Einführung in die nicht-klassische Logik von Graham Priest, Stephan Cursiefen, Tanja Oßwald 1. Auflage mentis 2008 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 89785 542 7 Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG 1 Die klassische Logik und das materiale Konditional 1.1 Einleitung 1.1.1 Der primäre Zweck dieses Kapitels ist es, die klassische Aussagenlogik einschließlich semantischer Tableaux zu wiederholen. Das Kapitel führt zudem in grundlegende Terminologie und Notation für den Rest des Buches ein. 1.1.2 In der zweiten Hälfte des Kapitels sehen wir uns auch den Begriff des Konditionals der klassischen Aussagenlogik und insbesondere einige seiner Mängel an. 1.1.3 Der ganze Sinn der Logik besteht darin, eine Darstellung des Gültigkeitsbegriffs zu geben: was woraus folgt. Üblicherweise wird Gültigkeit für Folgerungen innerhalb einer formalen Sprache definiert, einer Sprache mit wohldefiniertem Vokabular und Grammatik, der Objektsprache. Eine wichtige Frage ist immer die nach dem Verhältnis der Symbole der formalen Sprache zu den Worten der Umgangssprache, in diesem Falle Deutsch. 1.1.4 Die Gültigkeitsdarstellungen selbst werden normalerweise in einer anderen Sprache als der Objektsprache formuliert. Diese nennt man die Metasprache. In unserem Fall ist das einfach mathematisches Deutsch. Die Abkürzung ‚gdw.‘ steht übrigens für ‚genau dann, wenn‘. 1.1.5 Üblicherweise definiert man zwei Gültigkeitsbegriffe. Der erste ist semantisch. Eine Folgerung ist gültig, wenn sie in einem bestimmten Sinne wahrheitserhaltend ist. Insbesondere ist bei jeder Bewertung (das ist grob gesprochen eine Art und Weise der Zuordnung von Wahrheitswerten), bei der die Prämissen wahr sind, auch die Konklusion wahr. Wir verwenden hierfür das metasprachliche Symbol ‚|=‘. Was verschiedene Logiken voneinander unterscheidet, sind die verschiedenen Bewertungsbegriffe, die sie verwenden. 1.1.6 Der zweite Gültigkeitsbegriff ist beweistheoretisch. Gültigkeit wird über ein rein formales Verfahren definiert (das heißt über eines, das sich nur auf die Symbole der Folgerung bezieht). Für diesen Gültigkeitsbegriff 8 1 Die klassische Logik und das materiale Konditional benutzen wir das metasprachliche Symbol ‚`‘. In unserem Fall wird dieses Verfahren (hauptsächlich) in der Verwendung von Tableaux bestehen. Was verschiedene Logiken hier voneinander unterscheidet, sind die verschiedenen Tableau-Verfahren, die sie verwenden. 1.1.7 Die meisten zeitgenössischen Logiker halten den semantischen Gültigkeitsbegriff für grundlegender als den beweistheoretischen, auch wenn man sich sicherlich darüber streiten kann. Wenn jedoch ein semantischer Gültigkeitsbegriff gegeben ist, ist es immer nützlich, einen beweistheoretischen Begriff zu haben, der ihm in dem Sinne entspricht, dass die beiden Definitionen immer dieselben Ergebnisse liefern. Wenn jede beweistheoretisch gültige Folgerung semantisch gültig ist (das heißt ` impliziert |=), dann ist das Beweisverfahren korrekt. Wenn jede semantisch gültige Folgerung beweistheoretisch gültig ist (das heißt |= impliziert `), dann ist das Beweisverfahren vollständig. 1.2 Die Syntax der Objektsprache 1.2.1 Die Menge der Symbole der Objektsprache der Aussagenlogik besteht aus unendlich vielen atomaren Formeln1 p0 , p1 , p2 , ..., den Junktoren ¬ (Negation), ∧ (Konjunktion), ∨ (Disjunktion), ⊃ (materiales Konditional) und ≡ (materiale Äquivalenz) und den Klammerzeichen ( und ). 1.2.2 Die (wohlgeformten) Formeln der Sprache bestehen aus allen — und nur aus diesen — Folgen von Symbolen, die, ausgehend von den atomaren Formeln, rekursiv durch folgende Regel erzeugt werden können: Wenn A und B Formeln sind, dann sind es auch ¬A, (A ∨ B), (A ∧ B), (A ⊃ B) und (A ≡ B). 1.2.3 In Bezug auf die Notation möchte ich eine Reihe wichtiger Konventionen erklären. Ich verwende lateinische Großbuchstaben A, B, C, . . . , um beliebige Formeln der Objektsprache zu repräsentieren. Lateinische Kleinbuchstaben p, q, r, . . . repräsentieren beliebige, aber verschiedene atomare Formeln. Die äußersten Klammern, falls vorhanden, werde ich weglassen. So werde ich beispielsweise (A ⊃ (B ∨ ¬C)) einfach als A ⊃ (B ∨ ¬C) schreiben. Griechische Großbuchstaben Σ, Π, . . . repräsentieren beliebige For1 Diese werden häufig ‚Aussagebuchstaben‘ genannt. 1.3 Semantische Gültigkeit 9 melmengen. Die leere Menge wird mit ∅ bezeichnet.2 Eine endliche Menge {A1 , A2 , . . . , An } schreibe ich häufig einfach als A1 , A2 , . . . , An . 1.3 Semantische Gültigkeit 1.3.1 Eine Bewertung der Sprache ist eine Funktion ν, die jeder atomaren Formel entweder 1 (wahr) oder 0 (falsch) zuordnet. Wir schreiben also so etwas wie ν(p) = 1 und ν(q) = 0. 1.3.2 Eine gegebene Bewertung ν der Sprache wird zu einer Funktion erweitert, die jeder Formel einen Wahrheitswert zuordnet. Dies geschieht durch folgende rekursive Regeln, die die syntaktischen rekursiven Regeln widerspiegeln:3 ν(¬A) = 1, wenn ν(A) = 0, und sonst 0. ν(A ∧ B) = 1, wenn ν(A) = ν(B) = 1, und sonst 0. ν(A ∨ B) = 1, wenn ν(A) = 1 oder ν(B) = 1, und sonst 0. ν(A ⊃ B) = 1, wenn ν(A) = 0 oder ν(B) = 1, und sonst 0. ν(A ≡ B) = 1, wenn ν(A) = ν(B), und sonst 0. 1.3.3 Sei Σ eine beliebige Menge von Formeln (die Prämissen). Dann ist A (die Konklusion) eine semantische Folgerung aus Σ (Σ |= A) gdw. es keine Bewertung gibt, die alle Elemente von Σ wahr und A falsch macht. Das heißt, jede Bewertung, die alle Elemente von Σ wahr macht, macht auch A wahr. ‚Σ 2 A‘ bedeutet, dass es nicht der Fall ist, dass Σ |= A. 1.3.4 A ist eine logische Wahrheit (Tautologie) (|= A) gdw. es eine semantische Folgerung aus der leeren Prämissenmenge ist (∅ |= A), das heißt, wenn jede Bewertung A wahr macht. 2 3 Im englischsprachigen Original wird das im deutschsprachigen Raum eher ungebräuchliche Zeichen φ verwendet. [Anm. d. Übers.] Womöglich ist der Leser vertrauter mit der in diesen Regeln enthaltenen Information, wenn sie in Form einer Tafel dargestellt wird, die man gewöhnlich eine Wahrheitstafel nennt — so wie die hier dargestellte für die Konjunktion: ∧ 1 0 1 1 0 0 0 0