Substanzmissbrauch und -abhängigkeit (F10 - F19) Allgemeine Definitionen: stoffgebundene Abhängigkeiten: psychische und/oder körperliche Abhängigkeiten von psychotropen Substanzen nicht-stoffgebundene Abhängigkeiten: „Verhaltenssüchte“, z.B. Spielsucht, Kaufsucht, Magersucht o Missbrauch: Substanzeinnahme ohne medizinische Indikation und in erhöhter Dosierung o Abhängigkeit (WHO): ein seelischer, eventuell auch körperlicher Zustand, der dadurch charakterisiert ist, dass ein dringendes Verlangen oder unbezwingbares Bedürfnis besteht, sich die entsprechende Substanz fortgesetzt und periodisch zuzuführen o psychische Abhängigkeit: unwiderstehliches Verlangen und subjektives „Angewiesensein“ auf die Substanzeinnahme [u.a. Cannabis, Kokain, „Designerdrogen“] o körperliche Abhängigkeit: Toleranzentwicklung (um die gleiche Wirkung zu erreichen o sind zunehmend höhere Dosen notwendig), Auftreten von Entzugssymptomen o [nur in Kombination mit psychischer Abhängigkeit; u.a. Alkohol, Benzodiazepine, Opioide, Heroin] Diagnosen nach ICD-10: F10.0 Alkohol F11.0 Opioide F12.0 Cannabinoide F13.0 Sedativa/ Hypnotika F14.0 Kokain F15.0 Stimulantien (einschl. Koffein) F16.0 Halluzinogene F17.0 Tabak F18.0 flüchtige Lösungsmittel F19.0 multipler Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen F x.0 akute Intoxikation F x.1 schädlicher Gebrauch F x.2 Abhängigkeitssyndrom F 11.22 Opiatabhängigkeit bei aktueller Substitution F 11.23 Opiatabhängigkeit bei aktueller Naltrexontherapie F x.3 Entzugssyndrom F x.4 Entzugssyndrom mit Delir F x.5 Psychotische Störungen F x.6 Amnestisches Syndrom F x.7 Residuen und verzögert auftretende psychotische Störungen F x.8 Sonstige psychische und Verhaltensstörungen F x.9 Nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörung zu F x.1: tatsächliche Schädigung der psychischen oder physischen Gesundheit; klar beschreibbare Schädigungen über mindestens 1 Monat, oder mehrfach während 12 Monaten zu F x.6: klinisch manifestes Demenzsyndrom, Prognose ungünstig zu F x.7: Veränderungen (z.B. kognitiv, affektiv, Persönlichkeit, Verhalten) bleiben auch nach Abklingen der direkten Substanzwirkung bestehen Ätiologie: multifaktoriell, „bio-psycho-sozial“: soziokulturelle Einflüsse, Lernprozesse,Persönlichkeitsstruktur, genetische Komponente allgemein häufig mangelnde Fähigkeit im Umgang mit psychischer Spannungund „Flucht“ in die Sucht (u.a. Verbesserung der Stimmungslage, Stressbewältigung) aber es gibt keine „Alkoholikerpersönlichkeit“ und keine „zwangsläufigen“Faktoren, Missbrauch und Sucht kommen in allen sozialen Schichten vor Epidemiologie: Nikotinabhängigkeit: 39% Männer und Drogenabhängige exklusive Nikotin: 3-5% 31% Frauen in der BRD 2005 in der BRD 1,6 Mio. Alkoholabhängige, 1,4 Mio. Medikamentenabhängige (v.a. Sedativa, Hypnotika), 290.000 Abhängige illegaler Drogen (wie Opiate);1.477 Drogentote (2003) insgesamt m = w jährlich ~21.000 Erstkonsumenten (bzgl. Heroin, Kokain, Amphetamine), davon werden ~10% süchtig Folgen des chronischen Konsums: toxische Organschäden (z.B. Leber, Pankreas, Nieren, Nervensystem) chronisches hirnorganisches Psychosyndrom (Störung d. Kritikfähigkeit, Enthemmungsphänomene, Beeinträchtigung des Persönlichkeitsniveaus [z.B. mit Verlust von Verantwortungs- und Schamgefühl]) soziale Folgen (familiäre und partnerschaftl. Beziehung, sozialer Abstieg, Nachlassen d. Leistungsfähigkeit, Arbeitsplatzverlust, Verlust d. Fahrerlaubnis, Straftaten) erhöhte Suizidrate bei Schwangeren: Fehlbildungen, Retardierung, Frühgeburten Begleiterkrankungen (komorbide Störungen): standardisierte Erfassung psychischer Begleiterkrankungen durch Testfragebögen möglich primäre Störungen : bestanden bereits vor Beginn des Konsums, oder treten während einer Intoxikation/ eines Entzugs auf sekundäre Störungen : treten erst nach/mit dem Konsum auf häufig: affektive Störungen und Suizidalität, Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie, somatische Begleiterkrankungen Diagnose: – eine Abhängigkeit liegt vor, wenn mindestens 3 der Kriterien zutreffen: • herabgesetzte Kontrolle des Konsums (bzgl. Häufigkeit, Menge) • Vernachlässigung anderer Interessen zu Gunsten des Konsums • Einengung auf den Konsum • Konsum trotz eindeutig (psychisch, physisch oder sozial) schädigender Folgen • Entzugssyndrom, Toleranzentwicklung • Konsum zur Verhinderung von Entzugssymptomen – Diagnosestellung häufig schwierig • der Patient kommt wegen anderer Beschwerden (oft funktionelle Organstörungen, Schmerzsymptome) zum Arzt, diese stehen für ihn subjektiv im Vordergrund; Bagatellisierung des Konsums • häufig Verleugnung [die Beschwerden/ Probleme werden als Ursache, statt als Folge des Konsums gesehen] • Rationalisierung [Konsum zur Bekämpfung von Angst oder somatischen Beschwerden, „Selbstmedikation“] – körperliche Untersuchung: z.B. Foetor alcoholicus, typische Hautveränderungen bei chron. Alkoholkonsum, Einstichstellen, Spritzenabszesse, neurologische Auffälligkeiten, Miosis (Opioide)/ Mydriasis (Kokain/Amphetamine) – Laborwerte (Blut/ Urin) – wünschenswert: Wiederholung der anfänglichen Diagnostik nach einer Zeit der Abstinenz, um differenzieren zu können zwischen substanzinduzierten Störungen und substanzunabhängigen Begleiterkrankungen Therapie: Therapieziel: vollständige Abstinenz; Heilung ist nicht möglich Verleugnung (s. „Diagnose“) dient der Angstabwehr, hier meist die Angst des Patienten vor Verurteilung, Schuldzuweisung, Demütigung akzeptierende, nicht verurteilende Gesprächsatmosphäre schaffen; bewährt hat sich „FRAMES“ motivierende Gesprächsführung im „FRAMES“-Stil: • Feedback • Responsibility (Eigenverantwortung für Veränderung) • Advice (klare Ratschläge) • Menu (Darstellung der Auswahl verschiedener Behandlungsmöglichkeiten) • Empathy • Self-Efficacy (Selbstwirksamkeit/Zuversicht) Einteilung in Akutbehandlng (entspricht in etwa Stufe 1 und 2) und Postakutbehandlung (entspricht in etwa Stufe 3 und 4), bzw. in vier Stufen: 1. Kontakt und Motivation - Diagnosestellung, Motivation des Patienten zur Therapie - erste wichtige Aufgabe der psychosomatischen Grundversorgung 2. Entgiftung - bei akuter Intoxikation Überwachung in angemessener Umgebung veranlassen - wenn Entzugssyndrom vorliegt: qualifizierte Entzugsbehandlung anschließen 3. Entwöhnung/ qualifizierte Entzugsbehandlung - Settings: Krankenhaus, Tagesklinik, Übergangswohnheim/ betreutes Wohnen, ambulante Behandlung - abgestufte Intervention: mit der am wenigsten aufwändigen, aber am ehesten erfolgbringenden Form beginnen, unter Einbeziehung der Patientenwünsche/besonderheiten - Aufgaben: • Behandlung des akuten Entzugssyndroms • Wiederherstellung von neuropsychologischen und kognitiven Fähigkeiten, emotionaler Stabilität, Kompetenz der Persönlichkeit • Wiederherstellung von sozialen Fähigkeiten • Vermittlung von Techniken für den Umgang mit der Erkrankung (z.B. Strategien zur Rückfallbewältigung/-vermeidung) • Behandlung komorbider und körperlicher Erkrankungen • Unterstützung und Beratung in Bereichen wie: finanzielle und rechtliche Situation, Wohnen, Arbeit [dies versetzt den Patienten oft erst in die Lage, längerfristig suchtmedizinische Behandlung in Anspruch zu nehmen] - Ziele: • Krankheitseinsicht • Motivierung zur Inanspruchnahme weiterführender Behandlung • Erreichen von Dauerabstinenz [Verringerung des Konsums bei schädlichem Gebrauch] • Besserung komorbider psychischer und physischer Störungen • Reduzierung oder Beseitigung der somatischen, psychischen und psychosozialen Folgen des Konsums - Beispiele für Methoden: • Verhaltenstherapie (z.B. Erlernen von Selbstbelohnung, Entspannungstechniken, Coping-Strategien) • psychodynamisch-interpersonelle Verfahren (u.a. Vermittlung von Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit, Angstverminderung), z.B. Ergotherapie (Gestaltung, Musik, Tanz,...) • Anwendung manualisierter Programme zur Rückfallprävention (z.B. „12-Schritte Programm“ bei Alkoholabhängigkeit) • Psychoedukation (Aufklärung über Erkrankung, Verlauf, Folgen) • psychotherapeutische und -pharmakologische Symptomreduktion bzgl. Der Komorbiditäten 4. Nachsorge - Ziel: • Stabilisierung des durch die vorigen Stufen erreichten Zustandes • Hilfe bei Problemen - ambulante Nachbetreuung (= zweite wichtige Aufgabe der psychosomatischen Grundversorgung) + Besuch von Selbsthilfegruppen [Alexandra Mittmann]