„Dolly spielt auf!“ Anmerkungen zu Krenek aus Anlass einer Auseinander– setzung mit Wiens Jazzszene der Zwanzigerjahre Wer sich mit Wiens Jazzszene der Zwanzigerjahre beschäftigt, stößt nicht nur in Kommentaren zu Jazzkonzerten auf publizistische Spuren von Kreneks Oper über einen schwarzen Jazzmusiker. Auf den Titel des Werks wurde auch angespielt, als Anfang 1928 zwei schwarze singende Jazzschlagzeuger wegen Handgreiflichkeiten vor Wiener Richtern standen. Der erste der beiden Fälle, die sich fast zugleich ereignet hatten, betraf Creighton Thompson, einen in der Geschichte der afroamerikanischen Musik nicht unbekannten Gast aus den USA, und führte zu Überschriften wie „Thompson spielt auf“ und „Jonny exzediert“. Thompson wurde freigesprochen und zog bald weiter. Der andere Beschuldigte hieß Adolf Morgens, nannte sich Dolly und fasste wegen eines provozierten Fausthiebs („Dolly spielt auf“) eine Geldstrafe aus. Dieser heute vergessene Musiker, ein in Chemnitz geborener Sohn eines afroamerikanischen Artisten und einer sächsischen Schaustellerin, der sich 1926 in Wien niedergelassen hatte, stand zu Kreneks Werk in einer konkreteren Beziehung als Thompson, was er selbst und die Journalisten allerdings nicht wissen konnten. Krenek, über dessen erste Begegnungen mit dem Jazz zu seinen Lebzeiten wenig bekannt war, hielt 1943 in seinen bis 1998 unter Verschluss gehaltenen Erinnerungen fest, vor seiner Übersiedlung nach Berlin habe er in Wien 1920 eine „urzeitliche Jazzband“ erlebt, unter deren Eindruck er sich entschlossen habe, „mit Jazz herumzuexperimentieren“. Er bezeichnete die 2 „angeblich importierte“ Band nicht näher und gab keine Hinweise auf ihre Besetzung und ihr Repertoire, aber seine Beschreibung des, wie er meinte, von „Gaunern“ betriebenen Lokals erlaubt eine eindeutige Zuordnung. Was Krenek sah, war die erste ausländische Jazzband in Wien und eine der ersten hier nachweisbaren Jazzbands überhaupt. Sie kam im September 1921 – nicht 1920, wie Krenek glaubte – aus Berlin ins Schwarzenberg-Kasino, wo die Brüder Leupold, zwei der angesehensten Gastronomen Wiens, einen „Cercle des Etrangers“ eröffnet hatten, und verschwand Anfang Oktober, als sie aus Prag ein lukratives Angebot bekam. Dass ihr, wohl schon als Schlagzeuger, Dolly angehörte, folgt aus einem Zusatz („Von der Jazzband“) zu seiner gesonderten Ankündigung mit „amerik. Song und Niggertänzen“ in einem erhalten gebliebenen Programm des Cercle. Die Band schien darin nur als „Original Amerik. Jazzband“ auf, aber Werbetexte in den Zeitungen verrieten, dass es die Jazzband der „Ross Brothers“ war, als deren Leiter ein vom Frankfurter Jazzhistoriker Hans Pehl entdecktes Inserat den deutschen Pianisten und Jazzpionier Fred Ross benennt. Krenek studierte damals schon in Berlin und sah die Band, die von dort kam, während eines seiner Besuche bei seinen Eltern in Wien. Es scheint keinen Hinweis darauf zu geben, dass er hier während ihrer jeweils monatelangen Gastspiele auch 1922 das afroamerikanische Syncopated Orchestra oder 1925 den schwarzen Jazztrompeter Arthur Briggs erlebte, mit denen 1922 Oscar Straus und 1925 der bei Egon Wellesz studierende Brite Patrick Cairns „Spike“ Hughes und vielleicht auch Alban Berg und Adorno in Berührung kamen. Über Fred Ross, den Leiter der Band im Cercle des Etrangers, ergibt sich aber eine Parallele zu Aaron Copland, dem Komponisten aus Brooklyn, der bald darauf in den USA das Verhältnis der Konzertmusik zum Jazz erneuerte. Ross hielt sich 1923 fast das ganze Jahr hindurch in Wien auf, wo er 2 3 ab Juli ein Quartett im Parisien leitete, zu dem sich im August noch die Spitzenkraft des frühen deutschen Jazz, der Klarinettist und Saxophonist Eric Borchard, hinzugesellte, und es besteht kaum ein Zweifel, dass es vor allem diese Band war, der Copland sein den Jazz betreffendes Schlüsselerlebnis während seines Wienaufenthalts von Juni bis Oktober 1923 verdankte. „It was then that I hit upon the idea that great things were to be expected from this sort of music for the evolution of our own“, heißt es im englischen Original von Kreneks Erinnerungen über seinen Besuch im Schwarzenberg-Kasino. Copland verwendete fast die gleichen Worte: „It was then that I first began to realize the potentiality of jazz material for use in serious music.“ Ein und derselbe deutsche Jazzpianist und Bandleader half mit Auftritten in Wien diese jeweils gleiche Wirkung auf beide Komponisten auszuüben. Kreneks Weg von seiner Begeisterung für die „animalistische Musik“ der Band im Schwarzenberg-Kasino zu seinem Welterfolg mit Jonny spielt auf führte über kleinere einschlägige Werke zu einer ersten „Foxtrott-Oper“ und im Herbst 1924 zur Arbeit an einer Operette, von der er sich finanzielle Unabhängigkeit erhoffte. Das Projekt, für das er schon im Frühjahr 1924 einen „Stoff mit reichlicher Möglichkeit für amerikanische Tanzrhythmen“ gesucht hatte, scheiterte, als Krenek, der jetzt in der Schweiz lebte, bei Verhandlungen in Wien Ende März/Anfang April 1925 für das fertige Werk keine Bühne fand. Schon im Jänner dieses Jahres, so Krenek in seinen Erinnerungen, hatte er nach einer Tanzvorführung in Zürich die Skizze verfasst, aus der später Jonny spielt auf entstand. Krenek war im Dezember 1924 kurz in Paris gewesen, eine Reise, der er große Bedeutung für seine persönliche Entwicklung beimaß und die im Schrifttum als auslösendes Moment für Jonny gilt, weil die Oper als das Werk „für Paris“ gedeutet wird, das Krenek danach schaffen wollte. Die von ihm schon in einem Vortrag von 1927 und 1928 und auch später 3 4 noch wiederholt erwähnte Tanzvorführung, nach deren Besuch er die erste Skizze geschrieben habe, fand aber nicht, wie Krenek meinte, im Jänner, sondern erst in der zweiten Aprilhälfte 1925 statt. Dieser von Bruno Spoerri in einer jazzgeschichtlichen Arbeit aufgedeckte Umstand vergrößert den Abstand der Skizze zum Parisbesuch und rückt sie in die Zeit unmittelbar nach dem Scheitern der Operette, ein in Kreneks Darstellung und in der seines Biographen John Stewart nicht erkennbarer, interessanter Zusammenhang. Schon die Operette enthielt Jazz- und Eisenbahnmotive, und die Oper mit ebensolchen Elementen bescherte Krenek den kommerziellen Erfolg, auf den er es mit der Operette abgesehen hatte. Die Skizze blieb freilich vorerst liegen, während Krenek – der sie in seinem Vortrag einem „definitiven Verzicht auf Unterstützung durch zeitgenössische Geister“ zuschrieb – mit einem Librettisten in Freiburg über einen Opernstoff verhandelte. Im Herbst 1925 übersiedelte er nach Kassel, wo er ins Theaterleben eintauchte und noch Anfang November einen Operntext eines Schauspielers erwähnte, mit dessen Vertonung er demnächst beginnen wolle. Nach Wien kam in diesem Monat die Revue der Chocolate Kiddies, einer Gruppe afroamerikanischer Sänger und Tänzer mit Sam Woodings Jazzorchester, von deren Wienbesuch Krenek allerdings nichts wusste. Er sah die Produktion, die von Mai bis Juli schon in Berlin gezeigt worden war, am Silvesterabend in Frankfurt und empfahl die „fabelhaften“ Kiddies seinen Eltern, „wenn sie je nach Wien kommen“. Der Hinweis auf diese Briefstelle schien in John Stewarts Biographie von 1991 den letztlich ausschlaggebenden Impuls für Kreneks Arbeit an Jonny aufzuzeigen. Auf den Frankfurter Revuebesuch wurde nun die Entscheidung für eine schwarze Hauptfigur zurückgeführt, und zu Kreneks Musik heißt es in einem preisgekrönten Buch eines New Yorker Kritikers: „he seized on Wooding's polite jazz arrangements as a lifeline that would lead him out of the 4 5 abysses of Central European despair“. In Kreneks Erinnerungen, die Stewart noch nicht kannte, ist der Revuebesuch nur das Vorspiel zu einem Geschlechtsverkehr. Die Musik der Kiddies bleibt, wie schon in Kreneks Brief an seine Eltern, unerwähnt, und das Handlungsgerüst der Oper mit ihrem schwarzen Helden stand seit Anfang Dezember 1925 fest, wenn Krenek in seinem Vortrag in diesem Punkt die Wahrheit sagte. Verbindungen gibt es aber. Jonny singt ein Zitat aus Stephen Fosters bekanntester Komposition, die bei den Kiddies vorkam und in ihrem Programm, wie dann auch bei Krenek, als „altes Negerlied“ bezeichnet war, und die legendäre Attacke, mit der sich Julius Korngold bei der Wiener Premiere auf Kreneks Werk stürzte, setzte in musikalischer Hinsicht fort, was er über das Gastspiel der Chocolate Kiddies schrieb. Schon die Ross Brothers im Schwarzenberg-Kasino hatten einen Journalisten zu einem Artikel über „Jazzband und Wiener Musik“ inspiriert, aber der Besuch der Chocolate Kiddies löste in Wien wie in Deutschland eine Vielzahl von Stellungnahmen zum Jazz aus. 1925 beging man zudem den hundertsten Geburtstag von Johann Strauß, ein Anlass für besonders intensive Klagen über die Entthronung des Walzers durch den Jazz. „Weg vom Jazz – zurück zum Walzer!“ überschrieb Korngolds Neue Freie Presse am Weihnachtstag einen Angriff auf den Jazz, in dem auch die Chocolate Kiddies noch einmal verunglimpft wurden. Kreneks Oper kreist um diesen Konflikt, wenn es in ihr an zentraler Stelle heißt, die „neue Welt“ erbe die alte „durch den Tanz“. Im Oktober 1925, nur Wochen vor der Entstehung von Kreneks Szenario, war auch die Zeichnung des Künstlers Zasche, die Johann Strauß mit der Geige auf einer Weltkugel zeigte, in einem zum Jubiläum erschienenen Band reproduziert worden. Jonnys gleichartige Apotheose in der Oper gibt die Antwort darauf und verankert die „Antithese“, von der Krenek in seinem Vortrag sprach, in den Auseinandersetzungen des Jahres 1925. 5 6 Der spektakulärste Effekt des Werkes, die Ankunft einer Lokomotive, die eine Hauptfigur zermalmt, erinnerte Korngold an einen Varietésketch in Wien, dessen Titel er nur mehr fehlerhaft wiedergeben konnte. Beschreibungen dieses Sketchs in einem Jazzhistorikern vertrauten Fachblatt von 1920 konkretisieren Korngolds Hinweis und verleihen ihm Gewicht. Die „Szene mit dem heranrollenden Expreßzug“, heißt es da in Berichten aus dem Ronacher, sei „nervenaufpeitschend“, „spannend“ und „aufregend“ und verdiene „höchstes Lob“, wovon auch Krenek, der damals noch in Wien lebte, gehört haben konnte. Seine Charakterisierung Daniellos, der Figur, die er unter den Zug geraten lässt, beleuchtet Kreneks – von Stewart wohl zu nachsichtig beurteilte – Einstellung gegenüber Schwarzen: Mit dem Hinweis auf eine „für den weißen Zivilisationsmenschen annehmbare gepflegte Außenseite“ umschrieb er in seinem Vortrag den Umstand, dass Daniello kein „Neger“ sei. Schwarze Jazzmusiker war man in Wien gewohnt, als Kreneks Werk Ende 1927 in die Staatsoper kam. Mit dem Syncopated Orchestra und den Chocolate Kiddies waren zwei große afroamerikanische Ensembles hier gewesen, dazwischen und danach Arthur Briggs, nach ihm Obdulio Villas „Schwarze Philharmoniker“, die am 1.1.1927 auch im Konzerthaus auftraten, und zuletzt, in den Wochen vor der Premiere der Oper, eine Gruppe unter der Leitung des schwarzen Jazzposaunisten Earl Granstaff. In diesen letzten Wochen fand auch eine Zeitungsumfrage statt, bei der „musikverständige Wiener“ von Alban Berg bis Grete Wiesenthal um ihre Meinung zum Jazz gebeten wurden und sich meist freundlich äußerten. Was Staatsoperndirektor Schalk antwortete, klang anders und bildete, am Tag vor der Premiere gesondert veröffentlicht, den Auftakt zu dem Skandal, den Konservative wie Korngold und ihnen folgend Wiens noch nicht zahlreiche Nationalsozialisten um Jonny entfesselten. Auch das Kirchenblatt nahm sich der 6 7 Sache an, und zuletzt fand sogar der Erzbischof mahnende Worte. Sechs Jahre später, als das Bundesheer gerade auf Gemeindebauten schoss und die Regierung Wiens Bürgermeister verhaften ließ, warb Krenek beim Nachfolger dieses Bischofs für sein neues Zwölftonwerk, von dem er meinte, es verkörpere „wie kein zweites“ die „Philosophie“ der von ihm unterstützten Dollfuß-Regierung. Dolly, der schwarze Jazzmusiker, der Krenek schon 1921 aufspielte und wohl das früheste Vorbild der Bühnenfigur war, mit der ihn die Berichte über seinen Prozess verglichen, gab 1931 den „Jazzsänger“ in einer Lehár-Operette und verließ Wien erst nach dem Anschluss. Vom Vater her amerikanischer Staatsbürger, aber des Englischen nur unvollkommen mächtig, verbrachte er sein Leben im Exil in engem Kontakt mit den jüdischen Flüchtlingen, in deren Lokalen in New York und mit deren Künstlern zusammen er in den Kriegsjahren auftrat. Die Wiener Lieder dieses „waschechten Amerikaners“, hieß es im Aufbau, zauberten „den Prater aus der guten, alten Zeit des Bürgermeisters Seitz nach New York“. Konrad Nowakowski Belegstellen und nähere Einzelheiten zu diesen Anmerkungen rund um Jonny finden sich in den beiden Beiträgen des Verfassers zu dem Band Anklaenge 2011/2012, Wiener Jahrbuch für Musikwissenschaft, Mille Tre Verlag, Wien 2012 (Jazz in Wien: Die Anfänge bis zur Abreise von Arthur Briggs im Mai 1926 und Krenek, Baker – und Briggs? Der Aufstand gegen die „Vernegerung Wiens“ Anfang 1928). Konrad Nowakowski, in Tirol geboren, lebt seit 1976 in Wien, war in Reissueprojekte und Originalproduktionen mit Aufnahmen von Bluespianisten involviert und hat Artikel zu Details der amerikanischen Blues- und Jazzgeschichte veröffentlicht. Die nähere Befassung mit der Wiener Jazzszene der Zwischenkriegszeit ergab sich erst 2008 bei der Auswertung alter Zeitungen für einen Beitrag über das Syncopated Orchestra. 7