Darm & Co.: Die unterschätzte Mitte - Multitalent Darm - FOCUS Online 1 von 5 http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/verdauung/darm/symptome/fun... Druckversion Url: http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/verdauung/darm/symptome/funktion/darm-und-co-_aid_11756.html 09.02.2007, 12:29 Darm & Co. Die unterschätzte Mitte Rund um die Uhr arbeitet unser Darm und leistet dabei viel mehr als nur Verdauungsarbeit. FOCUS Online über unser Multitalent in der Körpermitte. Von FOCUS-Online-Redakteurin Julia Bidder Warum ausgerechnet jetzt? Egal, ob sich der Darm durch Gluckern und Grummeln mitten in der Konferenz peinlich laut meldet, oder ob wir vor einer Prüfung Unterleibszwicken und Durchfall bekommen: Lästig und unangenehm fordert unser Verdauungssystem oft genau dann Aufmerksamkeit, wenn es uns am wenigsten passt. „So etwas wie ein gesundes, zufriedenes Bauchgefühl gibt es nicht. Wir registrieren unseren Darm nur, wenn er Ärger macht“, erklärt Professor Paul Enck von der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Tübingen. Polypen im Darm gelten als Krebsrisiko. Ein Gen lässt sie verschwinden Corbis Wer sich stets nur meldet, um zu meckern, macht sich unbeliebt. Kein Wunder, dass die meisten Menschen am liebsten ihre Verdauung und alles, was damit zusammenhängt, verdrängen. Eigentlich paradox, denn über genussvolles Essen und Trinken sprechen wir sehr gern. Mit der Tabuisierung tun wir dem Darm Unrecht. Denn das Multitalent in unserem Unterleib leistet nahezu unbemerkt Tag und Nacht Schwerstarbeit: Etwa 30 Tonnen Speisen und 50 000 Liter Flüssigkeit durchwandern in einem Menschenleben den muskulösen Schlauch in unserem Inneren. Magen und Darm durchmischen den Speisebrei mit Verdauungssäften und kneten ihn gründlich. EnzymCocktails spalten Eiweiße, Fette und Kohlenhydrate in kleinste Bausteine. Darmwandzellen nehmen die Nährstoffe auf und reichen sie an Blut und Lymphflüssigkeit weiter. Damit sichert der Darm das Überleben des ganzen Körpers. Am Ende scheidet er nur unverdauliche Bestandteile und Zellreste aus. Fachliche Beratung: Prof. Paul Enck, Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Tübingen sowie Prof. Michael Schemann, Lehrstuhl für Humanbiologie an der Technischen Universität München Evolution eines Multitalents Der Darm ist unser ältestes Organ und entwickelte sich lange vor Haut, Herz, Lunge oder Hirn. Schon Schwämme, die Forscher zu den primitivsten Tieren zählen, nehmen Nährstoffe durch Einstülpungen ihrer Körperoberfläche auf. Primitive Vielzeller wie Quallen verdauen in einem Sackdarm mit nur einem Ein- und Ausgang. Erst höhere Tiere entwickelten eine zweite Öffnung und trennten so den Mund vom After – ein wahres Erfolgsmodell in der Evolution. 11.04.2010 14:13 Darm & Co.: Die unterschätzte Mitte - Multitalent Darm - FOCUS Online 2 von 5 http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/verdauung/darm/symptome/fun... Auch während der menschlichen Embryonalentwicklung bildet sich der Darm als eines der ersten Organe. Bereits zum Ende des dritten Schwangerschaftsmonats besitzen Embryonen einen kompletten Verdauungstrakt mit Speiseröhre, Magen, Dünn- und Dickdarm. Während der weiteren Entwicklung wachsen die Organe lediglich. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet ist der Darm also ein recht betagtes Organ. Dennoch ist er alles andere als primitiv: Mehrere hoch spezialisierte Zellschichten kleiden ihn von innen aus. Dazu gehören eine sich ständig erneuernde Schleimhaut, Drüsenzellen, zwei Muskelschichten und mehr als 100 Millionen Nervenzellen – mehr, als das Rückenmark besitzt. Diese Neuronen umhüllen den Darmtrakt in einem dichten Geflecht und bilden ein eigenes Nervensystem. Ähnlich wie im Gehirn unterstützen zudem Millionen so genannte Glia-Zellen die Neuronen bei ihren Aufgaben. „Weil dieses System funktionell und in seinem Aufbau unserem Gehirn ähnelt, nennen Forscher es auch Darmhirn oder Bauchhirn“, erklärt Michael Schemann, Professor für Humanbiologie an der Technischen Universität München. Die Macht unseres zweiten Gehirns Die Nervenzellen im Verdauungstrakt sprechen die gleiche Sprache wie ihre Verwandten im Gehirn. Sie reagieren beispielsweise auch auf das Glückshormon Serotonin oder auf den Stress-Botenstoff Adrenalin. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl so genannter Neurotransmitter, das sind spezielle Signalmoleküle, mit denen sich Neurone untereinander verständigen. So kontrolliert das Bauchhirn die Aktivität des Verdauungstraktes. Dazu verarbeitet es ständig eine Fülle von Informationen aus dem gesamten Darm: Spezielle Sensoren in der Darmwand etwa geben Auskunft über Füllungszustand und Zusammensetzung des Speisebreis. Das ermöglicht dem Nervengeflecht, bedarfsgerecht zu steuern, wie schnell die Nahrung den Darm durchwandert und wie viele Verdauungssäfte Pankreas und Galle produzieren. Das Darmhirn herrscht weit gehend allein über den Verdauungstrakt. „Wenn das Gehirn all diese Prozesse zentral steuern würde, bräuchten wir einen sehr dicken Hals, um all die Nervenleitungen unterzubringen“, erklärt der Biologe Schemann, der seit 1986 das Darmhirn erforscht. „Der Darm ist einfach zu wichtig, als dass er zentral gesteuert werden könnte.“ Darm- und Bauchhirn stehen dennoch in einem ständigen Kontakt. So erhält der Darm Signale über die „Großwetterlage“ im Körper. Stress beispielsweise entspannt die Darmmuskeln und lähmt die Verdauung, Entspannung dagegen aktiviert sie. Angstdurchfall, etwa vor einer Prüfung, entsteht vermutlich, weil Stress auf die Abwehrzellen im Darm wirkt und als Folge das Bauchhirn aktiviert wird. „Dadurch erhöhen sich Sekretion und Bewegung im Darm“, erläutert Darmhirn-Forscher Michael Schemann. Umgekehrt gibt das Darmhirn reichlich Feedback ans Gehirn: 90 Prozent der Nervenverbindungen zwischen Darmhirn und Kopf verlaufen von unten nach oben. „Das Gehirn ist wie ein Monitor ständig über den Zustand im Darm informiert“, erklärt Michael Schemann. Die meisten Mitteilungen bleiben jedoch unbewusst, wir nehmen meist nur Notsignale wie Übelkeit, Erbrechen oder Schmerzen wahr. Unwichtiges „überhört“ das Gehirn gesunder Menschen – ähnlich, wie es gleich nach dem Anziehen die Meldungen darüber ignoriert, dass Hemd, Hose und Pullover auf der Haut aufliegen. „Wir spüren unseren Darm nur, wenn er Ärger macht“, erklärt der Tübinger Darm-Experte Paul Enck. Alle übrigen Meldungen werden ausgeblendet. „Das ist auch gut so, denn würden wir alle Informationen von 100 Millionen Nervenzellen im Verdauungstrakt ständig wahrnehmen, hätten wir nichts anderes mehr zu tun.“ Eine eigene „Intelligenz“ kann man dem Verdauungstrakt demnach nicht 11.04.2010 14:13 Darm & Co.: Die unterschätzte Mitte - Multitalent Darm - FOCUS Online 3 von 5 http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/verdauung/darm/symptome/fun... absprechen. „Es würde aber zu weit gehen, wenn man sagt, dass das Bauchhirn Sitz von Intuition oder „Bauchgefühl“ ist. Dafür gibt es keinerlei Beweise“, betont Schemann. „Wir denken und entscheiden immer noch mit unserem Gehirn!“ Andererseits kommen Forscher dem Zusammenspiel von Bauchhirn und Kopf immer besser auf die Spur. „Möglicherweise bilden auch unbewusste Empfindungen aus dem Darmhirn eine Art Gefühlsteppich, der uns bei Entscheidungen beeinflusst“, erläutert der Darmhirn-Experte. Unsere innere Verteidigungslinie Nicht alles, was wir mit der Nahrung aufnehmen, dient unserer Gesundheit. Auch Gifte und Krankheitserreger gelangen in den Verdauungstrakt. Damit sie keinen Schaden anrichten, hält ein ausgeklügeltes Verteidigungssystem Wache. Salzsäure im Magensaft tötet die meisten Krankheitserreger ab. Im Dickdarm tragen Billionen von Bakterien als „lebender Schutzwall“ dazu bei, dass der Verdauungstrakt intakt bleibt: So lange ausreichend „nützliche“ Keime wachsen, verdrängen sie krank machende Verwandte und Pilze. Gleichzeitig halten sie das Immunsystem auf Trab, denn es muss ständig entscheiden, wer Freund und wer Feind ist. Rund 70 Prozent aller Abwehrzellen leben im Darm. Kein Wunder, denn seine Oberfläche ist durch Einfaltungen stark vergrößert. Würde man sie ausbreiten, ergäbe es bei einem Erwachsenen mehr als die Fläche eines Tennisplatzes. Haut, Schleimhäute und selbst die Lunge bieten Krankheitserregern viel weniger Angriffsfläche. In der Darmschleimhaut verleiben sich so genannte Fresszellen (Makrophagen) Eindringlinge ein und vernichten sie. Ein weiterer Typ von Abwehrzellen, die Granulozyten, stehen ihnen zur Seite und verzehren ebenfalls Eindringlinge oder körpereigene abgestorbene Zellen. Allergische Reaktionen, zum Beispiel auf Nahrungsmittel, gehen auf das Wirken von Mastzellen zurück, die den Allergie-Botenstoff Histamin ausschütten können. Weitere Immunzellen, die so genannten B-Lymphozyten, haben sich auf bestimmte Merkmale von Krankheitserregern spezialisiert, die sie mit bestimmten Eiweißmolekülen verklumpen und damit unschädlich machen. Pro Sekunde können sie bis zu 2000 solcher Immun-Proteine bilden. So genannte T-Lymphozyten zerstören von Viren befallene Körperzellen und regulieren die Immunantwort des Körpers. Darüber hinaus finden sich in der Darmschleimhaut besonders viele Plasmazellen, die den Antikörper Immunglobulin A produzieren, eine chemische Abwehrkeule speziell für Schleimhäute. Der Darm ist nicht nur hervorragend mit Blutgefäßen versorgt, die aufgenommene Nahrungsmoleküle in den ganzen Körper leiten. Auch das Lymphsystem durchzieht mit feinen Kanälen die Darmzotten. Kleine Lymphknoten bilden dabei Reservoire für Immunzellen. Und auch Wurmfortsatz und Blinddarm gehören zum Darm-Immunsystem. Ihre Wände sind mit Lymphgewebe ausgekleidet und liefern wichtigen Nachschub an Abwehrzellen. Aus der Nahrung nur das Beste! Durchschnittlich 70 Stunden lang dauert die Reise unserer Nahrung durch den menschlichen Körper. Dabei holt der Organismus das Beste aus ihr heraus: Schon im Speichel spalten Enzyme bestimmte Zucker. Die Zähne zerkleinern Hamburger, Pommes und Salat mechanisch und schaffen damit mehr Angriffsfläche für die Verdauungsenzyme. Durch die Speiseröhre rutscht das 11.04.2010 14:13 Darm & Co.: Die unterschätzte Mitte - Multitalent Darm - FOCUS Online 4 von 5 http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/verdauung/darm/symptome/fun... Essen in den Magen, wo sich der Speisebrei gründlich mit Salzsäure und Verdauungssäften vermischt. Die Säure desinfiziert die Nahrung, tötet Mikroorganismen und bereitet Eiweiße für die Verdauung vor, die bereits im Magen beginnt. Wie lange die Nahrung dort verweilt, hängt von ihrer Beschaffenheit ab: Kohlenhydrate wandern schnell in den Dünndarm, Eiweiß und Fette verzögern dagegen die Verdauung. „Im Magen finden sich Rezeptoren, die das Transporttempo regulieren. Je mehr Kalorien die Nahrung enthält, desto langsamer passiert sie den Darm“, erklärt Darm-Experte Paul Enck. Der Pförtnermuskel entlässt durchschnittlich pro Minute Speisebrei mit einem Brennwert von vier Kilokalorien in den Dünndarm. Kalorienfreies wie Wasser passiert dagegen den Magenschließmuskel sofort. Weiter geht’s im Dünndarm, der aktivsten Zone des Verdauungstraktes. An den Magen schließt sich der Zwölffingerdarm (Duodenum) an, der in etwa so lang ist wie zwölf aneinander gelegte Männerfinger, also etwa 25 bis 30 Zentimeter – daher der Name. Ein bis zwei Liter bikarbonathaltiges Sekret aus der Bauchspeicheldrüse sorgen hier für ein basisches Milieu. „Auch dort haben Bakterien keine Chance. So kann der Körper ungestört die Nährstoffe resorbieren“, erklärt der Tübinger Darm-Experte Enck. Enzyme der Bauchspeicheldrüse, Gallensäuren aus der Leber und eine Vielzahl von Verdauungseiweißen auf der Darmoberfläche helfen dabei, langkettige Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette in kürzere Stücke zu spalten. Darmschleimhautzellen schleusen alle für den Körper wertvollen Nährstoffe in ihr Zellinneres und reichen sie an Blut und Lymphflüssigkeit weiter. Das kann nur geschehen, wenn Nahrungsbrei im direkten Kontakt mit der Darmwand steht. Deren Oberfläche ist durch zahlreiche Falten und Ausstülpungen stark vergrößert. Muskeln in der Darmwand durchmischen den Speisebrei mit den Verdauungssäften und transportieren ihn Richtung Enddarm. Diese Bewegungen können wir nicht willentlich kontrollieren. Gelegentlich fühlen wir sie jedoch: „Wenn’s im Darm zwickt und zwackt, spüren wir meist die Muskelkontraktionen, die den Druck im Verdauungstrakt erhöhen“, erklärt Paul Enck. Kein Wunder, denn sie erzeugen beachtliche Kraft: „Wir empfinden einen Druck von 60 Millimeter Quecksilbersäule im Darm bereits als schmerzhaft“, erläutert der Darm-Experte. Zum Vergleich: der Blutdruck eines gesunden Erwachsenen beträgt etwa 120 Millimeter Quecksilbersäule. Im Anschluss an das Duodenum passiert der Darm noch Jenunum (Leerdarm) und Ileum (Krummdarm). Der Leerdarm resorbiert Fette. Der Krummdarm dagegen beteiligt sich nur an der Verdauung, wenn der obere Dünndarm diese Funktion nicht mehr wahrnimmt. Die Schleimhautzellen dieses Bereiches recyceln unter anderem Gallensäuren und resorbieren Vitamin B12. Biotop für Billionen Mit 1,5 Metern Länge ist die letzte Station der Nahrung im Körper vergleichsweise kurz. Dennoch verbleibt der Speisebrei die meiste Zeit – zwölf bis über 60 Stunden – im Dickdarm. „Resteverwerter“ nennt Paul Enck diesen Darmabschnitt. „Er holt Flüssigkeit und Mineralien aus dem Speisebrei und alles Übrige, was noch nützlich ist“, erklärt er. Dabei helfen ihm Billionen von Bakterien, die sich im leicht sauren Milieu wohl fühlen. „Etwa 600 verschiedene Stämme leben dort in trauter Eintracht“, berichtet der Tübinger Darm-Experte. Ausbuchtungen des Darms, Haustren genannt, dienen ihnen als Fäulniskammern. Sie verwerten Ballaststoffe und andere Reste, die der Mensch nicht umsetzen kann, zum Beispiel Zellulose. Dafür bilden sie Vitamine und andere Moleküle, die der Mensch resorbiert. Allerdings produzieren die nützlichen Untermieter auch Gase, die der Dickdarm nur zum Teil wieder resorbieren kann. Abhängig von der Ernährung entweicht dem Darm daher täglich bis zu einem halben Liter Gas. Das meiste davon ist geruchsloser Wasserstoff. Unangenehm bis stechend dagegen riechen verschwindend geringe Mengen Methan, Schwefelwasserstoff und 11.04.2010 14:13 Darm & Co.: Die unterschätzte Mitte - Multitalent Darm - FOCUS Online 5 von 5 http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/verdauung/darm/symptome/fun... weitere schwefelhaltige Verbindungen, die beim Eiweißabbau entstehen. Am Schließmuskel des Afters schließlich endet die Macht des Darmhirnes: Gesunde Menschen nehmen zwar einen Drang wahr, zur Toilette zu gehen, können ihn aber in aller Regel einige Zeit lang unterdrücken. Experimente haben das bewiesen. „Wir haben Studenten dafür bezahlt, ihren Stuhlgang zu unterdrücken. Sieben Tage waren kein Problem.“ Allerdings berichteten die Versuchsteilnehmer über unangenehme Gefühle im Unterleib. Zur Nachahmung ist das Experiment nicht empfohlen: „Sammelt sich Stuhl im Enddarm, stellt der übrige Darm seine Tätigkeit ein. Auch der Magen entlässt Nahrung langsamer“, erläutert Enck. Daraus kann sich chronische Verstopfung entwickeln. Foto: Corbis Copyright © FOCUS Online 1996-2010 11.04.2010 14:13