Philipp Weber - Ernst Kreneks Auseinandersetzung mit dem

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Philipp Weber
Zwischen Avantgarde und Tradition –
Ernst Kreneks Auseinandersetzung mit dem Neoklassizismus
„Klassizität“, „Antiromantik“, „Sachlichkeit“, „Klarheit“, „absolute Musik“,
„Rationalität“, „Objektivität“, „Handwerklichkeit“ – all dies sind gängige
Attribute, welche zur Beschreibung jener musikalischen Bewegung des 20.
Jahrhunderts dienen, die gemeinhin unter der Bezeichnung
Neoklassizismus bekannt ist. Zur Überwindung des subjektiven
Geniekults und gesteigerten Ausdrucksbedürfnisses der (Spät-)Romantik
sowie des Expressionismus fühlten sich ab den 1920er Jahren viele
Komponisten verstärkt von den Idealen älterer Musik – vor allem des 18.
Jahrhunderts – angezogen, deren Formen und Satztechniken sie in eine
moderne Tonsprache zu integrieren suchten.
In seiner gut 70jährigen Schaffenszeit wandte sich zeitweise auch Ernst
Krenek dieser Strömung zu, wobei dieser Phase seines überaus
umfangreichen und stilistisch vielfältigen Werks bisher weniger Beachtung
geschenkt wurde. Durch seinen Lehrer Franz Schreker, der seinen
Schülern besonders Bach und Max Reger als Vorbilder empfahl, bekam
Krenek eine äußerst gründliche Unterweisung in traditionellen
Kontrapunkttechniken, was in einer Vielzahl von frühen Fugen und
Kanon-Kompositionen dokumentiert ist (auch sein Opus 1a ist eine
Doppelfuge). Nachdem Krenek Schreker 1920 nach Berlin gefolgt war,
emanzipierte sich der junge Komponist nachhaltig von dem
spätromantischen Stil seines Lehrers, behielt jedoch eine stark
kontrapunktische Ausrichtung in seinen Werken bei. Unter den
Eindrücken des neuen künstlerischen Umfeldes und Persönlichkeiten wie
Ferruccio Busoni, Eduard Erdmann und Artur Schnabel entwickelte
Krenek einen freiatonalen, radikal-polyphonen Stil. Durch Busoni, der zu
jener Zeit seine Idee der „jungen Klassizität“ proklamierte und den er in
Berlin persönlich kennenlernte, kam Krenek erstmals mit einer
antiromantischen Kunstanschauung in Berührung, die in vielem
neoklassizistischen Idealen verwandt war.
Prägend für Kreneks konkreten Kompositionsstil jener Zeit war jedoch vor
allem der Schweizer Musiktheoretiker Ernst Kurth und dessen Buch
Grundlagen des linearen Kontrapunkts: Eine Einführung in Stil und
Technik von Bachs melodischer Polyphonie, wie Krenek u.a. in einem
Interview betonte:
„Es war ein sehr aufregendes Buch, es hat auf meine Idee der Autonomie
der Musik, einer Musik, die also ihr eigenes Leben führt, eingewirkt. Auch
die Musik, die ich damals geschrieben habe, war stark davon beeinflußt.“1
Prinzipien der Motiv- und Melodiegestaltung und Linienführung, die Kurth
in Bachs Stil identifizierte, kommen tatsächlich in Kreneks frühen
Kompositionen – allerdings in radikal modernem Kontext – zur
Anwendung. So findet sich auf dem „Höhepunkt“ des
hochkontrapunktischen Streichquartetts Nr. 1 op. 6 (1921) eine
ausgedehnte Doppelfuge, in der die vertikalen Zusammenklänge als das
zufällige Resultat höchst unabhängig agierender Linien erscheinen. Im
Folgejahr schrieb Krenek ein Werk, das die gleichen Elemente innerhalb
einer bis dato völlig vernachlässigten, barocken Form aufweist: das
Concerto grosso (Nr. 1 op. 10; Krenek verwendet hier die typische
Ritornellform, Imitations-, Kanon- und Fugentechniken und greift im 2.
Satz auch auf das barocke Modell der Passacaglia mit ihrem
unablässigen Ostinato im Bass zurück. Ähnliche Tendenzen finden sich in
den Folgewerken: der Symphonischen Musik Nr. 1 op.11 sowie der
Toccata und Chaconne für Klavier op. 13. Als Anhang zur atonalen
Toccata schrieb Krenek noch die humorvolle Kleine Suite op.13a, die das
Thema des Hauptwerkes sowohl in traditionellen Tanzcharakteren, so
etwa in einer tonalen Allemande im Bachstil, einer Sarabande, einer
Gavotte und in einem Walzer, als auch in einem modernen Foxtrott
erscheinen lässt.
Mit Ausnahme dieser größtenteils tonalen Suite erklingen die
neoklassizistischen Tendenzen in Kreneks Werken der Berliner Zeit unter
der Oberfläche einer avantgardistischen, oft expressiven Tonsprache und
sind für den Hörer nicht immer auf Anhieb erkennbar. Die Periode 19211923, in der besonders auch Kreneks erste Symphonien und Opern im
Vordergrund stehen, wird daher gewöhnlich als „freiatonale
1
Aus Eberhardt Klemm: Gespräch mit Ernst Krenek, in: Jahrbuch Peters 1980, Hg. Eberhardt Klemm, Leipzig:
Edition Peters, 1980, S. 209.
Phase“ bezeichnet und erst die darauf folgende als die
„neoklassizistische“.2
Zu Beginn seiner zweijährigen Zeit in der Schweiz (Ende 1923-1925), die
von dem bedeutenden Kunstmäzen Werner Reinhart finanziert wurde,
war es vor allem der Einfluss Igor Strawinskys und dessen Pulcinella
Suite (er hörte das Werk im Dezember 1923 anlässlich der Winterthurer
Uraufführung seines Klavierkonzerts op. 18), der bei Krenek ein
verstärktes Interesse am neoklassizistischen Komponieren auslöste:
„Und ich sah und hörte Strawinsky, der gerade mit seiner Pulcinella-Suite
das Zeitalter des ‚Neoklassizismus‘ einleitete. Sofort war ich versucht,
seinem Beispiel zu folgen. Ich schrieb ein paar Stücke, die sich dieser
stilistischen Manier annäherten, also dem konzertanten Barock-Stil des 17.
und 18. Jahrhunderts, und sie erhielten auch die entsprechenden Titel
Concertino und Concerto grosso. Sie sind natürlich völlig anders als
meine beiden Symphonien und die Oper. Sie sind knapper in der Form,
leichter in der Substanz, spielhaft und weniger aggressiv.“3
Im Unterschied zu den Kompositionen der Berliner Zeit näherte sich
Krenek in den genannten Werken Concerto grosso Nr. 2 op. 25 und
Concertino für Flöte, Violine, Cembalo und Streichorchester op. 27 nun
auch in Textur, Gestik sowie konzertanter Musizierfreude der
Barockmusik, wobei die Tonalität wieder an Bedeutung gewinnt. So sind
beide Kompositionen, wie Krenek auch in seinen Memoiren Im Atem der
Zeit erwähnt, teilweise deutlich dem Charakter Bachs Brandenburgischen
Konzerten nachempfunden. Schon das 4. Streichquartett, das erste in der
Schweiz vollendete Werk, trägt deutlich neoklassizistische Züge. Die
ursprüngliche Version des finalen Satzes bewegt sich ganz in klassischen
melodischen und rhythmischen Mustern und greift Elemente aus Mozarts
Jupitersinfonie auf.4 Zu diesen im engeren Sinne neoklassizistischen
Werken gehört ebenfalls die Kleine Suite für Klarinette und Klavier, op. 28,
die Krenek seinem Förderer Werner Reinhart, der auch Klarinettist war,
widmete. Wie schon die Kleine Suite op. 13a enthält diese neben
barocken Satztypen wie Präludium, Air, Bourrée auch einen „Modernen
Tanz“, der foxtrottartige Rhythmen aufweist.
2
So u.a. bei Lothar Knessl: Ernst Krenek, Wien: Verlag Elisabeth Lafite, 1967.
Ernst Krenek: Ernst Krenek. Der wandelbare Komponist, in: Das musikalische Selbstportrait. Von Komponisten,
Dirigenten, Instrumentalisten, Sängerinnen und Sängern unserer Zeit, Hg. Josef Müller-Marein und Hannes
Reinhardt, Hamburg: Nannen-Verlag GmbH, 1963, S. 182 4
Da der offensichtlich klassizistische Stil des Schlusssatzes Krenek später zu weit ging, verfasste er eine
zurückhaltendere Version und übernahm von der ersten lediglich die Coda. 3
In der Schweiz hatte Krenek die Gelegenheit, Strawinsky, den
eigentlichen Inaugurator des Neoklassizismus, persönlich näher
kennenzulernen. Man traf sich nicht nur im Hause Reinhart, sondern auch
in Genf, wo Krenek Ende November des Jahres 1924 Strawinskys
Aufführungen seines Concerto pour piano et orchestre d’harmonie und
dessen Octuor pour instruments à vent hörte. Der Bläserklang dieser
Werke beeindruckte Krenek so sehr, dass er schon während seines
anschließenden Aufenthalts in Paris als offensichtliche Hommage für
Strawinsky mit der Komposition seiner Symphonie pour instruments a
vent et batterie op. 34 begann. Das Pariser Kulturleben übte nachhaltigen
Eindruck auf Krenek aus:
„In Paris bekam ich den Eindruck, daß Musik nicht nur wild und
expressionistisch zu sein hat und abgekehrt und einsam, sondern, daß sie
sich auch an die Gesellschaft wenden kann, an das Publikum, und
versuchen kann, Anschluß zu erreichen an die Gemeinschaft.“5
Auch wenn Krenek hier mit dem französischen Neoklassizismus und mit
Vertretern der Komponistengruppe „Les six“ wie Darius Milhaud und
Arthur Honegger in Berührung kam, so führten diese Begegnungen doch
weniger zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der klassischen und
barocken Musik, die ihm zunehmend akademisch vorkam, als vielmehr zu
einer Wiederentdeckung der Tonalität und einer Hinwendung zum
Publikum. Diese neue Tendenz gipfelte schließlich in der Oper Jonny
spielt auf. Der enorme Erfolg dieses Werkes, das Kreneks romantische
Kompositionsphase einleitete, stellte die zuvor entstandenen
neoklassizistischen Kompositionen gewissermaßen in den Schatten.
Jedoch ist ihre Bedeutung für das künstlerische Gesamtwerk Kreneks
wie auch für die Bewegung des Neoklassizismus im Allgemeinen nicht
gering zu schätzen. Das Zweite Concerto grosso etwa fand in den
zwanziger Jahren weite Verbreitung und beeinflusste auch andere
Komponisten bis hin zu Béla Bartók, der das Werk 1925 in Prag hörte und
sich ab Mitte der 1920er Jahre selbst mit dem Neoklassizismus
auseinandersetzte.
5
Ernst Krenek: Im Gespräch mit Hans Bünte, in: Porträts aus dem Musikerleben, Hg. Karl B. Schnelting,
Frankfurt am Main: Fischer, 1987, S. 59.
Philipp Weber schloss 2008 sein Magisterstudium der Musikwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre an der
Universität Hamburg ab. Es folgten verschiedene Praktika, u.a. beim Schottverlag in Mainz sowie der Abschluss
eines weiterführendes Zertifikatsstudium in BWL an der Fernuniversität in Hagen 2010. Seit 2009 promoviert er
unter Betreuung von Prof. Dr. Claudia Maurer-Zenck über das Thema „Ernst Kreneks neoklassizistische
Kompositionen“ am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg.
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