Die Kontroverse um die Grüne Gentechnik

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Hintergründe
Roger J. Busch
Die Kontroverse um die
Grüne Gentechnik
In Deutschland ist die Grüne Gentechnik seit vielen Jahren
gesellschaftlich sehr stark umstritten. Die gegensätzlichen
Positionen treffen teilweise mit großer Härte und Unversöhnlichkeit aufeinander. Eine große Zahl von Bürgerinnen und
Bürgern fühlt sich über diese Technologie nur unzureichend
informiert, steht zugleich aber vor der schwierigen Herausforderung, die Grüne Gentechnik bewerten und sie in die eigene Wertvorstellung einordnen zu müssen – etwa beim Kauf
von Nahrungsmitteln. Bei einer Bewertung kommen zahlreiche Faktoren zum Tragen: naturwissenschaftliche Daten, wirtschaftliche und politische Interessen, rechtliche und nicht zuletzt ethische Fragestellungen.
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Das „De-facto-Moratorium“
Hintergründe
nfang des Jahres 2003 schien
es, als würde es ruhiger
um die Grüne Gentechnik –
zumindest, was die gesellschaftliche Kommunikation des Themas
anging. Der Streit der vergangenen
anderthalb Jahrzehnte, ausgetragen zu den immer gleichen Fragen
(Auskreuzung, ökologische Risiken)
und getragen von den (vermeintlichen) Sachwaltern öffenlicher Moral auf der einen und den Fachwissenschaftlern und der Industrie
auf der anderen Seite, schien auszulaufen. Der so genannte „KünastDiskurs“ 2001/2002, eine Abfolge
von Workshops zur Grünen Gentechnik (gut dokumentiert unter
www. transgen.de), in denen sich
Befürworter und Kritiker der Technologie moderiert, aber durchaus
A
Sojabohne (Soja hispida)
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Seit Oktober 1998 bestand ein zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vereinbartes De-facto-Moratorium gegen die Zulassung
gentechnisch veränderter Organismen in der EU. Die EU-Umweltminister
verständigten sich damals mehrheitlich darauf, diese erst dann wieder in
der EU zuzulassen, wenn neue strengere Rechtsvorschriften angenommen sind. Mangelnde Kennzeichnungspflicht, fehlende Bestimmungen zur
Rückverfolgbarkeit und ungenügende Haftungsregelungen hatten eine
Reihe von EU-Ländern bewogen, mit ihrer Sperrminorität alle Neuzulassungen von gentechnisch veränderten Organismen zu blockieren.
In der Zwischenzeit ist die neue Freisetzungsrichtlinie (2001/18/EG) in Kraft
getreten. Die Europäische Kommission hat die Genehmigungsverfahren
für gentechnisch veränderte Organismen entsprechend dieser Richtlinie
wieder aufgenommen. Außerdem sind im November 2003 die beiden neuen EU-Verordnungen zu gentechnisch veränderten Lebens- und Futtermitteln (EG 1829/2003) sowie zur Rückverfolgbarkeit (EG 1830/2003) rechtskräftig geworden. Damit sind nach Ansicht der EU-Kommission die im Jahr
1998 formulierten Bedingungen erfüllt und das Moratorium beendet.
nicht moderat zu Wort melden konnten, hatte dazu wohl kaum beigetragen. Denn er ergab, was schon zu
Beginn absehbar war: die Bestätigung der Unversöhnlichkeit der Perspektiven. Dass es augenscheinlich
ruhiger wurde, hatte wohl mehr mit
einer Fehleinschätzung seitens der
kritischen Gruppierungen zu tun.
Man wähnte sich sicher gegen die
Grüne Gentechnik, galt doch ein inoffizielles Moratorium für die Zulassung gentechnisch veränderter
Kulturpflanzen in Europa. Doch
dieses wurde im Lauf des Jahres
2003 – nicht zuletzt durch USamerikanischen Druck – gelockert. Und nun erhielten
die Kritiker wieder einen
Impuls, tätig zu werden.
Greenpeace forcierte seine Aktionen unter dem
Logo „Einkaufsnetz“,
das Bundesministerium
für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL) –
nach der Bundestagswahl 2002 mit umfassenden Zuständigkeiten für die Grüne
Gentechnik ausgestattet – setzte an, die
Rahmenbedingungen
für eine Anwendung
der Technologie zu verschärfen (zum Beispiel Gentechnik-Änderungsgesetz, Zuständigkeitsverlagerungen vom
Robert-Koch-Institut zum neuen
Bundesamt für Naturschutz, konkrete
mensch+umwelt spezial 17. Ausgabe 2004/2005
Untersagungen von Freisetzungsversuchen wie etwa dem der Bundesanstalt für Züchtungsforschung in
Quedlinburg und Pillnitz). Dabei
wähnt sich das BMVEL im Einklang
mit dem Wunsch „der Verbraucher“,
vor der Grünen Gentechnik geschützt
zu werden.
Die Fachwissenschaften begegnen dieser Entwicklung mit Unverständnis und Ärger. Man befürchtet
eine Abwanderung von Biowissenschaftlern und ihrem Know-how
ins Ausland („brain drain“) und ein
Abkoppeln der deutschen von der
internationalen Forschung und
Entwicklung.
Grüne Gentechnik als
Kommunikationsproblem
Betrachtet man die aktuelle Situation,
so bestätigt sich, dass das Problem
vorrangig ein kommunikatives ist.
Die wissenschaftlichen Daten zu den
bislang umstrittenen Fragen liegen
seit Jahren vor. Niemand, der ein
ausgeprägtes Interesse an der Risikobewertung der Grünen Gentechnik
hat, kann behaupten, dass entsprechende Daten und Analysen nicht
verfügbar seien. Und dennoch meint
ein großer Teil der Bevölkerung,
nicht hinreichend informiert zu sein.
Dies ist wohl schlicht auf den Umstand zurückzuführen, dass die Bürger im Hinblick auf einschlägige Informationen nicht etwa eine „HolSchuld“ haben, sondern Forschung
und Industrie eine „Bring-Schuld“
einlösen müssten: Aufklärung über
die Technologie – aber eben nicht
allein wissenschaftlich und als belehrende Information, sondern unter Berücksichtigung wirksamer
moralischer Grundhaltungen in der
Bevölkerung im Modus des „echten
Dialogs“, von dem Martin Buber
meinte, er sei realisierbar, „wenn
zwei oder mehrere Menschen in einem Raum zusammenkommen
und sich einander zuwenden in
dem aufrichtigen Bestreben, dass
sich lebendige Gegenseitigkeit zwischen ihnen stifte“.
Das ist gewiss nicht einfach. Die
Erfahrungen mit misslungenen
Dialogen, wie zum Beispiel dem
schon erwähnten „Künast-Diskurs“,
zeigen, dass man sich an ein institutionalisiertes Gegeneinander gewöhnt zu haben scheint. Ein „Ritual“
läuft ab: Die Beteiligten wissen
schon vorher, was „die andere Seite“ vorbringen wird und was sie
jeweils dagegen halten werden. Die
Konfrontation wird gefeiert. Und
das interessierte Publikum? Es wird
verunsichert – oder in seiner Kritik
bestätigt, ganz nach Präferenz.
Wenn sich schon die Fachleute
nicht einigen können ...
Manuel Eisner hat an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich schon 1997 in der Auswertung von 1500 Leserbriefen von
Laien die Grundmuster identifiziert,
die in diesem Ritual wirksam sind.
Er spricht von „moralischen Codes“
der Kontrahenten, die verhindern,
dass es zum gegenseitigen Verstehen kommen kann. Fokussieren
die einen ihre Bejahung der Technologie mit Argumenten aus den Bereichen Gesundheit, Vernunft und
Wohlstand, so tun dies ihre Kritiker
mit spezifischen Vorstellungen von
Natur, Macht und Gefährdung.
Die Gegenüberstellung verdeutlicht die unterschiedlichen Perspektiven, ihrerseits unterlegt durch
jeweils spezifische moralische Präferenzen und dem Gegner unterstellte „Antimoralen“. Der tiefe
Graben zwischen beiden macht das
beobachtbare Missverstehen – und
vielleicht auch das Nicht-VerstehenKönnen – plausibler.
Nimmt man die mit der Gegenüberstellung identifizierte Problemkonstellation ernst, steht die Auf-
gabe für die Zukunft
deutlich vor Augen:
Die Beteiligten müssen ihre Horizonte
erweitern und
ihre Perspektiven
miteinander verschränken. Es sei
denn, sie hätten
Gefallen – oder
einen Gewinn –
aus der Nichtveränderung des
beschriebenen
Rituals. Und
auch das mag
wohl bei manchen Beteiligten
der Fall sein.
Von der Relevanz der Ethik
und der Deutungen
von Daten
Zur Überwindung des gesellschaftlichen Konflikts erscheint
der Beitrag einer wissenschaftlichen Ethik unverzichtbar. Die Ethik –
verstanden als systematische Reflexion auf die Moral(en) innerhalb
eines definierten sozialen Rahmens –
beschreibt den Kontext, in dem ein
Konflikt entsteht und führt in der Folge den identifizierten Konflikt einer
Hirse (Panicum miliaceum)
Bewertung nach verallgemeinerbar
tragfähigen Kriterien zu. Versteht
man die Aufgabe der Ethik damit zunächst einmal als Klärung der Kom-
Die Dynamik der „moralischen Codes“
Gentechnik-Befürworter
Moral
Antimoral
Gesundheit
Erforschung,
Prävention,
Therapie von
Krankheiten
Antimoral
Natur
Schutz und Würde
der Kreatur
Irrationalität,
Fundamentalismus
Demokratische
Kontrolle der
Technik
Schrankenlose
Verfügung
über die
Kreatur
Macht
Wohlstand
Beseitigung von
Hunger, Erhalt
von Arbeitsplätzen
Moral
Missachtung
von Kranken
Vernunft
Rationalität,
Aufklärung und
Fortschritt
Gentechnik-Gegner
Wirtschaftsfeindlichkeit
Profitdenken,
interessengesteuerte Propaganda
Gefährdung
Gewißheit von
unbekannten
Risiken
Missachtung
unbekannter
Risiken
Die Dynamik des „Moralischen Codes“ nach M. Eisner, BioWorld 1/1998.
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Hintergründe
munikation der am Konflikt beteiligten Parteien, so kommt einem Aspekt erhebliche Bedeutung zu: der
Unterscheidung wissenschaftlicher
Daten von den Deutungen derselben.
Die Vermischung beider – ob strategisch oder schlicht unabsichtlich –
scheint den gesellschaftlichen Streit
um die Anwendung der Grünen
Gentechnik zu prägen. Was die eine
Seite als vermeintlich unbestreitbare
„Fakten“ betrachtet, wird von der
anderen Seite als durchaus nicht
unbestreitbar erachtet – obgleich
sich die Kontrahenten nicht selten
auf dieselben Zahlenreihen berufen. Es ist eben auch hier entscheidend, wie man die Daten liest.
Interessant wird die Unterscheidung von Daten und ihren Deutungen auch dadurch, dass in die
Deutungen die bereits angesprochenen individuellen Moralvorstellungen, Konzepte eines gemeinsamen guten Lebens, aber auch politische Vorlieben einfließen. Aus ihnen erwächst die argumentative
Schwungkraft der Kontrahenten.
Ist diese Schwungkraft erst einmal
erzeugt und trägt die Deutung das
Gewicht der Argumentation, so wird
der Dialog nicht leichter. Jetzt nämlich stünde eine mühsame Klärung
an: Die Relevanz meiner Deutung für
andere müsste dargelegt werden.
Voraussetzen kann ich sie nicht. Ich
kann auch nicht fordern, dass alle anderen meine Deutung akzeptieren
müssen. Würde ich das tun, wäre ich
schlicht ein Fundamentalist, der sein
Regelsystem des Guten, Wahren und
Schönen für absolut erklärte.
Wie also lassen sich Deutungen
transparent machen? Provozieren
lassen sie sich durch profilierte
Statements. Klären lassen sie sich
durch offene Fragen. „Wie lebt
man, wenn man glaubt, was ihr
sagt?“ – diese Frage Bert Brechts
(einst gerichtet an die Christen) –
lässt sich in der Tat im Dialog der
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Kontrahenten anwenden. Sie würde
dazu führen, dass Befürworter wie
Kritiker der Grünen Gentechnik
nicht allein die Intention ihrer aktuellen Argumentation beschreiben
müssten, sondern – weit ausgreifend – ihre Vorstellungen von einem
gemeinsamen guten Leben. Gelänge es, im Konsens – in gegenseitiger Anerkennung des moralisch
grundsätzlich integren Willens der
Beteiligten, Gutes zu tun – einen
Raum künftigen Miteinander-Lebens
zu beschreiben, so müsste „nur
noch“ der Weg dorthin erstritten
werden. Wo jedoch schon in der Beschreibung des Zielraumes keine
Übereinstimmung herbeigeführt
werden kann, erübrigt sich die weitere Diskussion. Auf den Streit
um die Grüne Gentechnik angewendet, würde dies bedeuten: Wenn
zwischen den Beteiligten Übereinstimmung darin besteht, dass durch
verantwortungsbewussten Einsatz
moderner Technologien die Ernährung gegenwärtig lebender und
kommender Generationen sichergestellt werden soll, dann ist anhand sachlich allgemein nachvollziehbarer Gründe zu klären, ob
(auch) die Grüne Gentechnik ein geeignetes Mittel ist, dieses Ziel zu
erreichen. Daran mag sich dann
die Klärung der Frage anschließen, ob diese Technologie
weltweit und überall in derselben Weise zur Anwendung
kommen soll.
Um diese Diskussion geeigneter Mittel zur Erreichung eines Zieles sachgemäß führen zu können, muss
also das, was dem einzelnen Akteur selbstverständlich erscheint – seine Deutung – anderen verständlich gemacht werden.
Gleiches gilt für technische und wirtschaftliche
Sachverhalte. Gelingt
diese grundlegende Bemühung zur Verständigung, so wird die Klärung gemeinsam gangbarer Wege erheblich
leichter. Denn nun können die umstrittenen
Deutungen in eine geordnete Abwägung eingebracht werden.
mensch+umwelt spezial 17. Ausgabe 2004/2005
Differenzierung
des Umstrittenen
Die Grüne Gentechnik als Forschungs- und Produktbereich kann
nicht pauschal bewertet werden.
Es gibt Begrüßenswertes und Abzulehnendes. Und es gibt Grauzonen
dazwischen. Entscheidend für die
Ordnung der Auseinandersetzung ist
die Differenzierung der Ebenen, auf
denen Umstrittenes zu diskutieren
ist. In dem ethischen Bewertungsmodell zur Grünen Gentechnik, das
Anfang 2002 vom Institut TechnikTheologie-Naturwissenschaften
(TTN) an der Ludwig-MaximiliansUniversität München publiziert wurde, werden diese Ebenen von einander abgehoben.
Je nachdem, von welchem ethischen Ansatz aus man die Grüne
Gentechnik betrachtet, wird man zu
unterschiedlichen Grundeinstellungen zu dieser Technologie kommen.
Wer beispielsweise Pflanzen ein
Recht auf Integrität zuschreibt, wird
grundsätzlich anders, nämlich ablehnend, über die Grüne Gentechnik und die
mit
Reis (Oryza sativa)
ihr verbundenen Veränderungen von
Kulturpflanzen urteilen als der, der
vom umfassenden Recht des Menschen ausgeht, sich die Natur dienstbar zu machen und entsprechend
gestaltend eingreifen zu dürfen. Wer
mit Worst-case-Szenarien operiert
und daraus seine Entscheidungen
entwickelt, wird anders über die Grüne Gentechnik urteilen als der, der
pragmatisch fallweise beurteilt. Um
nun als Interessierter zu einem eigenen Urteil zu kommen, ist es unverzichtbar, sich über die Plausibilität
der angebotenen ethischen Ansätze
zu orientieren und sich den eigenen –
meist kaum zur Konzeptform ausgeprägten – Ansatz kritisch bewusst zu
machen.
Daran könnte sich die Diskussion zunächst allgemeiner Aspekte
der Technologie – unterschieden
nach solchen, die die Grundlagenforschung und solchen, die die Anwendung der Grünen Gentechnik
betreffen – anschließen. Zu diesen
Aspekten gehören in ökologischer
Hinsicht unter anderem die Fragen
des Gentransfers, der Sortenvielfalt
und Biodiversität, Positionseffekte,
Resistenzbildungen und das Problem der Energieeffizienz. In ökonomischer Perspektive geht es dann
zum Beispiel um Monopolisierung,
Patentierung, Schadensdefinitionen und Haftungsfragen; in sozialer
Hinsicht – verstanden als das Zusammenspiel von Teilhabe- und Abwehrrechten des Individuums
gegenüber Dritten – um Rechtssicherheit, gesundheitliche Unbedenklichkeit, Tragfähigkeit des Orientierungswissens, Beteiligung der
Öffentlichkeit und zu gewärtigende
Effekte der Technologie in den so
genannten Entwicklungsländern.
Auf dieser Ebene der Diskussion
fallen wiederum Entscheidungen,
die für den Sinn weiterer Differenzierungen wesentlich sind. Wer auf
dieser Ebene zu einer geschlossenen Ablehnung der Technologie
kommt, braucht über Fallbeispiele
nicht mehr zu diskutieren. Eben
dies scheint der Verfasserin und
den Verfassern des Bewertungsmodells aber unverzichtbar. Nach
einem differenzierenden Entscheidungsbaum müssen Fallbeispiele
geordnet und ethisch bewertet werden – nicht in pauschalen Beurtei-
lungen eines kompletten Forschungs- und Entwicklungsbereiches. Daran anschließend müssen
für die jeweiligen Gestaltungsoptionen gute Gründe vorgebracht
werden – von den Befürwortern wie
von den Kritikern, wobei sich in
der konkreten Diskussion herausstellen dürfte, dass diese bipolare
Konstellation nur selten zutrifft und
in der vertieften Praxis sehr wohl
differenziert geurteilt wird – anders
als in der populär-politischen Auseinandersetzung.
leicht noch kleines –
Plus im Bereich der
sozialen Sicherheit/Gesundheit, absehbar
keine negativen Auswirkungen im
Bereich der
Ökologie
und
Ethische Kriterien
einer Bewertung
Am TTN haben wir uns
für den „vertragstheoretisch orientierten personenzentrierten Ansatz“ entschieden (vgl. dazu auch Busch
et al., 2002, S. 41-55). Dahinter steht die Auffassung, dass
Personen die Adressaten ethischer Impulse sind. Personen
aber sind ausgezeichnet durch
ihre grundsätzliche Freiheit
gegenüber Instinkten, ihre Fähigkeit zu Strategie und Planung und
die Fähigkeit, „Verträge“ mit anderen zu leben. Den Verträgen – verstanden in einem weiten Sinne –
kommt in dem Modell erhebliche
Bedeutung zu. Denn sie binden das
Handeln beziehungsweise HandelnWollen des Einzelnen reflexiv an
den sozialen Kontext, in dem er sich
bewegt. In diesem Kontext entsteht
das Erfordernis, sich zu rechtfertigen.
Der „Vertrag“, den wir am TTN
als den für die Grüne Gentechnik
wesentlichen identifiziert haben, ist
die gesellschaftliche Selbstverpflichtung zu einer nachhaltigen
Entwicklung (konzeptualisiert in der
Deklaration von Rio 1992). Zieldimensionen nachhaltiger Entwicklung sind ökonomischer Wohlstand,
ökologische Stabilisierung und
soziale Sicherheit. Was wir tun, hat
möglicherweise Auswirkungen in
allen drei Dimensionen. Ein
Beispiel: Die Einführung einer gentechnisch veränderten Reispflanze
(der so genannte Goldene Reis)
hat dies auf jeden Fall. Die Reispflanze bringt ein – wenn auch viel-
Luzerne (Medicago sativa L.)
Alle Zeichnungen: Enno Kleinert
– aufgrund der publizierten Selbstverpflichtungen der Patentinhaber –
auch keine ökonomischen Nachteile
für kleinere Reisbauern. Gemäß
des volkswirtschaftlichen Modells
von Pareto ist diese Innovation als
„pareto-superior“ zu bezeichnen
und ihre Anwendung ethisch geboten. (Nach dem Pareto-Modell ist eine Verbesserung dann gegeben,
wenn mindestens ein Betroffener
besser gestellt wird, kein Betroffener
jedoch schlechter gestellt wird; das
Pareto-Optimum ist dann erreicht,
wenn es keine Verbesserung mehr
gibt.)
In den meisten Fällen wird eine
solche Zuordnung aufgrund der
Komplexität des Themenfeldes und
der Menge der darin agierenden
Interessensgruppen aber nicht
leicht zu erstellen sein. Vorteile stehen gegen Nachteile – auf die Gewichtung kommt es an. Und dies
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Hintergründe
ist unausweichlich Sache der Deutungen. Deutungen aber lassen
sich „erden“: durch die Verpflichtung, für jede Deutung/Bewertung
möglichst viele gute, fallbezogene
Gründe anzugeben. Auch wenn
Vorteile nicht immer sofort und klar
erkennbar sind oder Nachteile befürchtet, aber noch nicht substantiiert werden können, muss entschieden werden. Regeln einer sachgemäßen Güterabwägung müssen
angewendet werden – stets die
Perspektive im Sinn, dass die nachhaltige Entwicklung gefördert werden muss.
Das Bewertungsmodell ist geeignet, die seit langem misslingende Diskussion um die Grüne
Gentechnik in ein ruhigeres Fahrwasser zu bringen. Im politischen
und im Forschungs-Kontext wurde
es bislang zumindest von denen
aufgenommen, die ein Interesse an
der Überwindung des Misslingens
haben. Ein nicht unerwünschter
Nebeneffekt des Modells stellte
sich ein: Manche reden nicht mehr
allzu schnell davon, die Grüne
Gentechnik sei ethisch nicht beziehungsweise auf jeden Fall geboten.
Wer zuerst „Ethik“ sagt, hat eben
noch lange nicht gewonnen. Wo
aber Technologien mit absehbar
gesellschaftlichen Auswirkungen in
soziale Kontexte eingebracht werden sollen, muss die ethische
Reflexion – so kompliziert sie auch
sein mag – geleistet werden.
Eine Technologie, die über lange
Zeiträume entwickelt wird und für
lange Zeiträume wirksam sein
soll, ist in mehrfacher Hinsicht eine
„Zukunftstechnologie“.
Ausblick auf die gesellschaftliche Diskussion
Literaturhinweise:
Wie wird die gesellschaftliche Diskussion weitergehen? Diejenigen,
die handfeste Interessen verfolgen,
werden vermutlich nicht leiser
werden. Das kann auch nicht erwartet werden, denn in unseren persönlichen Kontexten verfahren wir
vermutlich nicht anders. Wo es aber
um verantwortliches Gestalten auch
im Hinblick auf kommende Generationen geht, rücken individuelle
Präferenzen zwar nicht in den Bereich des Belanglosen, aber doch an
die zweite Stelle.
So erscheint unverzichtbar, die
in der Diskussion der Grünen Gentechnik wirksamen Emotionen
zu klären. Sie sind da. Doch andere
verstehen sie mutmaßlich nicht.
Also müssen sie – vorzugsweise argumentativ – vermittelt werden.
Die Interessen der Diskussionsteilnehmer müssen beschrieben
werden. Das Interesse an einer
Nicht-Veränderung dürfte in diesem
Zusammenhang allerdings nur
schwer zu rechtfertigen sein.
Schließlich ist die Verantwortung gegenüber kommenden Generationen zum Thema zu machen.
Grüne Gentechnik & Ethik
Eine CD-ROM für den Unterricht in der gymnasialen
Oberstufe und für die
Erwachsenenbildung inklusive
Spiel zur Grünen Gentechnik.
Herausgeber:
Institut Technik-TheologieNaturwissenschaften (TTN),
2002.
Bezug über das Internet unter
www.gentechnik-und-ethik.de
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mensch+umwelt spezial 17. Ausgabe 2004/2005
Busch R.J., Haniel,
A., Knoepffler,
N., Wenzel, G.:
Grüne Gentechnik. Ein Bewertungsmodell.
Herbert Utz
Verlag München
(2002)
Eisner, M.:
Moralische
Codes, in:
BioWorld
1, 28-31 (1998)
Internet:
www.ttn-institut.de
Homepage des Instituts Technik-Theologie-Naturwissenschaften (TTN) in München.
www.gentechnik-und-ethik.de
Angebot des Instituts Technik-TheologieNaturwissenschaften (TTN), München
zum Thema 'Grüne Gentechnik und
Ethik'. Es gliedert sich in einen Informationsteil aus vier Modulen zu den biologischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und
ethischen Aspekten der gentechnischen
Pflanzenzüchtung sowie ein allein oder
gegen Mitspieler spielbares Quiz.
www.ethiknet.de
Ethiknet, eine gemeinsame Plattform von
wissenschaftlichen Instituten im deutschen Sprachraum, die sich mit ethischen
Fragen aus Naturwissenschaft, Medizin,
Technik und Wirtschaft beschäftigen.
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