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Ibn Rushd (Averroes) katapultiert die Medizin zur Ebene der Wissenschaft:
„Der vernichtende Schlagstock“, der in Europa „alle Ärzte diskreditierte“
Mohammed Abed al-Jabri
1. Grundsätze der Medizin - Colliget (al-Kulliyyat fi t-tibb)
Ein Buch, das es in der Form noch nicht gegeben hat
Ibn Rushd wurde durch seine originellen Kommentare zu Aristoteles’ Werken sowie durch
seine theologischen Schriften zum islamischen Recht und zur Glaubenslehre berühmt genannt seien die Werke Fasl al-maqal fi-ma baina l-hikmati wa-schari’ati min al-ittisal
(Endgültiges Traktat über die Harmonie von Religion und Philosophie), al-Kaschf an
manahig al-adilla fi aqa’id al-milla (Traktat über die Methoden der Beweisführung von
Glaubensdogmen), Tahafut at-tahafut (Inkohärenz der Inkohärenz), Bidayat al-mugtahid wanihayat al-muqtasid (Juristisches Handbuch: Die Anfänge des auf Quellenforschung
beruhende selbstständigen Urteilfindens). Aber auch sein medizinisches Kompendium alKulliyat fi t-tibb (Colliget) war nicht weniger originell und nicht weniger wichtig als andere
Werke in der Geschichte der Medizin.
Das Ziel dieses Essays1 ist es, diesem Buch Colliget den Platz im Kontext der Geschichte der
arabischen Medizin bzw. Universal-Medizin zu geben, den es verdient. Um das Buch
verstehen zu können, darf man es nicht als medizinisches Sachbuch betrachten, aus dem man
Fakten und Daten erfährt, denn die Medizin von heute ist eine andere als die von damals. Ibn
Rushd wollte die Medizin als Wissenschaft sehen und die Geschichte der Wissenschaft ist wie Gaston Bachelard (1884-1962) einmal gesagt hat - die Geschichte der „Fehler der
Wissenschaft“. Die Bedeutung dieses Buches liegt daher nicht darin, welche medizinischen
Meinungen er zu dieser oder jener Krankheit, zu diesen oder jenen Symptomen und
1
Dieses Essay, das ich Ibn Rushd widme, ist Teil der Einleitung zu der von mir betreuten Edition
seiner Handschrift al-Kulliyyat fi t-tibb (Grundsätze der Medizin), die im Rahmen einer Reihe von
Handschriften erschienen war, die Ibn Rushd – neben seinen Kommentaren - verfasst hat. Diese Werke
sind: Fasl al-maqal fi-ma baina l-hikmati wa-schari’ati min al-ittisal (Endgültiges Traktat über die
Harmonie von Religion und Philosophie), al-Kaschf an manahig al-adilla fi aqa’id al-milla (Traktat
über die Methoden der Beweisführung von Glaubensdogmen), Tahafut at-tahafut (Inkohärenz der
Inkohärenz), al-Kulliyat fi t-tibb (Grundsätze der Medizin, auch Colliget genannt) und schließlich
seine Zusammenfassung der Politeia von Plato unter dem Titel ad-Daruri fi s-siyasa (Das Notwendige
in der Politik). Ich habe die Handschrift gemeinsam mit einem Kollegen von der
Geisteswissenschaftlichen Fakultät in Rabat ins Arabische zurück übersetzt, weil es nur noch in
hebräischer Version vorlag. Dabei achtete ich darauf, den zeitgenössischen Redestil von Ibn Rushd
beizubehalten. Alle o. g. Handschriften wurden mit moderner Zeichensetzung (Absätze, Kommata,
Satzzeichen usw.) versehen. Ebenso schrieb ich alle Einleitungen und Vorworte, in denen ich die
Bücher analysiere, interpretiere und diskutiere. Die Reihe erschien 1998 zum 800. Gedenkjahr von Ibn
Rushd. Sie erschien gleichzeitig im selben Jahr bei Markaz dirasat al-wahda al-arabiyya in Beirut.
1
Maßnahmen der Prävention hat, sondern liegt unserer Meinung nach darin, dass Ibn Rushd
mit seinem Buch einen Wendepunkt in der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens in der
Medizin setzt. Das Buch gehört mehr dem Bereich des wissenschaftlichen Denkens als der
praktischen Medizin an. Ibn Rushd selbst hat dies mehrmals in seinem Buch betont.
Es ist hier erforderlich, zwischen der Geschichte der Wissenschaften, die sich mit den
wissenschaftlichen Entdeckungen und ihrer Praktizierung in der Geschichte und in den
verschiedenen Kulturen befasst, und der Geschichte der Entwicklung des wissenschaftlichen
Denkens zu unterscheiden. Beim Erstgenannten handelt es sich um die „Geschichte der
Wissenschaft“, deren Ausübung am gängigsten ist. Diese Geschichtswissenschaft kennt man
in unserer arabischen Kultur allein über die Forschungen der Orientalisten, die vor den
Arabern wussten, wie sie sich die arabischen medizinischen Handschriften und übersetzten
Medizinbücher, von denen es in den alten arabischen Bibliotheken im Überfluss gab, zu
Nutze machen konnten. Beim Zweitgenannten handelt es sich um die „Entwicklung des
wissenschaftlichen Denkens“. Für diese Geschichtswissenschaft interessiert man sich auch im
Westen erst in neuer Zeit. Die arabische Kultur hat sich mit dieser Wissenschaft noch nicht
genügend auseinander gesetzt.
Obwohl einige arabisch-medizinische Schriften, die vor und nach Ibn Rushd verfasst
wurden, ansatzweise dieser Art der modernen Geschichtswissenschaft Stoff bieten können, ist
Ibn Rushds al-Kulliyyat fi t-tibb (Colliget) zwingend als das erste Buch anzusehen, welches
das wissenschaftliche Denken in der Medizin als Thema zur Diskussion stellt. Der Philosoph
von Cordoba, von dem seine Biographen sagten, „seine Urteile in der Medizin sind genauso
ernsthaft und überzeugend wie seine Urteile in der Jurisprudenz“, nimmt hier ganz bewusst
und entschieden die Rolle des Mufti [offizieller Ausleger des islamischen Rechts] ein, der
bestimmt, was ein Medizinwissenschaftler tun kann, damit die Medizin von einer
Ansammlung von Erkenntnissen, die in der Praxis auf der Basis von Erfahrungen ermittelt
wurde, zur Ebene der Wissenschaft erhoben wird. Diese Wissenschaft wird im Colliget in
Grundsätzen, Prinzipien und Methoden als Fundamente des medizinischen Denkens, die man
kennen und unbedingt berücksichtigen muss, zu Grunde gelegt. Deshalb kann man sagen: ein
solches Buch ist in dieser Form noch nicht da gewesen. Erst im 19. Jahrhundert erschien ein
dem Inhalt nach ähnliches Buch, als die Philosophie der Wissenschaft an Bedeutung gewann.
Das Buch in unseren Händen ist demnach mehr ein Buch der Medizinphilosophie oder der
Erkenntnistheorie (Epistemologie), wenn man den heutigen Sprachgebrauch nimmt, als ein
Buch der praktischen Medizin, obwohl Ibn Rushd in seinem Buch ausreichend und in
2
konzentrierter Form auch die medizinische Praxis seiner Zeit erklärt, nicht als Überlieferer,
sondern als eifrig bemühter Arzt mit eigener Meinung.2
2. Die Medizin ist ein praktischer Beruf, der auf reale Grundlagen basiert
Ibn Rushd stellt sein Projekt in der Einleitung seines Buches al-Kulliyyat fi t-tibb (Colliget)
wie folgt vor:
Damit wollte ich sagen, dass ich [mit diesem Buch] das medizinische Handwerk
einschließlich der Grundsätze des Handwerks zusammenfassen werde. Es soll als
Einführung dienen für all jene, die die Medizin mit ihren Teildisziplinen studieren,
und als Eintrittskarte für jene, die das Handwerk genau erforschen wollen. Es wird
hier alles genau auf seine Richtigkeit untersucht, selbst wenn dies der Meinung
anderer Mediziner widersprechen sollte.
Es geht hier um ein genau definiertes, Ziel orientiertes Projekt: um die Grundsätze des
medizinischen Handwerks, d. h. die Medizin als Wissenschaft. Dieses Werk von Ibn Rushd
ist Teil eines größeren Projekts, in dem er die „eigene Urteilsbildung“ und „kritische
Revision“ verfolgt, wie ich beschrieben habe. Dieses Buch umfasst daher beide Aspekte: Auf
der einen Seite die Bildung der eigenen Meinung in den angewandten Wissenschaften und
Darbietung von gegensätzlichen Meinungen, die der bisherigen üblichen Meinung
widersprechen. Auf diesen Aspekt des Buches gehe ich hier nicht ein, er wird ausführlich in
meiner Einleitung behandelt, die ich zu der von mir betreuten Edition von Colliget verfasst
habe. Auf der anderen Seite beschreibt das Buch die Medizin als Wissenschaft: Im Folgenden
2
In allem, was er schrieb, verfolgte Ibn Rushd ein strategisches Ziel: den Wiederaufbau der
Denkkultur in seiner Zeit. Dies wollte er erreichen durch die Festigung der Grundlagenforschung in
allen Bereichen der arabisch-islamischen Kultur und Zurückführung auf ihren Ursprung: in der
Religion und Theologie, der Philosophie, der Medizin, der Naturwissenschaft, der Sprache und Politik.
In seinen Religionsschriften verfolgte er das Ziel, „unsere Religion von Veränderungen, die ihr
widerfahren sind, zu bereinigen“ und sich auf die „offenbaren Werte, die die Religion den Menschen
vermitteln wollte“ zu besinnen. Er verfasste eine Regel für die Interpretation, in der er Gelehrten
darlegt, was sie interpretieren müssen, was sie interpretieren können und was sie nicht interpretieren
dürfen und auf welche Weise dies geschehen soll. Weil er bemängelte, dass zeitgenössische
Theologen nur noch frühere Theologen nachahmten, war er entschlossen, den igtihad, die eigene
Urteilsbildung über rechtlich-theologische Fragen und selbstständige Interpretation der Quellen,
wiederzubeleben und setzte sich kritisch mit den theologischen Doktrinen auseinander.
Er schrieb eine neue Grammatik. Er wollte die Astronomie, die in seiner Zeit sich hauptsächlich auf
Ptolemäus berief, reformieren. Ibn Rushd war mit unnachgiebiger Energie bemüht, notwendige
Korrekturen in allen Bereichen der Kultur und Wissenschaft zu machen. Er widersetzte sich gegen die
Stagnation, den blinden Autoritätsglauben und die Fälschung, die damals verbreitet waren, indem er
das Wissen in den verschiedenen Bereichen wieder aufzubauen und zu erneuern versuchte. Dies
erfolgte durch das Studium der Quellen und den Gebrauch der eigenen Vernunft, sowie durch
Beobachtung und Praxis, soweit notwendig, siehe Mohammed Abed al-Jabri Ibn Rushd sira wa fikr.
3
werde ich mich vor allem auf diesen Aspekt konzentrieren. Dies steht im unmittelbaren
Zusammenhang mit der „kritischen Revision“, also mit dem Wiederaufbau der medizinischen
Erkenntnisse auf eine Art und Weise, die die Medizin zur Wissenschaft macht. Aber wie soll
das gehen?
Ibn Rushd definiert die Medizin wie bisher kein Mediziner vor ihm. Zumindest fand ich
nichts Ähnliches bzw. keine Quelle, auf die er sich bezogen hätte. Er sagt:
Die Medizin ist ein praktischer Beruf, der auf reale Grundlagen basiert. Man sucht
den Mediziner auf, um die Gesundheit des menschlichen Körpers zu erhalten und die
Krankheit so effektiv und so schnell wie möglich zu heilen.
In unserem heutigen Sprachgebrauch würde das heißen: Die Medizin ist eine angewandte
Wissenschaft, die bestrebt ist, den Körper von dem einen Zustand in den anderen zu führen.
Diese Wissenschaft basiert auf bewiesene Grundlagen, das heißt, dass die Veränderungen, die
die Medizin verursacht, eine Folge von wissenschaftlichen Maßnahmen sind, die auf
praktischen Erfahrungen und Beweisführungen beruhen. Dies hat nichts mit den
eingebildeten Veränderungen zu tun, die durch unseriöse Methoden erbracht werden, wie
durch die Ausübung von Magie und Wahrsagerei. An einer anderen Stelle bringt Ibn Rushd
dies noch einmal zur Sprache:
Der Beruf des Mediziners will – mithilfe der Wissenschaft und der Praxis – die
Gesundheit erhalten und von Krankheiten heilen. (...) In meiner Definition heißt es
`mit Hilfe der Wissenschaft und Praxis´, denn in diesem Beruf zählt weder die
Wissenschaft allein noch die Praxis allein, beide sind gleich wichtig.3
Ibn Rushd erläutert die Bestandteile des „praktischen Berufes“ bzw. der „angewandten
Wissenschaft:
Die praktischen Berufe bestehen aus drei Teilen: Der erste Teil ist das sich
Vertrautmachen mit dem zu untersuchenden Gegenstand, der zweite Teil ist die
Definition des Zieles, der dritte Teil ist die Kenntnis über die Methoden und
Instrumente, mit denen man das Ziel erreichen kann. Demnach wird auch der Beruf
des Mediziners zunächst einmal in diese drei Teile aufgegliedert.
Bestimmt hat der Leser längst bemerkt, dass wir es hier mit einer neuen Sichtweise der
Medizin und ihrer Bestandteile zu tun haben, die uns eine neue Perspektive bietet, die so
anders ist als die von al-Majusi [auch als Masoudi oder unter dem Latein-Namen Haly Abbas
bekannt] und Ibn Sina [Avicenna, 980-1037]. Demnach ist die Medizin eine angewandte
Wissenschaft. Diese angewandte Wissenschaft sollte [durch Wissenschaftler] in ihren
3
Ibn Rushd. Kommentar zu al-Aragoza von Ibn Sina (Avicenna), Handschrift.
4
einzelnen Schwerpunktthemen so gut beherrscht werden, dass sie auch in der Praxis ausgeübt
werden kann. Ein Ziel, das man mit diesem Schwerpunkt erreichen will, sollte es unbedingt
auch geben, ebenso Hilfsmittel, mit denen das Ziel erreicht werden soll. Dies sind die
Bestandteile, auf die die Medizin basieren sollte, damit sie auch deren Inhalte und nicht nur
Symptome darstellt.
3. Klassifizierung der Medizin in Untersuchungsgegenstand, Ziel und Methoden
Demnach wird die Medizin zunächst in diese ersten drei Bestandteile aufgeteilt: Der
Untersuchungsgegenstand ist hier der menschliche Körper, das Ziel ist die Erhaltung der
Gesundheit und die Behandlung von Krankheiten. Die Hilfsmethoden sind jene Methoden,
mit deren Hilfe die Krankheit besiegt wird. Da die Erhaltung der Gesundheit das Wissen über
sie und ihre Erscheinungsformen voraussetzt und die Behandlung der Krankheit das Wissen
über diese und ihre Symptome voraussetzt, muss diese Einteilung weiter untergliedert
werden: Gesundheit, Krankheit, Erscheinungsformen der Gesundheit und Symptome der
Krankheit. Weil die Erhaltung der Gesundheit hauptsächlich durch Ernährung erreicht wird
und die Behandlung von Krankheiten hauptsächlich durch Arzneimittel, muss man sich mit
den Nahrungsmitteln und Medikamenten vertraut machen. Auf diese Weise erfolgt das
Studium der Medizin in sieben Schritte: Die Lehre des menschlichen Körpers (Anatomie), die
Lehre der gesunden Körperorgane (Physiologie), die Lehre der Erscheinungsmerkmale der
Krankheit (Pathologie), die Lehre der Krankheitssymptome (Semiologie), die
Ernährungslehre und Lehre der Arzneimittel (Pharmazie), Methoden der Erhaltung der
Gesundheit (Prävention) und schließlich die Lehre der Behandlung der Krankheit (Therapie).
Demzufolge hat Ibn Rushd sein Buch in sieben Teile oder Kapitel eingeteilt: 1- Kapitel der
Anatomie, 2- Kapitel der Gesundheit, 3- Kapitel der Krankheit, 4- Kapitel der
Erscheinungsmerkmale (Symptome), 5- Kapitel der Arzneimittel und der Ernährung, 6Kapitel der Erhaltung der Gesundheit, 7- Kapitel der Behandlung der Krankheiten.
Ibn Rushd diskutiert die Einteilung der Medizin in einen wissenschaftlichen (theoretischen)
und einen praktischen Teil, die vor ihm al-Majusi und Ibn Sina verwendet haben. Er sagt:
Dies ist keine wirkliche Einteilung der Medizin, denn Galenos von Pergamon sagt in
seiner Definition der Medizin entschieden: Sie ist das Wissen über Gesundheit und
Krankheit und alles, was mit diesen beiden Zuständen sowie mit den Fällen
zusammenhängt, die weder als gesund noch als krank bezeichnet werden können.
Wenn wir davon ausgehen, dass Medizin Wissen bedeutet, müssten die Bestandteile
der Medizin rein wissenschaftliche Bestandteile sein und nicht wissenschaftliche und
praktische. Manche Berufe werden praktische Berufe genannt, weil sie durch die
5
Praxis gelernt werden wie Schneidern und Schreinern. Andere Berufe werden als
wissenschaftlich bezeichnet, da sie durch ein wissenschaftliches Studium, also durch
Beweiserbringung und Definitionen erlernt werden. Der Zweck der Wissenschaft ist
dabei aber letztendlich die praktische Anwendung, so ist es auch im Falle der
Ausübung des medizinischen Berufes. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es
Berufe gibt, die sowohl durch beide Methoden – Wissenschaft und Praxis - erlernt
werden. Aber es muss dann klar sein, dass es sich hierbei um ein und denselben
Beruf handelt! Man könnte meinen, dass es im Beruf der Medizin auf folgende Weise
funktioniert: Der Teil, bei dem mit den Händen gearbeitet wird, wird durch die Praxis
und durch Beobachtung erlernt. Was die Einteilung der Medizin in Wissenschaft und
Praxis vielleicht rechtfertigen würde, wäre ihre Teilung in zwei Wissenschaften: eine
Wissenschaft, bei dem sich der Naturwissenschaftler beteiligt, der sich mit der
Gesundheit, ihren Voraussetzungen und Symptomen, sowie mit der Krankheit, den
Gründen ihrer Entstehung und ihren Symptomen beschäftigt und eine andere
Wissenschaft, die sich mit dem Beruf des Mediziners beschäftigt und unter welchen
Voraussetzungen Gesundheit erhalten und Krankheiten bekämpft werden können und
mit welchen Mitteln. Der erste Teil der Medizin, der naturwissenschaftlich orientiert
ist, wird als „wissenschaftlich“ bezeichnet. Mit wissenschaftlich ist gemeint, dass das
angestrebte Ziel die Wissenschaft ist, nicht die praktische Anwendung. Der zweite
Teil, der sich um die medizinische Behandlung kümmert, wird praktisch genannt, da
er praktisch orientiert ist und sich durch praktische Anwendung auszeichnet. Oft wird
er durch die Praxis erlernt. Eine Voraussetzung für die Ausübung des Arzt-Berufes
ist, dass er neben dem Studium der Wissenschaft der Medizin seinen Beruf praktisch
ausübt. Eine einfache Handarbeit ist eine rein praktische Tätigkeit. Nur ein kleiner
Teil davon (Praxis und Erfahrung) wird durch Logik und Beweisführung erlernt.
Ähnlich ist es in der Anatomie: nur ein Bruchteil der Anatomie wird durch Logik und
Beweisführung erlernt. Der Großteil wird durch Wahrnehmung erlernt. Der erste
Gelehrte, der die Naturwissenschaft auf diese Weise einteilte, war Hunayn ibn Ishāq
[sein latinisierter Name lautet Johannitius 808-873]. Ibn Radwan [998 –1067], der
sich auf die Lehre Galenos’ berief, befand diese Enteilung für falsch. Abul Ala’ Zuhr
[d. 1131] unterstützte diese Einteilung und glaubte, sie in einem von Galenos’
Büchern gelesen zu haben. Richtig ist aber, was ich darüber gesagt habe.
Ibn Rushd meint damit, dass die Medizin ein wissenschaftlicher Beruf, also eine angewandte
Wissenschaft ist und dass die Einteilung in Wissenschaft und Praxis falsch ist. Ibn Rushd
setzt seine Ausführungen fort:
Anstatt die Medizin so einzuteilen wie beschrieben, wäre es besser, man teilt sie in
fünf Teilbereiche ein: das Wissen über die Eigenschaften der Gesundheit, das Wissen
über die Eigenschaften der Krankheiten, das Wissen über die Symptome von
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Krankheiten, das Wissen über die Behandlungsmethoden und das Wissen über die
Erhaltung der Gesundheit.4
4. Quellen des medizinischen Wissens und ihre Genauigkeit
Danach geht Ibn Rushd über zu den Grundlagen und Prinzipien, auf denen die Medizin als
Wissenschaft beruht. Er bemerkt, dass die geisteswissenschaftlichen Berufe, bei denen es in
ihren Nachforschungen um wahrnehmbare und experimentelle Dinge geht (anders als die rein
theoretischen Berufe, die sich mit abstrakten Dingen beschäftigen, wie die Mathematik und
Philosophie), wie alle Berufe, auf allgemeinen Grundlagen und Prinzipien basieren. Diese
erhält man entweder nach den Regeln der allgemeinen Vernunft wie das Prinzip der
Kausalität, das Prinzip der Identifizierung oder den Ausschluss der Inkonsequenz –
Prinzipien, die in sich schlüssig und klar sind –, oder man übernimmt die durch
Beweisführung und Praxis erworbenen allgemeinen Grundlagen und Prinzipien von einer
anderen Wissenschaftsdisziplin. Die Quellen, aus denen die Medizin ihre Regeln – zusätzlich
zu den Regeln der Vernunft – schöpft, sind drei: die Naturwissenschaft, die medizinische
Berufspraxis und die Anatomie.
Der Zusammenhang zwischen diesen Quellen und der Wissenschaft der Medizin ist
eindeutig. Die Naturwissenschaft untersucht Gegenstände der Natur und die Medizin den
menschlichen Körper. Alle Grundsätze, die mit dem natürlichen Bau des Körpers in
Zusammenhang stehen, erhält die Medizin aus der Naturwissenschaft wie die Regel der
schrittweisen Kausalität mit den vier Kriterien: Materie, Erscheinungsbild, Subjekt und Ziel
und anderen Kriterien, die zu dem Begriffsapparat gehören, der bei der Erforschung von
biologischen Körpern genutzt wird. Was die medizinische Praxis oder die experimentelle
Medizin betrifft, so erhält der medizinische Beruf aus ihr das Wissen über die Wirkung der
Arzneimittel. Denn die Wirkung von Arzneimitteln wird hauptsächlich aus der praktischen
Erfahrung gewonnen. Was man an Wirkung aus Schlussfolgerungen ermitteln kann, ist nur
möglich, wenn man von der praktischen Erfahrung ausgehen kann. In diesem Fall ist es ein
Einfaches, eine Schlussfolgerung zu machen. Was die Anatomie, das Sezieren der Organe,
betrifft, so „erhält die Medizin von ihr viel Wissen über die Einzelheiten der Organe“. Dieses
ist insofern nachvollziehbar, als man sich zur Erhaltung der Gesundheit und Behandlung der
4
Ibn Rushd, Kommentar zu al-Aragoza von Ibn Sina, ibid. In der Einleitung des Buches al-Kulliyyat fi
t-tibb teilt Ibn Rushd die Medizin in sieben Teile, indem er zusätzlich zu diesen fünf Teilbereichen
noch zwei weitere voneinander unabhängige Bereiche addiert: die Anatomie, aus der die Medizin
einige ihrer Grundsätze zieht und die Pharmazie bzw. die Zusammensetzung von Arzneimitteln. Wie
wir sehen werden, versteht Ibn Rushd den letzteren Bereich als eigenständige Disziplin, die vor der
Kenntnis der Heilkunde bekannt war.
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Krankheiten, die das Ziel der Medizin sind, mit jedem einzelnen Organ des Körpers und mit
dem Körper als Gesamtheit befassen muss.
Diese sind die Quellen, aus denen die Medizin ihre Grundsätze und Prinzipien bezieht. Die
Frage, die sich nun stellt, ist: Wie glaubwürdig sind diese Quellen aus wissenschaftlicher
Sicht? Anders gesagt: Welchen Grad auf der Skala der Wahrheit und Sicherheit geben uns
diese Quellen?
Dies ist eine sehr wichtige Frage, da es sich hier um den Aufbau einer Wissenschaft, der
Wissenschaft der Medizin, handelt. Ibn Rushd hat eine Antwort darauf :
- Was die Naturwissenschaften betrifft, so sollte man zunächst herausfinden, in welchen
Bereichen sie sich mit der Medizin und in welchen sie sich von ihr unterscheiden. Medizin
teilt mit der Naturwissenschaft das Interesse für den menschlichen Körper, seine Gesundheit
und Erkrankung; der menschliche Körper ist bei beiden Wissenschaften
Untersuchungsgegenstand. Sie unterscheiden sich aber insofern, als
„der
Naturwissenschaftler Gesundheit und Krankheit als Naturphänomene betrachtet, während der
Arzt bestrebt ist, die Gesundheit zu erhalten und die Krankheit zu bekämpfen.“ Insofern darf
der Arzt sich mit dem, was ihm die Physik an Universalien, d. h. allgemeine Eigenschaften
von Körpern, vermittelt, nicht begnügen, sondern er muss durch langjährige Praxis die Art
und Weise erlernen, wie diese Eigenschaften im menschlichen Körper funktionieren. Anders
ausgedrückt, nur durch medizinische Praxis lernt der Arzt die Eigenschaften des
menschlichen Körpers kennen, die ihm als Körper und Spezies zu eigen sind. Indem er diese
Eigenschaften erlernt, „gewinnt er die ersten praktischen Erfahrungen“, mit denen er jene
allgemeinen Eigenschaften im menschlichen Körper entdecken kann, die von der
Naturwissenschaft erforscht werden. Das heißt: Es gibt das Allgemeine, jene Grundregeln,
die die Naturwissenschaft lehrt, und es gibt das Spezielle, das durch die Ausübung des
ärztlichen Berufes erlernt wird. Damit der Beruf des Mediziners auf die Ebene der
Wissenschaft erhoben werden kann, muss das Allgemeine mit dem Speziellen verbunden und
das Allgemeine im Speziellen entdeckt werden. Die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit
dessen, was die Medizin von der Naturwissenschaft an Erkenntnissen übernommen hat, hängt
davon ab, wie hoch der Grad der Wissenschaftlichkeit der Praxis des Arztes ist. Sie
ermöglicht ihm, das „Allgemeine“, das er von der Naturwissenschaft kennt, im Speziellen,
womit er zu tun hat, also im menschlichen Körper, zu entdecken.
- Was die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit der Erkenntnisse betrifft, die die Medizin aus
der empirischen Praxis übernommen hat, so weist Ibn Rushd darauf hin, dass es schwierig
sein dürfte, in all ihren Bereichen vollkommene Sicherheit zu erhalten, zum Beispiel im
Bereich der Arzneimittel, der wichtigste Bereich, den die Medizin aus der empirischen Praxis
gewinnt. Eine Sicherheit über die Wirkung der Arzneimittel erreicht man nur durch lange
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Erfahrung und Beobachtung der Wirkung des Medikaments bei jedem Patienten. Dazu
kommen andere, verschiedene Faktoren. Fazit, was die Medizin an Wissen durch die
Ausübung des Berufes erlangt, sind „allgemein geltende Tatsachen“ aber keine „sicheren
Tatsachen“.
- Was die Anatomie betrifft, so erreicht sie ihre wissenschaftliche Glaubwürdigkeit durch die
Wahrnehmung, Beobachtung und genaue Untersuchung. Da die Anatomie in Ibn Rushds Zeit
nicht verbreitet war, er selbst sagte, sie sei „in Vergessenheit geraten“, blieb der
Medizinwissenschaft nichts anderes übrig, als ihr anatomisches Wissen aus den „allgemein
geltenden Tatsachen“ zu entnehmen. Ähnlich verfuhr man mit der Anwendung von
Arzneimitteln. Das Wissen über sie zog man sich aus der Praxis.
Noch einmal gesagt: der medizinische Beruf ist ein ein praktischer Beruf (also eine
angewandte Wissenschaft), der auf reale Grundlagen basiert: Ein Teil des Wahrheitsgehaltes
dieses Berufes ist als sicher einzustufen, und zwar jene Tatsachen, die aus der
Naturwissenschaft übernommen und durch die Praxis bestätigt werden, die es erlauben,
allgemeingültige Gesetze im Speziellen anzuwenden. Teilweise jedoch ist der
Wahrheitsgehalt als „nicht bewiesene Tatsachen“ einzustufen. Das hängt davon ab, was die
langjährige Erfahrung an Ergebnissen gebracht hat, sei es auf der Ebene der therapeutischen
Behandlung und der Arzneimittel, oder auf der Ebene der Organkunde, der Ermittlung ihrer
Eigenschaften durch die Anatomie, die – in der Zeit von Ibn Rushd - „in Vergessenheit
geraten“ war bzw. keine neuen Erkenntnisse mehr brachte.
Ibn Rushd beendet diese konzentrierte und informative Einleitung zu Colliget mit zwei
kurzen Notizen: In der ersten Notiz beklagt er die Beschränkung der Medizin auf „das
Wissen über Gesundheit und Krankheit und alles, was mit diesen beiden Zuständen
zusammenhängt“. Diese [allgemeine] Beschreibung gelte auch für die Naturwissenschaft.
Damit sie sich ausschließlich auf die Medizin beziehe, müsse man den Text mit folgender
Ergänzung abändern: „um die bestehende Gesundheit zu erhalten und sie bei Verlust
wiederherstellen.“ Denn dieser angewandte Teil ist mit „Medizin“ gemeint und seinetwegen
unterscheidet sich die Medizin in der Definition von der Naturwissenschaft, die das Wissen
allein zum Ziel hat. In der zweiten Notiz kritisiert Ibn Rushd die [von Galenos in der
Definition von Medizin] addierte Beschreibung, „die weder als gesund noch als krank
bezeichnet werden kann“ [„Sie ist das Wissen über Gesundheit und Krankheit und Alles, was
mit diesen beiden Zuständen sowie mit den Fällen zusammenhängt, die weder als gesund
noch als krank bezeichnet werden können.“]. Dieser Fehler – so Ibn Rushd - beruhe auf dem
falschen Verstehen des Begriffs „Mitte“. Denn zwischen Gesundheit und Krankheit gäbe es
keine eigentliche Mitte, wie die Mitte eines Stockes zum Beispiel. Bei der Gesundheit und
der Krankheit gehe es darum, mehr oder weniger gesund oder krank zu sein, ähnlich wie die
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unterschiedlichen Farbstufen zwischen den Farben Weiß und Schwarz, die Farben, die aus
der Mischung beider entstehen wie Hellgrau, Dunkelgrau, Braun usw. Ibn Rushd führt fort:
Eine Mitte von einem wahrgenommenen Schaden oder von seinen Folgen gibt es nicht. Er
variiert nur durch mehr oder weniger Schaden. Die Mitte zwischen zwei gegenseitigen Polen
bedeutet nicht, dass jeder von ihnen dort sein muss, wo der andere nicht ist, und es bedeutet
auch nicht, dass der eine sich nicht in der Zeit des anderen befindet. Dies ist aus der
theoretischen Wissenschaft allbekannt.
5. Medizin ist eine angewandte Wissenschaft, sie besteht teils aus Theorien, teils aus der
praktischen Anwendung
Eine letzte Frage sollte man hier noch angehen, die im Zusammenhang steht mit Ibn Rushds
Ablehnung der Einteilung der Medizin in Wissenschaft und Praxis und sein Bestreben, alle
ihre Bereiche als Wissenschaft zu betrachten. Dem entgegengesetzt unterscheidet er zwischen
den „Universalien“ oder „grundsätzlichen Regeln“ und den „partiellen Regeln“ in der
Medizin. Im letzten Absatz seines Buches sagt Ibn Rushd: „Das ist - so deutlich und kurz wie
möglich - meine Meinung zum Thema therapeutische Behandlung aller Arten von
Krankheiten. Nun bliebe noch, meine Meinung über die Behandlung von Krankheiten
abzugeben, die nur bestimmte, einzelne Organe des Körpers befallen (…) Dieses Thema
vertage ich auf einen späteren Zeitpunkt, wenn mir dafür mehr Zeit zur Verfügung steht.“
Dann empfiehlt er seinen Lesern, die mehr über die Behandlung einzelner erkrankter Organe
wissen wollen, dies im Buch at-Taisir, das sein Freund Abu Marwan ibn Zuhr [auch bekannt
als Ibn Zuhr, Avenzoar, Abumeron oder Ibn-Zohr, 1091–1161] geschrieben hat, nachzulesen.
Wie sollen wir nun diese Unterscheidung verstehen?
Tatsächlich betrachtete Ibn Rushd den medizinischen Beruf außerhalb der konventionellen
Tradition, die die Philosophie in Theorie und Praxis teilte und von al-Farabi, Ibn Sina und alGhazali auf andere Wissenschaften übertragen wurde, sogar auf die islamische Theologie. AlGazali zum Beispiel bezeichnete die scholastische Theologie (‚ilm al-kalam) als „theoretische
Wissenschaft“ und die islamische Gesetzeswissenschaft (‚ilm al-fiqh) als „praktische
Wissenschaft“. Ibn Rushd lehnte diese Teilung ab, die die scholastische Theologie zur
Universalwissenschaft und die Jurisprudenz zur Wissenschaft der Detailfragen machte. Für
Ibn Rushd ist die Medizin „ein praktischer Beruf“, also eine angewandte Wissenschaft. Der
Beruf, der ihr am Nächsten stünde, sei der Beruf des „Seefahrers“ und „Armeeführers“ (also
die Anführung der Armeetruppen im Krieg“).5 Diese angewandte Wissenschaft basiert auf
5
Der Vergleich der Medizinwissenschaft mit der maritimen Wissenschaft ist offenbar: Die maritime
Wissenschaft umfasst das theoretische Wissen über das Meer, die Wellen, das Wetter, Wind und
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„universellen Regeln“, dies sind die „Grundsätze des Berufs“, und „partielle Regeln“, die sich
mit der therapeutischen Behandlung verschiedener erkrankter Organe befasst. Es wäre
demnach kein Fehler, wenn wir dies im heutigen Sprachgebrauch umformulieren und sagen
würden: Die Medizin oder das medizinische Kunsthandwerk besteht aus zwei Teilen: Ein
wissenschaftlicher Teil, der studiert werden muss, etwa in Form eines Studiums an einer
medizinischen Fakultät, und ein praktischer Teil, bei dem das gelernte Wissen in den
Krankenhäusern und klinischen Abteilungen angewendet wird.
6. Das Averroesche Verständnis von Medizin kommt dem heutigen Verständnis sehr
nahe
Es wird klar geworden sein, dass die eben genannte Einteilung der medizinischen
Wissenschaft in sieben (bzw. fünf) Sparten und Ibn Rushds Bestehen auf dem
wissenschaftlichen Charakter sowohl für Grundsatz- als auch Detailfragen, aus der sich diese
Teildisziplinen herausbilden, sowie sein Bestehen auf der Bedeutung der Praxis in der
Medizin auf ein neues Verständnis der medizinischen Wissenschaft hin deutet, die völlig von
dem Bild der Wissenschaft abweicht, die uns al-Majusi und Ibn Sina dargeboten haben.
Dieses Averroesche Verständnis von der Medizin kommt dem heutigen modernen
Verständnis sehr nahe, wenn es nicht sogar mit ihm identisch ist, sowohl in der Definition der
Medizin, als auch der Einteilung in ihren Teildisziplinen und der Beurteilung des Grades der
wissenschaftlichen Genauigkeit. Es genügt hier vielleicht, auf das 1920 erschienene Buch von
Claude Bernard Einführung in das Studium der experimentellen Medizin hinzuweisen, das als
Grundstein der modernen Medizin betrachtet wird. In der Einleitung seines Buches schreibt
er : „Die Erhaltung der Gesundheit und ihre Wiederherstellung nach der Krankheit sind von
jeher die Aufgaben gewesen, die sich die Medizin seit ihrer Entstehung gestellt hat. Und es
sind die gleichen Aufgaben, die sich die Medizin auch heute noch fortlaufend auf der
wissenschaftlichen Ebene stellt. Nach heutigem Stand der medizinischen Praxis kann man
sagen, dass diese Aufgabenstellung auch noch lange ein Thema der Forschung bleiben wird.“
Nachdem Bernard den Forschritt in der Medizin und die Errungenschaften in den
physikalischen und physio-chemischen Wissenschaften und den gesunden und kranken
Lebenserscheinungen hervorhebt, fährt er fort: „Damit ein Arzt eine allumfassende Diagnose
machen kann, muss die experimentelle Medizin drei Hauptdisziplinen enthalten: die
Physiologie (Wissenschaft von den Funktionen der Organe, la physiologie), die Pathologie
Orientierung an den Sternen usw. Der Schiffskapitän wendet jedoch diese Informationen und
Kenntnisse je nach Situation, die sich nach zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten ändert, an. Auch
die Anführung einer Armee setzt das Grundwissen voraus, das in Militärschulen erworben wird. Die
Anführung einer Armee in einer Schlacht und Anwendung dieses Wissens usw. hängt jedoch stark von
Fall zu Fall ab. So ist es auch in der Medizin.
11
(Wissenschaft von den Krankheiten, la pathologie) und die Therapie (Wissenschaft der
Heilkunde, la thérapeutique). Er ergänzt: „Wie jede andere naturwissenschaftliche Disziplin
kann die Wissenschaft der Medizin jedoch nicht existieren, wenn sie nicht auf der Praxis der
sofortigen und rigorosen Anwendung der logischen Beweisführung aufgrund der Fakten
basiert, die aus Beobachtung und Erfahrung vorliegen. Betrachtet man die experimentelle
Methodik, so ist sie eigentlich nichts anderes als die Beweisführung, durch die unsere
Gedanken den Lebenserscheinungen methodisch Folge leisten.“6
Wahrscheinlich wird der Leser festgestellt haben, dass Ibn Rushd sein Buch genau so
aufgebaut hat, wie es hier Claude Bernard nachdrücklich beschreibt: Nach dem Kapitel über
das „Handwerk der Chirurgie“, aus der der medizinische Beruf „viele seiner Teildisziplinen“
erhält, kommt das Kapitel über Gesundheit, das sich mit dem Nutzen der Organe und ihrer
Funktionen auseinandersetzt (la physiologie). Es folgen das Kapitel der Krankheiten und das
Kapitel der Symptome, die auf eine Erkrankung hinweisen (la pathologie), dann das Kapitel
der Arznei- und Nahrungsmittel und die Kapitel über die Bewahrung der Gesundheit und
über die Behandlung von Krankheiten (la thérapeutique). Ferner besteht Ibn Rushd auf einem
Punkt: „In diesem Beruf gibt es nicht die Wissenschaft ohne die Praxis und auch nicht die
Praxis ohne die Wissenschaft. Beide sind wichtig.“7
Es bedarf hier keiner Erklärung, dass ich hiermit nicht die Absicht habe, zu beweisen, dass
die Errungenschaften von heute bereits schon von Ibn Rushd entdeckt worden sind. Eine zu
große Entfernung liegt da doch zwischen dem 12. und 20. Jahrhundert auf allen Ebenen,
insbesondere auf der Ebene der Wissenschaft. Dennoch drängt sich uns ein Punkt auf, dass
Ibn Rushds Verständnis von der Wissenschaft der Medizin dem heutigen Verständnis sehr
ähnlich ist. Trotz all dem sollte man hier festhalten, dass diese Wissenschaftlichkeit, mit der
Ibn Rushd mit seinen Themen umging, begrenzt war durch den Begriffsapparat, der in seiner
Zeit vorherrschend war wie der Begriffsapparat zur Produktion wissenschaftlicher
Erkenntnis. Die vorherrschende medizinische Theorie in seiner Zeit war die, die Galenos
verbreitete. Mit dieser Wissensmaterie hat sich Ibn Rushd auseinandergesetzt und dachte in
ihrem Rahmen auch dann, wenn er sie in vielerlei Hinsicht kritisierte.
Mit anderen Worten kann man sagen, was Ibn Rushd an Neuem im Bereich des
wissenschaftlichen Denkens in der Medizin geleistet hat, ist ähnlich wie das, was er in der
Philosophie mit seinen Aristoteles-Kommentaren getan hat. Zwar kritisierte Ibn Rushd
Aristoteles nicht so wie er Galenos kritisierte – auch wenn er sich in der Medizin auf diesen
stützte, wie er sich auf jenen stützte, wenn es um Physik und Metaphysik ging –, dennoch
versuchte Ibn Rushd, die Probleme zu lösen, die Aristoteles offen ließ, und die kleinen
6
Claude Bernard Introduction á l’étude de la medicine experimentale, Libraire Delagrave, Paris 1920,
S. 5-7.
7
Ibn Rushd, Kommentar zu al-Aragoza von Ibn Sina (Avicenna).
12
Lücken in dessen System zu füllen, „gemäß seiner Lehre“, Aristoteles’ Lehre, die in
Wahrheit auch Ibn Rushds Lehre war. Dies tat er, indem er den Aristotelschen
Begriffsapparat so weit entwickelte, dass er das Aristotelsche System beinahe ganz zerstörte.8
Das gleiche tat der Philosoph von Cordoba mit der Medizin von Galenos (wie ich in meiner
Einleitung des Buches deutlich mache). Die Fragen, die wir uns nun stellen, sind:
Welche Bedeutung hatte Ibn Rushd als Arzt für Europa? War es die gleiche Bedeutung, die er
in der Philosophie hatte und die sich in der Entstehung des lateinischen Averroismus
widerspiegelt, die der europäischen Aufklärung voranging? Spielte er irgendeine Rolle in der
Entwicklung des arabischen medizinischen Denkes?
7. Ibn Rushd und sein Buch Colliget in Europa: „der vernichtende Schlagstock“
Zu Beginn müssen wir uns gestehen, dass wir beim Thema „Rolle der arabischen
Wissenschaft in der europäischen Aufklärung“ immer noch auf die Islamwissenschaftler
angewiesen sind, wenn auch das, was jene in diesem Bereich geleistet haben, trotz seiner
Bedeutung, immer noch nicht ausreichend ist. Der Beitrag der arabischen Wissenschaft und
Philosophie bei der europäischen Aufklärung kann nur rekonstruiert werden mit Hilfe von
Forschern, die der lateinischen und hebräischen Sprache mächtig sind und sich mit der Kultur
des Mittelalters auseinandergesetzt haben und ausreichend mit der arabischen Tradition der
Wissenschaft und Philosophie vertraut sind. Das wünschen wir uns für die künftigen
Forscher-Generationen von Akademikern, die sich mit der arabischen Kultur befassen.
Derzeit aber sind wir noch darauf angewiesen, uns an den Ergebnissen der zeitgenössischen
Islamwissenschaftler und Arabisten und anderen in diesem Bereich spezialisierten
europäischen Forschern und Akademikern zu orientieren. Unserem Wissen nach ist das letzte
wichtigste Werk, das in diesem Bereich erschienen ist, ein Essay von Danielle Jacquart,
Direktorin des EPH Icole Pratique des Hautes Etudes (IVe Section) in Paris, erschienen unter
dem Titel „Einfluss der arabischen Medizin des Mittelalters auf den Westen“.9
Dieser Essay wird in unseren nachfolgenden Darlegungen unsere Hauptquelle sein.
8
Siehe Mohammed Abed al-Jabri Ibn Rushd, Sira wa-fikr, Kapitel Nr. 183.
Dieses Essay wurde ins Englische übersetzt und erschien als Beitrag mit dem Titel "The influence of
Arabic medicine in the medieval West" in Encyclopaedia of the History of Arabic Science, ed. R.
Rashed (London: Routledge, 1996), vol. 3, pp. 963-984 (arabisch bei Markaz dirasat al-wahda alarabiyya, Beirut 1997, S. 1225. Es gibt noch andere Beiträge zur Bedeutung des Averroeschen
Denkens in Europa, die veraltet sind, wie Renans Buch Averroes und Averroeismus usw. Von den
neueren Erscheinungen sei erwähnt : Ein 1995 bei Le Seuil erschienener Sammelband mit dem Titel
Histoire de la pensée médicale en Occident und ein Buch von Manfred Ullmann, in französischer
Übersetzung erschienen 1995 unter dem Titel La médecine islamique.
9
13
Die Forscherin legt dar, dass die Bücher Kamil as-sun’a at-tibbiyya von Ali ibn al-Abbas alMajusi, al-Mansuri von Ibn Sina und al-Hawi von ar-Razi, sowie das als Colliget bekannt
gewordene Buch al-Kulliyyat von Ibn Rushd in die lateinische Sprache übersetzt wurden. 10
Wie in der Philosophie gab es in den medizinischen Kreisen der damaligen Zeit zwei sich
streitende Parteien: die einen waren auf Ibn Sinas Seite, die anderen auf Ibn Rushds Seite.
Uns interessiert hier vor allem die Rolle, die Ibn Rushd dabei mit seinem Buch al-Kulliyyat
(Colliget) gespielt hat.
Über das Buch Colliget sagt die oben genannte Wissenschaftlerin:
Das Buch löste mehrere Diskurse aus, die es westlichen Ärzten erlaubte, ihre Denkweise zu
ändern. Als Befürworter der Aristoteleschen Philosophie hat das Buch Colliget einen Beitrag
geleistet, die Grundsätze neu zu legen. So haben sich im Verlaufe der letzten Jahre des
13. Jahrhunderts bis ins 17. Jahrundert die verschiedensten Definitionen für Fieber um die
beiden weit auseinanderstehenden Positionen von Ibn Sina und Ibn Rushd gerankt.
Die Forscherin legt dar, dass die Lösung, die Ibn Rushd darbot, ohne Probleme akzeptiert
wurde, weil es eine Lösung war, die der von Galenos sehr nah kam. Sie fährt fort:
Das Buch Colliget spielte insofern eine wichtige, stimulierende Rolle, da es die Definition der
Medizin als Beruf neu vorantrieb. Die mit der Theorie und der Praxis verbundenen
Diskussionspunkte (der theoretische und praktische Teil der Medizin), wie sie in den beiden
Büchern Pantegni (d. h. Kamil as-Sina'a at-tibbiyya) von Majusi und Canon (al-Qanun) von
Ibn Sina vorkommen, wurden erneut zur Diskussion gestellt. Die Diskussion um die
Definition der Medizin, wie sie in dem Buch al-Kulliyyat (Colliget) vorangebracht wird, fand
großes Echo. Dies führte dazu, dass in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein erneutes
Interesse an der Methodik erwachte, die es zuließ, spezielle Situationen (particularia) zu
analysieren, also unendlich viele Situationen, die in unserem normalen Alltag passieren
können. „Ibn Rushds Erfolg, an den damals vorherrschenden medizinischen Vorstellungen zu
rütteln, ging so weit, dass der Kommentator von Ibn Sinas Buch Canon, Jacques Despars, der
1458 verstarb, Ibn Rushd einen ganz besonderen Beinamen gab, der aussagekräftig ist.
Während er ar-Razi als „Erfolgreichsten aller Experten“ und als „größten und erfahrendsten
Arzt nach Hippokrates und Galenos“ nannte und Ibn Masawayh als „unseren Experten und
Missionär“, der „am erfahrendsten in der Beschreibung von Arzneimittel“ ist, beschrieb er
Ibn Rushd als den „vernichtenden Schlagstock“ und als einen „Mann“, der „alle bisherigen
Ärzte diskreditierte".
Es ist unbestritten, dass Ibn Rushds Buch Colliget „mehrere Diskurse auslöste, die es
westlichen Ärzten erlaubte, ihre Denkweise zu ändern“, insbesondere durch das von ihm
10
Die gesamten arabischen medizinischen Werke wurden übersetzt. Siehe eine Liste mit gekürzter
Titelangabe und Datum der Übersetzung in dem o. g. Essay.
14
dargestellte neue Verständnis der Medizinwissenschaft, seine neue Einteilung in
Teildisziplinen und durch seine Bewertung ihrer Glaubwürdigkeit. Wir haben dies in den
vorangegangenen Kapiteln ausführlich erläutert. Was aber seine Bezeichnung als
„vernichtender Schlagstock“ und „Mann“, der „alle bisherigen Ärzte diskreditierte“ angeht,
so stellt sich die dringliche Frage: „Wie ist das gemeint? Und warum?
Die Autorin des Essays, der wir diese wichtige Information verdanken, stellt diese Frage
nicht. Sie wendet sich hier einem anderen Thema zu. Trotzdem, vor dem Hintergrund ihrer
geschichtlichen Darbietung der arabischen Medizin mit ihren verschiedenen Plädoyers im
europäischen Denken und der Reaktionen, die es zu den verschiedenen arabischen Quellen
gab, ist es uns erlaubt, eine Antwort auf unsere Frage abzuleiten: „Weshalb beschreibt er den
Arzt Ibn Rushd als „vernichtenden Schlagstock“ und weshalb wird ihm nachgesagt, er habe
„alle bisherigen Ärzte diskreditiert?“
Im gleichen Essay lesen wir, dass der katalanische Arzt Arnaud de Ville Neuve „einer der
hervorragenden Denker des Mittelalters“ war. Er war ein „Erneuerer inmitten einer
konservativen Umgebung, der die Werke von Galenos gut kannte. Er war ein scharfer
Kritiker von Ibn Sina, obwohl er all seine Werke gelesen und Ibn Sinas Abhandlung über die
Gesetze von Herzmedikamenten übersetzt hat (diese erschien unter dem Titel De viribus
cordis). Im Rahmen einer Kontroverse in medizinischen Kreisen kritisierte de Ville Neuve
immer wieder jene Ärzte, die Ibn Sinas Buch Canon blind folgten. Er behauptete in seinen
Büchern, „Ibn Sina hat die grundlegende Erkenntnis, zu der Galenos gekommen ist, nicht
verstanden. In seinem dicken Medizinwälzer stellte er den Großteil der lateinischen Ärzte als
Dummköpfe dar (…), die seiner Meinung nach Unsinn reden ohne auf Beweise zu achten.
Sie würden nur darüber erfreut sein, wenn sie dieses große Buch sehen und lesen könnten
oder wenn sie auf ihre großen Podeste zeigen könnten, wie schwer es ist.“ Danielle Jacquart
fährt weiter fort: „Ibn Sinas Werke zu verstehen bedeutet für de Ville Neuve, sie durch das
Sieb von Galenos zu sieben.“11
Aus dem Geschriebenen wird deutlich, welche große Wirkung das Buch Canon von Ibn Sina
im 13. Jahrhundert auf die medizinischen Kreise hatte. Die Gegenreaktionen begannen dann,
als die Forscher Galenos’ Lehren entdeckten, was ihnen einen direkten „Vergleich zwischen
den arabischen und den Galeno’schen Werken“ erlaubte. In diesem Zusammenhang müssen
wir die oben beschriebene, scharfe Kritik gegen Ibn Sina verstehen. Es war ein Aufruf, sich
auf die ersten medizinischen Grundregeln zurück zu besinnen, auf Galenos, der zur
fundierten Wahrheit gekommen ist, die „Ibn Sina nicht verstanden hat“ und der „den Großteil
der lateinischen Ärzte als Dummköpfe darstellte.“
11
Ders., S. 1237-1238.
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Die Frage, die sich nun stellt, ist: Wenn Ibn Sina „den Großteil der lateinischen Ärzte als
Dummköpfe“ dargestellt hat, und die Rückbesinnung auf Galenos die einzige Alternative ist,
welche Schuld hat Ibn Rushd in diesem Kontext, dass er als „vernichtender Schlagstock“
beschrieben wird und dem vorgeworfen wird „alle bisherigen Ärzte diskreditiert zu haben“?
8. Hat Ibn Rushd den kleinen Blutkreislauf entdeckt?
Die Antwort auf diese Frage gibt das Buch Colliget, mit dem wir uns hier befassen. Schon in
der Einleitung erklärt Ibn Rushd, dass er alle bisher als sicher betrachteten Grundsätze einer
genauen Untersuchung unterziehen werde, auch wenn er dabei der Meinung anderer
Mediziner widersprechen würde. Mit „andere Mediziner“, die Ibn Rushd ggf. widersprechen
würden, meinte er nicht Ibn Sina, den er nur selten, bei Randthemen, erwähnt. Derjenige, mit
dem Ibn Rushd von Anfang bis Ende des Buches anderer Meinung ist und mit dem er sich in
Diskussionen verwickelt, ist Galenos selbst! Ibn Rushd betrachtete Galenos als den einzigen
Gelehrten, der es würdig war, dass man sich auf ihn stützt und seine Thesen gleichzeitig in
Frage stellt. Ibn Rushds Diskussion und Widerspruch zu einigen der Grundsätze der
medizinischen Lehre von Galenos bedeutete, dass das alternative Wissen, das die Gegner von
Ibn Sina in Galenos gefunden hatten, von Grund auf erschüttert und überholt wurde. Ibn
Rushd war hier wirklich „der Schlagstock“, der die Denktradition vernichtete, sei es die von
Ibn Sina oder die von Galenos. Von daher kann man verstehen, dass Ibn Rushd
„alle Ärzte diskreditierte“. Das bedeutet, Ibn Rushd hat das europäische, medizinische
Denken im Mittelalter erschüttert und es zum Aufruhr gegen die Tradition angespornt. Er
lenkte das Denken in Richtung igtihad (selbstständiges Denken nach eigenem Ermessen).
Dies ließ manchen Ibn Rushd mit Harvey, dem Entdecker des großen Blutkreislaufs, in
Zusammenhang bringen. Die Entdeckung des kleinen Blutkreislaufs geht zurück auf den
arabischen Arzt Ibn al-Nafis.
Wenn dieses der Einfluss des Buches Colliget auf das europäische medizinische Denken war,
was hat es für einen Einfluss auf das arabische medizinische Denken gehabt?
Die Meinung ist verbreitet, dass Ibn Rushds Denken keinen Einfluss auf die arabische Kultur
gehabt hat. Das mag stimmen, wenn man sich vorstellen würde, welche geistige Revolution
er in der arabischen Gesellschaft hätte auslösen können, die sich im Abstieg befand. Diese
Behauptung ist jedoch nicht richtig, wenn man die Entwicklung und Erneuerung in
bestimmten anderen Wissensbereichen betrachtet. In unseren früheren Arbeiten berichteten
wir über die Fortsetzung des erneuernden Averroeschen Denkprojekts von Batruji in der
Astronomie über al-Schatibi in der Rechtswissenschaft und Ibn Khaldoun in der
Sozialwissenschaft bis Ibn Taimiyya in seiner Diskussion um das Verhältnis zwischen Logik
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und Tradition.12 Es stellt sich für uns nun die Frage: Steht Ibn Rushd nicht eventuell hinter
der größten Entdeckung in der arabischen Medizingeschichte, ja sogar der größten in der
Medizingeschichte der Welt, nämlich der Entdeckung des kleinen Blutkreislaufs durch Ibn alNafis?
Mit dieser Frage haben wir uns ausführlich in unserer analytischen Einleitung des Buches
Colliget befasst. Diese Frage zu beantworten erfordert es, Ibn Rushds Kommentare und
Meinungen zu Galenos’ Ansichten in zusammenhängenden Fragestellungen zu verfolgen wie
das Verhältnis zwischen Leber, Herz, Lunge und den Blutgefäßen (Venen und Aterien) usw.
In dieser Diskussion bewirkte Ibn Rushd, dass man die erste medizinische Hauptquelle seiner
Zeit (Galenos) und die Quellen, die in nicht weniger als fünf Jahrhunderten entstanden waren,
erstmals anzweifelte. Ibn Rushd betonte die Bedeutung des Experiments. Die Diskussionen,
die er anregte, waren von großer historischer Bedeutung.
12
Siehe Mohammed Abed al-Jabri Bunyat al-aql al-arabi, Markaz dirasat al-wahda al-arabiyya,
Beirut, S. 536.
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