Glaube und soziale Gerechtigkeit „Gerechtigkeit“ in den biblischen Schriften ist ein Beziehungsbegriff von zentralem Rang. Sie umfasst alle Dimensionen menschlichen Seins: die persönliche, die soziale und die transzendente. Sie beschreibt ein Leben, in dem der Mensch nicht unter seinen Möglichkeiten bleibt. Er kann sie in ihrer Tiefe erreichen und realisieren. Auf unterschiedliche Weise gehen Altes wie Neues Testament davon aus, dass dies erfüllbar ist. „Gerechtigkeit“ gehört damit nicht ins Reich weltferner Ideale. Sie lässt sich einklagen und durchleuchten. Als Lackmustest gilt der Zustand der jeweiligen Sozialordnung. Weder alt- noch neutestamentliche Schriften wissen von einer Aufspaltung der Wirklichkeit in getrennte Bereiche. Die verschiedenen Dimensionen menschlichen Seins werden stets zusammengedacht. Wo das Sozialgefüge aus der Balance gerät, da ist auch das Gottesverhältnis angetastet. Altes Testament Im Alten Testament sind es vor allem die Propheten, die unermüdlich auf diesen Umstand hinweisen. Sie treten als scharfe Kritiker all jener auf, die die soziale Ordnung zu ihren Gunsten aus dem Gleichgewicht bringen. Ungerechtigkeit ist nicht nur Chancenvernichtung und damit Lebensbeeinträchtigung anderer; sie ist zugleich immer ein Angriff auf Gott. Amos ist der erste Prophet, der Glaubenskritik mit Sozialkritik verbindet. Er bereitet ein Verständnis vor, das „Gerechtigkeit“ als Parteinahme für jene begreift, die sich selbst nicht helfen können. Gott selbst fordert eine solche Parteinahme ein. 11-12Ich kenne eure Vergehen, eure zahllosen Verbrechen! Ihr beutet die Armen aus und verlangt von ihnen hohe Abgaben an Korn. Ihr verfolgt ehrbare Bürger, nehmt Bestechungsgelder an und verweigert den Schutzlosen ihr Recht. 21Der Herr sagt: »Ich hasse eure Feste und kann eure Feiern nicht ausstehen. 22Eure Brandopfer und Speiseopfer sind mir zuwider; das gemästete Vieh, das ihr für das Opfermahl schlachtet, kann ich nicht mehr sehen. 23Hört auf mit dem Geplärr eurer Lieder! Euer Harfengeklimper ist mir lästig! 24Sorgt lieber dafür, dass jeder zu seinem Recht kommt! Recht und Gerechtigkeit sollen das Land erfüllen wie ein Strom, der nie austrocknet. (Amos 5) Trifft das Überangebot von Waren auf das Unterangebot an Kaufkraft, kann sehr schnell eine spiralige Entwicklung entstehen, in der die Arbeitskräfte auch die Produkte anderer Arbeitnehmer nicht mehr kaufen und die dann auch ihre Arbeit verlieren usw. Die anderen Propheten ziehen diese Linie weiter aus. Inhaltlich aber wird sich kaum noch etwas ändern. „Gerechtigkeit“ garantiert menschliches Dasein in seiner Komplexität. Sie ist objektiv festgeschrieben als Gesetzeskatalog und zugleich individuelles Alltagstun, dem sich niemand entziehen kann. Sie ist praktizierbar und überprüfbar. Zugleich ist damit die weitest mögliche Perspektive eröffnet. Denn Gerechtigkeit ist eines der wesentlichen Attribute Gottes. Mit „Gerechtigkeit“ verbindet sich durchgehend die Vorstellung einer konkreten Ordnung. Sie ist von allen einzuhalten. Sie ist ein Rechtsgut, auf das jede/r Anspruch hat. Dieses Gut strukturiert und gewährleistet das soziale Miteinander. Es stabilisiert zugleich die individuelle und kollektive Gottesbeziehung. Neues Testament Die neutestamentlichen Schriften verschärfen diese Sicht, indem sie das Moment der persönlichen Verantwortlichkeit radikalisieren. In Reich-Gottes-Gleichnissen werden die Hörer und Hörerinnen zu einem Handeln aufgerufen, das ihren Alltagserfahrungen entgegenläuft. Eben dieses Handeln gegen den „gesunden Menschenverstand“ erfordert ihren ganzen Einsatz. Fast immer geht es darum, die Selbsterhaltung zugunsten eines Engagements für andere zu minimieren und so Gerechtigkeit zu schaffen. Gerechtigkeit ist zuallererst das Recht der anderen: Wenn das von allen so durchgehalten würde, käme niemand zu kurz. Die Ordnung, die Jesus dabei entwirft, lässt sich zwar benennen. Sie ist aber nur dann existent, wenn sie individuell in ganz konkreten Situationen verwirklicht wird. Im persönlichen Tun scheint das Reich Gottes auf, d. h. jede/r Einzelne ist für dessen Erscheinen mit verantwortlich. Jede und jeder soll sich schon jetzt so verhalten, wie es künftig für alle bindend sein wird. Recht und Gerechtigkeit werden unlösbar an die einzelne Person gebunden. In solcher Betrachtungsweise schwingt eine tiefe Skepsis gegenüber einem Verständnis mit, das „Gerechtigkeit“ quasi juristisch verankern will. Zwar kommt auch dieser Versuch nicht ohne subjektiven Beitrag aus. Faktisch aber besteht die Ordnung auch dann, wenn sie nicht eingehalten wird. Die Reich-Gottes-Visionen dagegen treten in kritische Distanz zu allen Versuchen, „Gerechtigkeit“ rein objektiv festschreiben zu wollen. Sie misstrauen jeglichen innerweltlichen Normierungen. Sie sehen nicht, dass durch sie tatsächlich „Gerechtigkeit“ garantiert ist. Man könnte auch sagen: Sie wissen um deren Vorläufigkeit. Im Gegenzug umreißen sie eine Ordnung, die von vornherein wandelbar und fragil ist, abhängig jeweils von der subjektiven Realisierung. Entscheidend im Reich Gottes ist, dass die Einzelnen sich darum bemühen, den Herzgesetzen Gottes zu folgen. Wir erleben eine Spirale von erhöhter Arbeitslosigkeit und abnehmender Kaufkraft. Dies hat schwere Folgen für das gesamte soziale System. Neben das Motiv der Gerechtigkeit tritt hier das Motiv der Liebe. Sie darf nicht verwechselt werden mit einem romantischen Gefühl. Liebe ist immer konkrete Zuwendung. Für Jesus ist sie die Grundorientierung in allen Begegnungen und allem Engagement. Exemplarisch steht dafür das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Matthäus 20, 1-16: Dort wird ein Verhalten skizziert, das einen einschneidenden Perspektivwechsel voraussetzt: nicht das Selbstinteresse steht im Vordergrund, sondern die Wahrnehmung fremder Bedürfnisse. Die Arbeiter der ersten Stunde protestieren in dem Gleichnis gegen eine Lohnauszahlung, die sie mit den Arbeitern der letzten Stunde gleichstellt. Alle erhalten 1 Denar – so viel, wie damals nötig war, um den täglichen Bedarf zu decken. Ihre Beschwerde wird zurückgewiesen und verurteilt. Die Grenzüberschreitung dieses Gleichnisses besteht in seinem Spiel mit gängigen Erwartungen, die es demonstrativ enttäuscht. Das gewöhnliche Rechtsempfinden wird auf den Kopf gestellt. Jesus löst die Gerechtigkeitsvorstellung von dem Kriterium der Verhältnismäßigkeit (die Arbeiter der ersten Stunde sind wütend, weil sie sich mit denen der letzten Stunde vergleichen) und stellt an ihre Stelle das der Empathie. Sie ermöglicht einen Perspektivwechsel, aus dem sich ganz neue Einblicke ergeben: Ein Denar deckt das Tagesbedürfnis einer Familie. Die Ersten erhalten, wie vereinbart, das Lebensnotwendige. Die zuletzt Gekommenen werden damit beschenkt. Konzentriert man sich auf sie, dann treten plötzlich jene ins Rampenlicht, die sonst immer im Schatten bleiben. Dann geht es nicht mehr um Leistung und Anspruch, sondern um Unterstützung der Benachteiligten, der Schwächeren und Chancenloseren. Dann wird den Unterlegenen der Weg verbaut, sich über die noch Schwächeren zu stellen. Dann gibt es keine Möglichkeit mehr, eine neue Rangordnung zu konstruieren. Selbst die Ausgesonderten betrachtet Jesus nicht mit verklärtem Blick. Ihnen mutet er nicht weniger zu als den gesellschaftlich Begünstigten. Dafür steht die Figur des Weinbergbesitzers. Nach wirtschaftlichen Maßstäben handelt der Weinbergbesitzer unvernünftig. Keinem Unternehmer würde es jemals einfallen, auf diese Weise mit seinem Kapital umzugehen. Die Gesetze des Marktes schreiben ein anderes Verhalten vor. Der Weinbergbesitzer löst sich aus diesen Zwängen und sorgt dafür, dass alle eine Grundlage erhalten, die ihnen ein (Über-)Leben ermöglicht. Nicht nur die Arbeiter der ersten Stunde müssen auf einen Mehrgewinn verzichten, sondern erst recht der Herr des Weinbergs selbst. Er gibt viel mehr her als jeder einzelne Arbeiter, ohne allerdings damit seinen Betrieb zu ruinieren. Er verabschiedet sich nur von einer höheren Gewinnmarge. Die Botschaft Jesu an seine Hörerinnen und Hörer lautet: Im Reich Gottes kann niemand beanspruchen, mehr wert zu sein als andere. Es wird Unterschiede geben, aber kein Oben und Unten. Die Stärkeren teilen ihre Stärke mit den Schwächeren. Sie sind in besonderer Weise gefordert. Von ihnen wird mehr erwartet. Doch wie die Letzten sind auch die Ersten im Reich Gottes Beschenkte. Sie erhalten den größtmöglichen Lohn: das ganze Leben. Jesus bleibt mit diesem Gleichnis nicht im theologisch Unverbindlichen. Er spielt den Ball zurück in die Alltagswirklichkeit. Gemeinsamkeit statt Konkurrenz, lautet das Motto! Unterstützung statt Wettbewerb! In den letzten Jahrzehnten sind die Reallöhne im unteren Bereich in der Bundesrepublik Deutschland am stärksten in der kapitalistischen Welt zurückgegangen. Die Reich-Gottes-Visionen umreißen ein Gerechtigkeitsmodell, das in seiner sozialen Ausrichtung herrschaftskritisch und ökonomieskeptisch ist. Wer großzügig handelt, hat kein Interesse daran, sich in Machtpositionen zu bringen. Wo liebevolle Solidarität das Handeln leitet, kann es keine Herrschaft mehr geben. Die Wirtschaft wiederum ist nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtet, sondern auf Existenzerhaltung. Humanität kommt vor Ökonomie. Das erfordert einen Interessenausgleich, der nicht auf Besitzstandswahrung fußt, sondern auf fairem Teilen. Ein solches Modell besitzt Zukunftspotential, erst recht im Angesicht eines global entfesselten Marktes, der längst die Überlebensgrundlagen der Menschheit zerstört. Folgerungen Glaube nach biblischem Verständnis reicht immer über das eigene Selbst hinaus. Erst im konkreten Weltbezug gewinnt er seine Gottesverbindung. Er ist durchweg handlungsorientiert. Das ist die gemeinsame Wurzel von Judentum und Christentum. Christlicher Glaube berührt stets eine gesellschaftspolitische Ebene. Er hat von jeher eine soziale Ausrichtung. Er kann weder moderat sein noch unbeteiligt. Von Anfang an mischt er sich in ungerechte Verhältnisse ein. Er ist sozusagen „justiert“ auf Gerechtigkeit und damit entschiedene Parteinahme für die Unterlegenen und Hilfebedürftigen in der Gesellschaft. Christlicher Glaube ist nicht herrschaftsfreundlich. Er steht auf der anderen Seite. Es ist nicht seine Aufgabe, ökonomische oder soziale Schieflagen theologisch zu legitimieren. Konsequenzen „Gerechtigkeit“ ist Chancenvielfalt für alle. Gerecht ist, was zu einem Leben in Würde verhilft. Dazu gehört ganz konkret die Frage der finanziellen Ausstattung jeder und jedes Einzelnen. Das aber bedeutet: soziale Gerechtigkeit lässt sich nicht erreichen in einer ungerechten Gesellschaftsordnung. Es reicht nicht aus, für mehr Arbeitsplätze zu kämpfen, wenn es niemals Arbeitsplätze für alle geben kann. Es langt nicht, die Folgen des sozialen Abstiegs mildern zu wollen, wenn der (Selbst-)Wert des Menschen vorrangig nach ökonomischen Maßstäben gemessen wird. Für die fernere Zukunft ruft alles nach einer Wirtschaft, in der demokratisch geplant wird, was der Markt nicht selbst vernünftig regeln kann. Herausragende Aufgabe christlichen Glaubens ist es, über die jeweiligen Systeme hinaus zu denken, anstatt sich in ihnen einzurichten. Soziale Gerechtigkeit für alle ist gegenwärtig nur realisierbar, wenn ein Systemwechsel vorgenommen wird. Das Konkurrenzmodell mit seinem angeblich freien Wettbewerb ist perspektivlos. An seine Stelle muss ein Gemeinschaftsmodell treten. Hauptziel muss die solidarische Existenzsicherung aller Gesellschaftsglieder sein. Dies ist gegenwärtig am ehesten in der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für jede und jeden realisierbar. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ist mehr als eine Frage der Verteilung. Sie besitzt visionäre Transformationskraft, die tief in das gesellschaftliche Gefüge eingreift. Sie ist ein permanentes Unruhemoment, unbequem, aber absolut notwendig für jede Gemeinschaft, die zukunftsfähig bleiben will. 9 Thesen 1. Soziale Gerechtigkeit ist kein unerreichbares Ideal. 2. Soziale Gerechtigkeit ist das Fundament jeder funktionierenden Gesellschaft. 3. Soziale Gerechtigkeit muss institutionell verankert sein und individuell verwirklicht werden. 4. Die Einlösung sozialer Gerechtigkeit lässt sich nicht in einer gesellschaftlichen Ordnung erreichen, die Ungerechtigkeiten festschreibt. 5. Soziale Gerechtigkeit braucht Gemeinschaftsdenken. 6. Praktizierte Gerechtigkeit wirkt immer über den persönlichen Bereich hinaus. 7. Gerechtes Handeln sichert Zukunft. 8. Wo soziale Gerechtigkeit herrscht, kann es keine Armut geben. 9. Soziale Gerechtigkeit verlangt nach einer angemessenen finanziellen Existenzsicherung aller. Wolfgang Blaffert