CENTRE FOR THE STUDY OF MANUSCRIPT CULTURES Sonderforschungsbereich 950 Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa Wissenschaftliches Teilprojekt B03 Manuskriptkultur und Chant Communities. Die Organisation des Wissens in Handschriften mit polyphoner Musik des sogenannten Notre-Dame-Repertoires Prof. Dr. Oliver Huck Eva Maschke, M.A. Projektbeschreibung Das mit Notre Dame de Paris assoziierte Repertoire polyphoner Musik des 12. und frühen 13. Jahrhunderts ist das zentrale, mit den Komponisten Leonin und Perotin verbundene Korpus hochmittelalterlicher Mehrstimmigkeit. Die vier erhaltenen Manuskripte sowie eine Reihe von Fragmenten versammeln als Multiple-Text-Manuscripts mit Organa, Conducti sowie teilweise Klauseln und Motetten Repertoires mehrerer musikalischer Gattungen. Seit dem 13. Jh. lässt sich damit insofern von einer Manuskriptkultur europäischer Handschriften mit mehrstimmiger Musik sprechen, als diese sich durch ihre Funktionen und ihre visuelle Organisation von liturgischen Büchern mit musikalischer Notation zunehmend abgrenzen lassen. Musik wird im europäischen Mittelalter jedoch primär als eine Handlung verstanden, die sich im Falle der mehrstimmigen Musik als das Singen in einer Gemeinschaft von Experten (Chant community) beschreiben lässt. Der Notator einer Musikhandschrift visualisiert und organisiert das Wissen über die Aus- und Aufführung in der Notation der Musik. Bis in das 15. Jahrhundert hinein werden Teile des Notre-Dame-Repertoires immer wieder neu aufgezeichnet und gesungen. Ziele Fragment eines Musikmanuskripts aus dem vormaligen Dominikanerkloster Frankfurt am Main als Makulatur, heute New York, Columbia University, Rare Book and Manuscript Library, Inkunabel N-66, mit dem Schluss des Conductus Porta salutis ave und dem Anfang des Conductus Sursum corda elevate. keit und die produktionsästhetische Vorstellung eines „Magnus liber organi“ gepräg- Manuskriptkultur mehrstimmiger Musik des Mittelalters in Europa te Sicht auf das Notre-Dame-Repertoire durch eine Beschreibung der Organisation In der europäischen Musikkultur spielen Manuskripte noch weit über die Einführung des Wissens an verschiedenen Orten über dieses Repertoire und seiner Umbrüche des Drucks von Musik seit dem 15. Jh. hinaus eine zentrale Rolle. Bei der Herstel- innerhalb der Manuskriptkultur abzulösen und erstmals eine diachrone Untersu- lung von Manuskripten mit musikalischer Notation wird das Notieren stets als ein chung zur visuellen Organisation des Wissens in Manuskripten mit mehrstimmiger eigener Arbeitsschritt angesehen, der weder mit dem Schreiben eines (hier ver- Musik des 13. und 14. Jahrhunderts vorzulegen und damit deren Pluralität und Wan- standen als der Musik zugeordneten liturgischen oder poetischen) Textes, noch mit del zu beschreiben. Die visuelle Organisation des Manuskripts wird dabei mit den dem Buchschmuck identisch ist und dessen Ziel – ganz unabhängig davon, ob die objektbezogenen kulturellen Praktiken innerhalb einer Gemeinschaft von Sängern Notation der erklingenden Musik vorausging oder nachfolgte – darin bestand, das (Chant community) in Beziehung gesetzt. Aus der Analyse der Unterschiede im Ge- Wissen über die Aus- und Aufführung von Musik zu organisieren und die Musik zu brauch von Zeichen und Layouts für ein und dassel- visualisieren. be Stück in verschiedenen Manuskripten lässt sich Wissen ist in der musikalischen Überlieferung vor allem ein Wissen über die Aus- die diskursive Funktion des Notierens innerhalb ei- und Aufführung der in den Manuskripten aufgezeichneten Musik. Seit dem 13. Jh. ner Chant community, aber auch die Aktualisierung schließt das schriftlich überlieferte Wissen über Musik neben den Tonhöhen auch des Wissens in nachfolgenden Generationen und die zeitliche Organisation mit ein. Dabei ist es (im Gegensatz zur heutigen No- der Kulturtransfer des Wissens über die Aufführung tenschrift) nicht das einzelne Zeichen, das für sich eine Tondauer repräsentiert, von Musik in andere Chant communities nachvoll- sondern stets die Relation mehrerer Zeichen zueinander, die auch rein visuelle ziehen. Merkmale (Zeichenabstand und -gruppierung) mit einbegreift. Die Zeit von 1200 bis Ziel ist es, die nach wie vor durch die Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlich- 1430 ist durch zahlreiche Umbrüche gekennzeichnet hinsichtlich der Art und Weise, wie musikalische Manuskripte die zeitliche Ordnung insbesondere von mehrstimmiger Musik organisieren. Der Grundbestand der Zeichen der Nota quadrata als einer Beschnittenes Doppelblatt aus einer makulierten Musikhandschrift, Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek, Gammel kongelige Samling 1810, 4°. Die Notation der beiden Organa Alleluia. Epulemur in azimis und Gaude Maria. Gabrielem archangelum. Gloria weist bereits mensurale Elemente auf. zunächst regionalen Ausprägung diastematischer Neumen wird dabei erweitert und die Bedeutung der Zeichen über die Bezeichnung der Tonhöhen hinaus mit Informationen zur Tondauer aufgeladen.