiert dagegen den Magenschließmuskel sofort.
Weiter geht’s im Dünndarm, der aktivsten Zone des Verdauungstraktes. An
den Magen schließt sich der Zwölffingerdarm (Duodenum) an, der in etwa so
lang ist wie zwölf aneinander gelegte Männerfinger, also etwa 25 bis 30
Zentimeter – daher der Name. Ein bis zwei Liter bikarbonathaltiges Sekret aus
der Bauchspeicheldrüse sorgen hier für ein basisches Milieu. „Auch dort haben
Bakterien keine Chance. So kann der Körper ungestört die Nährstoffe
resorbieren“, erklärt der Tübinger Darm-Experte Enck. Enzyme der
Bauchspeicheldrüse, Gallensäuren aus der Leber und eine Vielzahl von
Verdauungseiweißen auf der Darmoberfläche helfen dabei, langkettige
Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette in kürzere Stücke zu spalten.
Darmschleimhautzellen schleusen alle für den Körper wertvollen Nährstoffe in
ihr Zellinneres und reichen sie an Blut und Lymphflüssigkeit weiter. Das kann
nur geschehen, wenn Nahrungsbrei im direkten Kontakt mit der Darmwand
steht. Deren Oberfläche ist durch zahlreiche Falten und Ausstülpungen stark
vergrößert. Muskeln in der Darmwand durchmischen den Speisebrei mit den
Verdauungssäften und transportieren ihn Richtung Enddarm. Diese
Bewegungen können wir nicht willentlich kontrollieren. Gelegentlich fühlen wir
sie jedoch: „Wenn’s im Darm zwickt und zwackt, spüren wir meist die
Muskelkontraktionen, die den Druck im Verdauungstrakt erhöhen“, erklärt
Paul Enck. Kein Wunder, denn sie erzeugen beachtliche Kraft: „Wir empfinden
einen Druck von 60 Millimeter Quecksilbersäule im Darm bereits als
schmerzhaft“, erläutert der Darm-Experte. Zum Vergleich: der Blutdruck eines
gesunden Erwachsenen beträgt etwa 120 Millimeter Quecksilbersäule.
Im Anschluss an das Duodenum passiert der Darm noch Jenunum (Leerdarm)
und Ileum (Krummdarm). Der Leerdarm resorbiert Fette. Der Krummdarm
dagegen beteiligt sich nur an der Verdauung, wenn der obere Dünndarm diese
Funktion nicht mehr wahrnimmt. Die Schleimhautzellen dieses Bereiches
recyceln unter anderem Gallensäuren und resorbieren Vitamin B12.
Biotop für Billionen
Mit 1,5 Metern Länge ist die letzte Station der Nahrung im Körper
vergleichsweise kurz. Dennoch verbleibt der Speisebrei die meiste Zeit – zwölf
bis über 60 Stunden – im Dickdarm. „Resteverwerter“ nennt Paul Enck diesen
Darmabschnitt. „Er holt Flüssigkeit und Mineralien aus dem Speisebrei und
alles Übrige, was noch nützlich ist“, erklärt er. Dabei helfen ihm Billionen von
Bakterien, die sich im leicht sauren Milieu wohl fühlen. „Etwa 600
verschiedene Stämme leben dort in trauter Eintracht“, berichtet der Tübinger
Darm-Experte. Ausbuchtungen des Darms, Haustren genannt, dienen ihnen als
Fäulniskammern. Sie verwerten Ballaststoffe und andere Reste, die der
Mensch nicht umsetzen kann, zum Beispiel Zellulose. Dafür bilden sie
Vitamine und andere Moleküle, die der Mensch resorbiert.
Allerdings produzieren die nützlichen Untermieter auch Gase, die der
Dickdarm nur zum Teil wieder resorbieren kann. Abhängig von der Ernährung
entweicht dem Darm daher täglich bis zu einem halben Liter Gas. Das meiste
davon ist geruchsloser Wasserstoff. Unangenehm bis stechend dagegen
riechen verschwindend geringe Mengen Methan, Schwefelwasserstoff und
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weitere schwefelhaltige Verbindungen, die beim Eiweißabbau entstehen.
Am Schließmuskel des Afters schließlich endet die Macht des Darmhirnes:
Gesunde Menschen nehmen zwar einen Drang wahr, zur Toilette zu gehen,
können ihn aber in aller Regel einige Zeit lang unterdrücken. Experimente
haben das bewiesen. „Wir haben Studenten dafür bezahlt, ihren Stuhlgang zu
unterdrücken. Sieben Tage waren kein Problem.“ Allerdings berichteten die
Versuchsteilnehmer über unangenehme Gefühle im Unterleib. Zur
Nachahmung ist das Experiment nicht empfohlen: „Sammelt sich Stuhl im
Enddarm, stellt der übrige Darm seine Tätigkeit ein. Auch der Magen entlässt
Nahrung langsamer“, erläutert Enck. Daraus kann sich chronische Verstopfung
entwickeln.
Foto: Corbis
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