Wandel der Pflege – Neue Kompetenzen für Pflegekräfte

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Prof. Dr. Karl-Heinz Sahmel
Fachhochschule Ludwigshafen
Wandel der Pflege – Neue Kompetenzen für Pflegekräfte
Vortrag auf der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege
am 16.2.2011 in Berlin
1. Vorbemerkungen
Wovon reden wir, wenn wir üblicherweise von „Pflege“ reden? In der Regel ist die
Rede von Krankenpflege, zumeist noch enger von Krankenhauspflege. Erst deutlich
danach sprechen wir auch von der (weniger angesehenen) Altenpflege. Auch hier
hat sich jedoch inzwischen eine Einschränkung der Perspektive auf die Versorgung
kranker Alter, also Schwerstpflegebedürftiger in Altenheimen eingebürgert; vielleicht
geht es noch um die pflegerische Versorgung von zu Hause lebenden alten kranken
Menschen durch Mitarbeiterinnen von Sozialstationen (also ambulante Versorgung).
Meines Erachtens ist es notwendig, einen breiteren Pflegebegriff zu thematisieren!
Was bedeutet gegenwärtig „Wandel der Pflege“? In Krankenhäusern gibt es eine
deutliche Tendenz der Arbeitsverdichtung und Beschleunigung, verbunden mit der
Tendenz des Betten-Abbaus. In der stationären Altenpflege, die bislang sehr stark
auf die Eingruppierung von Pflegebedürftigen in krankheitsorientierte „Pflegestufen“
beschränkt wird (da hier – in der Refinanzierung von Leistungen – der Fokus der
politischen Diskussion liegt), dringt langsam die Demenz-Problematik ein. Vor allem
die ambulante Versorgung stößt bezüglich der Finanzierung deutlich an ihre
Grenzen: offensichtlich wird hier eine weitere Privatisierung von Leistungen
angestrebt. Wie im Neoliberalismus üblich gilt: Nur wer es sich leisten kann, erhält
wohl demnächst eine optimale Pflege und Versorgung, für die übrigen gilt entweder
minimale Versorgung oder Armut.
2
Was diskutieren Experten zur Zeit? Professionalisierung, Akademisierung, Advanced
Nurse Practice und eine Generalistische Ausbildung. Dass diese Neuerungen dabei
tatsächlich auf die neuen Problemlagen in der Pflege vorbereiten, wird zumeist
stillschweigend vorausgesetzt.
Nicht allerdings von mir! Ich will hier eine etwas andere Akzentuierung des Wandels
der Pflege skizzieren und anschließend der Frage nachgehen, welche Kompetenzen
Pflegekräfte zukünftig erwerben bzw. ausformen sollten, um in diesem Wandel nicht
nur erfolgreich zu bestehen (im Sinne von: die damit verbundenen Belastungen zu
überstehen), sondern ihn mit gestalten zu können.
2. Lassen Sie mich einige wenige Dimensionen des Wandels der Pflege ohne
Anspruch auf Vollständigkeit kurz skizzieren, der meines Erachtens in der Zukunft
prognostiziert werden kann.
a) Die
Änderung
des Krankheitsspektrums,
etwa die Zunahme der sog.
`Zivilisationskrankheiten`, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Diabetes
mellitus, Erkrankungen der Atemorgane, Krebs und AIDS, aber auch psychischer
und Sucht-Erkrankungen rücken den Zusammenhang zwischen Lebensverhältnissen
und
Erkrankung immer stärker in das Blickfeld. Entsprechend muss Pflege in
Maßnahmen der Prävention und Rehabilitation immer stärker eingebunden werden
(sofern diese allerdings innerhalb des Gesundheitssystems tatsächlich breit finanziert
werden).
b) Wie angedeutet lassen sich im Krankenhaussektor die Veränderungen unter zwei
Stichworten zusammenfassen:
-
Intensivierung: In der medizinischen Akutversorgung in den Krankenhäusern
kommt es durch starke Verkürzung der Verweildauer zu einer "Verdichtung
der pflegerischen Arbeit auf die intensivpflegerische Betreuung vor oder nach
der Operation bzw. weitgehende Beschränkung auf die Akutphase einer
internistischen Erkrankung" (Brendel / Dielmann 1998, S.13).
3
-
Technisierung:
"Die
Technisierung
wird
vor
allem
durch
die
Akutkrankenhäuser vorangetrieben, in denen insbesondere der diagnostische
Bereich betroffen ist. Ständig werden neue und immer teuerere Geräte, auch
Großgeräte, entwickelt und eingesetzt, die spezialisiertes Personal erfordern...
Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die Organisation der Pflege.
Taylorisierte Arbeit, die von der Medizin und dem Krankenhaus abhängig ist,
wird die beherschende Arbeitsform und prägt (gegenwärtig schon) das Bild
der Pflege" (Stach 1995, S.13) und wird es zukünftig in Krankenhäusern noch
mehr prägen.
c) Im Bereich der stationären Altenpflegeeinrichtungen haben sich Altenheime
verwandelt
in
Altenpflegeheime
mit
einem
extrem
hohen
Anteil
schwerstpflegebedürftiger (multimorbider und gerontopsychiatrisch veränderter)
BewohnerInnen, während rüstige Alte, aber auch chronisch Pflegebedürftige so
lange wie möglich in der heimischen Umgebung bleiben wollen und – sofern dieses
finanziert werden kann – ambulante Hilfen in Anspruch nehmen..
Genau dieser Bereich nun sollte von der Pflege als ein besonders wichtiger Aspekt
des künftigen Wandels thematisiert werden. Was bedeutet „Demographische
Alterung“?
Die gestiegene Lebenserwartung auf der einen und der Geburtenrückgang auf der
anderen Seite werden den Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung deutlich
ansteigen lassen. Zugleich wird der Hilfsbedarf in dieser Lebensphase stark
zunehmen. Der offensichtlich steigenden Zahl an hilfebedürftigen Älteren wird jedoch
voraussichtlich eine geringere Zahl an hilfebereiten Jüngeren (Ehrenamtlichen und
Familienangehörigen) gegenüberstehen.
Zugleich aber sollten wir der gerontologisch immer wieder herausgestellten Tatsache
ins Auge sehen, dass Älterwerden nicht mit Krankwerden gleichgesetzt werden darf.
Auch Höchstaltrigkeit bedeutet nicht notwendig Krankheit, Isolation, Abhängigkeit,
Leben im Heim, „Pflegebedürftigkeit“ im gegenwärtig vorherrschenden Sinne! Wir
werden verstärkt verschiedene Extrempunkte bekommen: Eigenständige und
überaus aktive Alte sowie hinfällige, betreuungsbedürftige, unterstützungsbedürftige
alte Menschen – und diese auch noch in sehr unterschiedlichen sozial-kulturellen
Lebensbedingungen (vgl. Backes u. a. 2004). Das Risiko der „Pflegebedürftigkeit“
4
nimmt mit zunehmendem Alter ebenso zu wie die Gefahr der demenziellen
Erkrankungen – dies ist allerdings keine zwingende Notwendigkeit für alle!
Meines Erachtens ist es dringend notwendig, sich von der somatischen Ausrichtung
des Begriffs der Pflegebedürftigkeit abzuwenden und viel stärker die Aspekte von
Ressourcen und Bedürfnissen der alten Menschen in die pflegerische Arbeit
einzubeziehen. Sollte nicht auch „Lebenszufriedenheit“ als Kategorie der Pflege
thematisiert werden? Andreas Kruse etwa schlägt als zentrale gerontologische
Kategorien Selbständigkeit, Selbstverantwortung und Mitverantwortung, bewusst
wahrgenommene Abhängigkeit vor – sehr wohl mit Blick auf „das letzte Lebensjahr“,
also unter Einbezug der bewussten Auseinandersetzung mit Sterben und mit dem
Tod (Kruse 2007, S.201ff.).
Daneben
sollte
Reaktivierung
der Gesundheitsförderung im
verbliebener
Sinne
Gesundheitsressourcen
von
mit
Aktivierung
dem
Ziel
bzw.
der
Wiedererlangung bzw. des Erhalts der Autonomie eine herausragende Bedeutung im
pflegerischen Arbeiten mit alten Menschen zukommen. Und dies alles unter
besonderer Berücksichtigung der Lebenswelt der älteren Menschen, die es zu
verstehen und zu respektieren gilt.
3. Ich muss die Skizze des Wandels hier abbrechen (Interessierte seien auf die
materialreiche
Dissertation
von
Annette
Riedel: Professionelle Pflege
alter
Menschen, 2007 verwiesen). Zugleich muss ich erneut kritisch auf die bereits
angesprochene Ökonomisierung verweisen. In den letzten Jahren hat der Blick auf
die Kosten der Gesundheitsversorgung und Pflege alle anderen Perspektiven
zunehmend verdunkelt. Die gegenwärtige Diskussion um die Kostenexplosion im
Gesundheitswesen insgesamt lässt in zunehmendem Maße den Patienten bzw.
Klienten außen vor. Stattdessen werden ständig Wirtschaftlichkeitsprinzipien im
Zusammenhang mit unterschiedlichen Formen der Leistungsgewährung und erstellung betont.
Wie ist auf den Wandel zu reagieren? Und vor allem: Wie wollen wir hier
argumentieren? Geht es um eine Reaktion auf Markt-Probleme?
– Oder sollten
pflegewissenschaftliche und pflegepädagogische Perspektiven in den Vordergrund
5
rücken? Wie Sie zu Recht vermuten, vertrete ich die zweite Position. Mir geht es
vorrangig
um
den
konsequenten
Übergang
vom
derzeit
vorherrschenden
medizinisch-technischen zu einem sozialpflegerischen Paradigma.
Zunächst einmal: Wer sind zur Zeit die im Pflegebereich Tätigen – und inwiefern sind
sie auf die zukünftigen Herausforderungen vorbereitet?
-
Wir haben die „klassische“ Krankenschwester in einem von der Medizin (und
der Technik) dominierten enger werdenden Krankenhaussektor.
-
Daneben gibt es die „Gesundheits- und Krankenpflegerin“, die vor allem für
Beratung, Schulung (ich sage lieber: „Aufklärung“) von Patienten zuständig ist
und
in
den
Bereichen
Entlassmanagement,
Übergangsmanagement,
Verknüpfung von stationärem und ambulantem Bereich ebenso Verantwortung
übernimmt wie in den Bereichen Prävention und Rehabilitation. Sie hat diese
Inhalte in der Ausbildung kennengelernt – zumindest in der Theorie. Die
Praxis der Gesundheitsversorgung hinkt hier noch stark hinter berechtigten
Ansprüchen her.
-
Wir haben Pflegeexperten, einige wenige akademisierte Pflegekräfte, es ist
davon auszugehen, dass ihre Zahl durch Studiengänge zum Bachelor of
Nursing zunehmen wird. Welche Aufgaben diese hochqualifizierten Kräfte
zukünftig im Gesundheitssystem übernehmen werden, ist noch völlig unklar.
Ob diese Aufgaben pflegespezifisch sein werden, oder ob es – qua Delegation
kurativer Aufgaben – zur Kompensation eines drohenden Ärztemangels
kommen wird, ist offen.
-
Wir haben die „klassische“ Altenpflegerin, die wohl auch weiterhin als
Fachkraft in Pflegeheimen vornehmlich für die medizinisch-pflegerische
Versorgung alter Kranker zuständig ist. Gemeinsam mit Krankenpflegerinnen
ist sie auch in der ambulanten Versorgung tätig.
-
Neben Fachkräften haben wir schon jetzt im Pflegebereich eine wachsende
Zahl von Hilfskräften und zum Teil ehrenamtlich Tätigen, an die zunehmend
diverse Aufgaben delegiert werden (etwa der wichtige Umgang mit demenziell
Erkrankten) und die über sehr unterschiedliche (formale) Qualifikationen
verfügen.
6
Ob sich zukünftig an diesem Mix von qualifizierten und weniger qualifizierten
Personen im Pflegebereich etwas ändern wird, wage ich zu bezweifeln. Und ob die
angestrebte generalistisch ausgebildete Pflegefachkraft eine Lösung der Probleme
darstellt, wage ich ebenfalls zu bezweifeln. Ich habe eher den Eindruck, als wenn
zukünftig ohne inhaltliche Diskussion vorschnell die Altenpflege „abgewickelt“ werden
soll.
Es gibt noch lange keine Einigung darüber, welches Pflegeverständnis einer
integrierten
oder
generalistischen
Ausbildung
zugrunde
liegen
soll.
In
Pflegewissenschaft und Pflegetheorie-Entwicklung ist eine deutliche Dominanz von
„Krankenhauskrankenpflege“ feststellbar (vgl. Becker 1996, S.90). Integration darf
aber nicht bedeuten, dass mehrere Ausbildungsgänge einseitig auf akute und
vorrangig
somatische
Behandlung
von
Krankheit
in
einem
einzigen
Versorgungssystem (vorrangig dem Krankenhaus) konzentriert werden, es ist
vielmehr notwendig, den Akzent der Altenpflege (Betreuung und Beratung) in
gemeinsamen Ausbildungsgängen hervorzuheben. Auch die Schlussfolgerung, in
den vielfältigen Modellversuchen der letzten Jahre sei nachgewiesen worden, eine
Integration aller drei Ausbildungsgänge zu einem einzigen Berufsbild sei notwendig,
ist bei näherer Analyse so nicht eindeutig zu ziehen (vgl. Sahmel 2010).
Zu
diskutieren
wäre meines
Erachtens
eine
Fachkraft-Ausbildung,
in
der
gleichberechtigt medizinisch-pflegerische und sozialpflegerische wie insbesondere
gerontologische Erkenntnisse verbunden werden mit dem Blick auf das künftige
Handlungsfeld Pflege vor allem Älterer und Alter in der sozialen Lebenswelt. Eine
„Gemeinde-Familien-Gesundheits-Alten-Kranken-Pflegekraft“. Ob diese Kraft studiert
haben muss, oder doch eher eine Ausbildung mit großen praktischen Anteilen
absolvieren sollte, lasse ich erst einmal offen.
4. Statt hier nun nämlich auf der Ebene der Strukturen von Ausbildungen Vorschläge
zu unterbreiten, möchte ich lieber eine inhaltliche Linie weiter verfolgen: Was
bedeutet der bislang skizzierte Wandel der Pflege bezüglich der Frage nach den
Kompetenzen der Pflegekräfte?
7
Gestatten Sie mir zunächst als (kritischer) Pädagoge den viel gebrauchten Begriff
„Kompetenzen“ etwas genauer kritisch zu betrachten!
Schon
der
berufspädagogische
Vorgänger-Begriff,
das
Konzept
der
„Schlüsselqualifikationen“ erwies sich als widersprüchlich (vgl. Müller-Seng / Weiss
2002): der bildungsökonomisch verstandene Begriff zielte weitgehend auf berufliche
Funktionalität und geriet in Gegensatz zum Begriff der „Bildung“.
Die Konjunktur des inzwischen fast inflationär gebrauchten Begriffs Kompetenz ist in
einem ähnlichen Licht zu sehen. Die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse in einer
globalisierten Welt machen verstärkt einen „flexiblen Menschen“ (um mit Richard
Sennett zu reden) notwendig und der Begriff „Kompetenz“ steht für größere
Eigenständigkeit, Autonomie und Handlungsfähigkeit, ist aber zugleich auch mit
Steigerung der Produktivität und Leistungsbereitschaft verknüpft (vgl. Vonken 2005,
S.87). Der flexible, sich selbst organisierende Mitarbeiter wird zunehmend zu seinem
eigenen Unternehmer. Dieser Individualisierung entspricht im Neoliberalismus eine
deutliche Tendenz zum Rückzug des Staates aus der Verantwortung für Bildung und
zum Rückgang der Bereitschaft von Unternehmen, sich um Weiterbildung zu
kümmern - „lebenslanges Lernen“ liegt in der Eigenverantwortung eines jeden
Einzelnen.
Allerdings sind diese Prozesse dialektisch anzusehen: Wir haben daneben weiterhin
auch ein Verständnis von Kompetenz im Sinne von Bildung. Dies kann etwa
anknüpfen an die pädagogischen Überlegungen von Heinrich Roth, der schon
Anfang der 1970er Jahre Kompetenz verbunden hat mit dem Begriff „Mündigkeit“:
diese „ist als Kompetenz zu interpretieren, und zwar in einem dreifachen Sinne:
a) als Selbstkompetenz (self competence), d. h. als Fähigkeit, für sich selbst
verantwortlich handeln zu können,
b) als Sachkompetenz, d. h. als Fähigkeit, für Sachbereiche urteils- und
handlungsfähig und damit zuständig sein zu können, und
c) als Sozialkompetenz, d. h. als Fähigkeit, für sozial, gesellschaftlich und
politisch relevante Sach- oder Sozialbereiche urteils- und handlungsfähig und
also ebenfalls zuständig sein zu können“ (Roth 1971, S. 180).
Diese anthropologisch fundierte Trennung von Person, Sache und Gesellschaft, die
Roth an Mündigkeit bindet und in verantwortliches Handeln einmünden lässt, war in
8
der Folge einflussreich – konkurrierte allerdings mit einem auf Anpassung und
Funktionalität ausgerichteten Kompetenz-Begriff, der sich vor allem in der
Berufspädagogik durchsetzte.
Ein alternatives und kritisches Verständnis von Kompetenz finden wir in der
Gegenwart etwa bei Oskar Negt, der fragt: „Was müssen Menschen wissen, damit
sie in der heutigen Krisensituation begreifen können, was vorgeht; welche
Möglichkeiten gibt es für sie, ihre Lebensbedingungen in solidarischer Kooperation
mit anderen zu verbessern? Mit welchen Orientierungen und Sachkompetenzen
müssen sie ausgestattet sein, um sich in dieser Welt der Umbrüche zurechtfinden zu
können?
Mit
einem
Wort:
Worin
bestehen
die
neuen
gesellschaftlichen
Schlüsselqualifikationen? … Welche Kompetenzen des gegenständlichen Lernens
wären erforderlich, damit die Menschen den Problemen gewachsen wären, welche
die industrielle Zivilisation als ihre eigenen Grenzen mit hervorbringt?“ (Negt 1998, S.
26).
Negt benennt fünf Kompetenzen, die in heutigen Bildungsprozessen zur Entfaltung
kommen sollten (1998, S. 33 ff.):
1) Identitätskompetenz – als Fähigkeit, angesichts permanenter Bedrohung
durch gesellschaftliche Umbrüche sich Identitätsfragen zu stellen.
2) Technologische Kompetenz: Angesichts des permanenten Vordringens neuer
Technologien
bedarf
es
sowohl
kritischer
Wachsamkeit
gegenüber
Zerstörungspotentialen als auch der Nutzung von Technik als Mittel der
Befreiung.
3) Gerechtigkeitskompetenz
–
im
Sinne
von
Sensibilität
für
Enteignungserfahrungen und Fähigkeit zur Wahrnehmung von Recht und
Unrecht, Gleichheit und Ungleichheit.
4) Ökologische Kompetenz – als Befähigung des Menschen zum pfleglichen
Umgang mit der Natur und mit den Dingen.
5) Historische Kompetenz: „Soziales Gedächtnis und Utopiefähigkeit nach vorn
sind zwei Seiten derselben Sache. Sich begrifflich mit dem Vergangenen
auseinanderzusetzen bedeutet nicht die Wiederholung alter Tatbestände und
Fehler, sondern im Gegenteil: Es setzt den Blick frei für Konstruktionen nach
vorn und für eine politische Gegenwartsbewältigung. Erfahrene eigene
Lebensgeschichte in Lernprozessen weiterzuführen, die einen Begriff von
9
allgemeiner Geschichte vermittelt, wäre daher der Weg, sich historische
Kompetenzen anzueignen“ (Negt 1998, S. 43 f.).
5. Ich belasse es bei diesen kurzen allgemeinen Anmerkungen zum Begriff der
Kompetenz; mir ging es darum aufzuzeigen, dass die Verwendung dieses Begriffs –
auch wenn er von der Kultusministerkonferenz präferiert wird – kritisch pädagogisch
zu hinterfragen ist.
Dies gilt auch für den vielfältigen Gebrauch des Begriffs in der Pflege (vgl. Sahmel
(Hrsg.) 2009). Oftmals finden wir eine Aneinanderreihung von Kompetenzen oder die
simple Teilung in Fachkompetenz, personale Kompetenz, soziale Kompetenz und
Methodenkompetenz, ohne dass z. B. deutlich gesagt wird, dass soziale Kompetenz
substantieller Bestandteil der pflegerischen Fachkompetenz ist. Oder es werden viele
neue Kompetenzen erfunden.
Eine intensive Auseinandersetzung mit der gerade aufgewiesenen Ambivalenz
zwischen affirmativem und kritischem Gebrauch der Kategorie „Kompetenz“
unterbleibt zumeist.
Die Unschärfen in der Verwendung des Kompetenz-Begriffs in der Pflege werden
dadurch verstärkt, dass oftmals Bezüge hergestellt werden zu Ausführungen von
Patricia Benner (1994), die im Kontext der us-amerikanischen Pflegeforschung und
-praxis Dimensionen von Pflegekompetenz untersucht hat.
Wichtiger als ihre
Einstufung der Kompetenzen (from novice to expert) erscheint mir, dass Benner der
Erfahrung durch Handlung eine große Bedeutung zuschreibt; neue Erfahrungen
bauen stets auf Vorwissen auf. Sie bestreitet nicht den Nutzen von Theorien und von
(aus diesen abgeleiteten) Regeln und Prinzipien – zumindest für den Anfänger.
Pflegekräfte auf fortgeschrittenen Stufen der Kompetenz haben die Möglichkeit der
Integration neuer Erfahrungen in bereits vorhandene Muster.
Sehr viel differenzierter wird nun Christa Olbrich. Sie knüpft in ihrer 1999
veröffentlichten Dissertation „Pflegekompetenz“ an Benner an und kommt zu einer
diskussionswürdigen Einschätzung derjenigen Kompetenzen, die zur Ausübung des
Pflegeberufs notwendig sind.
Um den Begriff der „Pflegekompetenz“ zu bestimmen, identifiziert Olbrich anhand
von Beschreibungen von bedeutsamen Situationen durch Pflegekräfte vier
Dimensionen pflegerischen Handelns:
10
1. „Regelgeleitetes Handeln: Es beruht auf Fachwissen, Können und einer
sachgerechten Anwendung dieses Wissens. Handeln vollzieht sich innerhalb
der Routine und der vorgefundenen Normen.
2. Situativ-beurteilendes Handeln: Hier tritt die Wahrnehmung und Sensibilität,
die auf eine spezifische Situation gerichtet ist, in den Vordergrund. Die
Orientierung des Handelns erfolgt aufgrund der situativen Einschätzung und
Beurteilung.
3. Reflektiertes Handeln: Innerhalb des reflektierten Handelns ist nicht nur der
Patient Gegenstand der Reflexion, sondern die eigene Person wird als Subjekt
in das Geschehen mit einbezogen. Gefühle und Gedanken werden vom
eigenen Erleben aus artikuliert.
4. Aktiv-ethisches Handeln: In dieser Dimension werden Pflegepersonen aktiv
durch ihr Handeln, Kommunizieren oder Streiten auf der Basis von Werten.
Damit erfolgt Hilfe für den Patienten in einer ethischen Dimension. Wird nach
eigenen Vorstellungen kein Erfolg wirksam, so führt die Reflexion zum
Formulieren von Grenzen“ (Olbrich 1999, S. 57 f.).
Olbrich ordnet diese vier Dimensionen hierarchisch an und weist ihnen verschiedene
Kompetenzen zu (vgl. Olbrich 1999, S. 58):
1. „Fähigkeiten in der Dimension des regelgeleiteten Handelns zu besitzen
bedeutet, Wissen auf einer methodisch handelnden Ebene anwenden zu
können; durch Erfahrungen wird dieses Handeln sicherer und korrekter“
(Olbrich 1999, S. 61).
2. „Kompetenz im situativ-beurteilenden Handeln heißt vor allem, sich in den
Patienten
und
sein
Umfeld
vertieft
einfühlen
und
das Wesentliche
wahrnehmen zu können“ (Olbrich 1999, S. 65).
3. Kompetenz in der Dimension des reflektierenden Handelns „heißt, sich mit
Aspekten seiner eigenen Person auseinandergesetzt zu haben und sich in
selbstreflexiver Weise in das Pflegegeschehen mit einzubringen“ (Olbrich
1999, S. 67).
4. „Kompetenz in aktiv-ethischer Dimension heißt, als Person so stark zu sein,
dass die erkannten Werte innerhalb der Pflege auch aktiv handelnd oder
kommunikativ ausgedrückt werden können und der Patient sichtbare Hilfe
erreicht“ (Olbrich 1999, S. 71).
11
Somit kommt Olbrich zu einer Fülle von Fähigkeiten, die sie als Komponenten von
Kompetenz aufführt (ohne dass diese allerdings in ihrer unterstellten Systematik
überzeugen könnten):
•
die Fähigkeit, Wissen anzuwenden,
•
vertiefte Einfühlung und Wahrnehmung,
•
Selbstreflexion,
•
persönliche Stärke (vgl. Olbrich 1999, S. 73 ff.).
Konsequenzen aus diesem Ansatz für den Pflegeunterricht zieht etwa Ingrid
Darmann-Finck: Wir brauchen in der Ausbildung nicht noch mehr Regelorientierung,
sondern mehr Fähigkeiten, sich auf den individuellen Fall zu beziehen und auch in
ethisch problematischen Situationen argumentativ Stellung zu beziehen. Darüber
hinaus hat Darmann-Finck stets die besondere Bedeutung der Förderung der
kommunikativen Kompetenz in der Pflege betont.
Eine pragmatische, aber dennoch kritische Akzentuierung findet sich bei Uta Oelke.
Sie betont, dass die Rede von der Förderung von fachlicher, personaler, sozialer und
methodischer Kompetenz etwa im § 3 des Krankenpflegegesetzes von 2003 neben
der beruflichen Qualifikation eben auch eine (klar über den Beruf hinausgehende)
personenbezogene
Dimension
umfasst.
Gerade
angesichts
des
historisch
nachgezeichneten Deutungsmusters der „stummen Pflege“ schließt sich Oelke der
Forderung Hartmut von Hentigs „Die Menschen stärken, die Sachen klären“ (1986)
an. Konkret bedeutet hier Förderung der personalen Kompetenz zweierlei:
•
Stabilisierung der Pflegenden im Umgang mit physischen und psychischen,
insbesondere emotionalen Belastungen und
•
Förderung der Reflexionsfähigkeit im Sinne von Selbstreflexion, ethischer
Reflexion und politischer Reflexion (vgl. Oelke 2005, S. 652 ff.).
6. Welche Kompetenzen benötigen nun Pflegekräfte konkret, um den zukünftigen
Anforderungen gewachsen zu sein? Wenn es darum geht, nicht nur im Bestehenden
zu funktionieren, sondern an der Gestaltung eines sich wandelnden Feldes der
Pflege mit zu wirken, dann sind die wichtigsten Handlungsfelder konkret zu
benennen – etwa:
12
- Unterstützung und Pflege alter Menschen in ihrer häuslichen und sozialen
Umgebung
- Beratung und Unterstützung Pflegebedürftiger und ihrer Bezugspersonen
- Hilfen bei Behinderung und Verwirrtheit
- Begleitung Sterbender
- vernetztes Arbeiten mit Professionellen und Laien.
Bezugnehmend auf die oben skizzierten Tendenzen des Wandels lassen sich
notwendige Akzentverschiebungen in der Pflegeausbildung vorläufig inhaltlich
folgendermaßen konkretisieren:
a) Wenn Pflegekräfte vor dem Hintergrund des demographischen Wandels mit einem
erhöhten Anteil alter Menschen und alter Schwer- und Schwerstpflegebedürftiger
sowie mit einem breiten Krankheitsspektrum (insbesondere gerontopsychiatrischer
Art) konfrontiert werden, sollte dies auch einen deutlichen fachlichen Schwerpunkt in
der Ausbildung darstellen.
b) Angesichts des Vorrangs von Prävention und Rehabilitation vor Pflege gewinnen
Gesundheitsförderung sowie rehabilitative und aktivierende Pflege an Bedeutung in
der Ausbildung.
c) Die Fähigkeit zu multiprofessioneller Kooperation wie zur eigenständigen
Koordination und Organisation pflegerischer Arbeit ist zu fördern.
d) „In allen pflegerischen Arbeitsfeldern werden besondere Betreuungssituationen
deutlich (Sterben, chronische Krankheit, psychische Veränderungen etc.), die neben
einer grundständigen fachlichen Kompetenz auch besondere psychosoziale und
kommunikative Kompetenzen erfordern. ...
e) Berücksichtigt man
zudem
Gesundheitsversorgungssystemen,
gesundheitsfördernden,
die
die
kurativen,
zunehmende
`ein
breit
Orientierung
an
gefächertes
Angebot
rehabilitativen
und
primären
an
ergänzenden
Versorgungssystemen bereitstellen, damit die grundlegenden Bedürfnisse der
13
Bevölkerung befriedigt und besonders gefährdete, anfällige und unterversorgte
Einzelpersonen wie Gruppen besonders berücksichtigt werden können`[WHO], so
deuten sich auch damit neue bzw. verstärkt wahrzunehmende Tätigkeitsfelder an, die
bislang im Rahmen der Ausbildungsgänge nur unzureichend Berücksichtigung
finden." (Forschungsgesellschaft 1996, S.248f.)
Um diese Aufgaben zu bewältigen sind vor allem personale und soziale
Kompetenzen zu fördern:
-
personale Kompetenz – im Sinne von Selbständigkeit, Bereitschaft zur
Übernahme von Verantwortung, einem hohen Maß an Einsatzbereitschaft
verbunden mit Frustrationstoleranz,
-
soziale Kompetenz – im Sinne der Herstellung einer Balance zwischen
Selbstverwirklichung und Anpassung an die sozialen Gegebenheiten, als
Entfaltung von Kommunikation und Interaktion mit Anderen, als Kooperationsund Teamfähigkeit und als Konfliktfähigkeit.
Denkt man diese Dialektik von Personalität und sozialem Miteinander weiter, so
erscheint
zugleich
auch
die
Notwendigkeit
der
Entwicklung
von
Reflexionskompetenz, empathischer Kompetenz und interkultureller Kompetenz (als
quasi „querliegende“ Dimensionen) – vielleicht brauchen wir auch so etwas wie
„utopische Kompetenz“. Und mit Blick auf die institutionelle Einbindung pflegerischen
Handelns erscheint auch die Entwicklung strategischer Kompetenz wichtig, deren
Aspekte etwa im „Stuttgarter Modell“ einer Integrierten Pflegeausbildung als
„Planungs- und Steuerungskompetenz“, „Organisations- bzw. systembezogene
Kompetenz“ sowie „gesellschafts- und berufspolitische Kompetenz“
vorgestellt
worden sind.
Allerdings droht diese Auflistung von Kompetenzen – wie andere auch – dann in
relative Beliebigkeit abzusinken, wenn sie nicht mit der eindeutigen Perspektive von
„Mündigkeit“ (im Sinne des vorhin erwähnten Heinrich Roth) verknüpft wird. Es kann
nicht darum gehen, dass wir innerhalb des bestehenden Systems der beruflichen
Bildung in der Pflege eine mehr oder minder deutliche Anpassung an die
bestehenden Strukturen der Pflege vornehmen, wenn diese offensichtlich in
absehbarer Zeit von einem deutlichen Wandel betroffen werden. Es gilt stattdessen,
sehr wohl „die Sachen zu klären“, also gemeinsam mit den Auszubildenden sich
14
kritisch mit den gegenwärtigen Verhältnissen in der Pflege auseinander zu setzen mit Blick auf künftig notwendige Veränderungen, und „die Menschen zu stärken“. Es
darf in diesem Prozess nicht zu einer Überforderung der Auszubildenden (als eher
schwächere Partner) kommen. Der Wandel im Pflegebereich wird nicht von
Auszubildenden und von Pädagogen getragen, sondern er geht uns alle an und
muss gemeinschaftlich gestaltet werden.
Ich möchte noch eine letzte Frage stellen: Wo werden die für die Gestaltung des
Wandels notwendigen Kompetenzen erworben bzw. ausgeformt?
Einerseits in der Schule, in den Ausbildungsstätten, die in den nächsten Jahren
wahrscheinlich wieder vor großen Veränderungen stehen werden (wie schon nach
der Verabschiedung des Krankenpflege- und des Altenpflegegesetzes 2003). Ich
behaupte
allerdings,
dass
die
Curricula
der
Gesundheits-
und
Krankenpflegeausbildung wie auch der Altenpflegeausbildung in der Gegenwart auf
die Wandlungsprozesse weitestgehend noch nicht eingestellt sind.
Andererseits in der Praxis – die meiner Einschätzung nach der Hauptort der
Entfaltung der Kompetenzen werden muss. Und hier fehlen bislang sehr viele
Voraussetzungen für eine optimale Lerngestaltung! Denn hier – in der Praxis - gibt es
ja auch die entsprechende sozial ausgerichtete „Pflege“ noch nicht oder höchstens in
ersten Ansätzen in einigen alternativen Projekten und sehr wenigen Gemeinden. Wie
hier Änderungen der Arbeitsformen und der Ausbildung in Verbindung mit den
Betroffenen selbst neu gestaltet werden können, ist ein außerordentlich spannendes
Zukunftsprojekt!
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Brendel, Sabine / Dielmann, Gerd (1998), Reform der Pflegeausbildung. Versuch
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15
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Riedel, Annette (2007), Professionelle Pflege alter Menschen. Moderne (Alten-)
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Roth, Heinrich (1971), Pädagogische Anthropologie. Band 2: Entwicklung und
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