Musterbildung in der Netzhaut

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WISSENSCHAFT
Retinaentwicklung
Musterbildung in der Netzhaut
DOROTHEA SCHULTE
MAX-PL ANCK-INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG, FRANKFURT A. M.
Klassische embryologische Studien des letzten Jahrhunderts zusammen
mit Arbeiten jüngeren Datums zeigen, dass die Topografie der Netzhaut
bereits in der frühen Augenanlage durch das Zusammenspiel verschiedener Transkriptionsfaktoren festgelegt wird.
ó Visuelle Wahrnehmung beginnt mit den
Photorezeptoren, hoch spezialisierten Nervenzellen, die Lichtimpulse in elektrochemische Signale umwandeln. Photorezeptoren
fallen in zwei prinzipielle Klassen: Zapfen
dienen der Lichtwahrnehmung unter Tageslichtbedingungen, ermöglichen also das, was
wir landläufig unter „Sehen“ verstehen, während Stäbchen auf visuelle Wahrnehmung in
Dunkelheit spezialisiert sind. Menschen besitzen drei verschiedene Zapfentypen, deren
maximale Lichtempfindlichkeit im kurzwelligen „blauen“ (S-Zapfen), im mittelwelligen
„grünen“ (M-Zapfen) oder im langwelligen
„roten“ (L-Zapfen) Wellenlängenbereich liegen. Das Zusammenwirken dieser Zapfentypen erlaubt uns, Farben in einem breiten
A
B
Spektrum von Blau bis Rot zu unterscheiden.
Die im Photorezeptor nach Lichtstimulation
erzeugten elektrochemischen Signale werden
bereits innerhalb der Netzhaut durch verschiedene Klassen von Interneuronen – den
Amakrin-, Bipolar- und Horizontalzellen –
verarbeitet. Retinale Ganglienzellen, die Projektionsneurone der Retina, leiten diese Signale dann an die visuellen Zentren im Mittelhirn weiter, bei Säugern an den Superior Colliculus (SC), bei Nicht-Säugern an das optische Tektum.
Ganglienzellen der temporalen (also der
Schläfe zugewandten) Seite der Netzhaut projizieren ins anteriore optische Tektum (bzw.
in den anterioren SC), während Ganglienzellen der nasalen Netzhaut die posteriore Sei-
te des Tektums innervieren. Auf ähnliche Art
und Weise wird die dorso-ventrale (D-V) Achse der Netzhaut auf die medial-laterale Achse des Tektums abgebildet (Abb. 1). Die axonalen Projektionen retinaler Ganglienzellen
ins optische Tektum bzw. in den SC spiegeln
also die Lage ihrer Zellkörper im Zellverband
der Netzhaut wider. Dadurch kann die visuelle Welt leicht verzerrt und einmal gespiegelt,
aber topografisch korrekt im Gehirn abgebildet werden. Topografie in der Netzhaut ist
aber nicht auf retinale Ganglienzellen
beschränkt. Auch Photorezeptortypen sind
bei fast allen Wirbeltieren in unterschiedlichen, oft Spezies-spezifischen Mustern über
die Netzhaut verteilt. Im menschlichen Auge
fehlen beispielsweise Stäbchen und S-Zapfen
innerhalb der Fovea centralis, einem kleinen
Bereich im Zentrum der Netzhaut, dessen
Aufbau, zelluläre Zusammensetzung und synaptische Verschaltung die höchste Sehschärfe innerhalb der Netzhaut ermöglichen[1, 2] (Abb. 1). Auch bei manchen Vogelarten wie Tauben oder einigen Hühnervögeln
fehlen Stäbchen im Zentrum der Netzhaut
(Abb. 2B). Bei Hühnern nimmt darüber hinaus die Stäbchendichte von ventral nach
C
D
E
˚ Abb. 1: Beispiele für retinale Topografie. A, Schichtaufbau der Netzhaut. B und C, Zapfenverteilung (B) und Stäbchendichte (C) in der menschlichen
Netzhaut. Im Bereich der Fovea centralis fehlen S-Zapfen und Stäbchen. D und E, topografische Projektion retinaler Ganglienzellen. Die A-P-Achse
der Retina wird auf die P-A-Achse des optischen Tektums (hier des Hühnchens), die D-V-Achse auf die L-M-Achse projiziert. A: anterior, P: posterior,
D: dorsal, V: ventral, L: lateral, M: medial.
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A
B
C
˚ Abb. 2: A, links: anteriores Zentralnervensystem eines Hühnchenembryos im Zwölf-Somitenstadium; rechts: schematische Darstellung des optischen Vesikels. Die Expressionsdomänen
mehrerer Transkriptionsfaktoren gliedern diesen in molekular unterschiedliche Domänen. B, Das
typische Stäbchenmuster (Stäbchen-freie Area centralis im Zentrum der Netzhaut (Pfeil) und von
ventral nach dorsal abnehmende Stäbchendichte) entsteht aus einer Augenanlage, in der die
Expression des Transkriptionsfaktors Vax2/cVax auf die ventrale Seite beschränkt ist. C, Aufsicht
auf eine adulte Hühnchennetzhaut nach retroviraler Vax2-Transfektion. Das Stäbchenmuster ist
gestört, die Stäbchen-freie Area centralis fehlt. In B und C sind Stäbchen dunkel angefärbt. Nachdruck der Retinae in B und C mit freundlicher Genehmigung der Society for Neuroscience, 2007.
Anterior: links, posterior: rechts, dorsal: oben, ventral: unten.
dorsal ab, während bei vielen Mausstämmen
S-Zapfen in der ventralen Netzhaut deutlich
häufiger sind als in der dorsalen Netzhaut.
Wie und wann entstehen diese Muster während der Embryogenese? Diese Frage war
bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts
Gegenstand intensiver Forschung und wurde durch Ablations-, Rotations- und Transplantationsexperimente der Augenanlage des
Krallenfroschs (Xenopus laevis) oder Hühnchens zu beantworten versucht[3].
Der Grundstein für Ganglienzell- und
Photorezeptormuster wird bereits im
optischen Vesikel gelegt
Die Netzhaut ist Teil des Zentralnervensystems und entwickelt sich als solche aus lateralen Ausstülpungen des Neuralrohrs im
Bereich des Zwischenhirns, den optischen
Vesikeln (Abb. 2). Wird bei Hühnchenembryos ein Teil des optischen Vesikels operativ
entfernt (ablatiert), so regeneriert dieser
innerhalb weniger Stunden durch vermehrte
Zellteilung des verbliebenen Teils des Vesikels und kann eine morphologisch intakte
Netzhaut erzeugen[4]. Nach einer solchen Operation zeigen die retinalen Ganglienzellen des
regenerierten Teils der Netzhaut jedoch ein
Projektionsverhalten, das ihrer ursprünglichen Lage im optischen Vesikel entspricht,
anstatt das Projektionsverhalten der Region
anzunehmen, die sie nach der Heilung ausfüllen. Auch eine generelle D-V-Polarität retinaler Ganglienzellen scheint bereits in der
Augenanlage festgelegt zu sein[5] Wir haben
kürzlich die Auswirkung vergleichbarer Experimente auf die Verteilung von Stäbchen
untersucht und beobachtet, dass auch dieses
Muster in seinen Grundzügen schon im optischen Vesikel angelegt ist. So entspricht beispielsweise nach Ablation der dorsalen
Augenanlage die Stäbchenverteilung im adulten Tier einer Verdopplung des ventralen
Musters[6]. Bereits im optischen Vesikel und
damit lange bevor postmitotische Nervenzellen entstehen und differenzieren müssen
retinale Vorläuferzellen also stabile Positionsinformationen besitzen, die sich in der
topografischen Projektion der aus ihnen hervorgegangenen Ganglienzellen und der Dichteverteilung von Photorezeptortypen widerspiegeln.
Ein früher Positionskode
Wie werden diese Positionsinformationen
molekular festgelegt? Auch wenn der optische Vesikel morphologisch noch nicht die
komplexe Struktur der zukünftigen Retina
erahnen lässt, ist er doch durch die Expression verschiedener Transkriptionsfaktoren in
eine Vielzahl von Domänen unterteilt (Abb.
2). Die Expressionsdomänen der Transkrip-
tionsfaktoren FoxG1, FoxD1, SOHo1 und GH6
zum Beispiel unterteilen den frühen optischen
Vesikel in mehrere Domänen entlang der
anterior-posterioren (A-P) Achse und legen
damit eine erste Achsenpolarität der zukünftigen Netzhaut fest[7, 8]. Entlang der D-V-Achse bilden Vorläuferzellen der ventralen
Augenanlage den Homeodomän-Transkriptionsfaktor Vax2 (cVax im Hühnchen), Zellen
der dorsalen Augenanlage exprimieren T-BoxTranskriptionsfaktoren wie Tbx2, -3, -5 und
-12, während Zellen in einem breiten, horizontalen Band dazwischen keinen dieser Faktoren exprimieren[9, 10]. Stattdessen zeigt dieses horizontale Band eine starke Expression
des Transkriptionsfaktors Pax6, eines Proteins, das im gesamten Tierreich von entscheidender Bedeutung für die Augenentwicklung ist[11]. Bemerkenswerterweise treffen sich der horizontale Vax- und Tbx-freie
und ein vertikaler FoxG1- und Fox-D1-freier
Streifen genau im Zentrum der Augenanlage
und damit in dem Bereich, der später die Area
centralis bzw. bei Primaten die Fovea hervorbringen wird. Die entwicklungsbiologische Bedeutung dieser Expressionsmuster ist
aber erst teilweise verstanden. Eine auf die
ventrale Augenanlage beschränkte Expression von cVax/Vax2 ist für die normale Entwicklung ventraler Augenstrukturen entscheidend. So stört eine ektopische Vax2Expression in der dorsalen Augenanlage nicht
nur die Entwicklung der retinotektalen Projektion, sondern auch die Faszikulierung und
Wegfindung retinaler Ganglienzellaxone
innerhalb der Netzhaut sowie die Verteilung
von Stäbchenphotorezeptoren[6, 10, 12] (Abb.
2). Genverlust von Vax2 führt ebenfalls zu
Störungen der retinotektalen Projektionen
und zu Missbildungen des Auges[13]. Räumlich begrenzte Expression von FoxG1, FoxD1,
SOHo1, GH6 oder Tbx5 im optischen Vesikel
hingegen ist zwar entscheidend für die normale Entwicklung der retinotektalen Projektionen, hat aber keine Bedeutung für die korrekte Entwicklung des Photorezeptormusters[6].
Ein einfacher Positionskode, der sowohl der
Entwicklung der retinotektalen Karte als auch
dem Photorezeptormuster zugrunde liegt,
wird also bereits im optischen Vesikel festgelegt, und einige der daran beteiligten Faktoren sind bekannt. Eine Vielzahl von Fragen
bleibt aber noch zu beantworten. So ist beispielsweise noch weitgehend unklar, wie Spezies-spezifische Unterschiede in der Verteilung von Photorezeptortypen entstehen. Ein
gutes Beispiel hierfür ist die menschliche
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Fovea. Obwohl die Sehleistung der Fovea von
großer Bedeutung für unser tägliches Leben
ist und Makulardegeneration, eine oft im
Alter auftretende Degeneration der Netzhaut
im Bereich der Fovea, die häufigste Ursache
für Erblindung in Europa und Nordamerika
darstellt, sind die Mechanismen, die zur Entwicklung einer Fovea oder Fovea-ähnlichen
Struktur führen, noch völlig unbekannt. ó
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Korrespondenzadresse:
Dr. Dorothea Schulte
Max-Planck-Institut für Hirnforschung
Deutschordenstraße 46
D-60528 Frankfurt a. M.
Tel.: 069-96769 335
Fax: 069-96769 206
[email protected]
www.mpih-frankfurt.mpg.de
AUTORIN
Dorothea Schulte
Studium der Biologie an der
Universität Konstanz. 1992–
1996 Promotion am Lehrstuhl
für Genetik der Universität
Konstanz. 1996–2001 Forschungsaufenthalt an der Harvard Medical School, Boston.
Seit 2001 Gruppenleiterin am
MPI für Hirnforschung, Abteilung Neuroanatomie, in Frankfurt a. M.
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