DZPhil, Akademie Verlag, 61 (2013) 3, 353–356 Schwerpunkt: Praktisches Wissen Jemand kann wissen, dass heute die Sonne scheint, und jemand kann wissen, dass er gerade ein Risotto kocht. Der Unterschied zwischen beiden Wissensakten scheint zunächst einmal ein Unterschied im Inhalt dessen zu sein, was er weiß. Dass heute die Sonne scheint und dass er gerade Risotto kocht, sind zwei verschiedene Tatsachen, die jeweils der Inhalt eines Wissensaktes sein können. Freilich, die Tatsachen, die jeweils gewusst werden, so wird man hinzufügen wollen, sind in beiden Fällen in einer bestimmten Hinsicht von anderer Art: Im einen Fall handelt es sich um eine, wie man sagen könnte, theoretische Tatsache, und im anderen Fall um eine praktische Tatsache, nämlich eine Handlung, und zwar nicht einfach um irgendeine Handlung, sondern um die Handlung des Wissenden selbst. Es gibt, so wird man also zugestehen, einen offensichtlichen Unterschied zwischen beiden Wissensakten. Doch wie ist dieser zu begreifen? Nach einer langen philosophischen Tradition, die auf Aristoteles zurückgeht und die so unterschiedliche Philosophen wie Thomas von Aquin, Kant und Hegel umfasst, ist dieser offensichtliche Unterschied zwischen beiden Wissensakten nur zu begreifen, wenn man ihn nicht bloß als einen Unterschied im jeweiligen Inhalt des Wissens versteht, sondern als einen Unterschied in der Form des Wissens. Die Vernunft, die die Quelle beider Wissensakte ist, ist nach dieser Tradition ein Vermögen, das in zwei grundlegend verschiedenen Formen aktualisiert werden kann: einmal so, dass sie theoretisches Wissen hervorbringt, und einmal so, dass sie praktisches Wissen hervorbringt. Dass jemand praktisches Wissen hat, heißt nach dieser Tradition also nicht einfach, dass sein Wissen einen praktischen Inhalt hat, sondern es heißt, dass es eine praktische Form hat. Der Unterschied zwischen theoretischem Wissen und praktischem Wissen bezeichnet nicht einen Unterschied zwischen Inhalten des Gewussten, sondern einen Unterschied in der Form der Beziehung zum Inhalt des Wissens. Worin besteht dieser Unterschied? Der locus classicus für die Formulierung dieses Unterschieds findet sich bei Thomas von Aquin, der die Natur praktischen Wissens so charakterisiert: Praktisches Wissen ist „die Ursache dessen, was gewusst wird“, im Unterschied zu so genanntem „spekulativen Wissen“, das „von den erkannten Objekten abgeleitet ist“.1 Wer etwas theoretisch weiß, der hat Wissen von einem Gegenstand, dessen Wirklichkeit unabhängig davon ist, dass er gewusst wird; wer hingegen etwas praktisch weiß, der hat Wissen von einem Gegenstand, dessen „Ursache“ dieses Wissen selber ist. Bei Kant finden wir mehrere Formulierungen für den Unterschied zwischen theoretischem und praktischem Wissen. Etwa folgende: „Ich begnüge mich hier, die theoretische Erkenntnis durch eine solche zu erklären, wodurch ich erkenne, was da ist, die praktische aber, dadurch ich mir vorstelle, was da sein soll.“2 Theoretisches Wissen ist Wissen von dem, „was ist“. Praktisches Wissen ist Wissen von dem, „was sein soll“. Blickt man auf diese Formulierung, könnte man meinen, Kant würde theoretisches und praktisches Wissen durch ihren jeweiligen Inhalt voneinander unterscheiden. So als wäre das, „was da sein soll“, ein 1 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, 1 a, II ae, Q 3, art 5, obj. 1. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 661. 2 Unauthenticated Download Date | 5/11/16 8:19 PM Einleitung 354 besonderer Inhalt, den wir neben dem, „was da ist“, auch erforschen und erkennen können. Wenn wir nun aber betrachten, wie Kant erläutert, was es heißt, Wissen von dem zu haben, „was da sein soll“, dann wird klar, dass die oben gegebene Formulierung des Unterschieds nicht die grundlegende ist. Die grundlegende Erläuterung des Unterschieds gibt Kant dort, wo er erklärt, dass das Wissen von dem, was sein soll, sich von theoretischem Wissen dadurch unterscheidet, dass es in einem unterschiedlichen Verhältnis zum Gegenstand der Erkenntnis steht. „Erkenntnis“, so erklärt Kant, „kann auf zweierlei Art auf ihren Gegenstand bezogen werden, entweder diesen und seinen Begriff (der anderweitig gegeben werden muß), bloß zu bestimmen oder ihn auch wirklich zu machen. Die erste ist theoretische, die andere praktische Erkenntnis der Vernunft.“3 Praktisches Wissen, so können wir beide Bestimmungen zusammennehmen, ist genuin wirksames Wissen, das heißt, es ist Wissen von einem Gegenstand, nämlich dem, was sein soll, dessen Wirklichkeit von diesem Wissen abhängig ist. Während theoretisches Wissen demnach in einem passiven Verhältnis zu seinem Gegenstand steht, steht praktisches Wissen in einem produktiven Verhältnis zu seinem Gegenstand. Um beispielsweise zu wissen, dass heute die Sonne scheint, muss ich nachschauen; ich muss durch den Gegenstand meines Wissens sinnlich affiziert werden, eben weil das, was ich in diesem Fall weiß, unabhängig von meinem Wissen existiert. Anders im Fall praktischen Wissens: Um zu wissen, dass ich gerade ein Risotto zubereite, muss ich nicht erst nachschauen, was ich tue. Und zwar deshalb nicht, weil mein Handeln gar nicht unabhängig davon existiert, dass ich von ihm weiß. Wenn ich ein Risotto zubereite, dann bin ich in dem, was ich tue, durch mein Wissen um dieses Tun geleitet. Ich weiß im und durch mein Handeln von meinem Tun. In der empiristisch geprägten Tradition der analytischen Philosophie ist die Idee einer genuin praktischen Form der Vernunft weitgehend verschwunden. Nach Hume gibt es bekanntlich nur eine, nämlich die theoretische Vernunft. Im Praktischen beschränkt sich die Rolle der Vernunft deshalb auf die Erkenntnis der Handlungsumstände und der geeigneten Mittel zur Umsetzung der durch Wünsche vorgegebenen Zwecke. Als solche kann die Vernunft niemals selbst eine Quelle der Handlungsmotivation sein. Weshalb der Mensch, insofern er vernunftbegabtes Wesen ist, auf die Rolle eines passiven Beobachters gegenüber der Welt festgelegt ist. In das Geschehen der Welt greift er letztlich nur ein, insofern er begehrendes Wesen ist. Die Idee einer praktischen Erkenntnis und eines vernünftigen Motivs müssen dieser Tradition daher fremd bleiben. Weite Teile der zeitgenössischen Ethik und Handlungstheorie sind nach wie vor von dieser Tradition bestimmt. Das zeigt sich etwa in der metaethischen Diskussion zwischen Kognitivisten und Non-Kognitivisten: Die Kognitivisten argumentieren, dass ein moralisches Urteil eine Erkenntnis ist, weshalb es selbst nicht praktisch wirksam sein kann. Umgekehrt argumentieren die Non-Kognitivisten, dass ein moralisches Urteil praktisch wirksam ist, weshalb es selbst jedoch keine Erkenntnis sein kann. Offenbar liegt diesem Disput die implizite Annahme zu Grunde, dass ein geistiger Akt nicht zugleich praktisch wie erkennend sein kann. Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis kommt hier nicht einmal in den Blick. Die Dominanz der empiristischen Tradition zeigt sich aber ebenso in den Diskussionen der analytischen Handlungstheorie. Donald Davidsons einflussreiches Wunsch-Überzeugungs-Modell des Handelns ist hierfür ein Beispiel. Nach diesem Modell ist die kognitive Dimension des Handelns auf die Auswahl geeigneter Mittel beschränkt; das, was mich zum Handeln motiviert, ist hingegen letztlich ein Wunsch – oder in Davidsons Terminologie: eine Pro-Einstellung. Wiederum lässt die klare Trennung zwischen der kognitiven und der motivationalen Dimension der 3 Ebd., B X.; vgl. zu den verschiedenen Formulierungen bei Kant S. Engstrom, The Form of Practical Knowledge, Cambridge/Mass. 2009, 118 f. Unauthenticated Download Date | 5/11/16 8:19 PM 355 DZPhil 61 (2013) 3 Handlungserklärung keinen Raum für die Idee einer praktischen Erkenntnis oder einer genuin vernünftigen Ursache. Die in diesem Schwerpunkt versammelten Beiträge eint das Bestreben, den Begriff des praktischen Wissens für die gegenwärtige Handlungstheorie wiederzugewinnen. Sie eint die Einsicht, dass die Orientierung an der humeanischen Tradition zur Folge hat, dass der besondere Charakter, den das menschliche Handeln gegenüber dem tierischen Handeln annimmt, nicht angemessen in den Blick gerät. Menschliches Handeln, so möchte man sagen, ist ein Handeln aus Gründen, die nicht hinter meinem Rücken liegen, sondern als solche erkannt sind. Wenn ich etwas absichtlich tue, schließt dies für gewöhnlich ein, dass ich weiß, was ich tue und warum ich es tue. Wir halten es nicht für eine unsinnige Frage, wenn uns jemand fragt „Was machst du gerade?“. Und ebenso wenig halten wir es für eine unsinnige Frage, wenn die Antwort, die wir auf diese Frage geben, wie etwa „Ich suche Salz“, die Rückfrage hervorruft: „Warum machst du das“? Und in der Regel können wir diese Frage ohne weiteres beantworten, etwa indem wir sagen: „Weil ich gerade Risotto mache.“ Setzt man das humeanische Modell des Handelns voraus, muss der selbstbewusste Charakter menschlichen Handelns jedoch rätselhaft bleiben. So vermag etwa Davidsons WunschÜberzeugungs-Modell nicht zu erklären, warum der Vollzug einer absichtlichen Handlung mit Wissen einhergehen sollte. Denn die Tatsache, dass ich etwas tue, weil ich einen Wunsch und eine instrumentelle Überzeugung habe, schließt nicht ein, dass ich auch weiß, was ich tue und warum ich es tue. Um das zu verstehen, so argumentieren die in diesem Schwerpunkt versammelten Aufsätze, müssen wir Handeln als eine bestimmte Form von Bewegung verstehen, deren Ursache als solche selbstbewusst ist. Und dies zu verstehen, so die Idee, heißt nichts anderes, als den Begriff des praktischen Wissens zu verstehen. Wenn diese Beschreibung zutreffend ist, dann gehört der Begriff des praktischen Wissens zu Recht ins Zentrum der Diskussion in der praktischen Philosophie. Doch wie die in diesem Schwerpunkt versammelten Beiträge zeigen, kann diese Einsicht selbst nur der Ausgangspunkt einer philosophischen Auseinandersetzung mit diesem Begriff sein, einer Auseinandersetzung, die gerade erst begonnen hat. Die folgenden Beiträge liefern allesamt einen Beitrag zu dieser Diskussion, indem sie die verschiedenen Facetten und Probleme dieses Begriffs ausleuchten. Douglas Lavin vertritt in seinem Beitrag die These, dass sich der Begriff praktischen Wissens nur angemessen im weiteren Rahmen eines aristotelischen Handlungsmodells verstehen lässt. Demnach setzt sich der Begriff absichtlichen Handelns nicht aus grundlegenderen Elementen zusammen – wie die humeanische Tradition in der Handlungstheorie annimmt –, sondern beschreibt eine eigenständige Form der Bewegung, die Lavin sowohl im Anschluss an Aristoteles als auch an zeitgenössische Neo-Aristoteliker wie Michael Thompson entwickelt. Durch die Einbettung des Begriffs des praktischen Wissens in die Auseinandersetzung zwischen Aristotelismus und Empirismus verknüpft Lavin die Diskussion zugleich mit einer methodologischen Reflexion auf die konkurrierenden Erklärungsstrategien in der zeitgenössischen Philosophie. David Horst argumentiert in seinem Beitrag, dass dem Verständnis des Begriffs des praktischen Wissens die in der zeitgenössischen Philosophie weit verbreitete Fregesche Doktrin des Unterschieds von Kraft und Gehalt im Weg steht. Nach dieser Doktrin setzen sich mentale Zustände aus zwei unabhängigen Elementen zusammen: einem Gehalt und einer kausalen Kraft. Dieses Analysemodell, so Horst, macht es jedoch unmöglich, zu verstehen, wie eine Vorstellung qua praktische Vorstellung Wissen sein kann. Die Herausforderung, die eine Wiederbelebung der aristotelischen Tradition in sich birgt, besteht daher nach Horst in der Artikulation einer Alternative zu diesem verbreiteten Modell mentaler Zustände. Unauthenticated Download Date | 5/11/16 8:19 PM Einleitung 356 John McDowell geht in seinem Beitrag der für das Verständnis praktischen Wissens zentralen Frage nach, in welchem Verhältnis dieses Wissen zu Beobachtungswissen steht. Wenn praktisches Wissen produktives Wissen ist, dann, so scheint dies nahezulegen, schließt dies aus, dass es Beobachtungswissen sein kann. Ausgehend von der Interpretation einzelner Passagen aus G. E. M. Anscombes Intention vertritt McDowell die These, dass praktisches Wissen zwar verschieden, aber nicht unabhängig von Beobachtungswissen ist. Beide Formen des Wissens stehen in einem komplexen Ergänzungsverhältnis, denn sie beleuchten, wenn man so will, unterschiedliche Aspekte meines Handelns: Als Bewegung in der materiellen Welt weiß ich von meinem Handeln durch Beobachtung; als Ausführung meiner Absicht kann ich von meinem Tun hingegen nur praktisch wissen. Auch Anton Ford ist der Ansicht, dass das Verhältnis von Wahrnehmung und praktischem Wissen im Handeln komplexer ist, als es zunächst den Anschein hat. Nach Ford verlangt die Klärung dieses Verhältnisses insbesondere die Bestimmung einer eigenständigen Form von Wahrnehmung, die Ford praktische Wahrnehmung nennt. Diesen Begriff entwickelt Ford im Anschluss an Aristoteles’ Ausführungen zum praktischen Schließen in der Nikomachischen Ethik. Die entscheidende Idee ist dabei, dass die uns im Handeln orientierende Wahrnehmung nicht im Blick eines unbeteiligten Beobachters besteht, sondern intern auf die praktische Perspek­tive des Handelnden bezogen ist: Durch die Zwecke, die wir verfolgen, nehmen wir die uns umgebende Welt als ein Hindernis oder eine Gelegenheit wahr. Matthias Haases Beitrag interpretiert und verteidigt eine zentrale These Hegels. Das Vermögen zu handeln, so Haase im Anschluss an Hegel, ist das Vermögen der Vernunft, die Welt gemäß ihrem Begriff zu verändern und in dem so Veränderten ihre Tat zu erkennen. Das schließt wesentlich ein, dass der Handelnde erkennt, was er getan hat. Diese Dimension praktischen Wissens wird in der gegenwärtigen Diskussion jedoch zumeist ausgeblendet. Denn diese beschränkt sich zumeist auf die Frage, wie der Handelnde von seinen fortlaufenden oder zukünftigen Handlungen weiß. Solange man jedoch nicht erklärt, wie der Handelnde von seiner abgeschlossenen Tat weiß, kann man auch nicht begreifen, wie er von der Wirksamkeit seines eigenen Willens wissen kann. Nach Haase besteht die eigentliche Herausforderung an ein Verständnis praktischen Wissens mithin in der Erläuterung, wie der Handelnde sich selbst im Anderen – den Dingen in der Welt – erkennen kann. Andrea Kern, Leipzig; David Horst, Jerusalem Unauthenticated Download Date | 5/11/16 8:19 PM