Fachtagung am 01.07.2013 AHG Kliniken Daun „Alkohol und Depression – Henne und Ei“ Arnold Wieczorek Chefarzt Abhängigkeitsabteilung AHG Kliniken Daun Verhaltensmedizinisches Zentrum für Seelische Gesundheit 1 Übersicht • Erscheinungsbild • Zahlen und Fakten • Krankheitsmodell • Zusammenhänge Depression und Sucht • Behandlungsmöglichkeiten 2 Übersicht • Erscheinungsbild • Zahlen und Fakten • Krankheitsmodell • Zusammenhänge Depression und Sucht • Behandlungsmöglichkeiten 3 Depressive Symptomatik und Diagnosen Depressive Persönlichkeitsstörung Dysthymie Bipolare Störung Major Depression Depressive Episode Recurrent Brief Depression Gemischt Angst und Depression Saisonale Depression WochenbettDepression Subsyndromale Depression Minor Depression Prämenstruelles Syndrom DoubleDepression 4 Prägnanztypen der Depression (1) • Agitierte Depression • Ängstliche Getriebenheit • Gehemmte Depression • Psychomotorik reduziert • „Larvierte”, somatisierte Depression • Im Vordergrund stehen vegetative Störungen • funktionelle Organbeschwerden • • Wahnhafte Depression • Depressiver Wahn 5 Prägnanztypen der Depression (2) • Saisonale Depression Regelmäßiges Auftreten zur gleichen Jahreszeit, v.a. im Winterhalbjahr, Appetitsteigerung • Altersdepression Erstmanifestation > 60 J • Postpartale Depression Wochenbettdepression 6 Typische Symptome der Depression • • • • • • • „Mir geht es schlecht, aber mein Doktor sagt, ich habe nichts“ Gedrückte Stimmung und Freudlosigkeit („Auch an schönen Dingen kann ich mich nicht mehr freuen“) Kein Antrieb („Der Tag ist wie ein unüberwindbarer Berg“) Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen („Ich weiß nichts, kann nichts und bin nichts wert“) Angstgefühle und innere Unruhe („Auch kleine Dinge regen mich auf und ich bin den ganzen Tag unruhig“) Beeinträchtigung des Gedächtnisses („Ich kann mir nichts mehr merken“) Suizidgedanken („Es hat alles keinen Sinn mehr und ich denke, dass beste ist, ich …“ 7 Körperliche Symptome der Depression • • • • • • • • Schlafstörungen („Ich kann nicht einschlafen und wenn ich eingeschlafen bin, wache ich um 2 Uhr wieder auf“) Verminderter oder gesteigerter Appetit („Ich habe keinen Appetit, Bauchschmerzen und Übelkeit“) Gewichtsverlust Kopf- und Muskelschmerzen („Ich habe dauernd Kopfschmerzen“; „Wattegefühl außen und Leere innen“) Druckgefühl auf dem Brustkorb und Kloßgefühl im Hals Schweregefühl im ganzen Körper Herz-Kreislauf-Probleme Sexualstörungen („Seit Wochen habe ich keine Lust und seit kurzem geht gar nichts mehr“) 8 ICD-10-Kriterien für Depressive Episode A. Depressive Episode muss mind. 2 Wochen dauern B. Mindestens 2 der folgenden Symptome: • • • Depressive Verstimmung Interessenverlust oder Freudlosigkeit Verminderter Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit C. Mindestens 2 der folgenden Symptome: • • • • • • • • Verlust der Selbstwertgefühls Schuldgefühle, Selbstvorwürfe Hoffnungslosigkeit Todesgedanken oder Suizidgedanken Denk- und Entscheidungshemmung Psychomotorische Hemmung oder Unruhe Schlafstörung Appetitmangel mit Gewichtsverlust Zahlreiche körperliche Beschwerden D. Einbuße der Leistungsfähigkeit und des sozialen Funktionsniveaus 9 Klinische Diagnosestellung der Depression 1. Haben Sie die Freude an den Dingen verloren, die Ihnen sonst Spaß machen? 2. Fühlen Sie sich meist niedergeschlagen, traurig oder hoffnungslos? 3. Fehlt Ihnen der Antrieb für alltägliche Aufgaben? 4. Grübeln Sie viel? Wenn Sie eine oder mehrere bejaht haben und diese Beschwerden schon länger als 2 Wochen andauern, dann beantworten Sie bitte noch die 10 folgenden 3 Fragen: Klinische Diagnosestellung der Depression 5. Wachen Sie mitten in der Nacht oder auch früh morgens auf, fühlen sich dann schlecht und können nicht mehr einschlafen? 6. Haben Sie Konzentrationsprobleme, oder fällt es Ihnen neuerdings schwer, Entscheidungen zu fällen? 7. Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass es besser wäre, tot zu sein? 11 Körperliche Symptome bei depressiven Störungen Kopfschmerzen, Schwindel Rückenschmerzen v.a. bei Frauen Atembeschwerden u.a. Engegefühl Unterleibsbeschwerden u.a. Zyklusstörungen, Schmerzen Herzbeschwerden u.a. Herzrasen Magen-DarmBeschwerden u.a. Übelkeit, Völlegefühl, Schmerzen 12 Möller HJ et al.; Thieme-Verlag, Stuttgart 2001 Suchterkrankungen Drogen - Heroin - Kokain - THC - Amphetamine - etc. Alkohol Abhängigkeit Missbrauch Riskanter Konsum Medikamente - Schlaf- und Beruhigungsmittel (insbessondere Benzodiazepine) - Schmerzmittel Tabak 13 Kriterien eines abhängigen Suchtmittelkonsums • Craving • Verminderte Kontrollfähigkeit • Toleranzentwicklung • Entzugssymptome • Einengung auf Substanzgebrauch • Konsum trotz schädlicher Folgen Eine Abhängigkeit liegt vor, wenn mindestens drei dieser Merkmale vorliegen. 14 ICD 10-Fragen Spüren Sie (häufig) einen starken Drang, eine Art unbezwingbares Verlangen, Alkohol zu trinken? □ ja □ nein Kommt es vor, dass Sie nicht mehr aufhören können zu trinken, wenn Sie einmal begonnen haben? □ ja □ nein Trinken Sie manchmal morgens, um eine bestehende Übelkeit oder das Zittern (z. B. Ihrer Hände) zu lindern? □ ja □ nein Brauchen Sie zunehmend mehr Alkohol, bevor Sie eine bestimmte (die gewünschte) Wirkung erzielen? □ ja □ nein Ändern Sie Tagespläne, um Alkohol trinken zu können bzw. richten Sie den Tag so ein, dass Sie regelmäßig Alkohol konsumieren können? □ ja □ nein Trinken Sie, obwohl Sie spüren, dass der Alkoholkonsum zu schädlichen körperlichen, psychischen oder sozialen Folgen führt? □ ja □ nein 15 Übersicht • Erscheinungsbild • Zahlen und Fakten • Krankheitsmodell • Zusammenhänge Depression und Sucht • Behandlungsmöglichkeiten 16 Wie häufig sind Depressionen Wieviel Menschen sind gegenwärtig in Deutschland an einer Depression erkrankt? „Punktprävalenz“ Depressionen insgesamt 5 % d.h., aktuell sind 4 Mio. Menschen in Deutschland erkrankt 17 WHO: Häufigkeit depressiver Störungen bei körperlichen Erkrankungen Allgemeinbevölkerung Chronisch Kranke Stationäre Patienten Geriatrische Patienten Ambulante Krebspatienten Stationäre Krebspatienten Schlaganfall Myokardinfarkt M. Parkinson 0 10 20 30 40 50 % 18 Prävalenz der Depression bei stationär und ambulant behandelten Patienten Krankenhaus-Patienten allgemein Psychiatrische Erkrankungen Depression 30-50% 16,3% Aroldt et al. 1995 Allgemeinarzt, ambulante Patienten Depression 10,5% Üstün & Sartorius 1995 19 Wie häufig sind Depressionen Wie hoch ist das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression zu erkranken? „Lebenszeit-Prävalenz“ Depression Dysthymia Bipolare Störung Zyklothymia 23,3 % Frauen 11,1 % Männer 6% 2-3 % 1% 20 Depression und Beruf • ca. 15.000 Frühberentungen jährlich wegen Depressionen • ca. 11 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage jährlich wegen Depressionen Spiessl et al. (2005) Dt. Med. Wschr. 131: 35 – 40 21 Depression und Suizidrisiko Im Verlauf schwerer, rezidivierender Depressionen: • • • • • 40 – 80% der Pat. haben Suizidgedanken 20 – 60% der Pat. verüben einen Suizidversuch 15% vollendeter Suizid, d.h. jeder 7. Patient Bei „Major Depression“ 21-fach erhöhtes Suizidrisiko 40 – 60 % aller Suizidenten waren zum Zeitpunkt des Suizids depressiv Miles C; J Nerv Ment Dis 1977; 164: 231-246; Wolfersdorf M und Mäulen22 W, 1992; Harris C und Barraclough B; Brit J Psychiatry 1997; 170: 205-228 Wie häufig sind Suchterkrankungen? In Deutschland rechnet man bei den 18- bis 59Jährigen mit ca. 3,2 Millionen suchtkranken Menschen: → ca. 1,3 Mio alkoholabhängig → ca. 1,4 Mio medikamentenabhängig → ca. 175.000 drogenabhängig → ca. 220.000 cannabisabhängig (2008) ► ca. 9 Mio betreiben einen riskanten Alkoholkonsum! ► ca. 2 Mio betreiben einen deutlichen Alkoholmissbrauch 23 Folgen der Alkoholabhängigkeit • ca. 42.000 Todesfälle pro Jahr • ca. 10 x erhöhtes Suizidrisiko • ca. 25.000 Kinder und Jugendliche wegen einer Alkoholvergiftung in stationärer Behandlung • 12,7 % aller Krankenhauspatienten sind alkoholabhängig • ca. 10 % der Patienten in einer Hausarztpraxis sind alkoholabhängig oder missbrauchen Alkohol • ca. 80 % der alkoholabhängigen Männer erleben das 65. Lebensjahr nicht (20 % ohne Alkohol) 24 Folgen der Alkoholabhängigkeit • • • • • volkswirtschaftliche Kosten von 24,4 Milliarden Euro plus 2 Milliarden durch Frühberatung 16 x häufigeres Fehlen am Arbeitsplatz 2,5 x häufiger krank Straftaten (Gewalt) häufig unter Alkoholeinfluss 25 Übersicht • Erscheinungsbild • Zahlen und Fakten • Krankheitsmodelle • Zusammenhänge Depression und Sucht • Therapie 26 Vulnerabilitäts-Stress-RessourcenModell der Depression Belastende Lebensereignisse chronische Belastungen Vulnerabilität Depression Schützende Faktoren Ressourcen 27 Multifaktorielle Genese der Depression Biologische Faktoren Vererbung, Störung des Stoffwechselstörung, Schlaf-Wach-Rhythmus, Licht, Ernähung, Störung auf der Stressachse u.a. Stress: Andauernder Belastungen Psychologische Faktoren Verluste, Trauma, negative Kognitionen, Frustrationen, Mangel an Positivem, Defizite in Coping u.a. Soziale Faktoren Isolation, Streit, sozioökonomische Benachteiligung, Desintegration u.a. Vulnerabilität Stoffwechselstörung im Gehirn Depression Stress: Lebensereignisse 28 Wie Abhängigkeit entsteht Biologische Faktoren Suchtmittel Psychologische Faktoren Suchtverhalten Suchterkrankung soziale Faktoren konkrete Lebenssituation 29 Schritte in die Abhängigkeit ausweichendes Verhalten Genuss Missbrauch passive Konfliktlösung Gewöhnung Sucht 30 Übersicht • Erscheinungsbild • Zahlen und Fakten • Krankheitsmodelle • Zusammenhänge Depression und Sucht • Behandlungsmöglichkeiten 31 Zusammenhänge Depression und Sucht (Comorbidität) Depression 20 – 50 % Suchtverhalten Depression und Sucht - Abhängigkeit von Medikamenten - Schlaf- und Beruhigungsmittel (insbesondere Benzodiazepine) - Schmerzmittel - Abhängigkeit von Alkohol - Abhängigkeit von Drogen 32 Zusammenhänge Depression und Sucht (Comorbidität) Sucht 40 – 60 % depressives Verhalten Sucht und Depression Sucht und Depression sind meist (häufig) chronische Erkrankungen! 33 Verhaltensmerkmale bei chronischem Krankheitsverhalten • Zunehmende Passivität und Hilfslosigkeit • Verlust an Selbsthilfemöglichkeinen • Zunehmende Inanspruchnahme medizinisch-diagnostischer Maßnahmen • Verlust an Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit des eigenen Körpers (physische Bedrohung) • Verlust an Verlauten in die psychische Funktionstüchtigkeit der eigenen Person (Selbstwertbedrohung) 34 Verhaltensmerkmale bei chronischem Krankheitsverhalten • Körperliches Schonverhalten – körperlicher Trainingsmangel • Psychisches und soiales Schonverhalten – sozialer Trainingsmangel • Einschränkung passiver Entspannungsmöglichkeiten • Soziale Beziehung durch Krankenrolle stabilisiert • Missbrauch von Medikamenten bzw. Abhängigkeitsgefährdung • Zunehmende Abhängigkeit vom medizinischen Versorgungssystem 35 Übersicht • • • • Erscheinungsbild Zahlen und Fakten Krankheitsmodelle Zusammenhänge Depression und Sucht • Behandlungsmöglichkeiten 36 Diagnostische und therapeutische Lücke Selbstbehandlung (40%) Depressive Person Spezifische Behandlung (50%) Diagnose Depression (50%) Sucht medizinische Hilfe (60%) Unerkannte Depression (50%) Keine spezifische Behandlung (50%) 37 Diagnostische und therapeutische Lücke Behandlungsbedürftige Depressionen Gesamtzahl ca. 4 Mio. In hausärztlicher Behand- lung 2,4-2,8 Mio. 60-70 % Als Depression diagnostiziert 1,2-1,4 Mio. Suffizient behandelt 240-360 Tausend Nach 3 Mon. Therapie „compliant“ 100-160 Tausend 30-35 % 6-9 % 2,5-4 % Kompetenznetz Depression, 2001; aus: Laux G (Hrsg.); Springer-Verlag 382002 Behandlung Alkoholabhängiger Von 3,3 Mio alkoholabhängigen bzw. alkoholmissbrauchenden Menschen in Deutschland bekommen nur 6 % (182.000) eine geeignete Therapie, nur ca. 40.000 gehen in eine ambulante oder stationäre Entwöhnungsbehandlung. 39 Behandlungsansätze der Depression Medikamente Vulnerabilität Belastende Lebensereignisse Chronische Belastungen Depression Psychotherapie Soziotherapie Schützende Faktoren Ressourcen 40 Therapieoptionen • Psychotherapie • Pharmakotherapie • Psychopharmaka • Andere (z.B. Hormone) • Biologische Verfahren • Schlafentzug • Elektrokrampftherapie (EKT) • Lichttherapie • Soziotherapie • Begleitende Maßnahmen • Bewegungstherapie • Sporttherapie • Physiotherapie 41 Phasen der Therapie Ansprechen Remission Rückfall Vollständige Gesundung Wiedererkrankung Spontanverlauf Akuttherapie 3 – 6 Monate Erhaltungstherapie Rezidivprophylaxe 6 – 8 Monate Jahre 4228 Kupfer DJ; J Clin Psychiatry 1991; 52 Suppl 5: Allgemeine Grundsätze zur Psychotherapie der Depression – problemorientiert, strukturiert, konkret, aktiv, ggf. auch direktiv vorgehen – ausführliche Erklärung des Krankheitsbilds, der Einflussfaktoren und des Bedingungsgefüges – Ableitung der Psychotherapie aus dem Erklärungsmodell – klare Zielsetzungen, Formulierung von Teilzielen – Orientierung auf Alltagsbewältigung, Lösung aktueller Probleme – gestuftes, nicht überforderndes Vorgehen – Erarbeitung neuer Handlungsmöglichkeiten 43 Bausteine in der Verhaltensmedizin bei chronischem Krankheitsverhalten sind: • Informationen, Aufklärung, Beratung • Wiedererwerben von Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit des eigenen Körpers • Wiedererwerben von Vertrauen in die psychische und soziale Funktionstüchtigkeit • Abbau von Schon- und Vermeidungsverhalten im sozialen und körperlichen Bereich 44 Bausteine in der Verhaltensmedizin bei chronischem Krankheitsverhalten sind: • Umgang mit Gefühlen und kritischen sozialen Situationen • Aufgeben der Krankenrolle • Erlernen von Entspannung • Kritischer Umgang in der Inanspruchnahme von medizinischen Hilfen, Medikamenten und Suchtmitteln • Rückfallprophylaxe 45 Hilfs- und Behandlungsangebote • Familie, Freunde, Arbeitsplatz • Hausärzte • Fachärzte • Psychiater, Psychotherapeuten • Beratungsstelle der Sucht- und Lebenshilfe • Gesundheitsamt 46 Hilfs- und Behandlungsangebote • Krankenhausbehandlung allgemein • stationäre psychiatrische Behandlung - qualifizierte Entgiftung - qualifizierte Behandlung der Depression - tagesklinische Behandlung • akut psychosomatische Behandlung • ambulante oder stationäre Entwöhnungsbehandlung • psychosomatische Rehabilitationsbehandlung • ambulante Nachsorge 47 Hilfs- und Behandlungsangebote • Selbsthilfegruppen • Klinikambulanzen • niedergelassene Ärzte • • • • • Beratungsstellen Nachsorgeeinrichtungen (z. B. Adaption) ambulante Psychotherapie Telemedizin Selbsthilfe über Chatrooms 48 49 Fazit: Werden Sie Experte Ihrer Erkrankung und bewegen Sie Ihr Leben! 50 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 51