Ein Gespräch mit George Benjamin anlässlich des ersten Konzerts

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Ein Gespräch mit George Benjamin anlässlich des ersten Konzerts der Reihe
räsonanz – Stifterkonzerte in München
Interview: Paul Griffiths
Übersetzung: Wieland Hoban
Erzählen Sie doch bitte, wie das Stifterkonzert-Programm zustande kam.
Nun, ich schreibe gerade eine Oper und dirigiere sehr wenig – viel weniger als früher.
Dieses ganze Jahr habe ich nur die Konzerte mit dem SWR Sinfonieorchester BadenBaden und Freiburg und eine kurze Tournee für Written on Skin, das ist alles.
Ich habe mich deswegen für die Konzerte mit den SWR-Musikern verpflichtet, weil
erstes Orchester ein Stück von mir im Ausland gespielt haben, das war 1982, als sie
Ringed by the Flat Horizon – das Stück auf dem Münchener Programm – aufführten,
und sie luden mich ein, zehn Tage in Baden-Baden zu verbringen und alle Proben zu
besuchen. Für einen sehr jungen Komponisten war das natürlich unheimlich aufregend.
Dann habe ich 2005 das Orchester beim Festival Musica in Straßburg selbst dirigiert.
Diesmal haben sie mich wieder eingeladen – und ich wollte unbedingt hin, da ich
die schreckliche Nachricht hörte, dass das Orchester im Prinzip aufgelöst wird. Das SWR
Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg hat so eine großartige Geschichte; es war
in den letzten 70 Jahren das wichtigste Orchester für zeitgenössische Komponisten. Man
sagt, dass es mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR fusioniert, es ist aber
trotzdem das Ende seines unabhängigen Daseins – und es ist extrem deprimierend, dass
dies in Deutschland passieren konnte. Also war es meine letzte Gelegenheit, und ich
habe sofort zugesagt.
Es gibt drei Konzerte, eines davon in Freiburg – im wunderbaren Saal dort, dem
Zuhause des Orchesters. Vorher fahren wir nach München, wo die Ernst von Siemens
Musikstiftung, die Fantastisches für die Unterstützung unserer Kunstform leistet, eine
abenteuerliche neue Reihe ins Leben gerufen hat: räsonanz – Stifterkonzerte.
Danach sind wir in Mannheim. In Freiburg machen wir Ravels Rapsodie espagnole und
Debussys L’Après-midi d’un faune, und nicht das Haas-Stück, Limited Approximations; in
Mannheim haben wir ein außergewöhnliches Programm mit Ligetis Lux aeterna und
Messiaen’s Cinq rechants, sowie die Stücke mit Chor vom Münchener Konzert –
Cummings ist der Dichter von Boulez und Clocks and Clouds von Ligeti, und noch den
Debussy.
Zum Teil kamen die Programme auch deswegen zustande, weil ich 2013 einige
Konzerte mit dem Ensemble intercontemporain dirigierte, und mit dabei auf dieser
Tournee war das SWR Vokalensemble Stuttgart, das für mich eine echte Offenbarung
war. Ich hatte noch nie Chorgesang – wenn man es überhaupt so nennen kann – von
solcher Schönheit gehört. Ich wollte auf jeden Fall noch einmal mit ihnen
zusammenarbeiten.
Weil ich an besagter Oper arbeite, wollte ich nicht eine Menge neuer Partituren
lernen; also einigten wir uns auf diese zwei Stücke für Chor und Orchester von Boulez
und Ligeti, die ich beide schon dirigiert habe, allerdings noch nie im gleichen Programm.
Sie wollten auch ein Stück von mir, und es lag nahe, dafür Ringed by the Flat Horizon zu
nehmen, da das Orchester es damals vor Jahren gespielt hatte. Den Haas haben das
Orchester und Winrich Hopp vorgeschlagen und ich habe mich sehr darüber gefreut,
weil es ein sehr spektakuläres Stück ist – außerordentlich spektakulär, mit den sechs
unterschiedlich gestimmten Klavieren.
Haben Sie schon mal etwas von Haas dirigiert?
Nein, habe ich nicht.
Lassen Sie uns über die einzelnen Stücke sprechen, angefangen bei Ihrem eigenen. Ich
frage mich seit einiger Zeit, ob Messiaen Sie jemals wegen dieser Klarinettengeste
angesprochen hat – dieses gehaltene Cis, das dann schnell runter- und wieder
hochgeht, was einem engelbezogenen Motiv aus Saint François d’Assise sehr ähnelt.
Wirklich? (Hält inne) Ja, Messiaen hatte seine Oper aber lange vor meinem Stück
angefangen, also muss ich ihn für absolut unschuldig erklären, absolut unschuldig!
Allerdings kann ich mich daran erinnern, wie ich ihm das Stück zum ersten Mal
vorspielte; er schaute auf einen der Akkorde in der zweiten Hälfte und sagte: „Aber es
sind einfach Quarten, doch klingt es nicht so.“ Nun gibt es einige Quartenakkorde in der
Oper, mit sehr wenigen Tönen, die sich auf den Heiligen Franz selbst beziehen, aber
diese muss er auch schon vorher geschrieben haben, und die Ähnlichkeit ist nur ein
Zufall.
Wie ist es denn, sich nach dreieinhalb Jahrzenten dem Stück wieder zuzuwenden?
Nun, es fühlt sich nicht so an, als würde ich mich nach so langer Zeit wieder damit
beschäftigen, weil ich es alle paar Jahre dirigiert habe. Aber ja, so wie in dem Stück
schreibe ich keine Musik mehr und möchte es auch nicht. Aus kompositorischer Sicht
fällt es mir sehr schwer, mich jetzt mit dem Stück zu identifizieren. Aber als Interpret –
ja, ich mache es gern.
Sie sind nicht versucht, es zu revidieren, so wie es Boulez immer wieder mit seinen
frühen Werken getan hat?
Es gibt Sachen, die ich vielleicht hätte besser machen können, formal gesehen, und
auch, was das Material in der Mittelgrund- und Hintergrundebene angeht, was mich
heutzutage eher weniger interessiert. Trotzdem: Es ist fertig. Und vielleicht funktioniert
es, also lassen wir es so.
Und Sie wären auch nicht dort, wo Sie jetzt sind, wenn Sie diesen Prozess nicht
durchlaufen hätten.
Ich habe das Stück mit 18, 19 Jahren geschrieben, also war es für mich eine sehr
bedeutende Erfahrung. Es war mein erstes Stück für großes Orchester. Der
Kompositionsprozess war auch sehr intensiv und erstreckte sich über einen langen
Zeitraum. Ich fing Anfang 1978 damit an – vielleicht auch davor, ich weiß es nicht mehr
– gab dann aber auf und schrieb einige andere Sachen. Dann kehrte ich zum Stück
zurück und arbeitete zehn Monate lang sehr intensiv daran, was für jemanden unter
zwanzig einen ziemlich großen Lebensabschnitt darstellt.
Ich war natürlich schon auf sehr vielen Orchesterkonzerten gewesen, hatte viel über
das Orchester mitbekommen und liebte das Orchester.
Sprechen wir jetzt über die zwei Stücke mit Chor, die beide in gewissem Maße eine
Aschenputtel-Rolle im Werk ihrer jeweiligen Komponisten haben. Clocks and Clouds
wird viel seltener gespielt als zum Beispiel Lontano.
Ja, wegen der Besetzung. Ich habe das Stück schon zweimal gemacht, die letzte
Aufführung war erst vor kurzem am Concertgebouw. Man braucht sehr guten
Chorgesang, nur Frauenstimmen, und das Stück hat ein extrem eigenartiges Orchester
ohne Geigen, mit wenigen anderen Streichern, dafür aber zehn Flöten und Klarinetten.
Es braucht eine ganz bestimmte Aufführungssituation; deswegen ist es nicht leicht, das
Stück überhaupt auf die Bühne zu bringen. Aber es ist ein wunderschönes Stück. Es gibt
natürlich viele schöne Stücke von Ligeti, aber in mancher Hinsicht ist dies sein schönstes.
Es gibt eine Stelle nach etwa acht oder neun Minuten, wo die Harmonie einfach erblüht.
Eine Bassstimme hält schon seit etwa fünf Minuten, ohne Übertreibung, einen Tritonus –
H-F – und dann geht sie wie aus dem Nichts eine Quinte nach unten, was in den 70ern,
auch noch mit Oktaven, schon so etwas wie eine verbotene Frucht war. Es ist einfach
wunderschön – so schön, dass er hinterher ein bisschen ein schlechtes Gewissen darüber
hatte, vermute ich.
Diese beiden Stücke, die von Boulez und Ligeti, kommen aus den frühen 70ern und
sind beide so etwas wie Himmelslandschaften, mit Borduntönen und weiblichen
Stimmen, sehr schön, mit Mischungen aus Instrumental- und Vokalklängen – und sind
beide recht Zen-artig. Der Boulez ist im ersten Teil zerstreuter und abrupter, gelangt
aber schließlich zu einer fantastisch ruhigen, gelassenen Stimmung mit künstlichen
Vogelgesängen. Ich habe das Stück schon oft gemacht, häufiger als die meisten
anderen; ich habe die britische Erstaufführung der revidierten Fassung aufgeführt. Es ist
einfach eine dieser vollendeten Sachen – so vollendet wie jedes Stück von ihm – und es
liegt mir sehr am Herzen. Es ist nicht leicht zu spielen; es ist sehr wendig, mit vielen
Wechseln in Sachen Takt, Zeit, Gefühl und Richtung.
Also haben wir diese zwei großen Künstler, Ligeti und Boulez, beide mit so
wunderschönen Stücken vertreten und ich hielt es für reizvoll, sie zusammenzubringen.
Haben Sie jemals mit Boulez über Aufführungen von Cummings gesprochen?
Nein. Er gab mir viele nützliche Hinweise für Éclat/Multiples, was unglaublich schwer zu
dirigieren ist, und auch Mémoriale, aber ich glaube, wir haben uns nie über dieses Stück
unterhalten.
Und wie verhält es sich mit dem Haas?
Ich bin kein großer Kenner seiner Musik; ich habe erst ein paar Stücke gehört. Aber ich
finde seine Arbeit interessant. Das Orchester kennt dieses Stück sehr gut, da es für die
Uraufführung verantwortlich war und es seitdem auch mehrmals gespielt hat.
Haben Sie die gleichen Pianisten wie damals?
Ja, ich glaube schon. [Anm. der Redaktion: Nur Matan Porat ist später dazugekommen]
Also lassen Sie sie einfach machen.
Ganz so läuft es nicht… Aber die Harmonie ist sehr fantasievoll, und ich bin gespannt,
wie es dann funktionieren wird. Das ganze Stück ist eine von diesen extremen Ideen.
Wie viel Probenarbeit braucht so ein Programm?
Ich habe vier Tage mit jeweils viereinhalb Stunden. Mein eigenes Stück kann ich in ein
paar Stunden fertig haben und das Orchester ist natürlich mit Boulez’ Musik vertraut –
die in diesem Fall auch nicht besonders schwer ist. Dann, wie gesagt, kennen sie den
Haas schon und wir werden in München einen ganzen Tag dafür haben, weil man sechs
Flügel nur mit sehr viel Aufwand zusätzlich vorab auf die Freiburger Bühne schaffen
könnte.
Das Konzert in München ist im Prinzregententheater.
Ja, ein großartiger Ort – dort war die deutsche Erstaufführung von Written on Skin. Ich
habe auch schon im Herkulessaal dirigiert, der eine fantastische Akustik hat, aber ein
furchteinflößendes Objekt ist.
Warum können Sie ein solches Programm in München machen, aber nicht in London?
Wegen der Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung.
Es muss aber auch das Publikum dafür geben.
Nun, ich habe schon mal bei der musica viva dirigiert – das war im Herkulessaal – und es
war brechend voll, für ein Programm mit Lontano von Ligeti, Réveil des oiseaux von
Messiaen, der Uraufführung von Tristan Murails Klavierkonzert und meinem eigenen
Stück Palimpsests. Das Münchener Publikum ist wunderbar, absolut still und
aufnahmebereit. Ich denke, das ist einer der Orte – Basel ebenfalls –, wo es ein starkes
Publikum für zeitgenössische Musik gibt.
© Ernst von Siemens Musikstiftung. Nachdruck nur mit Genehmigung.
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