Prof. Dr. Karl-Heinz Sahmel Fachhochschule Ludwigshafen Wandel der Pflege – Neue Kompetenzen für Pflegekräfte Vortrag auf der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege am 16.2.2011 in Berlin 1. Vorbemerkungen Wovon reden wir, wenn wir üblicherweise von „Pflege“ reden? In der Regel ist die Rede von Krankenpflege, zumeist noch enger von Krankenhauspflege. Erst deutlich danach sprechen wir auch von der (weniger angesehenen) Altenpflege. Auch hier hat sich jedoch inzwischen eine Einschränkung der Perspektive auf die Versorgung kranker Alter, also Schwerstpflegebedürftiger in Altenheimen eingebürgert; vielleicht geht es noch um die pflegerische Versorgung von zu Hause lebenden alten kranken Menschen durch Mitarbeiterinnen von Sozialstationen (also ambulante Versorgung). Meines Erachtens ist es notwendig, einen breiteren Pflegebegriff zu thematisieren! Was bedeutet gegenwärtig „Wandel der Pflege“? In Krankenhäusern gibt es eine deutliche Tendenz der Arbeitsverdichtung und Beschleunigung, verbunden mit der Tendenz des Betten-Abbaus. In der stationären Altenpflege, die bislang sehr stark auf die Eingruppierung von Pflegebedürftigen in krankheitsorientierte „Pflegestufen“ beschränkt wird (da hier – in der Refinanzierung von Leistungen – der Fokus der politischen Diskussion liegt), dringt langsam die Demenz-Problematik ein. Vor allem die ambulante Versorgung stößt bezüglich der Finanzierung deutlich an ihre Grenzen: offensichtlich wird hier eine weitere Privatisierung von Leistungen angestrebt. Wie im Neoliberalismus üblich gilt: Nur wer es sich leisten kann, erhält wohl demnächst eine optimale Pflege und Versorgung, für die übrigen gilt entweder minimale Versorgung oder Armut. 2 Was diskutieren Experten zur Zeit? Professionalisierung, Akademisierung, Advanced Nurse Practice und eine Generalistische Ausbildung. Dass diese Neuerungen dabei tatsächlich auf die neuen Problemlagen in der Pflege vorbereiten, wird zumeist stillschweigend vorausgesetzt. Nicht allerdings von mir! Ich will hier eine etwas andere Akzentuierung des Wandels der Pflege skizzieren und anschließend der Frage nachgehen, welche Kompetenzen Pflegekräfte zukünftig erwerben bzw. ausformen sollten, um in diesem Wandel nicht nur erfolgreich zu bestehen (im Sinne von: die damit verbundenen Belastungen zu überstehen), sondern ihn mit gestalten zu können. 2. Lassen Sie mich einige wenige Dimensionen des Wandels der Pflege ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz skizzieren, der meines Erachtens in der Zukunft prognostiziert werden kann. a) Die Änderung des Krankheitsspektrums, etwa die Zunahme der sog. `Zivilisationskrankheiten`, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Diabetes mellitus, Erkrankungen der Atemorgane, Krebs und AIDS, aber auch psychischer und Sucht-Erkrankungen rücken den Zusammenhang zwischen Lebensverhältnissen und Erkrankung immer stärker in das Blickfeld. Entsprechend muss Pflege in Maßnahmen der Prävention und Rehabilitation immer stärker eingebunden werden (sofern diese allerdings innerhalb des Gesundheitssystems tatsächlich breit finanziert werden). b) Wie angedeutet lassen sich im Krankenhaussektor die Veränderungen unter zwei Stichworten zusammenfassen: - Intensivierung: In der medizinischen Akutversorgung in den Krankenhäusern kommt es durch starke Verkürzung der Verweildauer zu einer "Verdichtung der pflegerischen Arbeit auf die intensivpflegerische Betreuung vor oder nach der Operation bzw. weitgehende Beschränkung auf die Akutphase einer internistischen Erkrankung" (Brendel / Dielmann 1998, S.13). 3 - Technisierung: "Die Technisierung wird vor allem durch die Akutkrankenhäuser vorangetrieben, in denen insbesondere der diagnostische Bereich betroffen ist. Ständig werden neue und immer teuerere Geräte, auch Großgeräte, entwickelt und eingesetzt, die spezialisiertes Personal erfordern... Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die Organisation der Pflege. Taylorisierte Arbeit, die von der Medizin und dem Krankenhaus abhängig ist, wird die beherschende Arbeitsform und prägt (gegenwärtig schon) das Bild der Pflege" (Stach 1995, S.13) und wird es zukünftig in Krankenhäusern noch mehr prägen. c) Im Bereich der stationären Altenpflegeeinrichtungen haben sich Altenheime verwandelt in Altenpflegeheime mit einem extrem hohen Anteil schwerstpflegebedürftiger (multimorbider und gerontopsychiatrisch veränderter) BewohnerInnen, während rüstige Alte, aber auch chronisch Pflegebedürftige so lange wie möglich in der heimischen Umgebung bleiben wollen und – sofern dieses finanziert werden kann – ambulante Hilfen in Anspruch nehmen.. Genau dieser Bereich nun sollte von der Pflege als ein besonders wichtiger Aspekt des künftigen Wandels thematisiert werden. Was bedeutet „Demographische Alterung“? Die gestiegene Lebenserwartung auf der einen und der Geburtenrückgang auf der anderen Seite werden den Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung deutlich ansteigen lassen. Zugleich wird der Hilfsbedarf in dieser Lebensphase stark zunehmen. Der offensichtlich steigenden Zahl an hilfebedürftigen Älteren wird jedoch voraussichtlich eine geringere Zahl an hilfebereiten Jüngeren (Ehrenamtlichen und Familienangehörigen) gegenüberstehen. Zugleich aber sollten wir der gerontologisch immer wieder herausgestellten Tatsache ins Auge sehen, dass Älterwerden nicht mit Krankwerden gleichgesetzt werden darf. Auch Höchstaltrigkeit bedeutet nicht notwendig Krankheit, Isolation, Abhängigkeit, Leben im Heim, „Pflegebedürftigkeit“ im gegenwärtig vorherrschenden Sinne! Wir werden verstärkt verschiedene Extrempunkte bekommen: Eigenständige und überaus aktive Alte sowie hinfällige, betreuungsbedürftige, unterstützungsbedürftige alte Menschen – und diese auch noch in sehr unterschiedlichen sozial-kulturellen Lebensbedingungen (vgl. Backes u. a. 2004). Das Risiko der „Pflegebedürftigkeit“ 4 nimmt mit zunehmendem Alter ebenso zu wie die Gefahr der demenziellen Erkrankungen – dies ist allerdings keine zwingende Notwendigkeit für alle! Meines Erachtens ist es dringend notwendig, sich von der somatischen Ausrichtung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit abzuwenden und viel stärker die Aspekte von Ressourcen und Bedürfnissen der alten Menschen in die pflegerische Arbeit einzubeziehen. Sollte nicht auch „Lebenszufriedenheit“ als Kategorie der Pflege thematisiert werden? Andreas Kruse etwa schlägt als zentrale gerontologische Kategorien Selbständigkeit, Selbstverantwortung und Mitverantwortung, bewusst wahrgenommene Abhängigkeit vor – sehr wohl mit Blick auf „das letzte Lebensjahr“, also unter Einbezug der bewussten Auseinandersetzung mit Sterben und mit dem Tod (Kruse 2007, S.201ff.). Daneben sollte Reaktivierung der Gesundheitsförderung im verbliebener Sinne Gesundheitsressourcen von mit Aktivierung dem Ziel bzw. der Wiedererlangung bzw. des Erhalts der Autonomie eine herausragende Bedeutung im pflegerischen Arbeiten mit alten Menschen zukommen. Und dies alles unter besonderer Berücksichtigung der Lebenswelt der älteren Menschen, die es zu verstehen und zu respektieren gilt. 3. Ich muss die Skizze des Wandels hier abbrechen (Interessierte seien auf die materialreiche Dissertation von Annette Riedel: Professionelle Pflege alter Menschen, 2007 verwiesen). Zugleich muss ich erneut kritisch auf die bereits angesprochene Ökonomisierung verweisen. In den letzten Jahren hat der Blick auf die Kosten der Gesundheitsversorgung und Pflege alle anderen Perspektiven zunehmend verdunkelt. Die gegenwärtige Diskussion um die Kostenexplosion im Gesundheitswesen insgesamt lässt in zunehmendem Maße den Patienten bzw. Klienten außen vor. Stattdessen werden ständig Wirtschaftlichkeitsprinzipien im Zusammenhang mit unterschiedlichen Formen der Leistungsgewährung und erstellung betont. Wie ist auf den Wandel zu reagieren? Und vor allem: Wie wollen wir hier argumentieren? Geht es um eine Reaktion auf Markt-Probleme? – Oder sollten pflegewissenschaftliche und pflegepädagogische Perspektiven in den Vordergrund 5 rücken? Wie Sie zu Recht vermuten, vertrete ich die zweite Position. Mir geht es vorrangig um den konsequenten Übergang vom derzeit vorherrschenden medizinisch-technischen zu einem sozialpflegerischen Paradigma. Zunächst einmal: Wer sind zur Zeit die im Pflegebereich Tätigen – und inwiefern sind sie auf die zukünftigen Herausforderungen vorbereitet? - Wir haben die „klassische“ Krankenschwester in einem von der Medizin (und der Technik) dominierten enger werdenden Krankenhaussektor. - Daneben gibt es die „Gesundheits- und Krankenpflegerin“, die vor allem für Beratung, Schulung (ich sage lieber: „Aufklärung“) von Patienten zuständig ist und in den Bereichen Entlassmanagement, Übergangsmanagement, Verknüpfung von stationärem und ambulantem Bereich ebenso Verantwortung übernimmt wie in den Bereichen Prävention und Rehabilitation. Sie hat diese Inhalte in der Ausbildung kennengelernt – zumindest in der Theorie. Die Praxis der Gesundheitsversorgung hinkt hier noch stark hinter berechtigten Ansprüchen her. - Wir haben Pflegeexperten, einige wenige akademisierte Pflegekräfte, es ist davon auszugehen, dass ihre Zahl durch Studiengänge zum Bachelor of Nursing zunehmen wird. Welche Aufgaben diese hochqualifizierten Kräfte zukünftig im Gesundheitssystem übernehmen werden, ist noch völlig unklar. Ob diese Aufgaben pflegespezifisch sein werden, oder ob es – qua Delegation kurativer Aufgaben – zur Kompensation eines drohenden Ärztemangels kommen wird, ist offen. - Wir haben die „klassische“ Altenpflegerin, die wohl auch weiterhin als Fachkraft in Pflegeheimen vornehmlich für die medizinisch-pflegerische Versorgung alter Kranker zuständig ist. Gemeinsam mit Krankenpflegerinnen ist sie auch in der ambulanten Versorgung tätig. - Neben Fachkräften haben wir schon jetzt im Pflegebereich eine wachsende Zahl von Hilfskräften und zum Teil ehrenamtlich Tätigen, an die zunehmend diverse Aufgaben delegiert werden (etwa der wichtige Umgang mit demenziell Erkrankten) und die über sehr unterschiedliche (formale) Qualifikationen verfügen. 6 Ob sich zukünftig an diesem Mix von qualifizierten und weniger qualifizierten Personen im Pflegebereich etwas ändern wird, wage ich zu bezweifeln. Und ob die angestrebte generalistisch ausgebildete Pflegefachkraft eine Lösung der Probleme darstellt, wage ich ebenfalls zu bezweifeln. Ich habe eher den Eindruck, als wenn zukünftig ohne inhaltliche Diskussion vorschnell die Altenpflege „abgewickelt“ werden soll. Es gibt noch lange keine Einigung darüber, welches Pflegeverständnis einer integrierten oder generalistischen Ausbildung zugrunde liegen soll. In Pflegewissenschaft und Pflegetheorie-Entwicklung ist eine deutliche Dominanz von „Krankenhauskrankenpflege“ feststellbar (vgl. Becker 1996, S.90). Integration darf aber nicht bedeuten, dass mehrere Ausbildungsgänge einseitig auf akute und vorrangig somatische Behandlung von Krankheit in einem einzigen Versorgungssystem (vorrangig dem Krankenhaus) konzentriert werden, es ist vielmehr notwendig, den Akzent der Altenpflege (Betreuung und Beratung) in gemeinsamen Ausbildungsgängen hervorzuheben. Auch die Schlussfolgerung, in den vielfältigen Modellversuchen der letzten Jahre sei nachgewiesen worden, eine Integration aller drei Ausbildungsgänge zu einem einzigen Berufsbild sei notwendig, ist bei näherer Analyse so nicht eindeutig zu ziehen (vgl. Sahmel 2010). Zu diskutieren wäre meines Erachtens eine Fachkraft-Ausbildung, in der gleichberechtigt medizinisch-pflegerische und sozialpflegerische wie insbesondere gerontologische Erkenntnisse verbunden werden mit dem Blick auf das künftige Handlungsfeld Pflege vor allem Älterer und Alter in der sozialen Lebenswelt. Eine „Gemeinde-Familien-Gesundheits-Alten-Kranken-Pflegekraft“. Ob diese Kraft studiert haben muss, oder doch eher eine Ausbildung mit großen praktischen Anteilen absolvieren sollte, lasse ich erst einmal offen. 4. Statt hier nun nämlich auf der Ebene der Strukturen von Ausbildungen Vorschläge zu unterbreiten, möchte ich lieber eine inhaltliche Linie weiter verfolgen: Was bedeutet der bislang skizzierte Wandel der Pflege bezüglich der Frage nach den Kompetenzen der Pflegekräfte? 7 Gestatten Sie mir zunächst als (kritischer) Pädagoge den viel gebrauchten Begriff „Kompetenzen“ etwas genauer kritisch zu betrachten! Schon der berufspädagogische Vorgänger-Begriff, das Konzept der „Schlüsselqualifikationen“ erwies sich als widersprüchlich (vgl. Müller-Seng / Weiss 2002): der bildungsökonomisch verstandene Begriff zielte weitgehend auf berufliche Funktionalität und geriet in Gegensatz zum Begriff der „Bildung“. Die Konjunktur des inzwischen fast inflationär gebrauchten Begriffs Kompetenz ist in einem ähnlichen Licht zu sehen. Die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse in einer globalisierten Welt machen verstärkt einen „flexiblen Menschen“ (um mit Richard Sennett zu reden) notwendig und der Begriff „Kompetenz“ steht für größere Eigenständigkeit, Autonomie und Handlungsfähigkeit, ist aber zugleich auch mit Steigerung der Produktivität und Leistungsbereitschaft verknüpft (vgl. Vonken 2005, S.87). Der flexible, sich selbst organisierende Mitarbeiter wird zunehmend zu seinem eigenen Unternehmer. Dieser Individualisierung entspricht im Neoliberalismus eine deutliche Tendenz zum Rückzug des Staates aus der Verantwortung für Bildung und zum Rückgang der Bereitschaft von Unternehmen, sich um Weiterbildung zu kümmern - „lebenslanges Lernen“ liegt in der Eigenverantwortung eines jeden Einzelnen. Allerdings sind diese Prozesse dialektisch anzusehen: Wir haben daneben weiterhin auch ein Verständnis von Kompetenz im Sinne von Bildung. Dies kann etwa anknüpfen an die pädagogischen Überlegungen von Heinrich Roth, der schon Anfang der 1970er Jahre Kompetenz verbunden hat mit dem Begriff „Mündigkeit“: diese „ist als Kompetenz zu interpretieren, und zwar in einem dreifachen Sinne: a) als Selbstkompetenz (self competence), d. h. als Fähigkeit, für sich selbst verantwortlich handeln zu können, b) als Sachkompetenz, d. h. als Fähigkeit, für Sachbereiche urteils- und handlungsfähig und damit zuständig sein zu können, und c) als Sozialkompetenz, d. h. als Fähigkeit, für sozial, gesellschaftlich und politisch relevante Sach- oder Sozialbereiche urteils- und handlungsfähig und also ebenfalls zuständig sein zu können“ (Roth 1971, S. 180). Diese anthropologisch fundierte Trennung von Person, Sache und Gesellschaft, die Roth an Mündigkeit bindet und in verantwortliches Handeln einmünden lässt, war in 8 der Folge einflussreich – konkurrierte allerdings mit einem auf Anpassung und Funktionalität ausgerichteten Kompetenz-Begriff, der sich vor allem in der Berufspädagogik durchsetzte. Ein alternatives und kritisches Verständnis von Kompetenz finden wir in der Gegenwart etwa bei Oskar Negt, der fragt: „Was müssen Menschen wissen, damit sie in der heutigen Krisensituation begreifen können, was vorgeht; welche Möglichkeiten gibt es für sie, ihre Lebensbedingungen in solidarischer Kooperation mit anderen zu verbessern? Mit welchen Orientierungen und Sachkompetenzen müssen sie ausgestattet sein, um sich in dieser Welt der Umbrüche zurechtfinden zu können? Mit einem Wort: Worin bestehen die neuen gesellschaftlichen Schlüsselqualifikationen? … Welche Kompetenzen des gegenständlichen Lernens wären erforderlich, damit die Menschen den Problemen gewachsen wären, welche die industrielle Zivilisation als ihre eigenen Grenzen mit hervorbringt?“ (Negt 1998, S. 26). Negt benennt fünf Kompetenzen, die in heutigen Bildungsprozessen zur Entfaltung kommen sollten (1998, S. 33 ff.): 1) Identitätskompetenz – als Fähigkeit, angesichts permanenter Bedrohung durch gesellschaftliche Umbrüche sich Identitätsfragen zu stellen. 2) Technologische Kompetenz: Angesichts des permanenten Vordringens neuer Technologien bedarf es sowohl kritischer Wachsamkeit gegenüber Zerstörungspotentialen als auch der Nutzung von Technik als Mittel der Befreiung. 3) Gerechtigkeitskompetenz – im Sinne von Sensibilität für Enteignungserfahrungen und Fähigkeit zur Wahrnehmung von Recht und Unrecht, Gleichheit und Ungleichheit. 4) Ökologische Kompetenz – als Befähigung des Menschen zum pfleglichen Umgang mit der Natur und mit den Dingen. 5) Historische Kompetenz: „Soziales Gedächtnis und Utopiefähigkeit nach vorn sind zwei Seiten derselben Sache. Sich begrifflich mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen bedeutet nicht die Wiederholung alter Tatbestände und Fehler, sondern im Gegenteil: Es setzt den Blick frei für Konstruktionen nach vorn und für eine politische Gegenwartsbewältigung. Erfahrene eigene Lebensgeschichte in Lernprozessen weiterzuführen, die einen Begriff von 9 allgemeiner Geschichte vermittelt, wäre daher der Weg, sich historische Kompetenzen anzueignen“ (Negt 1998, S. 43 f.). 5. Ich belasse es bei diesen kurzen allgemeinen Anmerkungen zum Begriff der Kompetenz; mir ging es darum aufzuzeigen, dass die Verwendung dieses Begriffs – auch wenn er von der Kultusministerkonferenz präferiert wird – kritisch pädagogisch zu hinterfragen ist. Dies gilt auch für den vielfältigen Gebrauch des Begriffs in der Pflege (vgl. Sahmel (Hrsg.) 2009). Oftmals finden wir eine Aneinanderreihung von Kompetenzen oder die simple Teilung in Fachkompetenz, personale Kompetenz, soziale Kompetenz und Methodenkompetenz, ohne dass z. B. deutlich gesagt wird, dass soziale Kompetenz substantieller Bestandteil der pflegerischen Fachkompetenz ist. Oder es werden viele neue Kompetenzen erfunden. Eine intensive Auseinandersetzung mit der gerade aufgewiesenen Ambivalenz zwischen affirmativem und kritischem Gebrauch der Kategorie „Kompetenz“ unterbleibt zumeist. Die Unschärfen in der Verwendung des Kompetenz-Begriffs in der Pflege werden dadurch verstärkt, dass oftmals Bezüge hergestellt werden zu Ausführungen von Patricia Benner (1994), die im Kontext der us-amerikanischen Pflegeforschung und -praxis Dimensionen von Pflegekompetenz untersucht hat. Wichtiger als ihre Einstufung der Kompetenzen (from novice to expert) erscheint mir, dass Benner der Erfahrung durch Handlung eine große Bedeutung zuschreibt; neue Erfahrungen bauen stets auf Vorwissen auf. Sie bestreitet nicht den Nutzen von Theorien und von (aus diesen abgeleiteten) Regeln und Prinzipien – zumindest für den Anfänger. Pflegekräfte auf fortgeschrittenen Stufen der Kompetenz haben die Möglichkeit der Integration neuer Erfahrungen in bereits vorhandene Muster. Sehr viel differenzierter wird nun Christa Olbrich. Sie knüpft in ihrer 1999 veröffentlichten Dissertation „Pflegekompetenz“ an Benner an und kommt zu einer diskussionswürdigen Einschätzung derjenigen Kompetenzen, die zur Ausübung des Pflegeberufs notwendig sind. Um den Begriff der „Pflegekompetenz“ zu bestimmen, identifiziert Olbrich anhand von Beschreibungen von bedeutsamen Situationen durch Pflegekräfte vier Dimensionen pflegerischen Handelns: 10 1. „Regelgeleitetes Handeln: Es beruht auf Fachwissen, Können und einer sachgerechten Anwendung dieses Wissens. Handeln vollzieht sich innerhalb der Routine und der vorgefundenen Normen. 2. Situativ-beurteilendes Handeln: Hier tritt die Wahrnehmung und Sensibilität, die auf eine spezifische Situation gerichtet ist, in den Vordergrund. Die Orientierung des Handelns erfolgt aufgrund der situativen Einschätzung und Beurteilung. 3. Reflektiertes Handeln: Innerhalb des reflektierten Handelns ist nicht nur der Patient Gegenstand der Reflexion, sondern die eigene Person wird als Subjekt in das Geschehen mit einbezogen. Gefühle und Gedanken werden vom eigenen Erleben aus artikuliert. 4. Aktiv-ethisches Handeln: In dieser Dimension werden Pflegepersonen aktiv durch ihr Handeln, Kommunizieren oder Streiten auf der Basis von Werten. Damit erfolgt Hilfe für den Patienten in einer ethischen Dimension. Wird nach eigenen Vorstellungen kein Erfolg wirksam, so führt die Reflexion zum Formulieren von Grenzen“ (Olbrich 1999, S. 57 f.). Olbrich ordnet diese vier Dimensionen hierarchisch an und weist ihnen verschiedene Kompetenzen zu (vgl. Olbrich 1999, S. 58): 1. „Fähigkeiten in der Dimension des regelgeleiteten Handelns zu besitzen bedeutet, Wissen auf einer methodisch handelnden Ebene anwenden zu können; durch Erfahrungen wird dieses Handeln sicherer und korrekter“ (Olbrich 1999, S. 61). 2. „Kompetenz im situativ-beurteilenden Handeln heißt vor allem, sich in den Patienten und sein Umfeld vertieft einfühlen und das Wesentliche wahrnehmen zu können“ (Olbrich 1999, S. 65). 3. Kompetenz in der Dimension des reflektierenden Handelns „heißt, sich mit Aspekten seiner eigenen Person auseinandergesetzt zu haben und sich in selbstreflexiver Weise in das Pflegegeschehen mit einzubringen“ (Olbrich 1999, S. 67). 4. „Kompetenz in aktiv-ethischer Dimension heißt, als Person so stark zu sein, dass die erkannten Werte innerhalb der Pflege auch aktiv handelnd oder kommunikativ ausgedrückt werden können und der Patient sichtbare Hilfe erreicht“ (Olbrich 1999, S. 71). 11 Somit kommt Olbrich zu einer Fülle von Fähigkeiten, die sie als Komponenten von Kompetenz aufführt (ohne dass diese allerdings in ihrer unterstellten Systematik überzeugen könnten): • die Fähigkeit, Wissen anzuwenden, • vertiefte Einfühlung und Wahrnehmung, • Selbstreflexion, • persönliche Stärke (vgl. Olbrich 1999, S. 73 ff.). Konsequenzen aus diesem Ansatz für den Pflegeunterricht zieht etwa Ingrid Darmann-Finck: Wir brauchen in der Ausbildung nicht noch mehr Regelorientierung, sondern mehr Fähigkeiten, sich auf den individuellen Fall zu beziehen und auch in ethisch problematischen Situationen argumentativ Stellung zu beziehen. Darüber hinaus hat Darmann-Finck stets die besondere Bedeutung der Förderung der kommunikativen Kompetenz in der Pflege betont. Eine pragmatische, aber dennoch kritische Akzentuierung findet sich bei Uta Oelke. Sie betont, dass die Rede von der Förderung von fachlicher, personaler, sozialer und methodischer Kompetenz etwa im § 3 des Krankenpflegegesetzes von 2003 neben der beruflichen Qualifikation eben auch eine (klar über den Beruf hinausgehende) personenbezogene Dimension umfasst. Gerade angesichts des historisch nachgezeichneten Deutungsmusters der „stummen Pflege“ schließt sich Oelke der Forderung Hartmut von Hentigs „Die Menschen stärken, die Sachen klären“ (1986) an. Konkret bedeutet hier Förderung der personalen Kompetenz zweierlei: • Stabilisierung der Pflegenden im Umgang mit physischen und psychischen, insbesondere emotionalen Belastungen und • Förderung der Reflexionsfähigkeit im Sinne von Selbstreflexion, ethischer Reflexion und politischer Reflexion (vgl. Oelke 2005, S. 652 ff.). 6. Welche Kompetenzen benötigen nun Pflegekräfte konkret, um den zukünftigen Anforderungen gewachsen zu sein? Wenn es darum geht, nicht nur im Bestehenden zu funktionieren, sondern an der Gestaltung eines sich wandelnden Feldes der Pflege mit zu wirken, dann sind die wichtigsten Handlungsfelder konkret zu benennen – etwa: 12 - Unterstützung und Pflege alter Menschen in ihrer häuslichen und sozialen Umgebung - Beratung und Unterstützung Pflegebedürftiger und ihrer Bezugspersonen - Hilfen bei Behinderung und Verwirrtheit - Begleitung Sterbender - vernetztes Arbeiten mit Professionellen und Laien. Bezugnehmend auf die oben skizzierten Tendenzen des Wandels lassen sich notwendige Akzentverschiebungen in der Pflegeausbildung vorläufig inhaltlich folgendermaßen konkretisieren: a) Wenn Pflegekräfte vor dem Hintergrund des demographischen Wandels mit einem erhöhten Anteil alter Menschen und alter Schwer- und Schwerstpflegebedürftiger sowie mit einem breiten Krankheitsspektrum (insbesondere gerontopsychiatrischer Art) konfrontiert werden, sollte dies auch einen deutlichen fachlichen Schwerpunkt in der Ausbildung darstellen. b) Angesichts des Vorrangs von Prävention und Rehabilitation vor Pflege gewinnen Gesundheitsförderung sowie rehabilitative und aktivierende Pflege an Bedeutung in der Ausbildung. c) Die Fähigkeit zu multiprofessioneller Kooperation wie zur eigenständigen Koordination und Organisation pflegerischer Arbeit ist zu fördern. d) „In allen pflegerischen Arbeitsfeldern werden besondere Betreuungssituationen deutlich (Sterben, chronische Krankheit, psychische Veränderungen etc.), die neben einer grundständigen fachlichen Kompetenz auch besondere psychosoziale und kommunikative Kompetenzen erfordern. ... e) Berücksichtigt man zudem Gesundheitsversorgungssystemen, gesundheitsfördernden, die die kurativen, zunehmende `ein breit Orientierung an gefächertes Angebot rehabilitativen und primären an ergänzenden Versorgungssystemen bereitstellen, damit die grundlegenden Bedürfnisse der 13 Bevölkerung befriedigt und besonders gefährdete, anfällige und unterversorgte Einzelpersonen wie Gruppen besonders berücksichtigt werden können`[WHO], so deuten sich auch damit neue bzw. verstärkt wahrzunehmende Tätigkeitsfelder an, die bislang im Rahmen der Ausbildungsgänge nur unzureichend Berücksichtigung finden." (Forschungsgesellschaft 1996, S.248f.) Um diese Aufgaben zu bewältigen sind vor allem personale und soziale Kompetenzen zu fördern: - personale Kompetenz – im Sinne von Selbständigkeit, Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, einem hohen Maß an Einsatzbereitschaft verbunden mit Frustrationstoleranz, - soziale Kompetenz – im Sinne der Herstellung einer Balance zwischen Selbstverwirklichung und Anpassung an die sozialen Gegebenheiten, als Entfaltung von Kommunikation und Interaktion mit Anderen, als Kooperationsund Teamfähigkeit und als Konfliktfähigkeit. Denkt man diese Dialektik von Personalität und sozialem Miteinander weiter, so erscheint zugleich auch die Notwendigkeit der Entwicklung von Reflexionskompetenz, empathischer Kompetenz und interkultureller Kompetenz (als quasi „querliegende“ Dimensionen) – vielleicht brauchen wir auch so etwas wie „utopische Kompetenz“. Und mit Blick auf die institutionelle Einbindung pflegerischen Handelns erscheint auch die Entwicklung strategischer Kompetenz wichtig, deren Aspekte etwa im „Stuttgarter Modell“ einer Integrierten Pflegeausbildung als „Planungs- und Steuerungskompetenz“, „Organisations- bzw. systembezogene Kompetenz“ sowie „gesellschafts- und berufspolitische Kompetenz“ vorgestellt worden sind. Allerdings droht diese Auflistung von Kompetenzen – wie andere auch – dann in relative Beliebigkeit abzusinken, wenn sie nicht mit der eindeutigen Perspektive von „Mündigkeit“ (im Sinne des vorhin erwähnten Heinrich Roth) verknüpft wird. Es kann nicht darum gehen, dass wir innerhalb des bestehenden Systems der beruflichen Bildung in der Pflege eine mehr oder minder deutliche Anpassung an die bestehenden Strukturen der Pflege vornehmen, wenn diese offensichtlich in absehbarer Zeit von einem deutlichen Wandel betroffen werden. Es gilt stattdessen, sehr wohl „die Sachen zu klären“, also gemeinsam mit den Auszubildenden sich 14 kritisch mit den gegenwärtigen Verhältnissen in der Pflege auseinander zu setzen mit Blick auf künftig notwendige Veränderungen, und „die Menschen zu stärken“. Es darf in diesem Prozess nicht zu einer Überforderung der Auszubildenden (als eher schwächere Partner) kommen. Der Wandel im Pflegebereich wird nicht von Auszubildenden und von Pädagogen getragen, sondern er geht uns alle an und muss gemeinschaftlich gestaltet werden. Ich möchte noch eine letzte Frage stellen: Wo werden die für die Gestaltung des Wandels notwendigen Kompetenzen erworben bzw. ausgeformt? Einerseits in der Schule, in den Ausbildungsstätten, die in den nächsten Jahren wahrscheinlich wieder vor großen Veränderungen stehen werden (wie schon nach der Verabschiedung des Krankenpflege- und des Altenpflegegesetzes 2003). Ich behaupte allerdings, dass die Curricula der Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung wie auch der Altenpflegeausbildung in der Gegenwart auf die Wandlungsprozesse weitestgehend noch nicht eingestellt sind. Andererseits in der Praxis – die meiner Einschätzung nach der Hauptort der Entfaltung der Kompetenzen werden muss. Und hier fehlen bislang sehr viele Voraussetzungen für eine optimale Lerngestaltung! Denn hier – in der Praxis - gibt es ja auch die entsprechende sozial ausgerichtete „Pflege“ noch nicht oder höchstens in ersten Ansätzen in einigen alternativen Projekten und sehr wenigen Gemeinden. Wie hier Änderungen der Arbeitsformen und der Ausbildung in Verbindung mit den Betroffenen selbst neu gestaltet werden können, ist ein außerordentlich spannendes Zukunftsprojekt! Literatur Backes, Gertrud M. u. a. (Hrsg.) (2004), Lebensformen und Lebensführung im Alter, Wiesbaden Becker, Wolfgang (1996), Stand und Perspektiven der curricularen Entwicklung bei gesundheits- und sozialpflegerischen Berufen, in: Martens, M. u. a., Didaktisches Handeln in der Pflegeausbildung, Brake Benner, Patricia (1994): Stufen der Pflegekompetenz. From novice to expert, Bern Brendel, Sabine / Dielmann, Gerd (1998), Reform der Pflegeausbildung. Versuch einer Standortbestimmung im Bildungswesen, Pflege und Gesellschaft, 3, 1 Darmann, Ingrid (2000) , Kommunikative Kompetenz in der Pflege. Ein pflegedidaktisches Konzept auf der Basis einer qualitativen Analyse der pflegerischen Kommunikation, Stuttgart 15 Darmann-Finck, Ingrid (2010), Interaktion im Pflegeunterricht. Begründungslinien der interaktionistischen Pflegedidaktik, Frankfurt/M. Forschungsgesellschaft für Gerontologie Dortmund (1996), Strukturreform der Pflegeausbildungen. Gutachten für das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Kruse, Andreas (2007), Das letzte Lebensjahr. Zur körperlichen, psychischen und sozialen Situation des alten Menschen am Ende seines Lebens, Stuttgart Müller-Seng, Gabi/Weiss, Elvi (2002), Schlüsselqualifikationen und Pflegeausbildung, in: Sahmel, Karl-Heinz (Hrsg.): Grundfragen der Pflegepädagogik, 2. Aufl., Stuttgart Negt, Oskar (1998), Lernen in einer Welt gesellschaftlicher Umbrüche, in: Dieckmann, Heinrich/Schachtsiek, Bernd (Hrsg.), Lernkonzepte im Wandel. Die Zukunft der Bildung, Stuttgart Oelke, Uta (2005), Die Menschen stärken und die Sachen klären. Zur Förderung personaler Kompetenz, PrInternet, 7, 12 Olbrich, Christa (1999), Pflegekompetenz, Bern Riedel, Annette (2007), Professionelle Pflege alter Menschen. Moderne (Alten-) Pflegeausbildung als Reaktion auf gesellschaftlichen Bedarf und die Reformen der Pflegeberufe, Marburg Roth, Heinrich (1971), Pädagogische Anthropologie. Band 2: Entwicklung und Erziehung, Hannover Sahmel, Karl-Heinz (Hrsg.) (2009), Pflegerische Kompetenzen fördern. Pflegepädagogische Grundlagen und Konzepte, Stuttgart Sahmel, Karl-Heinz (2010), Wohin steuert die Pflegeausbildung? Eine kritische Auseinandersetzung mit Modellprojekten. Referat www.arbeitsagentur.de/ Dienststellen/RD BW/Mannheim/Metropolregion/Publikation/Referat-Prof-Dr-KarlHeinz-Sahmel.pdf<a href= Stach, Meinhard u. a. (Hrsg.) (1995), Zur Professionalisierung der Pflege, Alsbach Vonken, Matthias (2005), Handlung und Kompetenz. Theoretische Perspektiven für die Erwachsenen- und Berufspädagogik, Wiesbaden